Eine wohlige Wärme schlug dem Mann entgegen, als seine steif gefrorenen Finger die grobe Holztür der kleinen Hütte öffneten. Eigentlich sollte er nicht so sehr frieren, denn seine Kleidung war den Temperaturen durchaus angemessen. Aber nachdem er stundenlang durch die endlose, nach Harz und trockener, kalter Luft riechende Landschaft voller Tannen und Schnee gelaufen war, war die Kälte dennoch in seine Glieder gekrochen. Seine Ohren fühlten sich taub an und sein Gesicht kribbelte schmerzhaft, als ihn die wärmere Innenluft einhüllte. Es brannte ein Feuer in dem kleinen Kamin. Dort brannte es immer, denn jedes Mal, wenn er einige der Holzscheite ins Feuer warf, die draußen vor der Hütte ordentlich aufgeschichtet lagen, wurde die Lücke wie von Geisterhand aufgefüllt, ohne das er je einen Baum hätte fällen müssen. Warum das geschah, wusste er nicht. Genauso wenig, wie er wusste, warum der Wald nie endete, warum er stets wieder zu der Hütte zurückfand, ohne sich zu verlaufen und wer er selber überhaupt war. Er hatte nicht den blassesten Schimmer, wie er hierhin gekommen war. Er wusste nicht, ob er hier geboren worden war, oder zuvor ein anderes Leben gelebt hatte und er wusste nicht, ob er es andere Wesen wie ihn gab oder je gegeben hatte, auch wenn er letzteres zumindest ahnte.
In seiner Hütte gab es einen gemütlichen Sessel mit rotem Stoffbezug und einer beigefarbenen, warmen Felldecke und auf dem Tisch daneben stand stets ein gefülltes Glas heißen Apfeltees, welches sich ebenfalls jede Stunde ohne sein Zutun nachfüllte und mit dem er seinen Durst stillen konnte. Hunger verspürte er keinen.
Der Mann hatte in der Hütte keine Form der Zerstreuung. Keinen Computer oder Fernseher, keine Spiele oder Puzzle, keine Musik. Nicht einmal Bücher. Gelegentlich hörte er die Rufe von Vögeln oder Füchsen, die er jedoch nur selten und dann immer nur aus der Ferne sah. Ansonsten kannte er nur helle, weiße Tage, dunkle, stille Nächte, den Gesang des Windes und das Geräusch von sanft fallendem Schnee. Dennoch empfand er kaum so etwas wie Langeweile oder Einsamkeit. Das Einzige, was ihn störte, was an Tagen wie heute verhinderte, dass er sich mit seiner stillen, harmonischen Existenz arrangieren konnte, war die bohrende Frage danach, wer er war und wer er womöglich gewesen war. Diese Frage hatte sich als kleines Samenkorn in ihm entfaltet und war in all den Tagen, Wochen, Monaten, Jahren und womöglich Jahrzehnten, die er hier gewesen war langsam, fast schüchtern, aber doch beständig gewachsen.
Ja, diese wachsende Sehnsucht nach einer Antwort war für ihn sogar die einzige halbwegs zuverlässige Möglichkeit das Verstreichen der Zeit zu bestimmen, in diesem Ozean von beinah unterschiedslosen Gegenwarten, in dem er trieb. Heute war diese Sehnsucht ganz besonders groß und deswegen wusste er, dass heute ein besonderer Tag war. Er hatte es schon gespürt, als er an diesem Morgen zu einem seiner ziellosen Spaziergänge aufgebrochen war, die ihn zuletzt immer weiter von der Hütte fort und letztlich doch unausweichlich wieder zu ihr hin geführt hatten. Heute war der Tag, an dem er diese Sehnsucht nicht länger ignorieren, sie nicht länger in sich einschließen konnte. Und so drehte er sich auf dem Absatz seiner schweren Lederstiefel um und betrat nicht sein kleines Holzhaus, sondern wandte sich dem verschneiten Tannenwäldchen zu, über welches bereits eine versinkende, rostrote Abendsonne ihren verträumten Schimmer ausgoss.
„Wer bin ich?!?“, schrie er der weiß-grünen Leere entgegen und auch wenn er gedacht hatte, dass seine Stimme versagen würde, die er so lange nicht benutzt hatte, so halte sein Ruf doch weit über die in zuckrige Stille gekleidete Landschaft.
Er lauschte auf eine Antwort. Wartete darauf, dass sie aus dem Tannengrün hervorschnellen, aus den üppigen Schneewolken herabfallen oder sich aus dem kalten Boden emporheben würde. Doch nichts geschah. Und so stand er da, wie eine atmende Statue aus Fleisch, in seinem Rücken die wohlige Wärme seiner Zuflucht und vor seinen Augen die nagende Kälte. Doch als die Sonne ganz hinter dem Horizont verschwunden und er nun gründlich durchgefroren war, hatte er noch immer kein Zeichen gesehen, dass auch nur im Entferntesten darauf hindeutete, dass ihn jemand oder etwas gehört hatte oder das hier jemanden oder etwas außer ihm gab, dass ihm auf seine Frage Antwort geben könnte. Und so ging er schließlich doch wieder in seine Hütte hinein, die trotz der über Stunden offenstehenden Tür nicht abgekühlt war, setzte sich in seinen Sessel neben das Feuer, gab ein paar Holzscheite hinein, legte sich die Decke über die Knie und weinte. Er weinte zum ersten Mal, seit er denken konnte und seine Tränen – so schien es ihm zumindest – rannen unbemerkt und unbeachtet über sein Gesicht.
Doch er irrte sich. Denn dort draußen, unter dem unbeständigen Schein eines von Wolken umrahmten Mondes, in dem von der Kraft der launenhaften Winde knarzenden Tannenwäldchen erschien eine junge Frau. Klein und zart war sie, fast noch ein Mädchen, doch mit einer feierlichen ernsthaften Augen, die wie schwache Feuer in dem aus Schnee geformten Leib ruhten, der von einem Kleid aus milchigem Eis umhüllt wurde. Leichtfüßig, beinah schwebend schritt sie über die Schneedecke, die ihre weißen Füße vollkommen unberührt ließen und klopfte mit ihrer kleinen Faust gegen die grobe Holztür.
Der Mann im Inneren schrak auf. Er hielt es für einen Traum, denn auch wenn er nur selten träumte und er seine aus verwirrenden Bildern und rätselhaften Fragmenten zusammengesetzten Träume nicht eben schätzte, konnte er sich dies besser vorstellen, als das tatsächlich jemand Einlass in seine Hütte begehrte. Doch gleich, ob Traum oder nicht – in diesem Moment hieß er jede Form von Gesellschaft willkommen – und so öffnete er und blickte der Frau aus Schnee direkt in ihr ernstes, fast trauriges Gesicht.
„Wer bist du?“, fragte der Mann, der nun, da er zum ersten Mal überhaupt, seit er sich erinnern konnte, ein anderes Wesen sah.
„Ich bin die weiße Tochter“, sagte sie mit einer Stimme die ungewöhnlich tief für die Stimme einer so jungen Frau, doch so leise war, dass nur jemand wie der Mann, der so lange mit der Stille gelebt hatte, sie als laut empfinden konnte, „und ich komme, weil du mich gerufen hast.“
„Ich habe nicht nach dir gerufen, nur nach mir selbst“, sagte der Mann und wusste doch zugleich, dass dies wenigstens eine halbe Lüge war. Er hatte noch allem und jedem gerufen, der bereit gewesen wäre ihm Antwort zu geben.
„Dies ist der einzige Ruf, dem ich folge. Ihm und dem Ruf der Tränen. Sie sind aus Wasser, so wie ich, musst du wissen, deshalb kann ich sie hören“, antwortete sie.
„Weißt du, wer ich bin?“, fragte der Mann schüchtern, fast zitternd, da er Angst davor hatte, dass die Antwort „Nein“ lauten könnte.
„Ja“, sagte die weiße Tochter, mit einer weltentrückten Traurigkeit, die der Freude, die das Herz des Mannes bei diesen Worten erfüllte zumindest ein wenig dämpfte.
„Wirst du es mir sagen?“, fragte der Mann dennoch aufgeregt.
Zunächst antwortete die weiße Tochter nicht. Dann jedoch sagte sie leise und nachdenklich, „wir werden sehen. Doch lass mich doch zunächst hinein, wenn du so freundlich wärst.“
„Gerne“, sagte er, „aber wirst du nicht Schmelzen bei dieser Wärme?“
„Nein“, sagte sie mit einem traurigen Lächeln, „ich bin nicht diejenige, um die du dich sorgen musst.“
Der Mann verstand nicht ganz, was sie ihm damit sagen wollte, aber als sie eintrat, beobachtete er erstaunt, wie sich das fremdartige Schneewesen in eine zwar blasse, aber dennoch menschliche Frau in einem weißen Kleid und mit kurzen, blonden Haaren verwandelte.
„Du brauchst nicht erstaunt zu sein“, sagte sie, „ich passe mich meiner Umwelt an, so wie jeder es tut, nur gilt dies bei mir auch für meinen Körper.“
Sie setzte sich auf den leeren Stuhl, der ebenfalls in der Hütte stand und auf den der Mann sich noch nie niedergelassen hatte und schließlich setzte sich auch der Mann in seinen Sessel.
„Du willst also wissen, wer du warst?“, fragte die weiße Tochter.
„So ist es“, antwortete der Mann, der noch immer nicht richtig glauben konnte, dass nach all den ungezählten Tagen der Gleichförmigkeit etwas anders geworden war.
„Warum?“, fragte die weiße Tochter und der Mann war von der Frage so verwirrt, dass ihm der Mund offenstand.
„Wie meinst du das?“, fragte er.
„Nun“, sagte die weiße Tochter, deren kalter Atem kleine weiße Wölkchen in dem warmen Raum erzeugten, „es kommt in erster Linie doch nicht darauf an, wer du bist oder wer du warst, sondern was du fühlst.“
„Das ist es doch gerade, ich fühle mich schlecht“, sagte der Mann.
„Du brauchst dich nicht schlecht zu fühlen, nur weil du deine Identität nicht kennst. Ein Eichhörnchen beispielsweise, weiß auch nicht, wer oder was es ist und dennoch kann es glücklich sein.“
„Ich bin kein Eichhörnchen“, sagte der Mann entschlossen.
„Leider“, seufzte die weiße Tochter so leise, dass es nicht einmal der Mann hören konnte. Laut sagte sie, „Nein, du bist ein Mensch. Und damit weißt du alles über dich, was du wissen musst. Denkst du, es würde dich glücklicher machen all diese Kategorien, Zuschreibungen und Ereignisse zu kennen, aus denen Menschen ihre Identität zusammenbauen? Ich kann dir etwas verraten: Niemand weiß wirklich, wer er ist, auch wenn viele meinen es zu wissen.“
„Also gibt es noch andere wie mich“, schloss der Mann.
Die weiße Tochter nickte und schüttelte dann direkt den Kopf. „Andere Menschen ja, andere wie dich nicht.“
„Dann habe ich sie schon getroffen und könnte sie wieder treffen?“, fragte der Mann und die Begeisterung, mit der er dies sagte, machte die Sorgenfalten im Gesicht der weißen Tochter noch tiefer.
Die weiße Tochter antwortete nicht darauf und blickte stattdessen nachdenklich zu Boden, „Ich denke es wäre das Beste, wenn du deine Fragen vergisst und dich wieder auf das reine Dasein konzentrierst.“
„Ich habe Träume“, sagte der Mann bedeutungsvoll.
Als die weiße Tochter dies hörte, sank sie in sich zusammen, denn sie hatte befürchtet, dass es so sein könnte. Sie seufzte hörbar. „Was für Träume?“, hauchte sie rau und für einen Moment brannte das Feuer in der kleinen Hütte nicht mehr ganz so hell und warm.
„Träume von Dingen, die ich nicht zuordnen kann. Bilder, die ich nicht erklären kann“, erwiderte der Mann.
Die weiße Tochter nickte. Dann pustete sie ihren kalten Atem in ihre hohlen Hände und formte darin eine kleine, etwa murmelgroße Kugel aus gepresstem Schnee, die einfach so aus der Luft wuchs. „Dies hier hilft gegen die Träume“, sagte sie, „und auch gegen deine Tränen. Wenn du es hinunterschluckst, werden dein Schmerz und deine Sehnsucht aufhören und du wirst sogar vergessen, dass ich je hier gewesen bin.“
Sie streckte den Arm aus und hielt ihm die kleine Schneekugel hin.
„Das will ich nicht!“, beharrte der Mann, wobei er beinah schrie, „das ist nicht richtig. Ich will meine Geschichte kennen, ganz egal, ob mich das glücklicher macht oder nicht. Kannst du mir dabei helfen oder nicht?“
Zuerst wollte die weiße Tochter verneinen, doch auch wenn sie eine Feindin der Erinnerungen war, konnte sie seine Bitte nicht einfach so ablehnen. „Ja, das kann ich. Und wenn dein Herz so daran hängt, werde ich es auch tun.“
Sie seufzte erneut, legte die kleine Schneekugel auf einem kleinen Holztisch ab, der ebenfalls in dem Haus stand. Dann blies sie eine regelrechte Eiswolke in ihre flachen Hände, wo unter ihren flinken, kundigen Bewegungen eine etwa Frisbee-große Scheibe aus mattem Eis entstand, in die vierundzwanzig Türchen mit kleinen Griffen und leuchtenden, blauen Zahlen eingelassen waren. „Weißt du was das ist?“, fragte sie den Mann, der die Entstehung des Gegenstandes aufmerksam verfolgte.
„Ja und nein“, sagte er, „so etwas Ähnliches habe ich schon einmal in einem Traum gesehen. Aber ich weiß nicht, wozu es dient oder wie es heißt.“
„Das hier ist ein Adventskalender“, erklärte die weiße Tochter, „normalerweise sind sie mit Süßigkeiten gefüllt. Kleinen Aufmerksamkeiten, die so ähnlich schmecken wie dein süßer Apfeltee. Manche enthalten auch kleine Bilder oder andere Dinge. Dieser jedoch ist etwas Besonderes. Auch er ist – in gewisser Weise – mit Bildern gefüllt. Mit Momentaufnahmen und Ereignissen deines Lebens. Mit all den Fakten und Erinnerungen, nach denen du dich so sehnst. Immer, wenn du ein Türchen öffnest, wirst du etwas mehr über dich erfahren und sobald sie alle offenstehen, weißt du wieder ganz genau, wer du bist.“
„Gib ihn mir!“, verlangte der Mann mit einer beinah kindlich-verlangenden Geste.
„Warte noch“, sagte die weiße Tochter, „diese Bedingung stelle ich an dich. Überlege es dir gut, bevor du ein Türchen öffnest. Du hast immer die Möglichkeit das Ganze abzubrechen und dich mit dem zufriedenzugeben, was du über dich weißt. Und du hast auch immer die Chance, die Schneekugel zu schlucken und alles zu vergessen. Dreiundzwanzig mal. Danach gibt es kein Zurück mehr. Verstehst du das?“
„Ich verstehe“, sagte der Mann eifrig. Seine Augen leuchteten, als die weiße Tochter ihm den Kalender reichte. Der Mann hatte versprochen es sich gut zu überlegen, aber er konnte der Versuchung nicht widerstehen und so riss er das erste Türchen geradezu gewaltsam mit Zeigefinger und Daumen auf. Herauskam ein feiner, silberner Nebel, der sich sanft auf seine Augen legte. Kurz darauf begannen die ersten Bilder auf ihn einzuströmen.
Tür 1
Er sieht einen weißen, hellen Raum, von dem er nun wieder weiß, dass es sich um ein Krankenhaus handelt. Er sieht eine blasse, junge, dunkelblonde Frau mit verschwitztem Gesicht, die erschöpft in einem Bett liegt und die er als seine Mutter erkennt. Er sieht seinen Vater, neben ihrem Bett stehen. Einen ernsten Mann mit strengem, schnauzbärtigen Gesicht, der etwas älter ist als seine Mutter und auf dessen rauen Lippen ein verhaltenes Lächeln liegt, als er seinen Sohn erblickt. Sein Gesicht macht dabei nicht den Eindruck, dass es das Lächeln gewöhnt wäre. „Guten Morgen Frau Harting“, sagt die unbekannte Frau, die ihn in ihren Armen hält, „Da ist ja der kleine Tobias.“
~o~
„Einen Namen“, sagte Tobias als diese erste Vision endete, wobei diesmal Tränen der Freude über seine Wangen rannen, „ich habe einen Namen!“
„Das stimmt“, sagte die weiße Tochter, „vielen reicht es bereits, ihn zu kennen.“
„Mir nicht“, erwiderte Tobias, „Tobias Harting reicht das nicht!“. Ohne lange nachzudenken, zog er das zweite Türchen auf.
Tür 2
Er erblickt große Häuser. Hochhäuser wie ihm eine innere Stimme zuflüstert. Eine dunkle, breite Straße in der Nacht, die vom Regen glänzt. Die Scheiben eines Autos in deren Spiegelung er sein eigenes Gesicht sieht. Nicht das bärtige, das ihm heute gehörte, sondern das Gesicht eines kleinen Jungen mit Grübchen, der auf dem Rücksitz Grimassen schneidet. Die Stadt heißt Frankfurt, das zumindest entnimmt er dem Gespräch, das seine Eltern führen und die beiden leben und arbeiten dort.
~o~
Für Tobias war es wie ein Rausch. So wie er sich gerade fühlte, mochte sich höchstens ein Kind fühlen, welches zum ersten Mal in die unentdeckten Welten zwischen zwei Buchdeckeln eintauchte. Er riss das dritte Türchen auf, dann das vierte und fünfte. Auf die Ermahnungen der weißen Tochter hörte er nicht.
~o~
Tür 3
Tobias sieht sein Zimmer. Es ist geschmückt mit Tannenzweigen, gebastelten Sternen und kleinen Weihnachtsmännern aus Holz. Ein paar Lichter brennen. Es ist der Abend vor Weihnachten. Draußen fällt Schnee. Doch der Schneefall ist anders als hier, viel feiner und spärlicher und doch empfindet er ihn als etwas unglaublich Zauberhaftes, während er sich in seine Mickey-Mouse-Decke einkuschelt und den Worten seiner Mutter lauscht, die ihm aus einem alten, abgegriffenen Märchenbuch vorliest. Die Geschichten bringen ihn zum Lachen und Weinen und manchmal fürchtet er sich auch vor ihnen, doch immer genießt er es, sie zu hören.
Tür 4
Er erblickt die Wohnung seiner Eltern. Dunkle, abgenutzte Holzmöbel aus zweiter Hand. Es riecht nach Zigarettenrauch, Lavendel, altem Holz und sauren Schweiß. In einem Zimmer liegt seine Großmutter in einem großen Bett, welches das Zimmer fast vollständig ausfüllt. Sie liegt fast immer in diesem Bett. Hat immer Schmerzen. Ab und zu lächelt sie trotzdem, wenn sie ihn sieht. Doch nicht oft. Viel häufiger schreit sie ihn an. „Benimm dich, du verzogenes Rotzblag oder es setzt was!“, sagte sie dann, oder auch schlimmere, fiesere Dinge, wenn er zu laut spielt, nicht freundlich genug zu ihr ist oder er abwesend wirkt und manchmal auch einfach nur so. Ihr Mund Gesicht verzieht sich dann immer zu einer hässlichen, wütenden Fratze und schaumiger Speichel sammelt sich in ihren Mundwinkeln. Manchmal, wenn er zu an ihrem Bett ist, schlägt sie auch nach ihm. Es macht Tobias Angst, wenn sie so ist. Er muss dann immer an die Hexen aus den Märchen denken. Zwar kann seine Oma sich nur sehr mühsam bewegen, doch manchmal träumt Tobias davon, dass sie in der Nacht aufsteht, mit ihrem knackenden Knochen und dem schmerzenden, krummen Rücken und mit der Geschwindigkeit einer jüngeren Frau in sein Zimmer hineingeht. In diesen Träumen packt sie ihn einfach, stopft ihn in den Backofen, der immer gerade groß genug ist, um ihn aufzunehmen und dreht den Regler hoch, um dann lachend dabei zuzusehen, wie er hilflos gegen die Ofentür schlägt, während die Temperatur immer weiter stieg und Tobias Haut Blasen wirft. Diese Träume kommen fast immer, wenn er sie am Tag besucht hat. Er würde deshalb lieber darauf verzichten, aber dennoch muss er oft zu ihr. Er muss ihr Essen, Trinken oder frische Wäsche bringen, während sie ihn mit ihren blassen, milchigen Augen ansieht und wie ein Raubvogel darauf zu lauern scheint, dass er einen winzigen Fehler macht. Er hat seinen Eltern bereits erzählt, wie viel Angst sie ihm macht, aber seine Mutter meint nur, dass sie eine arme alte Frau ist und sein Vater droht ihm mit „Konsequenzen“, falls er noch einmal so über seine Mutter redet.
Tür 5
Erneut ist Tobias in seinem Kinderzimmer. Es ist diesmal nicht weihnachtlich dekoriert, aber ziemlich unaufgeräumt. Überall liegen Spielzeuge herum. Kleine Autos, Legosteine, Buntstifte, Knete und Figuren. Plötzlich geht die Tür auf und sein Vater kommt herein. Sein Gesicht ist finster und wird noch finsterer als er das Chaos im Zimmer seines Sohnes sieht. Er geht auf Tobias zu, rutscht dabei jedoch auf einigen der Autos aus und stieß gegen sein kleines Bücherregal. Tobias schämt sich. Er geht zu seinem Vater, streckt seine kleine Hand aus, um ihm aufzuhelfen. Doch sein Vater nimmt einen Spielzeug-LKW aus Metall und schlägt damit immer wieder auf seine Hand ein, während er ihn anschreit. Dann lässt er den LKW los und schlägt Tobias mehrmals mit der flachen Hand ins Gesicht. Tobias weint. Seine Hand ist gebrochen. Er will zu seiner Mutter rennen, doch sein Vater versperrt ihm den Weg. Er verlangt, dass er erst sein Zimmer aufräumt und so tut Tobias es unter Tränen und nur mit seiner linken, gesunden Hand, während er versuch, nirgendwo mit seiner gebrochenen Rechten anzustoßen. Sein Vater sieht ihm mit schadenfroher Genugtuung zu. Als Tobias endlich fertig ist und sein Vater wieder im Wohnzimmer verschwindet, rennt er zu seiner Mutter. Unterwegs trifft er jedoch auf seine Großmutter, die sich langsam und zitternd zur Toilette schleppt. Sie blickt ihn direkt an, sieht seine von blauen Flecken verunstaltetes, verweintes Gesicht und seine verletzte Hand. „Hör auf zu flennen, Bursche! Die Tracht Prügel haste dir verdient!“, sagte sie im belehrend-gehässigen Tonfall der verbitterten, pensionierten Lehrerin, die sie tatsächlich auch ist. Tobias weinte noch heftiger, drängt sich an der gemeinen Frau vorbei und stürmt ins Zimmer seiner Mutter. Sie, da ist er sich sicher, wird für ihn kämpfen. Sie wird ihn beschützen und seinen Vater und seine Oma dafür zur Rede stellen, dass sie so gemein zu ihm waren.
Doch er irrt sich. Natürlich ist seine Mutter schockiert. Auch sie weint, als sie ihn sieht und fragt ihn, was passiert sei. Als er es ihr erzählt, weinte sie noch mehr, schließt ihn in die Arme und sagt ihm, dass alles gut werden würde, er seinen Vater aber besser nicht mehr verärgern soll. Sein Vater sei „ein starker Mann mit schwachen Nerven“, sagt sie. Tobias versteht nicht, was das heißen sollt, nicht wirklich. Es interessiert ihn auch nicht. Dieses Mal ist sein Vater das Monster aus den Geschichten und seine Mutter die mutige Beschützerin. Selbst, wenn sie es ablehnt für ihn zu kämpfen, will er das trotzdem glauben. Er will einfach nur bei ihr bleiben, in diesem Zimmer. Am besten für immer. Doch bereits nach kurzer, viel zu kurzer Zeit geht sie mit ihm hinaus. Hinaus in die ungerechte, gemeine Welt. Dort, wo die Monster wohnen, die sich als Menschen ausgeben. Es müsse sein, sagt sie, weil Tobias dringend zum Doktor müsse. Und er sollte dem Doktor erzählen, dass er sich die Hand beim Spielen gebrochen habe. Sie sagt das lächelnd, aber für den kleinen Tobias fühlte es sich an wie Verrat.
~o~
In den Augen des erwachsenen Tobias lagen zum ersten Mal Zweifel.
„Die Welt, aus der du kommst, kann hart sein“, sagte die weiße Tochter sanft und legte ihm ihre kalte Hand auf die Schulter, „deshalb ist Vergessen ein Segen. Wenn du willst, kannst du jetzt aufhören dich zu quälen.“
Tobias blickte nachdenklich in das flackernde Kaminfeuer. „Nein“, sagte er schließlich, „so kann es nicht enden. Das würde ich nicht ertragen.“
„Das muss du auch nicht. Schlucke die Kugel, vergiss das alles und lebe ein sorgenfreies Leben“, schlug die weiße Tochter vor, „all das liegt ohnehin hinter dir. Es gibt keinen Grund daran festzuhalten.“
Tobias war tatsächlich einen Moment geneigt, ihr Angebot anzunehmen. Dann jedoch dachte er an den Jungen zurück, dem seine Mutter Geschichten vorlas, und daran, wie gut sich das angefühlt hatte. „Ich will diese Geschichte hören“, sagte er mit seiner tiefen Stimme, in der dennoch ein wenig der Kindlichen Naivität eines Mannes mitschwang, dessen bislang einzige Erinnerungen Kindheitserinnerungen waren. „Keine Geschichte sollte unerzählt bleiben und jeder, der in ihr eine Rolle gespielt hat, sollte sie auch kennen.“
Dann atmete er tief durch und öffnete das nächste Türchen.
~o~
Tür 6
Eine Beerdigung. Tobias ist nun etwas älter und sieht den runzligen Körper seiner Großmutter im offenen Sarg liegen. Ein großer Teil von ihm fühlt sich erleichtert. Freut sich, dass die Hexe tot ist, auch wenn sie ihn in Wirklichkeit nie in den Ofen gesteckt oder gefressen hatte. Dafür hatte sie andere Dinge getan: Ihn schikaniert, gedemütigt, ihn bei seiner Mutter und häufiger noch bei seinem Vater angeschwärzt, wann immer etwas vermeintlich falsch gemacht hatte. Tobias spürt das Bedürfnis zu lächeln, während die kalte Erde auf das Gesicht seiner Großmutter fällt. Doch er unterdrückt den Impuls, da sein Vater, seine Mutter und die restlichen Trauergäste eine so düstere Mine machen. Er weiß, dass ihm sein Vater das sonst nicht verzeihen würde und das er den gerade erst verheilten Narben auf seinem Po, die von seinem Gürtel stammten, neue hinzufügen würde.
Sein Vater weint, und doch sind die Tränen von Tobias Mutter die Ehrlicheren. Sie hatte ihm einmal erzählt, dass seine Großmutter vor einigen Jahren noch eine viel nettere Person gewesen war, mit der man gut reden konnte und die sich sehr auf einen Enkel gefreut hatte. Sie hatte sich sogar oft dagegengestellt, wenn sein Vater seine „Schwachen Nerven“ an ihr ausgelassen hatte. Doch das Alter und die Krankheit hatten sie verbittert und zuletzt waren ihr alle anderen außer ihr selbst egal geworden. Tobias Mutter scheint die Frau, die seine Großmutter eins gewesen war, dennoch wirklich zu vermissen. Das spürt er.
Deshalb hält ihre Hand und das kurze, traurige Lächeln, welches seine Mutter ihm dafür schenkt, entschädigt ihn wenigstens etwas für die unterdrückte Schadenfreude. Doch auch, wenn Tobias selbst nicht trauert, ist die Nacht nach der Beerdigung keine entspannte. Er hat erneut einen Traum. Darin steht seine Oma aus dem Grab auf und klettert auf ihn zu. Er kann sich nicht bewegen, nicht weglaufen. Sie kommt ihm so nah, dass ihr zerfurchtes, von Erde bedecktes Gesicht nur noch wenige Zentimeter von seinem entfernt ist. „Du bist ein böser kleiner Junge, Tobias“, haucht sie mit ihrem schlechten Atem, „Und das wirst du immer bleiben.“
Tür 7
Tobias beobachtet sich selbst im Spiegel, während er auf dem Weg in das Wohnzimmer seiner Eltern ist. Er ist nun kein Kind mehr, sondern ein Jugendlicher. Vielleicht fünfzehn, vielleicht sechzehn Jahre. Seine Haare sind wild und ungekämmt, sein Gesicht gutaussehend aber verbittert. Es ist erneut Weihnachten. „Stille Nacht“ erklingt aus der Anlage seiner Eltern und legt sich wie eine warme, gnädige Decke über die frostige Stimmung, die im Wohnzimmer herrscht. Sein Vater und seine Mutter sitzen auf dem Sofa. Das Gesicht seiner Mutter ist tränenverschmiert und gerötet. Ihre Wange ist geschwollen und blau. Blut klebte auf ihrer hellgrünen Bluse. Sein Vater blickt mies gelaunt drein. Unter einem reich geschmückten Baum liegen einige wenige, lieblos verpackte Pakete.
„Wo sind deine Geschenke an uns?“, fragt sein Vater eisig, als er sieht, dass sein Sohn mit leeren Händen ins Wohnzimmer gekommen ist, „ich weiß ja, dass du ein miserabler Sohn bist, aber das ist selbst für deine Verhältnisse eine Frechheit.“
Natürlich hatte Tobias seiner Mutter ihr Geschenk bereits heute Morgen überreicht, als sein Vater beim Einkaufen gewesen war. Ein Buch, das sie sich seit Langem gewünscht hatte. Sie liest gerne, um sich in bessere Welten zu flüchten. Ähnlich wie auch Tobias. Doch auf die ätzenden Kommentare seines Vaters, der das Lesen von allem anderen als Sachbüchern und Zeitungen für Schwachsinn hält, kann er gerne verzichten. Für seinen Vater hat er tatsächlich nichts besorgt. Allein der Gedanke daran hatte ihm Ekel bereitet.
„Wie ich sehe, hast du Mama dein Geschenk bereits gemacht“, sagt Tobias sarkastisch, ohne auf den Vorwurf seines Vaters einzugehen. Seine Mutter so zu sehen, tut ihm weh.
„Was fällt dir ein?“, donnert sein Vater.
„Dazu fällt mir nichts mehr ein“, erwidert Tobias, bei dem in diesem Moment ein Knoten platzt. Er hat sich lange bemüht seinen Vater nicht über die Maßen zu reizen, aber nun reicht es ihm, „nur, dass du ein gewalttätiger, würdeloser Haufen Abfall bist, der an Weihnachten seine eigene Frau verprügelt.“
Im Gesicht seiner Mutter ringen Angst, Schock und Stolz um Vorherrschaft. Das Gesicht seines Vaters jedoch ist reinster, vernichtender Zorn. Er schleudert das Glas Glühweins, das vor ihm steht vom Tisch und es zerschellt klirrend auf dem Boden. „Beruhig dich doch, Schatz!“, sagt Tobias‘ Mutter, doch sein Vater denkt nicht daran.
„Ich bezahle diese Wohnung!“, brüllt er Speichel-spritzend, „ich schufte mir für diese Wohnung in der Bank den Rücken krumm dafür und ich mache in ihr, was ich will. Anscheinend habe ich deine Erziehung zu sehr schleifen lassen. Kein Wunder, dass du so ein ungezogener Versager bist. Aber das werde ich schon hinbekommen. Weder du, noch deine Schlampe von Mutter haben das Recht mir zu sagen, was ich tun soll!“
Mit diesen Worten schlägt sein Vater Tobias‘ Mutter erneut ins Gesicht. Ihre Haut platzt auf und sie kippt weinend zur Seite. „Jetzt bist du dran, du Wurm!“, droht sein Vater, doch bevor er irgendetwas tun kann, ist Tobias bereits bei ihm. Er ist sehr kräftig für sein Alter. Und sehr schnell. Zu schnell für seinen alten Vater, der nicht verhindern kann, dass die Faust seines Sohnes in seinem Gesicht landet. Sein Vater taumelt rückwärts und fällt auf die Couch. Tobias schlägt ihn noch einmal. Dann immer wieder. Er hört Knochen knacken, sieht Blut spritzen und als sein Vater versucht, sich zu wehren, rammt er ihm das Knie in die Genitalien.
Erst als er seine Mutter rufen hört: „Hör auf, Tobias, du bringst ihn um!“, hält er inne. „Komm, Mama! Schnell!“, sagt er zu ihr, während er seinen Vater halb bewusstlos, übel zugerichtet und sehr zornig, aber noch atmend vor sich liegen sieht.
Seine Mutter versteht. Gemeinsam rennen sie in die Küche hinein und verbarrikadieren sich dort. Dort gibt es ein Telefon. Tobias wählt die Nummer der Polizei und erklärt ihnen so ruhig wie möglich die Lage. Obwohl sein Vater draußen Dinge flucht, wie „Ich mach dich kalt du verzogener Lümmel. Ich reiß dir deinen verdammten Arsch auf!“ und immer wieder gegen die Küchentür tritt, fühlt Tobias sich gut. Endlich hat er das Richtige getan. Endlich hat er den Mut gefunden zu handeln. Der Albtraum – da war er sicher – würde nun enden. Seine Mutter und er, währen frei.
Tür 8
Erneut konnte Tobias es kaum erwarten die nächste Kalendertür zu öffnen. Er erlebt diesmal keinen großen Zeitsprung, sondern eine Fortsetzung der vorherigen Szene. Die Polizei ist angekommen und als sein Vater, der zwar ein Arschloch, aber nicht dumm ist, die Sirenen hört, hört er sofort damit auf zu wüten und zu toben und als die Beamten eintreffen und er ihnen die Tür öffnet, sehen sie keinen gefährlichen Tyrannen, sondern einen stöhnenden, gebrochenen und mitleiderregenden alten Mann vor sich. Er erzählt den beiden Polizisten – einer Frau und einem Mann, die beide nicht sehr begeistert sind, an Weihnachten Dienst zu haben – sofort etwas von seinem wahnsinnigen, gewalttätigen Sohn, der auch für die Verletzungen seiner Mutter verantwortlich sei.
Tobias, der mit der Ankunft der Polizisten die Küchentür geöffnet hat, stockt bei diesen Vorwürfen der Atem, doch als er seine Version der Ereignisse wiederholt, wirken die Beamten angesichts seiner fehlenden Verletzungen und des tatsächlich üblen Zustandes seines Vaters sehr unschlüssig. Also bitten sie Tobias‘ Mutter um ihre Aussage. Sie fühlt sich sichtlich unwohl und ihre Blicke gehen immer wieder zwischen ihrem Sohn und ihrem Mann hin und her. Der traurige, entschuldigende Blick, den sie Tobias zuletzt zuwirft, nimmt ihre Worte vorweg. Dennoch treffen sie ihn mitten ins Herz.
„Es ist, wie mein Mann gesagt hat“, bringt sie unter Tränen hervor, „Unser Sohn hatte schon immer Probleme mit seinen Aggressionen. Wir haben versucht ihn zu beruhigen, aber wir werden mit ihm nicht mehr fertig. Wir haben Angst vor ihm. Er hat sie gerufen, in der Hoffnung sich irgendwie da rauswinden zu können und wenn er nur mich und nicht auch meinen Mann angegriffen hätte, hätte ich ihn vielleicht sogar gedeckt – immerhin liebe ich ihn – aber so kann es nicht mehr weitergehen.“ Tobias bleibt ganz ruhig. Seinen Vater, bei dem er ein böses Grinsen erkennt, das den Polizisten dummerweise entgeht, spießt er lediglich mit seinen Blicken auf. Der Blick, den er seiner Mutter zuwirft, ist jedoch eiskalt. Das, was er empfindet, ist zu groß für Schmerz, für Tränen oder Aggressionen. Es ist so groß, dass es das Band zerreißt, welches zu seiner Mutter bestanden hatte. Sie ist nun eine Fremde für ihn. Und sie wird es bleiben.
~o~
„Nein!“, schrie der erwachsene Tobias in der kleinen Hütte und schlug so fest auf den Tisch neben seinem Sessel, dass der Teebecher darauf genauso zerbrach, wie der Glühweinbecher seines Vaters in seiner Erinnerung, „Das ist nicht wahr. Das ist einfach nicht wahr! Sie war meine Mutter, verdammt. Wie konnte sie so etwas tun?“
Er sah zur weißen Tochter. „Das Leben ist voller Fragen, auf die wir die Antworten nie erfahren“, sagte sie, „auch ich kann dir nicht alle geben. Möchtest du dennoch fortfahren?“
Tobias sah sie stumm an. Er rang mit sich. „Ja“, sagte er nach einer Weile, bevor er das neunte Türchen öffnete, „ich will alle Antworten bekommen, die ich bekommen kann.“
Tür 9
Die nächste Erinnerungsreise besteht diesmal nicht aus einer langen, sondern aus vielen kurzen Szenen. Er wird in ein Heim gebracht, wogegen er nur wenig einzuwenden hat, auch wenn er sich weder mit den anderen Heimkindern, noch mit den dortigen Angestellten besonders gut versteht. Ihm wird – nachdem ihn sein Vater wegen Körperverletzung angezeigt hat – der Prozess gemacht, an dessen Ende eine zweijährige Bewährungsstrafe steht. Während der Verhandlung sieht er seine Mutter nicht ein einziges Mal an und als sie ihn zum Abschied umarmen will, weigert er sich. In der Schule werden seine ohnehin nicht überragenden Leistungen immer schlechter. Oft, wenn er in seinem neuen Zuhause einmal alleine ist oder sich unbeobachtet fühlt, schreibt er hasserfüllte Briefe an seinen Vater und seine Mutter, die er dann gleich wieder zerreißt. Er verfällt in eine tiefe Sinnkrise. Sein Leben, da ist er sicher, ist nun vorbei.
Tür 10
Tobias sah sich selbst als einen Jungen, dem zunehmend alles egal zu werden beginnt. Er schlägt Dinge kaputt, ranzt jeden an, der ihn schief ansieht, wobei er gerne auch handgreiflich wird und wird in seinem neuen Zuhause gleichermaßen gehasst und gefürchtet. Ein paar Mal ist er nah dran, gegen seine Bewährungsauflagen zu verstoßen. Einzig einem Mädchen namens, Katharina, die zwei Jahre älter ist als er, bringt er eine gewisse Sympathie entgegen, doch als er sie dies an einem Weihnachtsabend im Heim wissen lässt und sie ihn als „unerträglichen Kotzbrocken“ bezeichnet, beginnt er sich zum ersten Mal zu fragen, ob er so weitermachen will.
Ironischerweise ist er durch die Ungerechtigkeit, die seine Eltern ihm angetan haben, genau zu dem Menschen geworden, als denen seine Mutter ihn damals dargestellt hat: ein aggressionsgetriebener, egoistischer Mistkerl. An diesem Abend beschloss er, das zu ändern und seinen Mitmenschen wieder freundlicher zu begegnen. Er macht sich keine allzu großen Hoffnungen, dass er Katharina damit für sich gewinnen kann, aber das ist nicht schlimm, denn es geht ihm vor allem darum, sein Leben zurückzugewinnen.
Tür 11
Tobias hält sich an seine guten Vorsätze. Er versucht, eine Ausbildung als Krankenpfleger zu beginnen und auch wenn es mit seiner Vorgeschichte nicht ganz einfach ist, findet er schließlich einen Ausbildungsplatz. Er macht sich dort ganz gut, findet sogar Freunde. Als er volljährig wird, zieht er aus dem Heim in eine kleine Wohnung. Gelegentlich hatte er noch Albträume von seiner toten Großmutter, sowie von seiner Mutter und seinem Vater zu denen er jeden Kontakt abgebrochen hat. An manchen Tagen spürt er noch, wie ein wilder Zorn in ihm aufsteigt, aber dennoch lässt sich nicht leugnen, dass es in seinem Leben endlich aufwärts geht.
Tür 12
Tobias sieht sich selbst an einem Krankenbett stehen. Er ist nun etwa Mitte zwanzig. In dem Bett liegt eine junge Frau. Sie hat zarte Gesichtszüge, grüne Augen, schwarzes Haar, hellbraune Haut, eine kleine Nase. Sie ist wegen eines Schlaganfalls eingeliefert worden, den sie mitten auf einem Weihnachtsmarkt erlitten hat. Ihre Freunde haben schnell reagiert. Tobias hofft, dass sie es gut übersteht. Er fühlt sich gut, wenn er sie ansieht, auch wenn er sich in diesem Moment ein wenig dafür schämt.
Tür 13
Der Frau geht es besser. Sieh heißt Sabine. Sie ist wach geworden. Der Schlaganfall ist vergleichsweise glimpflich ausgegangen. Sie hat leichte Sprachstörungen, verwechselt gelegentlich Worte. Ihre linke Hand ist taub und teilweise gelähmt, wenn sie aufsteht, ist sie etwas unsicher auf den Beinen, aber ansonsten geht es ihr gut. Sie lächelt ihn an, wann immer er an ihr Bett kommt. Er erfährt, dass sie Event-Managerin ist, sich aber auch für Pflanzen und Musik interessiert. Sie reden oft und lange miteinander, was Tobias, der inzwischen schon kein Azubi mehr ist die ein oder andere Ermahnung von Vorgesetzten einbringt. Das macht ihn wütend, fast so wütend wie damals im Heim, aber er beherrscht sich. Er will vor Sabine keinen schlechten Eindruck machen. Mit der Zeit geht es ihr besser. Sie wird aus dem Krankenhaus entlassen und in eine Reha geschickt. Vorher jedoch gibt sie Tobias ihre Nummer. Er ist unheimlich glücklich.
Tür 14
Fast ein Jahr ist vergangen. Wieder ist Weihnachtszeit. Sabine und Tobias stehen sich an einem kleinen Stehtisch aus Metall gegenüber und trinken Glühwein. Sie sind seit etwa einem halben Jahr ein Paar. Es ist derselbe Weihnachtsmarkt, auf dem sie damals ihren Schlaganfall hatte. Ihre Wangen sind rot. Ihre Hand kann sie nun besser bewegen, die Wortaussetzer sind etwas seltener geworden, sind aber noch da. Manchmal stolpert sie beim Gehen, weswegen Tobias sie stützen muss. Doch an diesem Tag lachen beide darüber.
Tür 15
Tobias‘ Telefon klingelt. Seine Mutter ist am Apparat. Sie klingt traurig, alt und gebrochen. Sie teilt ihm mit, dass sein Vater mit Herzinfarkt im Krankenhaus liegt. Sie bittet ihn vorbeizukommen. Tobias weiß nicht, woher sie seine Nummer hat, aber er antwortet ihr nicht, schweigt nur und legt schließlich auf. Als sie noch dreimal anruft blockiert er ihre Nummer. Sabine erzählt er nichts davon. Ein paar Tage später meldet sich das Krankenhaus. Sein Vater ist tot. Tobias fühlt nichts, außer Genugtuung. „Schmor‘ in der Hölle du Bastard!“, flüstert er leise. Er geht nicht zur Beerdigung.
Tür 16
Tobias zieht in Sabines Wohnung mit dem kleinen Garten. Sie haben beide recht viel zu tun, sind oft erschöpft, aber sie geben einander Halt. Wieder erlebt er einen Weihnachtsabend. Ein freundliches Spiegelbild von dem Abend, an dem er gegen seinen Vater aufgestanden war. Alles ist festlich geschmückt. Im Garten steht eine kleine Tanne, die Sabine selbst gepflanzt und geschmückt hat. Sie ist sehr stolz darauf. Tobias kann es verstehen. Der Baum ist dicht und gerade gewachsen. All die Lichter und der weiße, gläserne und silberne Schmuck erinnern ihn an einen märchenhaften Eispalast. Fast glaubt er kleine blaue Elfen aus Eis darum schwirren zu sehen, nicht unähnlich der weißen Tochter. Neben ihm und Sabine sind auch zwei von Sabines Freunden da. Jan und Nina. Sie sind beide sehr nett. Sie unterhalten sich, tauschen Geschenke aus, lachen viel, während er Sabine eng an sich drückt. Sie singen gemeinsam Weihnachtslieder, die Sabine auf der Gitarre begleitet. An diesem Abend kommen die Lieder Tobias beinah vor wie Bannsprüche, die die Geister der Vergangenheit vertreiben. Er sieht seine Oma – eine Mischung aus der realen, verbitterten Frau und der Märchenhexe seiner Fantasie – aus dem Augenwinkel nach sich greifen und verblassen und er sieht, wie sein Vater, der alte Tyrann versucht ihm einen Spielzeug-LKW gegen den Kopf zu schlagen, bevor ihm erst der Arm abfällt und er sich schließlich gänzlich in Staub verwandelt. Einmal singt Sabine lautstark „Schneescheechen Weißweitchen“. Es ist keine Absicht. Dennoch lachen alle darüber. Auch sie selbst. Als Jan und Nina weg sind, fallen die beiden förmlich übereinander her. Es ist womöglich das beste Weihnachten in Tobias‘ Leben.
~o~
„Das Leben kann doch schön sein“, sagte Tobias fröhlich und die weiße Tochter nickte.
„Das ist richtig“, sagte sie, „Schön genug, um sich mit diesem Glücksgefühl zufriedenzugeben und es gut sein zu lassen.“
Tobias, dessen Wangen vor Vorfreude gerötet waren, schüttelte den Kopf, „eher schön genug, um noch mehr davon zu genießen“. Dann öffnete er das nächste Türchen.
~o~
Tür 17
Das neue Jahr ist weniger gut. Sabine ist immer häufiger abwesend, unkonzentriert, apathisch. Sie sitzt oft stundenlang still in ihrem Garten, der zunehmend verwildert. Ab und an fängt sie ohne besonderen Grund an zu weinen. Ihre Sprachstörungen werden wieder häufiger. Tobias vermutet eine Spätfolge des Schlaganfalls, rät ihr zum Arzt zu gehen. Erst weigert sie sich, willigt aber letztlich ein. Der Arzt stellt nichts Eindeutiges fest, auch wenn er verdeckte Schäden nicht ausschließen kann. Er rät ihr, regelmäßig zur Kontrolle zu gehen.
Tür 18
Der Stress auf der Arbeit nimmt zu. Tobias hat viel zu wenig Zeit für seine einzelnen Patienten. Er muss viele Überstunden machen. Er kommt oft spät nach Hause, aber Sabine kommt meist noch später, so dass er oft bereits eingeschlafen ist. An diesem einen speziellen Abend jedoch findet er sie im Bett liegend vor. Bewusstlos. Neben ihr eine Packung Tabletten. Der Krankenwagen kommt noch rechtzeitig. Sie überlebt, jedoch diagnostizieren die Ärzte eine schwere Depression. Tobias macht sich Vorwürfe, weil er es nicht bemerkt hat, zugleich ist er aber wütend auf Sabine, so unglaublich wütend, weil sie ihn einfach zurücklassen wollte.
Tür 19
Sabine beginnt eine Therapie. Sie schlägt an. Es geht ihr noch nicht wirklich gut, aber besser. Und auch Tobias schafft es seine eigene Dunkelheit zurückzukämpfen. Immerhin liebt er Sabine. Deshalb will er ihr an diesem Weihnachten eine Freude machen.
Er besorgt ihr einen kleinen Welpen. Einen Zwergspitz namens „Mandy“. Sabine ist wütend, weil sie es unverantwortlich findet Tiere zu verschenken, erst recht ohne vorher darüber gesprochen zu haben. Tobias fühlt sich deswegen gekränkt. Es kommt zum Streit. Als Tobias zu seinem eigenen Erschrecken das Bedürfnis verspürt Sabine zu schlagen und für einen Moment das gehässige Grinsen seines toten Vaters zu sehen glaubt, packt er stattdessen den Hund ein und will ihn zurück zum Züchter bringen. Doch Sabine hält ihn auf. Sie willigt ein, „Mandy“ dennoch zu behalten.
Tür 20
Mit „Mandy“ bessert sich die Stimmung im Haus etwas. Die beiden lieben die quirlige Hündin. Doch irgendetwas stimmt nicht. Es fühlt sich nicht mehr so an wie früher. Tobias spürt eine Stille, eine Leere, an der nichts Friedliches ist. Seine Tage fühlen sich an wie Gefängnisse. Wie unkreative Routinen, gesteuert von einem alten, defekten Computer. Dabei tun sie alles, was möglich ist. Sie unternehmen viel, haben Sex, laden Freunde ein. Aber etwas fehlt. Noch im selben Jahr wird Sabine schwanger. Sie sagen sich beide, dass es ein Wunschkind ist, doch insgeheim fragt sich Tobias, ob es nicht eher ein Opfer ist. Ein Opfer an diese gierige Leere, die sie beide aufzufressen droht.
Tür 21
Im Sommer bringt Sabine eine Tochter zur Welt. Ein kleines Mädchen namens Nadja. Egal, was der Grund für ihre Zeugung gewesen war, die beiden sind in diesem Moment unglaublich stolz und glücklich. Kurz nach Nadjas Geburt ist der Anruf einer unbekannten Nummer auf Tobias‘ Mailbox. Er hört ihn ab. Es ist eine kurze Nachricht seiner Mutter, die wohl ihr Handy gewechselt hat. „Bitte Tobias“, sagt sie schluchzend, „bitte komm mich besuchen. So viele Geister sind hier. So viele tote Bilder. Erinnerst du dich noch an die Märchen von damals? All die Geschichten? Ich will sie dir noch einmal vorlesen. Noch einmal Mutter und Sohn sein. Nur für einen Tag. Nur noch einmal die Geister vertreiben, bevor sie mich zu sich holen. Würdest du das für mich tun?“
Tobias ruft nicht zurück. Er will diesen Moment neugeborenen Glücks nicht mit alter Traurigkeit überschatten. Dennoch kann er diesen Anruf nicht vergessen. Die Geister, von denen seine alte Mutter spricht, lassen das nicht zu.
Tür 22
Es folgen Jahre des Glücks. Beide reduzieren sie ihre Arbeitszeit, um mehr Zeit für das Kind zu haben. Sie sehen Nadja gemeinsam aufwachsen. Für einige Zeit ist es beinah wie früher. Die Leere weicht zurück. Sabine kümmert sich wieder um ihren Garten, fängt wieder an Gitarre zu spielen. Tobias liest wieder mehr und beginnt auch zu schreiben. Kleine Geschichten, die ihm helfen seine Gedanken zu sortieren. Das Haus ist erfüllt von Kinderlachen und Hundebellen. Ein glückliches Weihnachten reiht sich an das Nächste. Dann jedoch gibt es einen Rückfall. Sabines Medikament wirkt nicht mehr. Nach dem Wechsel des Präparats geht es ihr besser. Aber sie ist oft müde und ihre Lust auf Sex geht gegen null. Tobias bedrängt sie nicht, aber frisst den Frust in sich hinein. Er ist oft genervt, regt sich über Kleinigkeiten auf. Nadja wird zunehmend hyperaktiv, rennt die ganze Zeit durch die Wohnung, reißt die beiden aus dem Schlaf und wirft Dinge um oder macht sie kaputt. Tobias‘ Nerven lassen nach. Er wird nicht gewalttätig, aber immer öfter laut. Ab und zu glaubt er, die Gesichter seiner Großmutter und seines Vaters zu sehen. Immer lachen sie, lachen über seine Unfähigkeit. Sabine aber lacht nicht. Sie weint viel oder schreit, wenn ihr Tobias‘ Verhalten zu viel wird. Am schlimmsten jedoch ist das Schweigen. Jenes vorwurfsvolle Schweigen, welches Tobias gnadenlos den Spiegel vorhält. Dennoch vertragen sie sich immer wieder. Kämpfen weiter um ein bisschen Harmonie. Dann kommt Corona und der Lockdown.
Tür 23
Es dauert nur wenige Monate, bis Sabine ihren Job verliert. Die Hilfen der Regierung bringen nicht viel. Ihre Chefin hat keine andere Wahl, sagt sie. Niemand könne mehr zu Veranstaltungen gehen und so gibt es auch keine Events, die sie planen könnte und kein Geld mehr, um sie fürs Nichtstun bezahlen zu können. Sabine gibt nicht auf, versucht sich woanders zu bewerben, doch dort ist die Lage nicht besser. Sie fällt in ein tiefes Loch. Sie hat jetzt mehr Zeit für Nadja, aber kaum noch die Kraft, sich um sie zu kümmern.
Tobias muss nun wieder Vollzeit und sogar noch mehr arbeiten. Nicht nur, weil sie das Geld brauchen, sondern auch, weil er „systemrelevant“ ist. Er fühlt sich bald nicht mehr wie ein Mensch, nur noch wie ein Roboter, der nach einem straffen Plan seine Routinen abarbeitet. Er und Sabine leben nur noch nebeneinander her. Wenn Tobias nicht gerade so müde ist, dass er nach der Arbeit einschläft, schreit er Sabine oft an oder macht ihr Vorwürfe, weil sie noch keinen Job gefunden hat, meistens geht er ihr aber aus dem Weg. Dann tut es weniger weh. Dann sieht er nicht das, was hätte sein können und was noch vor Kurzem gewesen ist. Sabine schläft in den meisten Nächten auf einer Matratze in Nadjas Zimmer und behandelt ihn ihrerseits wie Luft.
Eines Abends sitzen die beiden sich gegenüber. Es ist der fünfzehnte Dezember. Draußen fällt dichter Schnee, nachdem der Monat eher herbstlich begonnen hatte. Musik läuft keine. Das Zimmer ist nicht geschmückt, wenn man einmal von dem kleinen Plüsch-Weihnachtsmann absieht, der auf der Couch sitzt und mit dem Nadja manchmal spielt. Nadja liegt in ihrem Bett und schläft. Ausnahmsweise. Mandy döst unruhig in ihrem Körbchen. Manchmal windet sie sich leise stöhnend hin und her. Tobias und Sabine wissen, dass sie Schmerzen hat, aber keiner von beiden hatte bislang die Kraft oder die Lust aufbringen können, sie zum Tierarzt zu bringen. Also haben sie es ignoriert. Wie so vieles.
Beide halten sie ein Glas mit Eierpunsch in der Hand. Er schmeckt Tobias nicht einmal wirklich, aber gehört irgendwie dazu und er hilft, etwas von seinem Frust hinunterzuschlucken, selbst wenn er weiß, dass dieser unweigerlich wieder hochkommen wird, wie hartnäckiger Schleim. Inzwischen trinken die beiden fast jeden Abend ein Glas. Manchmal auch zwei. Sie sind noch keine Alkoholiker, aber vielleicht auf einem guten Weg dorthin.
Tobias sieht seinen Vater in einer seiner halb imaginierten, halb realen Visionen. Er sitzt wie ein Kind auf den knochigen Knien seiner Oma, deren Haut inzwischen grau und trocken wie Pergament ist, während das Gesicht seines Vaters teigig und schwammig wirkt, so als würde es bald von den Knochen rinnen. Sein Vater prostet ihm mit seiner eigenen Tasse zu, in der eine gräulich-grünliche Flüssigkeit schwappt. Tobias ist sich noch immer nicht sicher, was er da immer wieder sieht. Sind es wirklich Geister der Toten, Dämonen die ihn verhöhnen wollen oder lediglich seine blumige Fantasie, die ihm einen Streich spielt. Es ist ihm im Grunde auch egal. Er hat keine Angst. Die Toten könnten ihm nicht mehr antun, als ihm das Leben schon angetan hat.
„Was tun wir hier eigentlich?“, fragt Sabine und der Klang ihrer Stimme, die diese grundlegende Frage ausspricht, die fest im Reich des Ungesagten verankert schien, lässt die Geister sofort verblassen.
Diese Frage ist entwaffnend. Tobias spürt den Reflex sie mit einem bitteren Lachen zu vertreiben, sie mit Zynismus unschädlich zu machen oder das Thema zu wechseln, doch er bringt es nicht fertig. In diesem Moment giert seine Seele nach Ehrlichkeit. „Sterben“, antwortet er und so finster diese Antwort ist, so öffnet sie doch die Schleusen für viel zu lange ungeweinte Tränen.
Sabine nickt und auch wenn sie nicht versucht ihn zu trösten, verschwindet etwas von der Härte in ihrem Gesicht. „Ist es das, was du willst?“, fragt Sabine.
Tobias nimmt einen Schluck von dem Eierlikör. Er denkt eine Weile nach. Schließlich antwortet er zögernd „Nein.“
„Ist das so?“, fragt Sabine, „Warum willst du Leben?“
„Ich kann Nadja nicht einfach allein zurücklassen und die Patienten, um die ich mich kümmern muss …“, beginnt Tobias.
„Also lebst du allein aus Pflichtgefühl?“, fragt Sabine hart, „ist dies das Vorbild, das du deiner Tochter bieten willst? Einen Tag nach dem anderen tapfer hinter sich zu bringen, bis endlich alles vorbei ist? Ist es das, was sie für ihr Leben lernen soll?“
„Natürlich nicht“, sagt Tobias leise. „Was ist mit dir? Warum lebst du?“, fragte er, auch wenn er sich mit den Gedanken an ihren gescheiterten Selbstmord ziemlich mies dabei fühlte, „Und warum hast du dich noch nicht von mir getrennt?“
Sabine starrt erst in ihr Glas, dann hinaus zum Fenster, wo sich der Schnee auf das Dach ihres Autos türmt. „Vielleicht bin ich zu müde dafür. Vielleicht warte ich aber auch auf ein Wunder“, sagte sie.
„Die sind selten in dieser Welt“, sagt Tobias.
„Und doch gibt es sie“, erwidert Sabine, „zumindest erschien es mir wie eins, dass ich den … Schlaganfall so gut überstanden und dann auch noch dich kennengelernt habe. Einige Jahre waren sehr schön.“
„Das waren sie“, sagt Tobias, während seine Gedanken in die Vergangenheit schweifen, „meinst du, das wäre wieder möglich?“
„Nein“, sagt Sabine, „wir können die Vergangenheit nicht wiederbeleben. Aber vielleicht können wir wenigstens damit aufhören uns gegenseitig das Leben schwerzumachen.“
Plötzlich steht sie auf und nimmt Tobias zum ersten Mal seit Monaten in den Arm. Es ist keine leidenschaftliche Umarmung, dennoch erschaudert er bei ihrer Berührung. „Das wäre vielleicht ein Anfang“, sagt er schwach lächelnd.
„Ein Anfang, den ich gerne mache“, sagt Sabine nun wieder deutlich nüchterner, „aber es gehören zwei dazu, OK? Ich werde mich von dir nicht mehr anschreien lassen.“
„Abgemacht“, stimmt Tobias zu, „wenn du mich dafür nicht mehr ignorierst.“
Sabine nickt, „ich tue mein Bestes.“
Plötzlich fängt Tobias schallend an zu lachen.
„Was ist so komisch?“, fragt Sabine irritiert.
„Tja“, antwortet Tobias, „wir wollen unser Leben wieder glücklicher machen und klingen dabei wie zwei steife Anwälte bei einer Vertragsverhandlung.“
Nun muss auch Sabine lächeln. „Ich denke, das tun Anwälte für gewöhnlich nicht“, sagte sie und gibt Tobias einen Kuss, der deutlich weniger flüchtig ist, als der letzte, den sie ihm vor vielen Wochen gegeben hatte.
„Das mag stimmen“, sagt Tobias rau, als sie sich wieder von ihm gelöst hat, „und was fangen wir als Erstes mit unserem neuen Leben an?“
Er streicht ihr sanft übers Haar, gleitet dann tiefer über ihren Rücken, bis hinab zu ihrem Po und küsst dabei ihren Nacken.
„Du weißt, dass das worauf das hinauslaufen soll nicht funktionieren wird“, sagt Sabine, „vielleicht, wenn ich mein Medikament wechsle. Aber fürs Erste sollten wir uns darauf beschränken, uns nicht mehr wie Fremde zu behandeln.“
„OK“, sagt Tobias niedergeschlagen.
„Jetzt schau nicht so bedröppelt“, sagt Sabine, „was hältst du davon, wenn du dir etwas von den Urlaubstagen nimmst, die du seit Ewigkeiten vor dir herschiebst und wir uns den Rest der Weihnachtszeit einfach nur auf uns konzentrieren?“
„Das klingt gut“, sagt Tobias und schluckt seinen Frust herunter.
„Vielleicht sollten wir an Weihnachten Jan und Nina einladen, so wie früher“, schlägt Sabine vor, „einfach eine schöne Zeit haben. Und wenn wir uns bis dahin nicht gegenseitig die Köpfe eingeschlagen haben, schauen wir im neuen Jahr, dass wir einige Dinge ändern. Es wäre doch gelacht, wenn wir uns von all dem Scheiß unterkriegen lassen.“
Sie hebt ihr Glas mit dem Eierlikör, „Auf einen Neuanfang!“
„Auf einen Neuanfang“, wiederholt Tobias, doch bevor er trinkt, hält er inne.
„Was ist?“, fragt Sabine.
„Ich hasse das Zeug hier, lass uns lieber mit einem Kakao anstoßen“. Dann lacht er und Sabine lacht mit ihm.
~o~
„Wie fühlst du dich?“, fragte die weiße Tochter, während sie den nachdenklichen Tobias beobachtete, der seinen fast vollständig geöffneten Kalender in der Hand hielt und das letzte Türchen anstarrte.
Tobias starrte in den endlos hinabfallenden Schnee, der sich draußen aufzutürmen schien, wobei die Schneedecke jedoch nie höher als etwa einen halben Meter wurde. Dann antwortete er, ohne die weiße Tochter anzusehen, „Erschöpft. All die Erinnerungen … es ist schwer zu akzeptieren, dass sie zu meinem Leben gehören.“
„Fühlst du dich denn besser als vorher?“, hakte sie nach, „meinst du es ist all die Mühe wert gewesen, bis hierhin?“
„Ich weiß es nicht. Da ist viel Verzweiflung und Dunkelheit. Aber auch schöne Momente.“
Erneut nahm er einen Schluck von seinem Apfeltee.
„Nein“, sagte er, „besser fühle ich mich nicht, aber vollständiger. Ja, ich denke, jeder sollte eine Geschichte haben. Sabine, Nadja, Mandy, meine Mutter und selbst mein Vater und meine Großmutter gehören zu meiner. Ich liebe, hasse, vermisse sie und allein dadurch bin ich weniger allein. Dafür, weiße Tochter, bin ich dir dankbar.“
„Dann lass es nun endlich gut sein“, sagte die weiße Tochter, „gib mir den Kalender und finde deinen Frieden.“
„Das kann ich nicht“, widersprach Tobias, „niemand kann wahrhaftig SEIN, ohne zu wissen, welchen Weg er gekommen ist. Man muss seine Schritte kennen. Jeden einzelnen davon, und ein Türchen ist noch immer geschlossen.“
„Dann öffne es, aber vergiss nicht, dass es dann kein Zurück mehr gibt“, seufzte die weiße Tochter.
„Das vergesse ich nicht. Ich will nie wieder etwas vergessen. Und wo wir schon dabei sind: Warst du es eigentlich, die mir die Erinnerungen genommen hast? Du kannst es mir ruhig sagen, ich bin dir deswegen nicht böse, denn du bist ja gerade dabei sie mir zurückzugeben“, sagte Tobias.
„Auch das wirst du bald genug erfahren“, erwiderte die blasse Frau.
Tobias nickte. Und dann machte er sich daran, seine Antworten zu erhalten.
Tür 24
Die letzten Tage vor Weihnachten verlaufen tatsächlich besser als die davor, wenn auch nicht ganz so, wie Tobias und Sabine es sich vorgestellt hatten. Urlaub sei im Moment nicht drin, sagt seine Chefin, als er sie deswegen anspricht. Erst recht nicht um die Weihnachtstage herum. Aber Tobias, der diese Chance auf einen Neuanfang nicht verstreichen lassen will, geht stattdessen zu seinem Hausarzt und bittet diesen, ihn wegen Burnout krankzuschreiben, was dieser schon aufgrund Tobias‘ stressigen Berufs und seiner nach wie vor nicht eben rosigen physischen Verfassung auch tut. Es ist kein Blaumachen. Tobias merkt selbst, dass er kurz davor steht zusammenzubrechen.
Trotzdem fühlt er sich schuldig wegen seiner Kollegen und Patienten und er machte sich auch Sorgen darüber, wie sein Chef auf seine Abwesenheit reagieren wird, wenn er nächstes Jahr wieder zur Arbeit zurückkehrt. Er versucht diese Gedanken zu verdrängen, aber je mehr er das versucht, desto mehr legen sie sich wie ein klebriger Schleier über sein Gemüt.
Der Umgang zwischen ihm und Sabine wird immerhin etwas herzlicher. Sie schlafen wieder im selben Bett, auch wenn es Tobias stört, dass außer Schlafen, Kuscheln und Reden dort nichts läuft, und sie hören damit auf, einander anzugiften oder zu ignorieren. Dabei hilft ihnen der Gedanke an das bevorstehende Fest. Sowohl Tobias als auch Sabine lieben Weihnachten und so nehmen sie sich viel Zeit alles liebevoll zu dekorieren und flüchteten sich in einen Wohlfühlkokon aus vorweihnachtlicher Stimmung.
Leider hielten Nadja und Mandy sie weiterhin zuverlässig auf Trab. Während ihre Tochter zwei Porzellanengel zerbricht und einmal den gesamten, geschmückten Baum umschmeißt und damit einen beachtlichen Scherbenhaufen produziert, knabbert die Hündin an einer – zum Glück noch nicht eingesteckten – Lichterkette und erleichtert sich am gerade erst wieder hergerichteten Weihnachtsbaum. Zu allem Überfluss muss Tobias, der nun viel mehr Zeit zum Denken hat als sonst, oft gegen seinen Willen an seine Mutter denken. Er fragt sich, wo sie jetzt wohl gerade feiert, ob sie sich einen neuen Tyrannen als Mann gesucht hat oder jetzt vollkommen allein ist. Diese Vorstellung macht ihn traurig, auch wenn er ihr ihren Verrat von damals noch immer nicht verziehen hat.
Dennoch ist Tobias noch in einer akzeptablen Stimmung, als der Heilige Abend endlich kommt. Das Raclette ist aufgebaut, der Wein steht bereit und die Geschenke liegen unter dem mit neuen Kugeln reich geschmückten Baum. Als es an der Tür klingelt, rennt Nadja mit fliegenden Füßen los, um Jan und Nina Willkommen zu heißen. Doch an der Tür erwartet sie allein Jan, der ihnen niedergeschlagen eröffnet, dass sich Nina vor ein paar Tagen von ihm getrennt hat. Tobias klopft Jan flüchtig auf die Schulter und spricht ihm Mut zu, während Sabine ihn fest in die Arme schließt und ihn tröstet. Es kommt Tobias vor, als würde in dieser Umarmung mehr Zärtlichkeit liegen, als in allein jenen, die sie ihm in den letzten Monaten hatte zuteilwerden lassen, zusammen. Sein Vater, dessen wurmstichiges Gesicht er nun wieder aus dem Augenwinkel erblickt, stimmte ihm nickend zu.
Sie setzen sich zusammen auf die Couch und sprechen mit Jan über seine Trennung, während Nadja lautstark kundtut, dass sie endlich ihre Geschenke auspacken will. Warum Nina sich von Jan getrennt hat, bekommt Tobias kaum mit. Irgendwas mit „auseinandergelebt“ wahrscheinlich. Viel mehr interessiert sich Tobias ohnehin für den Umstand, dass Sabine Jan immer wieder tröstend über die Hand streicht oder ihn in die Arme nimmt, wenn seine sicher tränenreiche Geschichte einen neuen Höhepunkt erreicht. Tobias fühlt, wie sich ein leichtes, aber verdammt unangenehmes Brennen in seiner Brust ausbreitet. Als Nadja endlich ihren Willen bekommt und die Geschenke ausgepackt werden, vibriert sein Handy. Reflexartig nimmt er es in die Hand und sieht auf das Display. Es ist seine Chefin. Offenbar hat sie ihm einen kleinen Weihnachtsgruß gesandt:
„Hallo Tobias. Ich hoffe, du genießt deinen „Sonderurlaub“. Danke, dass du uns im Stich lässt. Wir werden da im Januar noch ein Wörtchen drüber reden. Frohe Weihnachten!“
Tobias fängt an zu zittern. Schweiß steht auf seiner Stirn. Das ist so gut wie eine Kündigung. Natürlich darf in Deutschland niemand einfach so gekündigt werden, nur weil er krank ist, aber Arbeitgeber finden da ja oft genug ein Schlupfloch oder einen Vorwand und ob er gerade die Kraft hat, einen Prozess durchzustehen, weiß er nicht.
„Was ist los, Schatz?“, fragt Sabine, die gerade ein Buch über Gartengestaltung begutachtet, welches Jan ihr geschenkt hat. Es ist das erste Mal, seit Jan gekommen ist, dass sie Tobias anspricht, „alles in Ordnung?“
„Ja“, antwortet Tobias, „nur ein Weihnachtsgruß von meiner Chefin.“ Das ist immerhin nicht gelogen, auch wenn es am Kern der Sache vorbeigeht. Mehr bringt Tobias jedoch nicht hervor, auch wenn er sich vorstellen kann, dass es ihm Erleichterung verschaffen würde, aber die Worte liegen schwer und träge wie Blei auf seiner Zunge.
„Das ist ja nett“, sagt Jan, der inzwischen wieder in spürbar besserer Stimmung ist. Sicher auch durch Sabines liebevolle Zuwendung, „mein Chef würde nie auf so eine Idee kommen.“
„Ja. Sehr nett“, sagt Tobias nur knapp.
Den Rest der Geschenke-Zeremonie erlebt er wie in Trance, während Sabine mit Jan, den sie schon länger kennt, als Tobias über alte Zeiten plaudert. Seine Geschenke nimmt er so achtlos nickend entgegen, wie den Dank, der ihm entgegengebracht wird. Das Einzige, was er wirklich mitbekommt, ist, dass Jan Nadja einen Basketball geschenkt hat. „Damit sie sich ein wenig austoben kann“, erklärt er und genau das tut sie dann auch. Wie eine Furie stürmt sie mit ihrem Ball durch die Wohnung und macht sich einen Spaß daraus ihn immer höher und höher springen zu lassen und kaum, da die drei sich zum Essen hingesetzt haben landet der Ball auf dem Tisch und wirft gleich mehrere Gläser um, deren Inhalt sich über dem Essen, der Tischdecke und ihrer Kleidung verteilt.
Als Sabine Nadja deswegen zurechtweist, fängt sie an zu weinen und wirf aus Trotz den Ball direkt in die Vitrine. Tobias bleibt still. Er kann nichts dazu sagen. Er spürte, wie der Druck sich in ihm immer weiter aufstaut, sieht sich aber nicht in der Lage ihn entweichen zu lassen. Also schweigt er und überlässt es Sabine ihre Tochter ins Bett zu bringen, die sich so vehement wert, dass sie schließlich die Tür abschließt. „Du hast Hausarrest, Fräulein“, sagt sie streng, geht zurück ins Esszimmer und dreht die Weihnachtsmusik lauter.
Eine Zeitlang hören sie dennoch noch die empörten Schreie und das Geräusch der kleinen Fäuste, die gegen die Tür hämmern, irgendwann jedoch scheint Nadja endlich aufzugeben. „Du könntest dich ruhig auch mal um Nadja kümmern“, zischt Sabine Tobias im Vorbeigehen ins Ohr, bevor sie sich wieder an den Tisch setzt. Tobias reagiert nicht darauf, sondern konzentriert sich lieber aufs Essen. Während er lustlos seine Pilze, Kartoffelscheiben, Hähnchenbruststücke und Zwiebeln auf dem Raclette brutzelt, gelegentlich am Rotwein nippt und ihm die treibenden Klänge von „Jingle Bells“ lautstark in die Ohren boxen, sieht er weder Sabine noch Jan an, sondern starrt auf den freien Stuhl, auf dem eigentlich Nina hätte sitzen sollen. Dort sieht er stattdessen seinen Vater sitzen. Widerlich und verrottend, jedoch mit der unangenehmen Autorität eines Sadisten ausgestattet. Er sagt nichts, macht keine provokanten Bewegungen und Gesten, sondern lächelt ihn einfach nur stumm an, während seine ausgetrockneten Augen Tobias hypnotisch in ihren Bann ziehen.
„Tobias, ist mit dir wirklich alles OK?“, erkundigt sich Sabine. Tobias nickt und sein Vater tut es ihm gleich, so als gäbe es ein unsichtbares Band zwischen ihnen. Vielleicht gibt es das. Vielleicht hat sie der Hass aneinander gekettet, vielleicht auch etwas anderes. Tobias meint einen Ruck zu spüren, einen Ruck, der ihn in eine ganz bestimmte Richtung ziehen soll. „Nein“, sagt Tobias schließlich doch, „ich bin ein wenig müde. Vielleicht sollte ich mich lieber hinlegen und den Abend euch beiden überlassen.“ Der Sarkasmus in seinen Worten ist so subtil, dass beide ihn überhören.
„Ach Quatsch“, widerspricht Jan, „der Abend hat doch gerade erst angefangen. Du bist neununddreißig, Mann, nicht neunzig. Wir wollen gleich doch bestimmt noch was singen und ich habe diesen Film mitgebracht, der …“
„Riecht ihr das?“, fragt Sabine plötzlich.
Tobias bläht die Nasenflügel. Ein süßlicher, durchdringender Geruch kämpft sich durch die Essensdüfte. Tobias dreht sich um und sie ihre Hündin Mandy, die einen großen Durchfallhaufen über dem gesamten Teppich verteilt hat und sie alle nun schuldbewusst anblickt. Für den Bruchteil einer Sekunde sieht Tobias sich neben dem Tier knien, mit einem schweren Gegenstand in der Hand und Mandys kleinen Kopf in eine Ruine aus Blut und Fleisch verwandeln. Statt dieser sadistischen Vision zu folgen, steht er aber einfach nur auf, holt einige Küchentücher, etwas Reiniger und macht sich daran die Schweinerei zu beseitigen. „Warte, ich helfe dir“, bietet Sabine ihm an. „Niemand kann mir mehr helfen“, flüsterte Tobias unhörbar, während er wie in Trance den Kot aus dem Teppich scheuert. Laut sagte er „Schon gut.“
Also öffnet Sabine lediglich ein Fenster, woraufhin kalte Luft durch das Zimmer weht, setzt sich dann zurück an den Tisch und setzt ihren subtilen Flirt mit Jan fort.
Nach einigen Minuten ist Tobias fertig. Der Geruch des Kots klebt noch immer in seiner Nase. Trotzdem geht er nun doch nicht ins Bett, sondern fährt damit fort sich Pfännchen zu füllen, in den Raclette-Grill zu schieben und ihren Inhalt ohne Begeisterung zu verschlingen. Er muss das tun, muss sich irgendwie beschäftigt halten, damit das Brennen und dieser Sog, den er in sich spürt, nicht Überhand nehmen. Das Lächeln seines Vaters, den er nun unablässig sieht, ist breiter geworden und er glaubt fast, seinen Leichengestank zu riechen, der sich mit dem des Hundekots mischt. Trotzdem trink und kaut und atmet er weiter. Durchhalten, denkt er, einfach nur durchhalten bis zum nächsten Morgen und dann … was auch immer dann sein wird.
Plötzlich vibrierte sein Handy erneut. Die Vibration verschmilzt mit dem brennenden, elektrischen Knistern, welches er seit Beginn dieses Abends in seiner Brust fühlt. Er weiß, dass er der Versuchung widerstehen sollte, dass er sein Handy am besten wegwerfen sollte. Aber er sieht seiner eigenen Hand hilflos dabei zu, wie sie in seine Hosentasche gleitet. Aus dem Augenwinkel registrierte er, dass die Hand seines Vaters seine Bewegung pantomimisch nachahmt. Er blickt aufs Display. Es ist ein Anruf von einer unbekannten Nummer. Er hebt ab.
Am anderen Ende erklingt die Stimme einer Fremden, „Guten Abend. Mein Name ist Annette Schmer, ich bin von der Polizei. Es tut mir leid, sie stören zu müssen. Vor allem an Weihnachten, aber ihre Mutter … wir haben sie gefunden. Sie … hat sich erhängt, in ihrer eigenen Wohnung. Wie gesagt, es tut mir wirklich leid, dass ich ihnen solch eine Nachricht an Weihnachten überbringen muss, wenn ich irgendetwas …“
Er lässt das Handy auf den Boden fallen. Sein ganzer Körper zittert. Seine Mutter ist gestorben. Vermutlich allein, und in dem Wissen, dass sie niemanden mehr hatte und das sie ihrem eigenen Sohn völlig gleichgültig war. Tobias innerer Widerstreit darüber, ob er seine Mutter vielleicht doch noch einmal besuchen sollte, ist für ihn beendet worden, ohne, dass er eine Entscheidung getroffen hat. Für einen Moment sieht er seine Mutter mit toten Augen auf dem Esstisch liegen. Ihr Fleisch zerfließt brutzelnd wie Butter auf dem Raclette-Ofen. Ihr starrer Mund ist geformt zu einem stummen Vorwurf. Die Last seines schlechten Gewissens zerschmettert die dünne Wand aus Selbstbeherrschung, die Tobias sich mühsam aufgebaut hat. Plötzlich ist seine Mutter verschwunden, aus der Geisterwelt entschwunden, so wie sie auch aus der realen Welt entschwunden war. Stattdessen sitzt nun seine Großmutter auf dem Tisch, runzlig, gehässig und halb verfault. Tobias‘ Hand schließt sich fester um das Messer, welches er gerade noch benutzt hat, um ein Stück Hähnchenbrust zu zerteilen. „Du bist ein böser kleiner Junge, Tobias“, sagt sie mit trockener, unendlich alter Stimme, „Und das wirst du immer bleiben.“
Diesmal stimmt Tobias ihr zu.
~o~
Die Polizistin, Frau Schmer, hat über Tobias‘ Telefon alles mit angehört. Die Schreie. Die Geräusche des kurzen Kampfes zwischen Sabine und Tobias. Das röchelnde, qualvolle Verenden von Jan. Das Kläffen von Mandy und die verwirrten Rufe von Nadja. Die Beiden haben es überlebt, da Tobias sie nicht angerührt hat. Für Sabine und Jan hingegen kam jede Hilfe zu spät. Jan war schnell gestorben, an einem glatten Schnitt an der Kehle. Sabine hingegen war dem Blutverlust erlegen, nachdem Tobias ihren Körper mit mehreren Messerstichen regelrecht perforiert hatte. Sie hatte ihn immer wieder gefragt, warum er es tat. Die Polizei hatte es ihn gefragt und auch er selbst hatte sich diese Frage immer und immer wieder gestellt. Niemandem hatte er eine Antwort geben können. Er hätte sich von Sabine trennen können, hätte eine Therapie machen können, hätte einfach weglaufen und woanders ein neues Leben beginnen können, hätte einfach in sein Zimmer gehen und diesen beschissenen Heiligabend verschlafen können. Aber all das ist einfach passiert. Wie ein Naturereignis. Wie eine Explosion; unkontrolliert und willkürlich und hervorgerufen durch hundert winzigen Sprengsätze. Dennoch gibt Tobias sich nicht der Illusion hin, für all das nicht verantwortlich zu sein. Er ist schuld. Und die Last dieser großen, unfassbaren Schuld spürt er auch noch, als die Vision endete und der Kalender in seiner Hand zerschmolz.
~o~
„Nein!“, schrie Tobias, „Nein, das darf nicht sein! Das bin nicht ich! Das darf einfach nicht so gewesen sein!“
„So war es aber, Tobias“, sagte die weiße Tochter, „das ist deine Geschichte. Das ist es, wer du warst. Das Gute und das Schlechte. Das kann ich nicht ändern. Ich konnte dich nur vergessen lassen und deinen Geist vor der Welt in Sicherheit bringen. Ein Geschenk, das ich nur guten Menschen biete, die etwas sehr Schlechtes getan haben. Wie sehr ich mir gewünscht hätte, dass du es angenommen hättest. Wie sehr ich es dir gegönnt hätte.“
Eine klare Träne wuchs aus den Augen der weißen Tochter und rutschte als winziger Eiskristall ihr Gesicht hinab.
„Nein, ich will vergessen!!“, schrie Tobias und griff nach der kleinen Schneekugel auf dem Tisch, doch noch eh er sie erreichte zerfloss sie in klares Wasser, welches Spurlos in das Holz einsickerte.
Er wandte sich zur weißen Tochter um. „Mach mir eine neue Kugel!“, verlangte er. Doch sie schüttelte nur den Kopf. Ein dunkler Impuls wurde in Tobias wach, so wie damals an diesem tragischen Weihnachtsabend. Er wollte sie greifen, schütteln, schlagen und bedrohen, bis sie seinem Drängen nachgeben würde. Doch eh er irgendwas davon tun konnte, begann sie zu verblassen.
„Leb wohl, Tobias“, sagte sie, während ihre Gestalt für immer aus Tobias‘ endloser Gegenwart verschwand, „genieße das Wissen über deine Geschichte.“
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Tobias genoss all das nicht, aber die weiße Tochter genoss den Wind, der durch ihre Haare strich, während sie sich wie ein Vogel in die Lüfte erhob. Tobias, der eigentlich Michael hieß, konnte sie nun nicht mehr sehen, aber dafür konnte SIE ihn sehen, wie er vor seiner kleinen Hütte stand und fluchte. Es wäre zu viel gewesen zu behaupten, dass sie sich an seinem Leid ergötzte, aber zumindest war es für sie ganz interessant ihn zu beobachten.
Ihr Geschäft war für gewöhnlich das Vergessen. Menschen von sich selbst und ihrem Leben zu entfremden, sie zu isolieren und in ihre ganz persönliche kleine Blase einzusperren, darauf verstand sie sich. Die Erinnerungen, die sie ihnen aus den Köpfen riss, waren ihr ein Gelage und das matte, aber beständige Glühen ihrer beraubten Geister, war ihr ein erfrischendes Rinnsal. Doch so sehr sie das Vergessen liebte und so gern sie es in allen erweckte, an die sie Hand anlegen konnte – Komatöse, Demente, Verwirrte, Menschen und andere denkende Geschöpfe mit Amnesie –, so hatte sich im Laufe der Äonen doch gezeigt, dass nicht jeder Geist sich rückstandslos von Erinnerungen reinigen lässt. Manche – wie Michael – hielten hartnäckig daran fest und wann immer sie ihre Zähne in die Lebensgeschichte eines dieser Widerspenstigen schlug und es in großen, blutigen Brocken aus ihnen herausreißt, blieb ein winziger Teil zurück. Sie hätte es ignorieren können, hätte sie einfach mit ihrer unerfüllten Sehnsucht und ihren bohrenden Fragen allein lassen können, doch das war gefährlich. Denn ab und an gelang es einigen von diesen unruhigen Geistern, die Blutspur des mentalen Massakers zurückzuverfolgen, welches sie in ihnen angerichtet hatte. Und manche, deren Willen nach all den endlosen, leeren Tagen noch stark genug war, holten sich das zurück, was sie, die weiße Tochter, zu einem Teil von sich gemacht hatte. Jedes mal, wo sie so etwas hatte erleben können, war der Schmerz des Verlustes grauenhaft gewesen, hatte sie fast auseinandergerissen. Deshalb hatte sie gelernt damit umzugehen. Falsche Erinnerungen ließen sich leicht erzeugen. Sie besitzen nicht die bleierne Schwere von realen Erfahrungen und kosten sie fast keine Kraft, aber sie bringen den unschätzbaren Vorteil mit sich, die Suchenden von ihrer Suche abhalten zu können. Sie mögen mit ihrem Schicksal und ihrer Geschichte hadern, aber sie werden letztlich doch akzeptieren, weil es die einzige Wahrheit ist, die sie besitzen.
Soweit sich die weiße Tochter erinnerte, war Michaels wahres Leben weitaus schöner gewesen. Trotzdem hatte sie ihm sicherheitshalber lieber diese düstere Erzählung dargeboten. Denn zu viele gute Erinnerungen halten das Misstrauen wach. Die Leute akzeptieren nicht, dass sie von allen gefeierte Rockstars gewesen waren, die die große Liebe gefunden haben oder dass sie Wissenschaftler waren, deren Forschung dabei geholfen hatte, eine grauenhafte Krankheit zu besiegen. Aber sie sind durchaus bereit zu glauben, dass sie kleine, unbedeutende Lichter gewesen waren, denen das Leben beständig in den Arsch getreten hatte. Dass jemand diese trügerische Rückführung vorzeitig abbrach, war ihr genauso recht, denn das bedeutete ebenfalls, dass er seine Suche aufgegeben hatte. Ohnehin geschah dies äußerst selten. Die Meisten waren dafür schlicht zu neugierig.
Vor allem jedoch war es wichtig, dass die Widerspenstigen nicht mehr zurückwollten, dass die Vorstellung, sich all den Grausamkeiten stellen zu müssen, die sie begangen hatten, all den Überlebenden, die sie traumatisiert hatten und die sie nun aus tiefstem Herzen hassten, schlimmer war, als jenes ereignislose Gefängnis aus Tannen und Schnee.
Schuld war eine bessere Fessel, eine bessere Vorsichtsmaßnahme als selbst jene unsichtbare Barriere, welche die weiße Tochter in diesem Moment durchstieß. Kaum, da sie dies getan hatte, dehnte sich ihr Körper auf das Zweihundertfache aus. Sie wurde eine Göttin, eine Gigantin, die zwischen der sternenlose Leere umhertrieb und fast liebevoll einen Blick auf ihr Lebenswerk warf. Jene endlos scheinende Vitrine voll mit kleinen, schimmernden Schneekugeln in denen kleine, atmende Geschichten ihren Apfeltee tranken und in Gedanken knisternd weiße Seiten umblätterten, von den sie alle wahren Buchstaben gestohlen hatte.