Weihnachtswelt


Alles begann mit den Lebkuchengeschwüren. Sie wucherten in Läden und Weihnachtsmarktständen, in den Straßen und Fußgängerzonen, ja irgendwann sogar in den gottverdammten Parks und Wäldern. Es mag für Sie lächerlich klingen, aber glauben Sie mir, wenn Sie einen Großteil Ihres Lebens inmitten dieses herbsüßen Geruchs verbringen mussten, bis Ihn allein der Gedanke daran Brechreiz bereitet und sie am Ende dennoch gezwungen sind, sich von dieser widerwärtigen, klebrigen Masse zu ernähren, denken Sie anders. Es ist nicht so, dass wir alle nicht wissen, dass das Zeug nicht gut für uns ist. Uns ist bewusst, dass all der Zucker darin unsere Zähne auflöst und unseren Stoffwechsel schädigt, dass der ständige Vitamin- und Eiweißmangel uns in menschliche Wracks verwandelt, dass jeder Bissen ein Schritt in den klebrigen Abgrund ist. Aber wir haben kaum noch eine andere Wahl.

Was glauben Sie, warum ich so aussehe? Ich bin zweiunddreißig Jahre alt, verdammt, egal wie oft sie mich als „Alte Hexe“ bezeichnen. Es ist doch nur Zucker, werden Sie wahrscheinlich denken, aber Zucker ist Gift und wie bei jedem Gift kommt es auf die Dosis an. Und es ist auch nicht nur der Zucker allein, der die Lebkuchengeschwüre so gefährlich macht. Es steckt noch viel mehr in diesen braunen, zuckenden Wülsten aus gewürztem Teig. Wir nennen sie nicht nur deshalb Geschwüre, weil sie wie Unkraut aus jeder Ecke hervorwuchern. Viele von uns bekommen davon auch echten Krebs, Tumore so groß wie verfickte Christbaumkugeln oder sogar noch Schlimmeres. Sie hätten einmal Thomas sehen sollen, kurz bevor es ihn dahingerafft hat. Alles an ihm war aufgebläht und unförmig wie bei einem Kadaver der zu lange in der Sonne gelegen hatte, er sah aus wie ein atmender Müllhaufen. Konnte nicht mehr sprechen, nichts mehr sehen, nichts mehr hören. Nicht mal sein Gesicht hab ich noch gekannt und dabei war er mein Verlobter gewesen bevor es passierte. Ich hatte oft genug darüber nachgedacht es zu beenden, ich wusste, dass er es gewollt hätte, aber ich konnte es nichts übers Herz bringen. Dann wäre ich ganz allein gewesen. Letztlich ist er jämmerlich erstickt als die Geschwüre seine Lungen verstopften oder vielleicht auch als seine Nasenöffnungen zuwuchsen.

Thomas hat das Zeug gefressen als wär’s das geilste auf der Welt. Ich wollte ihn davon abhalten, aber er hat nicht auf mich gehört. Er hat einfach nicht auf mich gehört und er hatte sich leider nicht so gut im Griff wie ich. Ich hab keine Ahnung ob in dem Zeug Würmer drin sind, ein Virus, Parasiten, irgendein gefährlicher Stoff oder ob ein Fluch darauf liegt, aber Herrgott nochmal, wir wissen zwar, dass der Lebkuchen uns zerstört, dass ef reinstes Gift ist, aber der Duft, so ekelhaft er auch sein mag, ist zugleich auch verlockend. Wenn der Hunger erst groß genug ist, wird fast jeder schwach und wer auch nur einmal davon gekostet hat, der scheint fast zwangsläufig süchtig nach diesem Mist zu werden. Auch ich esse davon, wenn auch längst nicht so viel wie Thomas. Und ich träume davon mich einfach durch einen ganzen Berg dieser Abscheulichkeiten zu fressen als wäre ich im verdammten Schlaraffenland.

Außerdem gibt es fast nichts anderes mehr zu fressen. Unsere Getreidefelder sind dem Lebkuchen weitestgehend zum Opfer gefallen. Die Waren in den Supermärkten ebenfalls, sofern sie sich nicht schon vorher in Weihnachtssüßigkeiten verwandelt hatten, die zwar nicht so gefährlich wie der Lebkuchen, aber auch nicht sonderlich nahrhaft sind, oder bereits von hungrigen Menschen geplündert worden waren. Was wir noch nach an Gemüsebeeten, Obstbäumen oder sonstiger Vegetation besaßen, ist uns einfach unter den Händen weggefault und etwas Neues anzupflanzen, können Sie vergessen. Es wächst einfach nichts in dieser gottverlassenen Welt. Wie auch? Es ist immer nur Winter. Ständig nur dieser unnatürliche Winter und dieser unselige, erstickende Schnee. Wissen Sie, dass ich Schnee als Kind mal geliebt habe? Wie ein schwachsinniger bin ich glucksend durch die Gegend gehüpft wenn sich auch nur die erbärmlichste Flocke am Himmel zeigte. Nun würde ich das Zeug am liebsten mit einem Flammenwerfer wegbrennen und die ganze Welt mit ihm.

Jedenfalls, wie ich schon sagte, gibt es keine frische Nahrung mehr. Fast keine Vitamine, kaum noch etwas, dass nicht klebrig süß, ekelhaft würzig, hoffnungslos überzuckert oder von irgendetwas düsterem verseucht ist. Anfangs hatten einige von uns noch das Glück gehabt ein paar Konserven in ihren Häusern und Wohnungen vorzufinden, die sich noch nicht wie von Zauberhand in Spekulatius oder Christstollen verwandelt hatten. Eingelegte Oliven, Champignons, Bohnen, Spargel, Mais. Sie wissen schon, wovon ich rede, bei ihnen gibt es das alles ja noch wie Sand am Meer. Oh, was würde ich alles für eine schöne, salzige, bittere Olive geben…

Es dauerte natürlich nicht lange, bis die Verteilungskämpfe anfingen. Christliche Nächstenliebe und so. Es bildeten sich Raubkommandos und marodierende Banden, die in Häuser und Wohnungen einbrachen und den Familien darin ihre letzten Vorräte stahlen. Zumindest die Netteren unter ihnen. Die weniger Netten hinterließen nicht nur geplünderte Vorratskammern, sondern auch geschändete Leichen oder traumatisierte Bewohner, die so lange gefoltert oder vergewaltigt worden waren, dass sie sich kaum noch von den Leichen unterschieden. Einige verbanden auch das „Angenehme“ mit dem „Nützlichen“ und nahmen sich das ein oder andere Souvenir mit. Wenn sie lange genug nichts anderes als Süßkram an ihre eitrigen Zahnstummel gelassen haben, sind Manche einem herzhaften Stück Langschwein nicht mehr sonderlich abgeneigt. Aber auch jene, die sich darauf beschränkten Vorräte zu rauben, brachten ihren Opfern letztlich Tod und Verderben. Als sie wieder gingen, kam der Hunger und zugleich auch ein noch viel hinterhältigerer Feind: Bislang hatten die Häuser der Ausgeraubten noch Schutz vor den heranrückenden Lebkuchengeschwüren geboten, aber nun wo die Fenster gesplittert und die Türen aufgebrochen waren, dauerte es nicht lange, bis sie ins Innere der einstmaligen Zufluchten eindrangen und den verzweifelten Bewohnern ihr giftiges Versprechen darboten, dem sie bisher noch erfolgreich widerstanden hatten.

Doch nicht alle von uns wurden zu Monstern, die raubten, mordeten und schändeten. Manche versuchten auf andere Weise an Nahrung zu gelangen. Denn irgendwo dort draußen – so erzählt man sich – gibt es auch noch den ein oder anderen Bratapfel, Fisch oder auch saftige Weihnachtsgänse, aber der Weg zu diesen Schätzen ist gefährlich. Extrem gefährlich.

Sie können sich nicht vorstellen, wie die Welt inzwischen aussieht. Endlose Landschaften überwuchert von schwärenden Lebkuchenkrusten, deren Dämpfe die Luft so dick und schwer machen, dass sie sich in etwa so gut atmen lässt wie Zuckerwatte. Weitverzweigte Flüsse aus kochend heißem Glühwein und Kakao, deren Inhalt nur langsam abkühlt und deshalb schon so einigen die Kehle verbrüht haben, die ihren Durst nicht mehr ertragen konnten. Gebirge aus Schnee und Christstollen in denen fleischfressende Rentiere, kleine sadistische und ganz und gar misanthropische Weihnachtselfen und andere Kreaturen wohnen, die sich jeden greifen, der so dumm ist, sich in ihrer Nähe zur Ruhe zu betten. Manche behaupteten sie wären intelligent und man könnte mit ihnen reden, aber wer das versuchte kehrte nicht mehr wieder. Wälder voller Tannen – den einzig verbliebenen Grünpflanzen – die Reisenden die Sinne vernebeln, sie in die Irre führen und häufig genug in ihren harzigen Eingeweiden verschlucken. Versanddrohnen, die wie verwirrte, verlorene Vögel umherschweifen und gelegentlich Geschenke abwerfen, die selten nützlich, aber oft so schwer sind, dass sie zu üblen Verletzungen führen, wenn man das Pech hat davon erwischt zu werden. Am schlimmsten aber, sind die Weihnachtsmärkte. Jene Orte, an denen alles begonnen hat.

Schattenhafte, zyklopische Auswüchse drogengeschwängerter Alpträume, über denen verzerrte Weihnachtsmusik wie ein leierndes Leichentuch aus ohrenzerfressenden Misstönen liegt. Dort streifen die gequälten Geister jener umher, die ihr Leben ließen, als die Katastrophe ihren Anfang nahm. Viele der betroffenen Standbesitzer stehen noch immer hinter ihren Ständen und bieten ihre selbstgemachten Seifen, ihre Räuchermännchen und Krippenfiguren einer namenlosen Kundschaft dar. Wenn ein Lebender sich ihnen zu sehr nähert, blüht ihm nichts Gutes. Wenn er Glück hat, wird er von den wütenden Geistern der Budenbesitzer entseelt und vernichtet, wenn er weniger Glück hat, wird er seinerseits zu einem schattenhaften „Kunden“, der dazu gezwungen ist sich für den Rest der Ewigkeit mit den Auslagen zu beschäftigen und der sich nie wieder von seinem Stand entfernen darf. Die einzige Möglichkeit für einen Besucher, dem zu entgehen, ist es, seinen Blick nie länger als wenige Sekunden auf die Buden zu richten und sich – soweit es geht – von ihnen zu fernzuhalten.

Dann gibt es da noch die „Genährten“. Ehemalige Besucher der Weihnachtsmärkte, die im Zentrum der ursprünglichen Lebkuchenexpansion gestanden hatten und die eine Verbindung mit den Lebekuchentumoren eingegangen sind. Sie sind schrecklich anzuschauen, verwachsen, unförmig und kaum noch von menschlicher Gestalt, jedoch mit einem beständigen Hunger nach eben jenen Wesen, von denen sie abstammen. Der Lebkuchen, den die „Genährten“, aussondern wie bittersüßen Schweiß ist hochansteckend und muss dafür nicht einmal verschluckt werden. Es reicht, wenn man mit ihm in Hautkontakt gerät, um seine Menschlichkeit für immer einzubüßen.

Die wahren Könige der neuen Welt sind jedoch – wie sollte es auch anders sein – die Weihnachtsmänner. Sie dirigieren dieses Theater der Verdammten ganz nach ihrem Belieben und hocken wie rot gewandete Spinnen im Zentrum dieser weihnachtlichen Pestbeulen. Sie sind unsterblich, ohne jede Güte oder Gnade und unglaublich mächtig, aber wenn man äußerst vorsichtig und entschlossen ist, kann man an ihnen vorbei in das Zentrum der Märkte gelangen, wo Raum und Zeit dermaßen verzerrt werden, dass alles möglich ist. All das weiß ich, da mir dieses Kunststück gelungen ist, obwohl ich mehrmals sehr nah dran war zu sterben oder ein noch schlimmeres Schicksal zu erleiden. Ich weiß nicht, ob ich die Erste bin, der dies gelungen ist, denn wir wissen nicht, wie es jenseits unserer Stadt aussieht, wissen nicht ob die Weihnachtlichkeit bereits alle Teile der Welt überrannt hat und ob es dort Draußen noch irgendwelche Menschen gibt, die verrückt und findig genug sind diese Selbstmordmission auf sich zu nehmen und auch noch zu überleben.

Aber ich bin hier, und deshalb kann ich Sie warnen. Ich kann Sie warnen, vor einer schrecklichen Zukunft, die ich hautnah erlebt habe und die Ihnen allen noch bevorsteht, wenn Sie nicht alles tun, um sie zu verhindern. Weihnachten hat schon lange seine ursprüngliche Bedeutung verloren und genau darin liegt die Gefahr. Wenn Symbole und Rituale ihren einstmaligen Sinn überleben, können sie zur Bedrohung werden. Ich rede dabei nicht unbedingt von dem christlichen Tamtam – das ist nicht wesentlich, aber wenn von einem Fest, bei dem es um Besinnlichkeit und Nächstenliebe geht, nichts als Tonnen von Kitsch und Süßigkeiten, von blinkenden Rentieren, von sprechenden Weihnachtsmännern, absurden Adventskalendern, schlechten Weihnachtsfilmen und Tankladungen voll Plastik bleiben, braucht man sich nicht zu wundern, wenn das irgendwann außer Kontrolle gerät.

Sie müssen handeln, solange Sie noch können: Schaffen Sie Weihnachten ab, verlegen Sie die Feiertage von mir aus in den August und nennen es das „heilige Palmen- und Sonnenbrandfest“, solange Sie diesem Weihnachtszirkus ein für alle Mal ein Ende setzen! Verbrennen Sie alle Niederschriften der Weihnachtsgeschichte – und zwar sowohl der aus der Bibel, wie auch das Machwerk von Charles Dickens. Rotten Sie die Rentiere aus, bombardieren Sie den verfluchten Nordpol mit Atombomben, schmelzen Sie alle Weihnachtssüßigkeiten ein oder beschießen Sie sie besser gleich mit Antimaterie, kriminalisieren Sie den Besitz von Zimt, stellen Sie das Aufstellen von Tannenbäumen unter Todesstrafe, reißen Sie meinetwegen auch jedem Bastard die Zunge heraus, der die Frechheit besitzt auch nur beiläufig ein Weihnachtslied zu summen. Mir vollkommen egal! Wichtig ist nur, dass das Fest in spätestens zwei Jahren nur noch eine blasse, unangenehme, kollektiv verdrängte Erinnerung ist. Andernfalls sind Sie – sind wir alle – gefickt.

Hey, was soll das? Fassen Sie mich nicht an. Sie verstehen das nicht. Sie dürfen mich nicht wegsperren. Sie besiegeln damit Ihren eigenen Untergang. Ich bin Ihre einzige Chance! Sie müssen auf mich hören, ich flehe Sie an! Sie haben nur noch zwei Jahre, zwei verdammte Jahre bis …“

Aufzeichnung der Vernehmung von Patient X-27. Diagnose: Schwere paranoide Schizophrenie und starke Mangelerscheinungen. Empfehlung: Künstliche Ernährung, Gabe von Antipsychotika und konstante Beobachtung. Notiz: Nicht zur Weihnachtsfeier der Einrichtung einladen.

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