Man sagt, dass Musik eine Sprache sei, die jeder Mensch versteht. Aber das ist nur die halbe Wahrheit. Musik kann noch mehr sein. Weitaus mehr. Mehr als eine beliebige Reihenfolge mathematisch bestimmbarer Schwingungen. Mehr als die belanglose Hintergrundbeschallung beim Autofahren oder bei der Hausarbeit.
Wenn du ein Instrument wirklich beherrschst und wenn die Leidenschaft in dir groß genug ist, dann verbinden sich die einzelnen Töne zu Welten, Spiralnebeln und ganzen Universen. Eine wirklich gute Melodie dringt in Bereiche der Seele vor, die kein Wort, kein Geschmack und kein Geruch je erreichen könnte.
Sie überwindet jeden Widerstand, jede sorgsam aufgetürmte Blockade, greift sich deine Fantasie und pumpt sie so mit Assoziationen, Gedanken und Erinnerungen voll, bis sie in einer Kaskade aus Gefühlen explodiert und dich lachend, zitternd, weinend und voller unerfüllbarer Sehnsucht zurücklässt.
Musik kann dich beleben. Musik kann dich trösten. Musik kann dich heilen.
Musik kann dich vernichten.
Das gilt für den Zuhörer genauso, wie für den Musiker. Jenem Magier, jenem Sklaven, jenem beneidens- und bedauernswerten Narren, der sie zum Leben erweckt und seine Finger oder Lippen zum Instrument ihres schrecklich schönen Willens werden lässt.
Sie ist eine gnadenlose Herrin und doch die Einzige in unserer Welt, die es wirklich verdient, dass man ihr dient.
Jeder, wirklich jeder hat eine Geschichte mit ihr. Meine begann schon in meiner Kindheit und setzte sich in meiner Jugend und meinem Erwachsenenleben fort, in dem ich alles andere – egal ob Familie, Freunde, Beziehungen, Arbeit, Gesundheit oder andere Hobbys – der Musik bedingungslos unterordnete. Auch mein Körper erzählt eine Geschichte. Angefangen von den Notentätowierungen an meinen Handglenken, über meine langen schwarzen Haare und die Gitarrentätowierung auf meinem Rücken bis hin zu dem von John Miles entlehnten Spruch „Music was my first love and it will be my last“, der auf meiner Brust und auch auf meinem Lieblingsshirt prangt. Weitere Tätowierungen führen diese Geschichte mit Textzeilen und Namen meiner Lieblingssongs fort, so wie normale Menschen die Namen ihrer Kinder oder ihres Partners auf ihrer Haut verewigt haben. Aber der Höhepunkt meiner Geschichte, der Teil, auf den es wirklich ankommt, begann vor etwa drei Monaten.
Vielleicht vermutet ihr, dass ich ein bekannter und erfolgreicher Musiker bin. Einer, dessen Alben gefeiert werden und dessen Konzerte stets ausverkauft sind. Nun, das stimmt in gewisser Weise. Aber das war nicht immer so.
Eigentlich war lange Zeit das genaue Gegenteil der Fall gewesen. Obwohl ich seit mehr als zwanzig Jahren praktisch jeden Tag mehrere Stunden Gitarre und regelmäßig auch Bass und Keyboard übe, mir oft regelrecht die Finger wund gespielt hatte und inzwischen wirklich so einiges draufhabe, hat es nie für den großen Durchbruch gereicht. Inzwischen habe ich bereits die achte Band zu Grabe getragen. Und auch wenn das nicht unbedingt wörtlich zu nehmen ist, ist es doch deprimierend. Die Gründe dafür sind vielfältig: Egotrips und Zickenkrieg, Liebesdramen, Umzüge und Jobwechsel, mangelnde Motivation, Drogen und Alkohol, Krankheiten, psychische Krisen. Ich könnte diese Liste noch ewig fortsetzen. Das Ergebnis war jedenfalls, dass der Höhepunkt meiner Musikerkarriere bislang darin bestanden hatte, eine Handvoll Shows in dreckigen, winzigen Clubs zu spielen. Noch dazu ohne Gage und vor einem Publikum aus Freunden, Bekannten, Familie und maximal einigen verirrten und stark alkoholisierten Fremden, die den dargebotenen Songs ohnehin keine echte Beachtung geschenkt hatten.
Und dann gab es ja noch die wunderbare Welt des Netzes in der jeder, der über eine Präsenz auf YouTube, Spotify, Facebook, Soundcloud, Twitter oder einer anderen Plattform verfügt, theoretisch über Nacht zum Star werden kann, wenn seine Songs nur gut genug waren. Theoretisch.
Im Licht der Realität betrachtet, hätte ich genauso gut eine CD mit meinen Songs in einer winzigen Höhle tief im brasilianischen Regenwald verstecken und darauf hoffen können, dass sie dort jemand entdeckt. Denn während ich all die Jahre zusehen musste, wie selbst die geistloseste und simpelste Scheiße geradezu durch die Decke ging und ganze Horden von Fans fand, setzte sich praktisch kein Schwein mit meinen Liedern auseinander, ganz egal wie viel Herzblut ich in sie gesteckt hatte.
Aber nun, endlich, hatte sich das geändert. Die Möglichkeit aus dieser endlosen Spirale aus Enttäuschungen und sinnlosen Hoffnungen auszubrechen, offenbarte sich mir eher zufällig und sie begann mit einer eher schlechten Nachricht. Der Musikladen in meiner Stadt, bei dem ich mich seit so vielen Jahren mit Instrumenten, Kabeln und anderem Equipment eingedeckt hatte, hatte schließen müssen. Und das ausgerechnet dann, als ich ihn am dringendsten gebraucht hatte.
Denn kurz zuvor hatte so ein unsäglicher Idiot meine Lieblingsgitarre geschrottet. Es war passiert, als ich von der Bandprobe zurück zum Bus gelaufen war. An einer Stelle ist der Bürgersteig nicht besonders breit und natürlich fuhr genau dort ein wahrscheinlich besoffener Typ mit seiner Protzkarre, dröhnendem Hip Hop und etwa hundert Sachen gegen meine etwas auf die Straße ragende Gitarrentasche. Das auf dieser Straße eigentlich Tempo dreißig galt, kümmerte den Vollpfosten genauso wenig, wie die Tatsache, dass er mir beinah den Arm ausriss oder dass er den Hals meiner Gitarre rettungslos zerschredderte. Ich hätte mir wahrscheinlich das Kennzeichne merken sollen, aber es war bereits Nacht und der Kerl verschwand so schnell hinter der nächsten Kurve, dass ich praktisch keine Chance dazu gehabt hatte. So oder so war mein Baby hin gewesen und alle Flüche und Todesdrohungen an diesen Spinner hatten nichts daran ändern können. Das galt nicht einmal für meine lebhaften Rachefantasien, auch wenn es durchaus amüsant war, sich vorzustellen, wie ich so lange mit dem gebrochenen Gitarrenhals auf den Typen einschlage, bis auch sein Hals in Trümmern liegt. Doch wie gesagt, auch diese köstliche Vorstellung änderte nichts daran, dass das Instrument nun praktisch unwiederbringlich zerstört war.
Nicht, dass es meine einzige Gitarre gewesen wäre. Um ehrlich zu sein hatte ich fast ein Dutzend davon. Aber sie war … nun ja, was Besonderes gewesen. Sie war nicht mal mein teuerstes Instrument gewesen, aber sie hatte so ein spezielles Spielgefühl gehabt. Nur Sie hatte mir das Gefühl gegeben, mit dem nächsten Song, mit dem nächsten Konzert, mit der nächsten Aufnahme endlich den großen Durchbruch schaffen zu können. Natürlich war das nie passiert, aber sie war der Grund dafür gewesen, dass dieses Szenario vorstellbar geblieben war. Sie hatte meinem Traum das nötige Stück Authentizität verliehen, ihn am Leben erhalten, immer wenn ich wieder darüber nachgedacht hatte, ihn endgültig zu begraben. Wenn ich darüber nachdachte, dass mir die Zeit davon läuft. Dass meine Bandmitglieder „erwachsen“ und „seriös“ werden und sich anderen Dingen zuwenden oder dass mein Körper und meine Jugend verfallen und mir bald niemand mehr würde zujubeln wollen, es sei denn, auf irgendwelchen depressiven Dorffesten. Das von „Sex, Drugs and Rock ’n’ Roll“ am Ende nichts weiter bleiben würde, als lieblos dahin gezockte Coversongs. Als der Muff geplatzter Träume und der Geschmack von schalem Dosenbier.
Doch anscheinend wollte irgendjemand oder vielmehr etwas – egal ob man es Schicksal oder Vorsehung nennt – nicht, dass es so weit kam. Aber der Reihe nach.
Da meine Lieblingsgitarre ein Fall für den Instrumentenfriedhof war, musste unbedingt Ersatz her. Glücklicherweise hatte ich für solche Fälle noch etwas Geld auf die hohe Kante gelegt. Da allerdings mein Haus- und Hofdealer seine Pforten dicht gemacht hatte, war mir nichts anderes übrig geblieben, als eine anderthalbstündige Fahrt zum nächsten Musikgeschäft auf mich zu nehmen. Ich hätte mich sicher auch Online umsehen können, aber verdammt, ich hatte mein neues Baby FÜHLEN wollen. Ich hatte unbedingt wissen wollen, wissen MÜSSEN, ob eine Verbindung zwischen uns entsteht.
Anders als der kleine, verschrobene Laden, bei dem ich sonst immer meine Instrumente gekauft hatte, hatte es sich bei dem Geschäft um einen regelrechten Moloch gehandelt. Auf Hunderten von Quadratmetern wurden hier die unterschiedlichsten Instrumente ausgestellt, von Schlagzeug und Percussion, über Bässe, Klaviere, Trompeten und Geigen bis hin zu Gitarren. Vor allem Letztere waren natürlich für mich interessant gewesen. Dabei hatte es eine Menge von Instrumenten gegeben, die zwar fantastisch ausgesehen hatten und hochwertig verarbeitet gewesen waren, die ich mir aber wohl nie in meinem Leben würde leisten können. Und natürlich hatte es die „Ramschabteilung“ gegeben, in der irgendjemand einige gammlige Haufen Sperrholz in Gitarrenform gepresst und notdürftig verklebt hatte, damit irgendwelche Poser, die nie über zwei oder drei Akkorde hinauskamen, Rockstar spielen konnten, ohne sich dabei wirklich anzustrengen. Allerdings schien es das Schicksal ausnahmsweise einmal gut mit mir zu meinen, denn außer dem üblichen Schrott hatte ich dort auch ein echtes Schätzchen entdeckt.
Es war keine Sonderanfertigung gewesen, nichts wirklich Ungewöhnliches und auch nicht unbedingt in der höchsten Preisklasse, aber sauber verarbeitet, mattschwarz, mit guten Tonabnehmern, 1A-bundrein, mit einem schönen, fetten, satten Klang in der Zerre und glasklarem, singenden Sound in den Höhen, der auch mit meinem Reverb-Effekt gut harmonierte und das alles für einen guten Preis. Wobei, eigentlich hatte es doch eine Besonderheit daran gegeben. Denn neben der normalen silbernen Buchse für das Gitarrenkabel besaß das Instrument noch über vier weitere, vorne am Gitarrenkorpus angebrachte, vergoldete Klinkenbuchsen, die mit den Zahlen 1-4 beschriftete waren. Ich hatte natürlich den Verkäufer dazu befragt, doch auch er konnte mir nichts Genaueres dazu sagen. Da diese „überflüssigen“ Buchsen aber der einzige „Schönheitsfehler“ an dem Instrument gewesen waren, hatte ich mich nicht weiter daran gestört und trotzdem zugegriffen.
Natürlich hatte ich meinen Kauf zu Hause sofort gründlich durchgetestet, einige Songs gespielt und die zusätzlichen Buchsen in allen Kombinationen ausprobiert, war aber leider zu keinem besonderen Ergebnis gekommen. Daran hatte sich auch in den nächsten vier Wochen nichts geändert. Vier Wochen, in denen die Bandproben hatten ausfallen müssen, da meine aktuellen Bandkollegen – mal wieder – im Urlaub gewesen waren. Immerhin wollten wir nach ihrer Rückkehr endlich in unserem proberaumeigenen, selbst eingerichteten Studio mit den Aufnahmen für unser erstes Album weitermachen. Wir nannten uns „Strange Obsession“ und was wir bisher Zustande gebracht hatten, war gar nicht mal übel. Die Songs gingen ins Ohr, rockten ordentlich und was unser Basser, unser Drummer und unser Sänger dazu aufgenommen hatten, war wirklich solide, doch genau das war das Problem. Mit dem Material würden wir vielleicht anerkennendes Nicken aus unserem Freundeskreis ernten, elf Likes auf YouTube bekommen und ein paar Euro und fünf Cent auf Spotify machen, aber mehr auch nicht. Etwas fehlte. Ein kleiner, aber wichtiger Funken Genialität. Vielleicht auch bei den Kompositionen, die größtenteils von mir und unserem Sänger stammten, aber auch – und das noch viel mehr – bei den eingespielten Parts. Nichts davon war schlecht, es gab keine allzu gravierenden Verspieler oder grobe Taktunsicherheiten, aber es fehlte die Leidenschaft. Man merkte jedem meiner Mitmusiker an, dass das für ihn nur eine harmlose Freizeitbeschäftigung war und nicht sein fucking Leben.
Dennoch, gute Musiker, die nicht gerade hunderte Kilometer weit entfernt wohnten, waren nun mal schwer zu finden und deshalb war der Austritt aus der Band für mich keine Alternative, zumal ich schon recht viel Herzblut in die ganze Chose gesteckt hatte. Außerdem hatte ich nach all den gescheiterten Versuchen schon fast die Hoffnung aufgegeben, dass es nochmal anders werden könnte. Ich fühlte mich ein wenig wie ein Typ, der sich nach der achten gescheiterten Beziehung mit seiner nächstbesten Bekanntschaft arrangiert, egal wie katastrophal alles läuft, einfach um nicht mehr Single sein zu müssen. Also machte ich mich am Tag der Probe einmal mehr mit gemischten Gefühlen auf den Weg. Das lag nicht allein am Verhältnis zu meinen Mitmusikern, sondern auch daran, dass unser Raum in einem heruntergekommenen Gewerbegebiet lag. Für mich als ÖPNV-Sklaven bedeutete das, mit einem miserabel getakteten, klapprigen Bus zu einer Haltestelle zu gurken, die etwa so nah am Proberaum lag, wie Portugal an Polen und dann erst Mal ungefähr eine halbe Stunde durch dunkle und verwinkelte Straßen zu irren, immer voller Angst, von zwielichtigen Gestalten aufgemischt zu werden oder erneut an irgendeinen hirnamputierten Raser zu geraten, der auch diese Gitarre in Sägespäne verwandelt.
Jedoch hatte ich an diesem Abend Glück und kam zwar durchgefroren, aber ansonsten unbeschadet an meinem Zielort an. Als ich die Tür zu unserem muffigen, schummrigen Proberaum aufstieß, schlugen mir direkt Gelächter und der Geruch von Bier entgegen. Keiner der drei machte den Eindruck sich gerade ernsthaft bei einer Probe oder einem Recording zu befinden. Der Rechner war noch nicht hochgefahren. Unser Sänger Andre, der wie fast immer ein schwarzes Hemd mit Nieten und stylish gegelte, kurze schwarze Haare trug und unser rothaariger, wuschelköpfiger, muskulöser Drummer Jan, hatten ihren Kram noch nicht einmal ausgepackt und glotzten gemeinsam auf Andres Handy, was wohl auch der Grund für ihre andauernden Lachflashs war. Unser langhaariger Basser Tobi, der seinen geliebten, dunkelgrauen Kapuzenpulli trug, hatte immerhin sein Instrument in der Hand, spielte aber keinen unserer Songs, sondern lediglich eine frei improvisierte, mit viel „Wah Wah“-Effekt gepimpte Version von „Pink Panther“, was er eigentlich mindestens bei jeder zweiten Probe tat, und zwar besonders laut und penetrant, wenn andere versuchten sich zu unterhalten. Immerhin waren alle drei anwesend und das sogar früher da als ich. Das war immerhin auch nicht gerade selbstverständlich, auch wenn letzteres daran lag, dass mein Bus sich diesmal gnadenlos verspätet hatte.
„Hey, Dennis!“, rief Jan, der mindestens ordentlich beschwipst war und ein T-Shirt seiner Lieblingsband trug, die ganz sicher regelmäßiger geprobt hatte, als er, „Zieh dir das mal rein. Andre hat total geile Fotos von seinem Urlaub in Frankreich mitgebracht. Die waren da auf so ’ner Kostümparty und einer von denen ging als Penis. Ohne Scheiß, als Penis! Sogar Eier hatte der. Einen haarigen Sack mit dicken Eiern!“
„Später vielleicht“, sagte ich so ruhig wie nur möglich, „Jetzt wollten wir ja eigentlich Aufnahmen machen. Es ist schon 20:43 Uhr. Wir haben doch eh nur bis elf Zeit, da sollten wir langsam mal loslegen.“
„Bis zehn“, sagte Tobi, ohne von seinem Bass aufzusehen, „höchstens. Ich muss morgen früh raus. Arbeit, weißt du?“
Klar, dachte ich, wenn man keinen einzigen seiner Urlaubstage in die Band investierte und die Wochenenden zum Konsole zocken, ausschlafen, Däumchen drehen oder Origami falten nutzte, war arbeiten am nächsten Tag ein zwangsläufiger Nebeneffekt. Der kleine Rest meiner guten Laune hatte sich inzwischen verflüchtigt.
„Ich muss auch früher los“, sagte Andre, während er weiter auf seinem Smartphone herumwischte, „hab am Wochenende zu lange gefeiert, das steckt mir immer noch in den Knochen.“
„Gute Idee“, sagte Jan, „ich fühl mich auch ein wenig angeschlagen. Vielleicht kommt ne Erkältung. Wir können ja kurz ein paar Songs zocken und dann wieder abhauen.“
„Und was ist mit den Aufnahmen?“, fragte ich gepresst und alle Entspannungstechniken verwendend, von denen ich je auch nur flüchtig gelesen hatte. Es half nicht viel.
„Die können wir doch auf nächste Woche schieben“, schlug Andre vor.
„Nächste Woche kann ich nicht“, sagte Jan, „da hab ich ’nen Friseurtermin.“
„Wär mir auch ganz recht“, sagte Andre, „Ich muss auch noch das ein oder andere im Haus machen.“
„Dann also übernächste Woche?“, fragte Tobi.
„Ja …“, sagte Jan nachdenklich, „ach nee, warte. Da ist ja Feiertag. Da wollten wir noch mal ’nen kleinen Kurzurlaub zwischenschieben.“
„Zu dritt ist ja auch doof“, sagte Andre, „also dann in drei Wochen?“
„Sollte klappen“, sagte Tobi, „obwohl ich da noch irgendwas im Hinterkopf habe. Sag euch da aber noch Bescheid.“
An diesem Punkt hatte ich drei Optionen. Ich hätte einfach gehen und diesen Haufen unmotivierter Idioten für immer hinter mir lassen können. Dafür fehlte mir die Konsequenz. Ich hätte sie alle irre lachend über den Haufen schießen und ihre Leichen als Wanddeko für den Raum verwenden können. Dafür fehlte mir leider die Waffe. Also blieb mir nur eine Möglichkeit: Ich würde einfach so tun, als wären sie nicht da.
Ohne auf ihr Geschnatter zu achten, packte ich meine kürzlich erworbene Gitarre aus, stimmte sie, schloss sie an meinen Verstärker an und drehte den Regler auf kurz vor Taubheit. Ein von Wut und Enttäuschung getragener Akkord schalte durch den Raum. Obwohl meine Ohren mir subtil mitteilten, dass sie das hier auf Dauer ins Grab bringen würde, war es das satte Vibrieren, das durch meinen Körper ging, allemal wert.
„Alter, ist das laut!“, sagte Jan, der plötzlich dann doch von Andres Handy aufsah, als der verzerrte Powerchord langsam verklang, „aber irgendwie geil. Ist das ’ne neue Gitarre?“
„Ja, ist es“, sagte ich, durch das unerwartete Interesse etwas besänftigt.
Jan stand auf, Tobi hörte auf zu spielen und auch Andre stand auf und nahm mein Instrument in Augenschein.
„War die teuer?“, fragte Tobi während er die Gitarre von oben bis unten begutachtete.
„Nicht wirklich“, sagte ich, „ist gebraucht und war eigentlich ein ziemliches Schnäppchen für den Klang.“
„Der Sound ist wirklich der Hammer!“, sagte Andre anerkennend.
„Was sind das für komische Buchsen?“, fragte Jan neugierig.
„Keine Ahnung“, gab ich zu, „hab da weder was im Netz zu gefunden, noch durchs Ausprobieren irgendeinen Effekt gemerkt. Vielleicht hielt der Vorbesitzer das für schick.“
„Glaub ich nicht“, sagte Jan leicht lallend und mit diesem Blick, der immer darauf hindeutete, dass er seine beachtlichen Albernheitsskills weiter trainieren wollte, „die müssen doch für irgendwas gut sein. Wartet mal kurz.“
Dann rannte er zur Kiste, in der wir unsere Kabel aufbewahrten und kam gleich mit einer handvoll Gitarrenkabel wieder.
„Was willst du mit den ganzen Kabeln?“, fragte ich skeptisch.
„Na, du hast es doch sicher bislang nur mit einem Kabel versucht. Vielleicht brauch man ja alle vier“, erklärte Jan kichernd.
„Was soll das denn bringen?“, fragte Tobi kopfschüttelnd, „und wo willst du sie anstöpseln? Etwa an deinen Kopf? Nicht in alles, was hohl ist, kann man auch etwas reinstecken.“
„Denkt doch mal nach“, erwiderte Jan, „vielleicht kann man die Gitarre ja gleich an mehrere Verstärker anschließen. Was meint ihr, wie geil das kommt?“, er machte ein finsteres Gesicht und grunzte mit seiner besten Death-Metal-Stimme: „Waaall of Soooouuuuund!!!“
„An meinen Bass-Amp kommt das Teil nicht dran“, widersprach Tobi, „nachher schrottet es ihn noch.“
„Ach jetzt sei nicht so ein Schisser. Probieren wir es doch einfach aus“, sagte Jan und stöpselte – natürlich ohne mich vorher zu fragen – nacheinander alle Kabel an meine Gitarre, wobei er laut mitzählte, „Eins. Zwei. Drei … und vier!“
Vor der vier simulierte er mit seinen Zeige- und Mittelfinger seiner rechten Hand einen Trommelwirbel auf seiner Stirn. Alle starten auf das Gewirr aus Kabeln, dass nun aus meiner Gitarre ragte. Nichts passierte. Natürlich nicht.
„Boah Junge“, sagte Andre und schlug sich demonstrativ gegen die Stirn, „hast du nicht was vergessen? Die Scheiße irgendwo einzustöpseln zum Beispiel?“
„Oops“, sagte der wohl doch nicht nur beschwipste Jan kichernd, „ergibt Sinn. Warte, ich stöpsel es eben in den Bassamp und vielleicht noch in die PA …“
„Nein!“, widersprach Tobi erneut, „wir sprechen hier immer noch von MEINEM Bass-Verstärker.“
„Und von meiner Gitarre“, sagte ich, „außerdem wolltet ihr doch proben. Dann lass uns wenigstens das machen, wenn wir diesen Monat schon sonst nichts auf die Reihe kriegen.“
„Das dauert doch nur ’ne Minute und …“, begann Jan und sein dümmliches, alkoholisiertes Grinsen verwandelte sich in einen ernsten, konzentriert wirkenden Ausdruck, als sich eine der lose auf der Erde baumelnden Kabel wie eine aufgescheuchte Schlange erhob, zum Sprung ansetzte und sich mit der silbernen Klinke direkt in Jans Stirn bohrte. Blut sickerte aus der Wunde, aber unser Drummer schrie weder vor Schmerz auf, noch brach er aufgrund der Kopfverletzung zusammen.
„Was … was zur Hölle ist das?“, brüllte Andre nervös und stolperte einige Schritte zurück.
„Wir müssen einen Krankenwagen rufen!“, keuchte Tobi und holte sein Smartphone aus der Hosentasche, ließ es jedoch kraftlos auf den Boden fallen, als sich das zweite Kabel in seine Stirn bohrte. Der verwirrte Ausdruck auf seinem Gesicht verschwand und wurde vollkommen neutral, ein bisschen wie bei einer Schaufensterpuppe.
„Schnell, Dennis!“, rief Andre, „zieh die scheiß Kabel raus!“
Kurz überlegte ich tatsächlich das zu tun, aber etwas ließ mich zögern. Es war als hätte das Universum auf irgendeine verquere Art meine unausgesprochenen Gebete erhört und endlich eingegriffen, endlich mit einem Knall die festgerostete Gefängnistür meines Lebens aufgesprengt und endlich etwas wirklich Gewaltiges, Besonderes geschehen lassen. Was hier gerade passierte machte mir – so abgefahren es auch war – keine Angst. Ja, irgendwie gefiel mir der Zustand, in dem sich Tobi und Jan nun befanden sogar sehr gut. Nun gab es kein lustloses Herumgedudel und keine sinnfreien Scherze mehr. Endlich wirkten die beiden konzentriert und fokussiert. So wie es sein sollte. Wie von selbst formte sich ein immer deutlicher werdender Plan in meinem Kopf.
„Dennis!“, verlangte Andre noch einmal lautstark, doch dann änderte sich der Ausdruck auf seinem Gesicht. Vielleicht hatte er das selige Lächeln bemerkt, welches auf meinen Zügen lag. „Gefällt dir das etwa, du Psycho?“, fragte er wütend und versuchte nun seinerseits nach den Kabeln zu greifen. Mit einem Schlag, in dem all die in den Jahren aufgestaute Wut und Enttäuschung steckte, schlug ich ihm meine Faust gegen die Stirn und schickte ihn benommen zu Boden. Gleichzeitig fragte ich mich, warum diese wundersame Gitarre noch nicht versucht hatte sich in Andres Kopf zu bohren, so wie sie es bei den anderen getan hatte. Das sie sich nicht für mich interessierte mochte daran liegen, dass ich ihr Besitzer war. Vielleicht war das Kabel defekt, oder sie brauchte in seinem Fall etwas mehr Ermutigung. Beinahe zärtlich ergriff ich eines der beiden noch unbenutzten Kabel, beugte mich zu dem fast bewusstlosen Sänger hinunter und presste ihm das kalte Metall der Buchse an die Stirn, in der Hoffnung, dass sich nun auch bei ihm diese besondere Magie ereignen würde. Doch nichts geschah. Als ich den Druck auf seine Stirn erhöhte, murmelte Andre schwach so etwas wie „Du … kranker Bastard, dafür kommst du in den Knast“ und versuchte mit unkoordinierten, schwachen Bewegungen meine Hand wegzudrücken, was ich jedoch spielend leicht verhindern konnte. Allerdings würde er bald wieder voll zu sich kommen und da das Kabel ihn noch immer verschmähte, musste ich bald eine Entscheidung treffen.
Töten wollte ich ihn nicht. Ich hasste ihn, ja, tief in mir realisierte ich nun, dass ich sie alle hasste, für ihren mangelnden Enthusiasmus, für ihre mangelnde Leidenschaft, für ihr unmotiviertes, halbgares „Rockstar spielen“, ohne es dabei wirklich zu fühlen. Aber ob ich ihn auch SO sehr hasste, darüber war ich mir noch nicht im Klaren. Außerdem würde ich ihn noch benötigen. Irgendjemand musste die Songs einsingen. Vielleicht fiel mir ja auch noch eine Möglichkeit ein, ihn dazu zu bringen. Da ich ihn nicht anstöpseln, nicht töten und natürlich auch nicht laufen lassen konnte, nahm ich mir so ziemlich alles, was ich in unserer Kabelkiste finden konnte und verschnürte ihn so lange gründlich und fest, bis ich mir sicher war, dass er sich nun nicht mehr würde bewegen können. Seinen Mund ließ ich jedoch offen. Vielleicht würde ich ihn noch brauchen.
Als ich fertig war, legte ich den noch immer leicht benommenen Sänger auf die Couch, fuhr den Rechner hoch und startete das Recording-Programm. Dann hängte ich Tobi seinen Bass um, legte seine Finger auf eine der Basssaiten, drückte Jan seine Sticks in die Hand und setzte ihn auf den Schlagzeughocker. Beide ließen das widerstandslos über sich ergehen und behielten dennoch ihre Körperspannung bei, wodurch es ein bisschen so war, wie bei diesen biegsamen Spielzeugfiguren, deren Arme und Beine man in beliebige Positionen bringen konnte.
„Was hast du vor, du Wahnsinniger?“, fragte Andre, als er wieder halbwegs bei Bewusstsein war und vergeblich gegen seine Fesseln ankämpfte.
„Aufnehmen, natürlich. Immerhin sind wir deswegen hier“, sagte ich mit einem beseelten Grinsen, während ich die Programmeinstellungen für den ersten Song auf unserem Album einstellte und die alten Spuren löschte. Tabula rasa, dachte ich, und diesmal machen wir alles richtig. Meine Gitarrenspuren ließ ich jedoch unangetastet. Darum würde ich mich später kümmern.
„Hör mal zu du Arschloch“, keifte Andre, dessen Frisur nun nicht mehr ganz so akkurat saß, wie gewöhnlich, „ich weiß nicht wo du diese Horrorklampfe aufgetrieben hast, oder was sie mit Jan und Tobi angestellt hat und ich weiß auch nicht, wie ich je so dumm sein konnte, mit dir zusammen Musik machen zu wollen, aber eins ist sicher: Aus mir bekommst du keinen einzigen Ton raus. Eher sterbe ich, hörst du?!“
„Wir werden sehen“, sagte ich ruhig, während ich das Recording für einen ersten Test startete. Ich wusste natürlich nicht genau, wie diese ganze Sache funktionierte, aber dennoch hatte ich da so ein Gefühl, eine Ahnung, so als würde die Gitarre es mir wortlos erklären. Und tatsächlich, kaum da ich den Recording-Knopf gedrückt und die vertrauten acht Schläge des Metronoms den Takt eingezählt hatten, begannen Jan und Tobi zu spielen, als hätten sie nur auf diese Gelegenheit gewartet. Jan trommelte auf Basedrum, Toms, Snare und Becken herum, so als wären die Sticks an seinen Armen festgewachsen und als hätte sein Leben keinen anderen Zweck, als genau das hier zu tun und auch Tobi ließ seine Finger so konzentriert und mühelos über die Saiten wandern, wie noch nie zuvor. Dabei funktionierten die beiden wie eine Einheit und zwar wortwörtlich. Es gab keine Verspieler, keine Unsicherheiten oder Temposchwankungen und dennoch spielten sie nicht mechanisch, sondern so leidenschaftlich, wie ich es nie für möglich gehalten hätte. Ich hörte Jans Wut, seinen Schmerz und seinen Drang nach Freiheit aus jedem seiner wohl platzierten Schläge heraus und spürte jede noch so geheime Sehnsucht von Tobi in der Vibration seiner Bassläufe. Das hier war Perfektion. Keine Ausreden, keine Ablenkungen, keine Kompromisse. Jeder der beiden entfaltete sein vollstes Potenzial und brachte seine ganz spezielle Spielweise in den Song ein. Mehr noch, die beiden spielten nicht nur stumpf ihre üblichen Parts herunter, sondern improvisierten und rundeten jede noch so kleine Unvollkommenheit in unseren Kompositionen mit genialen Einfällen ab. Es ist schwer zu beschreiben, wie sehr ich all das genoss. Ich badete in Sound, schwamm durch ein Meer aus harmonischen Schwingungen und Surfte auf tsunamihohen Schallwellen, während heiße Freudentränen über mein Gesicht liefen. All der Frust der letzten Jahre, all die Enttäuschungen waren mit einem Mal wie weggewaschen, als sich plötzlich ein Misston in die Symphonie mischte.
„Hilfe!!“, brüllte Tobi so laut, dass es selbst das Spiel von Jan und Tobi übertönte, „ich werde hier festgehalten!!!“
„Was glaubst du damit zu erreichen?“, sagte ich etwas schläfrig, so als wäre ich aus einer langen Trance erwacht, „hast du außer uns in all den Jahren schon mal eine andere Band hier gesehen? Abgesehen von uns probt hier am Montag keiner und die Büros in der Umgebung sind um diese Zeit auch unbesetzt. Niemand wird dich hören, selbst dann nicht, wenn die Musik nicht so laut wäre. Und wenn sich doch mal jemand hierhin verirren sollte, wird er dein Geschrei wahrscheinlich als Teil der Musik interpretieren. Gib es auf, Andre. Genieße einfach die Show, die Jan und Tobi uns bieten und freu dich darauf, ein Teil davon sein zu dürfen.“
„Was ich mache, geht dich einen feuchten Scheiß an, du psychotischer Wichser!“, schrie Andre wütend, „selbst, wenn ich es nur schaffe, dir damit deine geliebten Aufnahmen zu ruinieren, ist es mir das wert.“
Das zauberte mir ein vergnügtes Lächeln ins Gesicht. Ich ging auf ihn zu und sagte – sein Spucken und Toben ignorierend „du weißt schon noch, dass Jan ein E-Drumset verwendet, oder nicht? Und den Bass nehme ich über Direct Input auf. Nicht mal dein Todesschrei würde wurde auch nur den kleinsten Pegelausschlag in der Aufnahme bewirken. Hast du das verstanden?“
Andre funkelte mich wütend an, was ich als Zustimmung wertete.
„Aber das Schreien macht mich heiser“, fiel Andre plötzlich ein, wobei er jedes Wort genau und fast schon böse betonte. Damit jagte er mir tatsächlich einen Schrecken ein, was ich jedoch zum Glück gut verbergen konnte.
„Warum willst du unbedingt diese Schönheit zerstören?“, fragte ich traurig, „das kann die großartigste Aufnahme in der Musikgeschichte werden!“
„ICH SCHEIß EINEN DICKEN HAUFEN AUF DIE MUSIKGESCHICHTE!“, brüllte er so laut und kreischend wie er konnte, „WENN ICH HIER LEBEND RAUSKOMME, LASSE ICH MIR DIE VERFICKTEN TROMMELFELLE RAUSNEHMEN UND DIE STIMMBÄNDER GLEICH MIT!“
„Das verletzt mich“, sagte ich getroffen, „vor allem, weil es so dumm ist. Denn wenn du nicht mehr singen kannst, werde ich mir jemand anderen für den Gesang suchen und habe keinen Grund mehr, dich am Leben zu lassen. Falls du aber mitspielst und dein Bestes gibst, lasse ich dich frei und du kannst mit deinen Ohren und Stimmbändern machen, was du willst.“
Andre erbleichte, „Du bist krank. Einfach nur krank“, sagte er, jedoch nun ohne zu brüllen. Das war das Wichtigste.
„Ja“, stimmte ich ihm ein wenig entrückt zu, „aber ich heile gerade.“
Dann wandte ich mir wieder den Aufnahmen zu. Gerade setzte Jan den finalen Beckenschlag und Tobi ließ seinen Basston in die Unendlichkeit ausklingen. Erst als die Kurve nicht mehr den geringsten Ausschlag anzeigte, stoppte ich die Aufnahme, speicherte und wechselte zum nächsten Song, der einzigen Ballade auf unserem Album. Andre hatte sie geschrieben, der gleiche Andre, der damit gedroht hatte seine Stimme zu ruinieren. Unglaublich, wie manche Menschen ihre Potenziale verschwendeten, wenn niemand da war, um es zu verhindern. Zum Glück nutzte Andre die entstehende Pause nicht dazu, um um Hilfe zu rufen oder mir Beleidigungen entgegen zu brüllen. Anscheinend hatte er meine Warnung verstanden.
Auch dieser Song erzeugte bei mir Gänsehaut und die sanfteren, verträumteren Vibes schienen auch eine Wirkung auf Tobi zu haben, denn als er erneut sprach, war seine Stimme nicht mehr so aggressiv. „Hör zu, Dennis“, sagte er, „ich hab das gerade nicht so gemeint. Ich liebe die Musik doch auch und was die beiden da machen, klingt wirklich hammergut. Aber das hier ist trotzdem falsch, Mann. Du kannst uns doch nicht gebrauchen wie Automaten und mir dann auch noch mit dem Tod drohen. Ich dachte, wir wären Freunde, verdammt.“
„Und ich dachte, wir wären eine Band“, sagte ich unbeeindruckt, „wenn ich Freunde gewollt hätte, hätte ich keine Inserate für Musiker aufgegeben.“
Die Entschlossenheit und Kälte, mit der ich meine Worte sprach, schien Andre zu entmutigen. Dennoch bemühte er sich sichtlich an seiner Deeskalierungstaktik festzuhalten. „Trotzdem, selbst wenn du uns nicht als Freunde siehst, frage ich mich, wie du dir das hier überhaupt vorstellst? Klar, wahrscheinlich liefern dir die beiden Musikzombies hier wirklich gute Aufnahmen. Bei mir funktioniert deine Dämonengitarre zwar nicht, aber denkbar, dass du mit deiner gewissenlosen Psycho-Show trotzdem ordentliche Gesangsspuren aus mir rauquetschen kannst, falls dich das Zittern und Wimmern in meiner Stimme nicht stört. Doch was dann? Falls sich Jan und Tobi irgendwann wieder in echte Menschen zurückverwandeln sollten, werden sie wahrscheinlich scheiße wütend auf dich sein und auch unser Verhältnis ist nach dieser Show hier ganz bestimmt nicht mehr das Allerbeste.“
Andre bemerkte anscheinend das fragende Heben meiner Augenbraue, denn er beeilte sich hinzuzufügen, „wir werden dich natürlich nicht verpfeifen, Dennis. Darauf hast du mein Wort. Und die anderen werde ich auch überzeugen. Ich meine, wer würde uns das mit der Gitarre schon glauben? Und von mir aus schicken wir dir alle irgendwelches belastende Videoaufnahmen, wo wir es uns nackt mit dem Staubsauger zu Fotos von unseren Müttern besorgen, falls du nicht allein auf unser Wort vertrauen willst. Aber der Punkt ist: Du kannst nicht von uns erwarten, dass wir noch einmal mit dir Live auftreten oder ein weiteres Album mit dir aufnehmen. Die Band wäre so oder so Geschichte. Das muss dir doch klar sein.“
„Das weiß ich doch alles, Andre“, sagte ich sanft und strich Andre dabei über den noch immer halbwegs gut gestylten Kopf, „aber es reicht mir vollkommen, wenn dieses eine Album gut wird, verstehst du? Ich will nur einmal, nur ein einziges Mal etwas wirklich Grandioses schaffen, endlich mal mit vollem Einsatz an etwas arbeiten. Das genügt mir. Außerdem wird das hier – wie bereits gesagt – mit Sicherheit das beste Album der Musikgeschichte. Es braucht danach kein weiteres Album mehr. Weder von uns, noch von irgendeiner anderen Band. Spiel einfach bis zum Ende mit, zeig vollen Einsatz und sobald alle Aufnahmen im Kasten sind, werde ich euch gehen lassen. Mehr noch, ihr werdet euren fairen Anteil an den Verkäufen bekommen, entsprechend dem, was ihr dafür geleistet habt. Und ihr werdet mich nie mehr wiedersehen. Ist das ein Deal?“
Andre sah mich einen Moment lang abwägend an, dann nickte er.
„Gut“, sagte ich, „dann lass mich jetzt weiterarbeiten.“
Unser Deal schien Andre tatsächlich einigermaßen zu beruhigen, denn weder versuchte er mit mir zu verhandeln, noch zu schreien oder an seinen Fesseln herumzufummeln. Zum Glück konnte er Tobi von seiner Position aus nur von hinten sehen und Jans Kopf wurde von den Becken verdeckt. Andernfalls hätte er wohl dasselbe beobachtet, wie ich. Die beiden sahen nicht mehr so aus wie noch zu Beginn der Probe. Sie waren um Jahre gealtert. Ihre Gesichter waren vertrocknet, hohl, faltig und eingefallen. Andre hatte recht, begriff ich, es würde kein weiteres Album mehr geben. Nicht in dieser Konstellation zumindest. Die unglaubliche Leidenschaft, mit der die beiden spielten, schien sie auszuzehren. Die Jahre, die sie andernfalls mit langweiligen Jobs, Kochen, Putzen, Streitereien, Serien glotzen, Sinnkrisen, Urlaubsreisen und Ängsten vertrödelt hätten, flossen stattdessen in die Musik. Mit jedem Ton, mit jedem Schlag schrieben sie ihre eigene Biografie und wurden zugleich ein Teil von ihr. Auch wenn ihre schnelle Alterung und Austrocknung nicht schön anzusehen war, beneidete ich sie fast für dieses Erlebnis. Welche Euphorie, welche unglaubliche Konzentration von reinster Lebenskraft mussten sie dabei empfinden? Allerdings hatte ich auch Angst. Angst, dass ihre Kraft versagen könnte, bevor der letzte Song eingespielt worden war. Allein der Gedanke daran zerstörte mich fast, jedoch bemerkte ich plötzlich wie die Gitarre, in der ich inzwischen das Kribbeln der Energien, die durch sie hindurchflossen, zu spüren glaubte, mich beruhigte. Sie sprach nicht mit Worten zu mir, aber dennoch schenkte sie mir die Gewissheit, dass die Energie meiner Mitmusiker ausreichen würde. Jan und Tobi würden danach aufhören zu existieren, aber sie würden ihre Aufgabe erfüllen.
Etwa in der Mitte der Aufnahme begann Andre wieder zu schreien.
„Scheiße, was zur Hölle ist das?!“, brüllte er, als er bemerkte, wie Jans lange Haare erst schlohweiß wurden und dann allesamt von seinem Kopf fielen während seine dürren Finger ungerührt einen treibenden Lauf spielten, „das ist nicht mehr lustig, Dennis. Das Ding bringt ihn um!“
Ich versuchte gar nicht erst ihn zu beruhigen. Spätestens, als er während eines schier göttlichen Drumfills einen kurzen Blick auf die wächserne, eingefallene Mumienmaske erhaschte, die einmal Jans Gesicht gewesen war, wurde mir klar, dass keine Beschwichtigung, keine Erklärung der Welt ihn wieder zur Vernunft bringen könnte. Andre schrie, kreischte, scheuerte sich die Gliedmaßen an seinen eng geschnürten Fesseln wund und brüllte schließlich wie ein in die Enge getriebenes, verletztes Tier. Da ich seine Stimme nun tatsächlich gefährdet sah, ging ich mit schnellen Schritten auf ihn zu und gab ihm erneut einen diesmal härteren, aber dennoch wohl dosierten Schlag auf den Kopf. Zufrieden stellte ich fest, dass er noch immer atmete, aber wie erhofft sein Bewusstsein verloren hatte.
Noch während der letzte Basston des letzten Songs erklang, sah ich wie Tobis staubtrockener Zeigefinger mit einem hörbaren Knirschen an der Saite zerbrach. Dann, als der Ton verklungen und die Aufnahme vollendet war, brach sein nun völlig nutzlos gewordener Greisenkörper auf dem Proberaumboden zusammen, wo er langsam damit begann sich in Staub zu verwandeln. Auch Jan hing nun wie ein vergessenes, mit Haut bespanntes Gerippe in seinem Drumkit. Dieser Anblick würde Andre sofort wieder in Panik versetzen, dachte ich entmutigt, wenn auch zugleich voller Dankbarkeit für die großartigen Klänge, die ich in den letzten knapp vierzig Minuten hatte miterleben dürfen.
Doch meine Sorge war unbegründet. Zwar wurde Andre wie erwartet von purem Entsetzen ergriffen, als ich ihn wachrüttelte und er die vertrockneten, grinsenden Überreste von Jan und Tobi erblickte, doch er hatte kaum Gelegenheit seine wertvolle Stimme durch sein Geschrei weiter zu schädigen. Bereits wenige Sekunden, nachdem er die Augen aufschlug, schnellte das bisher unbenutzte Kabel nach oben und grub sich in Andres Stirn, woraufhin sein Schrei abrupt endete. Frieden und Konzentration kehrten auf seinem Gesicht ein. Ich löste seine Fesseln, gab zum Befeuchten seiner Stimmbänder etwas Wasser in seine Kehle, das er problemlos hinunterschluckte, so als würde die Gitarre, die ihn nun steuerte, merken, dass dies wichtig für ihre, für unsere Mission war. Warum das Instrument Andre erst jetzt akzeptierte war mir nicht vollkommen klar, aber das änderte sich schlagartig, als ich damit begann seinen Gesang aufzunehmen. Der frische Schmerz und die in der letzten Stunde empfundenen Angst waren deutlich darin zu vernehmen, jedoch nicht als Zittern oder Stocken, sondern als subtile Klangfärbung, die die Songs nicht zerstörte, sondern bereicherte. Diese Gefühle waren wie ein Gewürz, welches dem gesamten Gericht noch gefehlt hatte und die Gitarre schien das gewusst zu haben. Nur deshalb hatte sie nicht sofort die Kontrolle über Andre übernommen. Sie wollte ihn erst in die richtige Stimmung bringen. Als die Gesangsaufnahmen vollendet und das letzte bisschen Leben aus Andres nun grauenhaft anzusehenden, aber bis zuletzt leistungsfähigen Körper gewichen war, war ich endgültig davon überzeugt, dass hier gerade etwas Großartiges, Monumentales entstand.
Doch etwas fehlte noch. In meine Gitarrenspuren hatte ich schon damals viel von meiner Seele gelegt, aber nun, wo ich hörte, was meine Bandkollegen zustande gebracht hatten, kam es mir stümperhaft und geradezu lächerlich vor. Wie das Werk eines Kindes, welches im Gemälde eines Meisters herumgekritzelt hatte. So konnte es nicht bleiben. Ich nahm eines der Kabel, an denen noch immer der Staub meiner toten Bandkollegen klebte und presste es gegen meine Stirn.
„Nimm mich!“, verlangte ich von der Gitarre. Natürlich war mir bewusst, dass es niemanden mehr geben würde, der die Songs abmischen und in die Welt bringen würde, wenn das Instrument mich ebenfalls verzehrte. Aber allein die Vorstellung, mit diesen unperfekten Aufnahmen zu arbeiten, war grotesk. Es war ein großes Risiko, aber es gab keine Alternative. Vielleicht würde ja auch ein Polizist, der später diesen Tatort hier untersuchen würde, über die Songs stolpern und so von ihrer Schönheit ergriffen sein, dass er sie weiterverbreiten würde. Das Instrument jedoch weigerte sich noch, mich, seinen Herren als Opfer zu akzeptieren. Also drückte ich fester, nahm sogar einen Schraubenzieher und bohrte ein kleines Loch in meine Stirn, um das Kabel zu ermutigen und meinen Willen, meine Opferbereitschaft zu demonstrieren, auch wenn der Schmerz mir die Tränen in die Augen trieb. Und endlich geschah es. Die Gitarre nahm mein Opfer an. Alles wurde schwarz und dann wurde alles Klang.
Als ich wieder erwachte, fühlte ich mich unendlich schlapp. Meine Kehle war vollkommen ausgetrocknet. Meine Haut spannte bei jeder kleinsten Bewegung. Aber offenbar lebte ich noch und auch wenn ich das Gefühl hatte, nun neunzig Jahre alt zu sein, war mein Körper augenscheinlich noch immer der eines fünfunddreißigjährigen und selbst wenn der Rest meines Körpers sich arthritisch und verbraucht anfühlte, waren meine Finger nach wie vor flexibel. Das hatte ich wahrscheinlich der Gitarre zu verdanken, begriff ich. Sie wollte mir die Gelegenheit geben, unser Werk zu Ende zu führen. Dankbarkeit und freudige Erregung ergriffen mich, als ich mich mit langsamen, stolpernden Bewegungen zum Rechner vorkämpfte und die Aufnahmen kontrollierte. Alles war im Kasten. Offenbar hatte ich selbst in meinem entrückten Zustand dafür gesorgt, dass alles korrekt aufgenommen und abgespeichert worden war. Während ich das Material sichtete, verfiel ich in eine neue, deutlich natürlichere Trance. Auch wenn ich mich nie als großen Experten fürs Mixing und Mastering begriffen hatte, fiel mir diese Tätigkeit nun erstaunlich leicht. Wie ein Bildhauer arbeitete ich die letzten Feinheiten aus unserem Material heraus, entfernte störende Frequenzen, fügte Effekte, Fade outs und Hall hinzu und verschmolz so nach und nach die Einzelteile zu einem großen Ganzen.
Ab und an dachte ich bei meiner Arbeit an Jan, Andre und Tobi und bedauerte es, dass sie das hier nicht miterleben konnten, doch andererseits waren sie bei mir. Ich konnte sie hören, markieren, schneiden und verschieben und jede Facette ihres Charakters in den aufgenommenen Tonspuren erkennen. Ich weiß nicht, wie lange ich auf diese Weise arbeitete, aber als ich endlich fertig war, hatten sich die Körper meiner ehemaligen Bandkollegen bereits in Staub verwandelt. Nur ihre Klamotten blieben auf dem Boden zurück. Ich würde sie verbrennen müssen, um den Verdacht nicht auf mich zu lenken. Eine Flucht von hier kam nicht infrage, da ich mich kaum in der Lage fühlte, den Proberaum zu verlassen. Aber da es das Internet gab, und ich weder Durst noch Hunger verspürte, war das nicht weiter tragisch. Auch das Geld für die Proberaummiete würde kein Problem darstellen, sobald die Albumverkäufe erst anlaufen würden. Und genauso kam es. Ich lebte Tag und Nacht in unserem Proberaum und arbeitete ohne Pause oder Schlaf daran, dass unser Werk, welches eigentlich „Unexpected Desasters“ hatte heißen sollen, von mir aber aus Respekt vor meinen Bandkollegen in „Four Soul Message“ umbenannt wurde, die verdiente Aufmerksamkeit bekam. Ich aktualisierte unsere bislang stiefmütterlich behandelte Website, lud die Songs auf unsere Kanäle, streute sie in Foren und Social Networks, schaltete Werbeanzeigen und nach und nach zeigten sich endlich Erfolge.
Die ersten Reaktionen waren überwältigend und es dauerte nicht lange, bis begeisterte Rezensionen in Musikmagazinen erschienen und ich mit Interviewanfragen, Likes und digitaler Fanpost überschwemmt wurde. Da ich es jedoch ablehnte Fotos von mir zu veröffentlichen, Konzerte zu geben oder persönlich in Erscheinung zu treten, entstand ein regelrechtes Mysterium um unsere Band, erst recht, als bekannt wurde, dass alle anderen Mitglieder von „Strange Obsession“ auf mysteriöse Weise verschwunden waren.
Natürlich interessierte sich auch die Polizei für letzteren Umstand und da die drei allesamt Familie oder Partnerinnen gehabt hatten, konnten diese bezeugen, dass sie sie zuletzt gesehen hatten, als sie sich auf den Weg zum Proberaum machten. Als die Polizisten mich dazu befragten, leugnete ich natürlich nicht, dass die drei den Raum erreicht hatten. Andernfalls hätte die Polizei ohnehin die Dateien der Aufnahme geprüft und festgestellt, dass sie am fraglichen Abend entstanden waren. Und da nun mal der Gesang eindeutig von Andre stammte, hätte ich auch nicht behaupten können, die Spuren selbst eingespielt zu haben. Stattdessen erzählte ich schlicht, dass die drei die Probe vor mir verlassen hatten und dass das, was auch immer ihnen zugestoßen war, nur auf dem Heimweg passiert sein konnte. Ich hatte durchaus das Gefühl, dass einige der Ermittler an meiner Geschichte zweifelten, zumal die von mir zum Ausdruck gebrachte Trauer selbst in meinen Ohren schlecht geheuchelt klang. Da mangelnde Empathie jedoch kein Verbrechen war, sich weder an mir, noch in meiner Wohnung oder im Proberaum irgendein Hinweis finden ließ, der mich als tatverdächtig erscheinen ließ und man mir aufgrund meiner offensichtlichen körperlichen Gebrechen keinen Dreifachmord an drei jungen, gesunden und auch noch recht gut durchtrainierten Männern zutraute, ließ man mich schließlich in Ruhe.
So konnte ich wieder ungestört im Ruhm baden und mit größter Befriedigung dabei zusehen, wie „Strange Obsession“ innerhalb weniger Monate zu einer regelrechten Legende wurden. Wenn ich gerade nicht die steigende Fieberkurve unseres Erfolgs begutachtete, schrieb ich an neuen Songs, was mir mit der Gitarre noch deutlich leichter fiel, als früher oder nutzte die Zeit, um über das seltsame Instrument zu recherchieren, welches – da war ich mir sicher – der einzige Grund war, aus dem ich noch lebte. Ich entdeckte bei meinen Recherchen eine Menge seltsamer Gerüchte und Legenden über verfluchte Instrumente, von denen das Meiste schlecht zusammenfantasierter Humbug zu sein schien.
Faszinierend fand ich jedoch die Legende über den sogenannten Seelenbaum, der laut der Überlieferung die Macht besitzen sollte, die Seele eines Menschen in sich aufzunehmen. Laut dieser Erzählung waren um diesen uralten Baum schon im Altertum diverse Kulte entstanden, die mal mehr und mal weniger blutrünstig gewesen waren. Die dabei mal freiwillig und mal äußerst unfreiwillig geopferten Menschen, waren als Ganzes in den Baum eingegangen und hatten ihn dadurch immer weiter wachsen lassen, bis er einer der größten Bäume in der Umgebung geworden war. Auch von einem Dämon, der im Kern dieses Baumes gelebt haben soll, war die Rede gewesen. Im frühen Mittelalter jedoch endete seine Schreckensherrschaft. Zu dieser Zeit nämlich, wurde er von einem Holzfäller gefällt, der das gewonnene Holz an einen befreundeten Instrumentenbauer weitergegeben hatte. Die von diesem gefertigten Instrumente, sollten zu den wundersamsten Dingen in der Lage gewesen sein, wie etwa Mauern durch ihr Spiel zum Einsturz zu bringen, Tote zum Leben zu erwecken oder einfach nur ihre Zuhörer in einen besonderen Bann zu schlagen.
Eine andere interessante Sage erzählte von einem Barden, der im vierzehnten Jahrhundert ganze Städte mit seiner Laute verzückt und ihre Bewohner in ihm willenlos ergebene Diener verwandelt haben soll, bis sein Wirken irgendwann auf mysteriöse Weise endete. Was an all dem dran war und ob es einen Zusammenhang zu meinem Instrument gab, war mir natürlich nicht klar, aber dennoch gefiel mir die Vorstellung, Teil einer historischen Linie von Musikern zu sein, die die Welt mit ihrer Hingabe verändern wollten.
Dieser Gedanke machte mir bewusst, dass ich bislang äußerst egoistisch gehandelt hatte. Die Gitarre wollte nicht allein mir, Andre, Jan und Tobi eine Gelegenheit zur Unsterblichkeit bieten, sondern noch vielen weiteren Musikern und ich war derjenige, der ihr dabei helfen sollte. Es war nun an der Zeit neue Bandmitglieder zu suchen, sie einzuladen und herauszufinden, was sie so drauf hatten. Mit dem guten Namen von „Strange Obsession“ sollte das kein Problem darstellen und wenn ich erst die richtigen Kandidaten gefunden hätte, würde es endlich das geben, wonach unsere zahlreichen Fans nun immer lautstärker verlangten. Ein neues Album voller Leidenschaft. Und Seele.