Knochenwelt: Versammlung

„Dies ist Inga. Sie ist eine Drix Tschatha wie wir. Jedoch stammt sie von der anderen Seite und hat mir Dinge berichtet, die für uns sehr nützlich sein könnten“, eröffnete Anscha.

Hexe fühlte sich unwohl in dieser weitläufigen unterirdischen Höhle, durch deren niedrige Decke die bleichen Wurzeln unzähliger Knochenbäume ragten, wie gierige, umhertastende Finger. Sie kam sich ein wenig vor wie das neueste Mitglied einer bizarren Selbsthilfegruppe oder eigentlich sogar wie die billige Ware eines Sklavenhändlers, die auf einem zwielichtigen Markt angeboten wurde.

Die Blicke der anwesenden Frauen machten es nicht besser. Sie alle sahen sehr unterschiedlich aus. Sie trugen Kleider, Overalls, grob gearbeitete Lederrüstungen oder schmutzige Fetzen und Lumpen. Ihre Haut war leichenbleich, dunkelbraun, kakaofarben, cremefarben, rötlich oder gelblich. Ihre Gesichter jung und ebenmäßig oder runzlig und verbraucht. Ihre Körper waren klein oder groß, gebeugt oder gerade, so alt wie ihre Gesichter, älter als diese (so wie bei Anscha) oder sogar jünger. Manche von ihnen lächelten freundlich oder verführerisch, wieder andere verzogen keine Miene. Ihre Augen jedoch – egal welche Farbe sie auch hatten – waren im Großen und Ganzen gleich. Verbitterte, zynische, spöttische und verurteilende Giftschleudern, die längst jegliches Staunen über die Welt verloren hatten.

Verglichen mit diesen Sinnesorganen, dachte Hexe, besaß selbst Christopher Gera die unschuldigen Augen eines Welpen. Falls diese Frauen tatsächlich die Absicht hatten gegen das Böse zu kämpfen, dann wahrscheinlich nur aus Tradition oder Gewohnheit. Die einzige Ausnahme bildete eine kleine, uralte Frau, die Inga direkt gegenüber stand und deren Lächeln sich tatsächlich in ihren Augen widerspiegelte.

„Herzlich willkommen in unserem Zirkel!“, sagte ebenjene Frau, „mein Name ist Trinja und ich bin die Oberfrau unserer Gemeinschaft“

Statt Inga die Hand zu reichen, verschränkte sie ihre knorrigen Hände miteinander, streckte dabei ihre Ellenbogen zu beiden Seiten aus und spreizte Daumen und kleinen Finger so nach unten ab, dass sie sich berührten und gemeinsam mit ihren verschränkten Händen ein Dreieck bildete.

Verwirrt wiederholte Inga die Geste, schien das aber nicht sonderlich gekonnt zu machen, da einige der anderen Drix Tschatha kicherten. Trinja kicherte nicht.

Die Frau wäre Inga beinah sympathisch gewesen, doch genau wie die anderen Frauen hatte sie eine Kette an ihrem Gürtel befestigt, deren anderes Ende am Hals eines apathischen Mannes befestigt war. Im Gegensatz zu den menschlichen Magiedepots ihrer Mithexen, die ängstlich und verwirrt ins Leere starrten, hatte dieser Mann keine Augen mehr, mit denen er starren konnte, sondern nur leere dunkle Augenhöhlen. Noch dazu waren seine Ohren entfernt worden. Dafür war er der Einzige, dessen Mund nicht zugenäht worden war, auch wenn er kein Interesse daran zu haben schien, ihn zu gebrauchen.

Trotz allem, was sie in Anschas Höhle gesehen hatte, drehte sich Inga angesichts so viel Grausamkeit schlicht der Magen um.

„Du bist einen solchen Anblick nicht gewohnt, was?“, fragte Trinja, die ihr Missfallen zu bemerken schien, in mütterlich sanftem Ton.

„Nein. Ganz und gar nicht“, brachte Inga nach kurzem Zögern heraus, „Dort wo ich herkomme, betrachten wir Männer für gewöhnlich als menschliche Wesen. Und mit so etwas wie euch erschrecken wir dort unsere Kinder.“

„Was fällt dir ein?“, giftete eine besonders junge und schöne Hexe, die eine ungewöhnliche Kombination aus einer ledernen Rüstung und einem beinah modernen Rock trug, gleich zwei Männer mit sich führte und genau wie Hexe feuerrote Haare hatte. Nur ohne graue Strähnen. Sie erinnerte Inga schmerzlich an die Jugend, die sie verloren hatte, „Was glaubst du, gibt dir das Recht, uns zu verurteilen?“

„Ich weiß nicht, vielleicht das gleiche, was euch das Recht gibt Menschen zu verstümmeln?“, antwortete Inga selbstbewusst.

„Verzeiht ihr Benehmen, Myna“, sagte Anscha, bevor sich eine der wütenden Frauen auf sie stürzen konnte, „wie ich bereits gesagt habe, ist sie nicht von hier. Sie kommt aus Rix Anhir, aus der weichen Welt und ist unsere Bräuche kaum gewohnt.“

„Das ist keine Entschuldigung für derartige Unverschämtheit“, sagte eine weitere Hexe mit kratziger Stimme. Sie trug ein dreckiges, mittelalterlich anmutendes Gewand aus grobem Leinen, war dürr und extrem groß gewachsen und ihr sicher fast zwei Meter Zehn großer Körper sorgte dafür, dass sie sich leicht gebeugt hielt, da ihr Kopf keinen Platz unter der niedrigen Decke fand, „an Orten, an denen er nicht heimisch ist, stellt ein Gast für gewöhnlich nicht die Bräuche seiner Gastgeber infrage.“

„Doch, wenn es barbarische Bräuche sind“, antwortet Inga. Sie war sich durchaus bewusst, dass sie sich hier womöglich um Kopf und Kragen redete. Allerdings war sie nicht so abgestumpft, dass sie das hier ignorieren konnte. „Ich habe ja bei Anscha bereits einiges sehen müssen, aber ihr sprengt wirklich alle Grenzen des Wahnsinns.“

„Willst du unbedingt sterben?“, flüsterte ihr Anscha ins Ohr und die Blicke der anderen Drix Tschatha wurden immer finsterer. Sie hatte sogar den Eindruck, dass sich einige von ihnen innerlich auf Zauber vorbereiteten. Diese Vermutung wurde noch dadurch bestätigt, dass sich rund um Myna bereits ein paar kleinere Steine leicht in die Höhe hoben. Reflexhaft wollte Hexe es den Drix Tschatha gleichtun, aber zum einen war ihr bewusst, dass sie gegen diese Überzahl nicht die geringste Chance haben würde und zum anderen hatten die Frauen mit einer Sache recht: Die einzigen Energiequellen wären die bedauernswerten Männer.

„Hört auf!“, verlangte Trinja, die wie Inga das wachsende magische Knistern in der Luft fühlen konnte, „Wir mögen Differenzen haben, aber Anscha wird Inga nicht ohne Grund in unsere Mitte geführt haben. Wir sollten uns anhören, was sie zu berichten hat und nicht vergessen, dass unsere wahren Feinde die Weisen des Gebeins und der Knochenwald selbst sind und nicht eine unsere Schwestern, die eine andere Meinung vertritt als wir. Erkläre uns Anscha, was Inga dir berichtet hat und Inga, wisse, dass die Meisten von uns darauf achten, die Prozedur der Lebensbindung so wenig schmerzhaft wie möglich zu machen.

Bei meinem David hier habe ich zuvor sogar sämtliche höheren Hirnfunktionen ausgeschaltet. Er atmet, er läuft, aber er bekommt nichts von dem mit, was um ihn herum geschieht. Du magst das, was wir tun, verurteilen, aber bedenke, dass du in der Tat aus einer anderen, weniger unwirtlichen Welt stammst. Bist du bereit, den Frieden zu wahren und dein Herz im Zaum zu halten?“

Inga nickte. Ihr war klar, dass jede weitere Provokation, so gerechtfertigt sie auch wäre, in einer Katastrophe enden würde. Außerdem waren diese Hexen ihre einzigen Verbündeten weit und breit. Wenn sie diesen schrecklichen Ort verlassen und Bianca und die anderen wiedersehen wollte, musste sie mit den Drix Tschatha zusammenarbeiten. Mal abgesehen davon, dass Davox und Dr. Wingert inzwischen wahrscheinlich auf der Suche nach ihr waren.

„Sehr schön“, sagte Trinja hörbar erleichtert, „Und schwört auch ihr, meine Schwestern, den Frieden zu achten?“

Die Anwesenden Drix Tschatha sahen Hexe und Trinja prüfend an. Anscha war die Erste, die nickte, gefolgt von der dünnen Riesenhexe. Letztlich folgten auch die anderen Frauen, wobei die junge Drix Tschatha, namens Myna als letzte ihre Zustimmung kundtat.

„Wundervoll“, sagte Trinja erleichtert, „Nun, Anscha, beginne mit deiner Erzählung.“

Anscha gehorchte und fasste kurz zusammen, was sie von Inga erfahren hatte. Inga fand es ein wenig befremdlich, dass Anscha für sie sprach, so als wäre sie ein unmündiges Kind, beschwerte sich jedoch nicht. Wenn sie es schaffte über die Folter und Ausbeutung von Menschen hinwegzusehen, sollte so etwas erst recht kein Problem darstellen. Während Anscha erzählte, stellte Inga fest, dass es ihr schwerfiel sich zu konzentrieren. Stattdessen betrachtete sie die Männer der Lichthexen genauer. Tatsächlich war Trinjas Mann – David – der einzige, der überhaupt keine Notiz von seiner Umgebung zu nehmen schien. Die anderen mochten zwar beinah all ihrer Sinne beraubt worden sein, machten jedoch umso mehr von ihren verbliebenen gebrauch. Sie schnüffelten, tasteten – wahrscheinlich aus Angst vor ihren Herrinen – äußerst vorsichtig in der Luft und an den Höhlenwänden umher, verlagerten ihr Gewicht oder trauten sich sogar brummende, leise Laute mit ihren verschlossenen Mündern zu verursachen.

David jedoch stand völlig regungslos dort und das flache Heben und Senken seines Brustkorbs war das Einzige, was ihn von einem leblosen Objekt unterschied. Inga wusste nicht, welcher Anblick sie mehr abstieß. Trinja hatte Davids Zustand als eine Gnade beschrieben und theoretisch mochte das so sein – jedenfalls im Vergleich mit den anderen Männern. Aber das stimmte nur aus einer rein wissenschaftlichen Perspektive.

Inga hatte genug gesehen und gehört, um zu wissen, dass der Mensch mehr war als eine zufällige Anhäufung kooperativer Zellen und Mikroorganismen. Es gab das Übernatürliche. Zugegeben, das meiste davon war alles andere als ein Grund zur Freude, aber wenn es Schneidmaden, Magie, blutsaufende Sträucher und Bäume aus Gebeinen gab, so war das Konzept einer unsterblichen Seele sicher auch nicht mehr so weit hergeholt. Und wenn es so etwas gab, konnte es dann nicht sein, dass Davids Seele an seinen Körper gefesselt blieb, solange er atmete, egal wie zerstört sein Gehirn auch sein mochte? Inga wusste nicht, ob diese Annahme stimmte, aber allein die Möglichkeit, dass sie recht haben könnte, ließ sie erschauern. Sie hatte des Öfteren unter Schlafparalyse gelitten und kannte deshalb das Gefühl im eigenen Körper gefangen zu sein, aber wenn dieser Körper nicht einmal mehr an irgendwelche Sinne angeschlossen war und es keine Möglichkeit gab, Trost oder Ablenkung im Außen zu finden, musste das schier unerträglich sein.

Was Mara und die anderen Lichthexen in ihrer Welt getan hatten, war vielleicht auch zweifelhaft gewesen, aber immerhin hatten sich diese Männer mehr oder weniger freiwillig in ihr Schicksal ergeben. Diese hier jedoch…

„Inga, weilst du noch unter uns?“, hörte sie die mahnende Stimme von Anscha, die offenbar mit ihrem Bericht am Ende war.

„Natürlich“, antwortete Inga, „ich war nur etwas in Gedanken.“

„Du scheinst dir um sehr vieles Gedanken zu machen“, spottete Myna, „wahrscheinlich kommen daher die grauen Strähnen.“

Inga warf der anderen Rothaarigen einen giftigen Blick zu.

„Hast du mitbekommen, was ich gesagt habe?“, fragte Trinja.

Hexe schüttelte den Kopf, woraufhin die Drix Tschatha anfingen zu kichern. Auch Trinja kicherte, jedoch klang es bei ihr deutlich weniger bösartig. „Ich habe gesagt, dass wir bereit sind, uns dir und Anscha anzuschließen und ein Portal zu öffnen, um dieses Mädchen – Lucy – zu finden und in diese Welt zu bringen.“

„Das könnt ihr?“, fragte Inga.

„Aber natürlich“, sagte Myna lachend, „wir sind keine schwächlichen Hexenpüppchen aus der Weichwelt. Außerdem haben wir genügend Fleisch dafür.“

Sie verpasste einem ihrer beiden Sklaven – einem etwa dreißigjährigen, blonden Mann – einen heftigen Schlag auf jene Stelle, an der sich einmal sein Ohr befunden hatte. Sofort sickerte Blut aus seinem ruinierten Gehörgang und der Mann stöhnte schmerzhaft auf. Kurz darauf schloss Myna die Augen, hob einen kleinen Stein vom Boden auf und schleuderte ihn so fest gegen Ingas linken Oberarm, dass die Stelle zu bluten anfing. Auch der verletzte Mann blutete noch heftiger als ein weiteres Quäntchen seiner Lebenskraft in Magie aufgelöst wurde.

„Bist du wahnsinnig?“, fragte Inga wütend und rieb sich die schmerzende Stelle. Sie wünschte sich Mynas Kopf mit einem Zauber zu zerquetschen, beherrschte sich aber noch einmal. Vielleicht würde die Gelegenheit zur Rache noch kommen.

„Ich wollte dir nur zeigen, was wir alles so können“, flötete die junge Hexe.

„Myna!“, rief Trinja ermahnend, aber die die angesprochene grinste nur breit.

Trinja ignorierte die Respektlosigkeit und Inga fragte sich ernsthaft, warum es der Oberfrau offenbar problemlos gelang, ihre Untergebenen auf ein gemeinsames Ziel zu verpflichten, sie aber solch ein Verhalten einfach so duldete.

„Ich schlage vor, dass wir uns auf den Weg machen“, sagte Anscha, „Je schneller wir auf der Weißlichtung sind, desto besser.“

„Was ist die Weißlichtung?“, fragte Inga.

„Das erkläre ich dir unterwegs“, antwortete Trinja.

~o~

Wie versprochen erklärte Trinja Inga, was es mit der „Weißlichtung“ auf sich hatte, während sie den Ort ihrer Versammlung durch ein weit verzweigtes Tunnelsystem wieder verließen. Laut der Oberfrau handelte es sich um eine große Lichtung inmitten des Knochenwaldes, auf der keine schwarze, sondern eine goldene Sonne die Herrschaft hatte und auf der richtiges, normales Gras und harmlose Sträucher mit gewöhnlichen Beeren wuchsen.

„Besucht ihr diesen Ort oft?“, fragte Inga die alte Frau, die ein erstaunlich schnelles Tempo anschlug, während ihr besinnungsloser Mann wie ein Roboter hinter ihr hertrottete. An Davids Mund klebten noch immer die Überreste der Glasbeeren, mit denen Trinja ihn vor ihrem Aufbruch gefüttert hatte.

Auf Trinjas faltigem Gesicht breitete sich ein trauriger und zugleich sehnsuchtsvoller Ausdruck aus. „Leider nein“, antwortete sie, „wir würden es gerne tun, denn es ist der schönste und friedliche Ort innerhalb dieses verfluchten Waldes. Am liebsten würden wir dort leben. Aber zum einen ist jede von uns seit langem von Glasbeeren abhängig und wir könnten dem Geschmack normaler Früchte nichts mehr abgewinnen und zum anderen liegt die Weißlichtung tief im Gebiet der Weisen des Gebeins, was jede Reise dorthin zum Wagnis macht. Sie betreten dieses Gebiet zwar nicht gerne, weil sie dort keine Macht haben und die ältesten von ihnen sogar riskieren zu zerfallen, aber auf dem Weg dorthin können sie uns durchaus gefährlich werden.

Zudem versuchen sie immer mal wieder uns auszurotten und ohne die Illusionszauber, die wir von Zeit zu Zeit um die Eingänge zu unseren Verstecken legen, wäre ihnen das längst gelungen. Einige von uns haben sie bereits getötet, also legen wir nicht unbedingt viel Wert darauf, sie auf dumme Gedanken zu bringen. Allerdings ist unsere Magie nirgendwo so stark wie auf der Weißlichtung. Nur dort haben wir überhaupt die Chance deine Freundin Lucy nicht nur samt ihrer Schneidmaden in den Wald zu bringen, sondern sie überhaupt erst zu finden. Die Weltengrenze auf diese Weise zu durchdringen erfordert normalerweise eine Menge Energie und könnte uns viele Leben kosten, die wir aber noch brauchen, wenn wir gegen die Weisen bestehen wollen.“

„Wenn diese Oase mitten im Weisengebiet liegt, wie kommen wir dann dort hinein?“, fragte Inga, „wollt ihr euch einen Durchgang erkämpfen?“

„Nein“, sagte Trinja, „das würde uns zu viel Kraft kosten und ob wir gewinnen würden, wäre fraglich. Wir werden uns stattdessen Tarnen und versuchen, keine Aufmerksamkeit zu erregen. Wenn wir eng genug zusammen bleiben, kostet uns das weit weniger Ressourcen als ein offener Konflikt.“

Bei dem Wort „Ressourcen“, zuckte Inga leicht zusammen, was Trinja nicht entging. „Du hast es noch immer nicht verwunden, wie wir von diesen Männern sprechen, nicht? Glaub mir Inga, es beschämt mich selbst, was aus uns geworden ist. Der alte Weg der Drix Tschatha war ein heiliger Bund, eine Symbiose zwischen Drix Tschatha und „Dron Athor“, der liebenden Quelle, wie wir unsere Partner einst genannt haben. Sie gaben uns ihre Kraft, ihren Verstand, ihr Selbst aus freien Stücken, damit wir sie im Kampf gegen die Mächte der Kälte und des Nichts verwenden konnten. Im Gegenzug haben sie ihre verbleibende Lebenszeit in Glück, Ekstase und Harmonie verbringen können. Ein zwar mit großen Opfern behafteter, aber doch fairer Pakt, der in deiner Welt funktioniert und auch einst an diesem Ort funktioniert hat, bevor der Knochenwald ihn übernommen und ihm allen Glanz und alle Schönheit genommen hatte.

Seitdem versucht jede von uns auf ihre Weise damit umzugehen. Anscha ködert ihre Opfer zumeist mit Sex und lässt sie körperlich intakt. Sie glaubt, dadurch den alten Riten am nächsten zu kommen, verkennt aber, dass die Amorda, die seelische Verbindung zwischen Drix Tschatha und Dron Athor keine rein körperliche ist. Andernfalls müsste sie ihre Männer auch nicht fesseln und knebeln. Eine solche Verbindung braucht Zeit. Zeit, die wir hier nicht haben, da wir unseren Männern keine schönen Jahre an unserer Seite versprechen können. Wir müssen ihre Energie viel zu schnell aufbrauchen, als dass jemand von ihnen dem freiwillig zustimmen würde.

Ich hingegen versuche deshalb meinen Dron Athor so viel Leid wie möglich zu ersparen. Ein paar schnelle Schnitte anstelle von langem und grausamen Leid. Es kann sein, dass ich mir etwas vormache, aber immerhin versuche ich es, genau wie Anscha auf ihre Weise. Die anderen von uns hingegen … nun, sie sind mit der Zeit abgestumpft. Sie machen sich mehr Gedanken darüber, wie ihre Dron Athor ihnen möglichst wenig Ärger bereiten und nicht, wie sie ihnen eine Gegenleistung für ihr Opfer erbringen können oder wie sie möglichst wenig leiden. Für diese Frauen werden sie mehr und mehr zu nichts weiter als einer laufenden Kraftquelle.“

Inga musste an ein Zitat aus ihrer Welt denken. Es stammte von Theodor Adorno und lautete „Es gibt kein richtiges Leben im Falschen“. Nie hatte sie es als passender empfunden, denn Anscha und Trinja taten genau das: Nach dem richtigen Leben im Falschen zu suchen. Laut aber fragte sie: „Frauen wie Myna?“

„Sie ist die Schlimmste, ja. Aber sie ist bei weitem nicht die Einzige, die ihr Mitgefühl verloren hat“, seufzte Trinja, „noch vor zweihundert Jahren hätte ich das für unmöglich gehalten.“

„Zweihundert Jahre? Wie alt bist du denn?“, fragte Inga verblüfft.

„Dreihundertzweiundfünzig Jahre“, sagte Trinja lächelnd, „und damit bin ich die Jüngste unter uns, was auch der Grund dafür ist, dass ich uns anführe. Die Kraft einer Drix Tschatha nimmt über viele Jahre zu, aber etwa mit dem dreihundertsten Lebensjahr nimmt sie langsam, aber stetig ab. Wenn du lange genug bei uns bleiben würdest, könntest du uns irgendwann anführen.“

Inga schauderte bei dem Gedanken zweihundertsiebzig Jahre oder länger bei diesen Frauen zu sein, mit ihnen wie Geister durch diese Welt des Schreckens zu streifen und unschuldigen Männern aufzulauern. Sie wollte hier nicht bleiben. Sie wollte Bianca in die Arme schließen, ihre Eltern und Freunde besuchen, die viel zu lange nichts von ihr gehört hatten, Bier trinken, auf Festivals gehen, gemütlich Bücher auf der Terrasse lesen und sich irgendeinen netten Kerl suchen, dem sie maximal die Nerven, auf keinem Fall aber seine Lebenskraft rauben würde.

Doch sie war nun einmal hier, Teil eines halb wahnsinnigen Hexenzirkels, zwanzig Jahre älter als sie eigentlich war und ein Billigflug in die Heimat war gerade nicht in Sicht, also wäre es wohl am besten sich auf das Hier und Jetzt zu konzentrieren und so viel zu erfahren wie nur möglich.

„So alt können wir werden?“, hakte Inga also nach, wobei sie bewusst das Thema Führung ausklammerte.

„Ja und Nein“, antwortete Trinja, „unsere natürliche Lebensspanne entspricht der aller anderen Menschen, jedoch können wir die Kraft unserer Dron Athor nutzen, um unser Leben zu verlängern und unsere Jugend zu erhalten. Früher, als diese Welt noch schön und die Zahl an Freiwilligen groß war, habe ich das oft getan. Inzwischen beschränke ich mich allein darauf, mein Leben zu erhalten. Meine Jugend ist mir nicht länger die Opfer wert, die dafür benötigt werden.“

Mara hatte ihr bereits etwas Ähnliches erzählt, aber tief in sich hatte sie gehofft, dass es einen anderen Weg geben würde. Schade, dachte sie, während sie sich in alter Gewohnheit mit den Fingern durch ihren grau melierten Schopf fuhr, sollte sie je in ihre Welt zurückkehren, würde sie sich definitiv einen Typen mit MILF-Fetisch suchen müssen. Sie selbst stand nämlich leider ganz und gar nicht auf ältere Männer.

„Irgendwie ist das doch aber unlogisch“, bemerkte Inga, „ich dachte, der Knochenwald würde schon seit vielen tausend Jahren existieren? Wie kannst du dann erlebt haben, wie es ohne ihn war?“

„Oh, er war immer existent, jedoch ist es den weißen Göttern einst gelungen, ihn zu verdecken. Nicht nur in deiner Welt, sondern auch in dieser. Wir lebten hier friedlich Seite an Seite mit den gewöhnlichen Menschen und sorgten dafür, dass es auch so blieb. Irgendwann jedoch wurden wir nachlässig und der Gefühllose Gott nutzte dies aus. Er brach durch winzige, gut verborgene Lücken im Gewebe der Realität und schickte dort seine dunkle Kraft hindurch. Wie verlockende, aber gefährliche Köder legte er sie im tiefsten Dickicht unserer Wälder aus, wo sie darauf warteten, von Menschen gefunden zu werden.

Und sie wurde gefunden. Nicht von beliebigen Menschen, sondern insbesondere von solchen, die mit ihrem Leben nicht zufrieden waren. Die sich von uns oder von ihresgleichen nicht verstanden oder sogar abgestoßen fühlten. Nicht alle, aber viele von ihnen waren Männer gewesen. Männer, denen das Leben übel mitgespielt hatte und die immer wieder gesehen hatten, wie wir Drix Tschatha Wunder vollbracht und dabei – selbst wenn es freiwillig geschah – die Lebenskraft von ihren Geschlechtsgenossen dafür genutzt hatten.

Sie hatten danach gegiert, selber solche Macht zu erlangen. Und als sie auf ihren immer ausgedehnteren Waldspaziergängen über die Welt und ihre Ungerechtigkeit sinnierten, fanden sie die schwarzen Wirbel, die der Gefühllose Gott dort hinterlassen hatte. Dunkle Brückenköpfe seiner Macht, die wie die Netze unweltlicher Spinnen zwischen uralten Bäumen hockten. Diese Wirbel waren zwar schwarz und leer gewesen, aber nicht still.

Unablässig begannen ihre vielen, leisen Stimmen zu jenen zu sprechen, die sich in ihre Nähe wagten. Sie erzählten von der Schönheit des Knochens und von der Schändlichkeit des überflüssigen Zierwerks, das ihn schon viel zu lange überdeckte. Wie wunderbar wäre es doch, so erzählte er ihnen, wenn man all diesen falschen Plüsch abstreifen und die nackte Anmut der ursprünglichen Wirklichkeit zum Vorschein bringen könnte.

Es gab sicher einige, die schon da den Stimmen verfielen, denn die Welt, die sie kannten, hatte ihnen nicht gut gedient. Manche sehnten sich nach einer Veränderung, um der Veränderung willen. Andere wollten die Welt, die sie ausgestoßen und enttäuscht hatte, einfach nur brennen sehen. Die meisten jedoch waren nicht so leicht zu verführen. Sie alle mochten die ein oder andere Enttäuschung erlebt haben, sie mochten verraten, verlassen, verspottet oder ignoriert worden sein, aber es war ihnen nicht daran gelegen, deswegen alles in Staub und Asche zu legen, was sie kannten. Ihnen dürstete es nicht nach Zerstörung, sie wollten geliebt und bewundert werden. Sie strebten Macht, nicht um alles zu vernichten und zu beherrschen, sondern um endlich einmal Selbstwirksamkeit zu erfahren. Um endlich das Gefühl zu haben, dass ihre Anwesenheit in dieser Welt irgendeinen Unterschied machte.

Der Gefühllose Gott mag derlei Empfindungen nicht teilen, aber er wusste sehr wohl sie zu nutzen und erzählte auch jenen Menschen genau das, was sie hören wollten.

Was immer auch ihre individuellen Beweggründe gewesen sein mochten, sie alle lauschten den wispernden Stimmen in der Schwärze und diese Stimmen erzählten ihnen, wie sie erhalten konnten, was sie erstrebten. Sie mussten ihre fleischliche Hülle ablegen, Stück für Stück und bis auf den Knochen. Anfangs mochten einige gezögert haben, so ein grausames Opfer zu bringen, aber die Stimmen wurde nicht müde, zu locken, zu beruhigen und zu versprechen und nachdem der erste Schnitt einmal getan war, fiel der nächste schon ein wenig leichter. Denn – das hatten die Stimmen ihnen versichert – sie würden nicht an ihren Verletzungen sterben, sondern lediglich Macht erlangen. Und so geschah es auch.

Also schnitten sie, schälten mehr und mehr Fleisch von ihren Körpern und ließen das Nichts in die freigelegten Knochen einsickern. Mit jedem dieser Opfer wuchsen die Wirbel und veränderten ihre Umgebung. Die lebendige, von Lebenssäften durchdrungene Rinde von Bäumen trocknete aus, verhärtete sich und wurde nach und nach so weiß und verknöchert wie die verstümmelten Körper der ersten Weisen des Gebeins. Denn so nannten diese Menschen, die schon längst keine mehr waren, sich fortan selbst.

Nach den Bäumen folgten die Tiere. Viele von ihnen veränderten sich radikal. Das behutsam austarierte Spiel der Evolution geriet außer Kontrolle. Manche Wesen, die groß waren, wurden klein, andere, die winzig waren, wurden riesengroß. Solche, die Eier legten, gebaren nun lebend, Landtieren wuchsen Flügel und Einzelgänger jagten jetzt in gewaltigen Rudeln oder bildeten insektenhafte Staaten. Alle jedoch wurden sie stärker, egoistischer und aggressiver und während sich die schwarzen Strudel wie Brandlöcher in einem Blatt Papier ausbreiteten, führten diese Geschöpfe einen gnadenlosen Kampf gegeneinander und gegen jedes gewöhnliche Lebewesen, dass sich in ihre Gebiete verirrte.

Sie selbst jedoch waren nicht in der Lage, ihr verdorbenes Gebiet zu verlassen. Anders als die Weisen, denn auch wenn sie dafür einen Teil ihrer Seele gaben, floss die Macht des Gefühllosen Gottes jetzt durch ihre blanken Knochen und sie kehrten in ihre Heimatstätte zurück, um ihre ehemaligen Mitmenschen zu beeindrucken oder sich an ihren persönlichen Rivalen oder den Drix Tschatha zu rächen.

Um ihre abscheuliche Natur zu verbergen, bedienten sie sich der Macht der Illusion, doch es war bei weitem nicht die einzige Macht, die sie einsetzten. Nebenbuhler starben in ihren Betten, gevierteilt, ohne dass eine Klinge sie berührt hätte oder mit geplatzten Augen und Fingern, während sie sich gerade noch angeregt mit ihren Freunden unterhalten hatten. Frauen, die sie verschmäht hatten, trockneten langsam aus, noch während sie in ihre Verzweiflung literweise Wasser in sich hineinschütteten oder brachten aus heiterem Himmel Abscheulichkeiten zur Welt, die ihre Körper zersprengten oder ihre ‚Mütter‘ direkt nach ihrer Geburt verspeisten.

Möglicherweise hätten wir den Grund für all das nie erfahren, denn die Weisen, die diese grauenhaften Taten verübten, gingen äußerst diskret vor. Und obwohl sie anfangs immer wieder die Strudel besuchen mussten, damit sie nicht zerfielen oder ihre Veränderung nicht offensichtlich wurde, fiel es niemandem auf. Immerhin hatten sie schon immer gerne den Wald aufgesucht. Zum Glück gab es aber auch andere unter ihnen, die ihre unerwartete Gabe offener zeigten. Einige führten ihre „Kunststücke“ auf öffentlichen Plätzen auf und badeten im Applaus der Menge, während sie Stahl schweben ließen und in neue Formen bogen, Wolken herabholten und auf ihnen spazieren gingen oder kleine Städte und Völker aus Erde erzeugten, die sie gegeneinander Krieg führen ließen. Andere waren noch mutiger und griffen uns Drix Tschatha mit fliegenden Messern aus Knochen und Sand und den animierten Kadavern verstorbener Tiere an oder sie kontrollierten den Willen von anderen Menschen, um sie gegen uns zu hetzen. Mehr als nur ein unschuldiger Mensch und auch einige Drix Tschatha sind bei diesen Angriffen ums Leben gekommen.

Aber immerhin kamen wir ihnen auf die Spur. Jene von uns, die ihren Zaubern trotzten, folgten ihnen auf ihrer Flucht in die Wälder und erstmals entdeckten wir die schwarzen Wirbel, die bereits riesige Teile von ihnen für sich eingenommen hatten. Endlose Gebiete voller knöcherner Bäume und schrecklichem Leben. Die Keimzellen des Knochenwaldes.

Auch ich war damals unter jenen gewesen, die den Weisen gefolgt sind. Mein Mann Jilan, den ich geliebt hatte wie noch keinen Mann vor oder nach ihm, war auch bei mir gewesen und ohne ihn wäre ich wohl nicht zurückgekehrt. Er war stark gewesen damals, ein Mann in der Blüte seines Lebens, voller Idealismus, Intelligenz und Körperkraft. Eine reife Frucht, die vor Energie nur so überlief und doch hatte ich ihm versprochen, seine Lebenskraft niemals zu nutzen. Dafür hatte ich zwei andere Dron Athor aus dem Pool an Freiwilligen mitgenommen, die sich bereiterklärt hatten, jeder Drix Tschatha freiwillig zu dienen. Jilan war mir lediglich gefolgt, um mich mit seinem Schwert zu beschützen. Wie wunderbar naiv wir gewesen waren. Wir beide. Leider hatten wir unterschätzt, wie viel mehr Macht die Weisen in der Nähe der schwarzen Wirbel besaßen.

Gandror, der Weise, dem ich gefolgt war, entfesselte die ganz Macht des Gefühllosen Gottes und des jungen Knochenwaldes. Stürme aus Holz und Knochen gingen auf uns nieder. Wellen von psyonischer Energie versuchten unsere Köpfe von Innen zu sprengen und zu Eis heruntergekühlte Luft drohte unsere Lungen zu zerstören. Sogar die entstellten Tiere holte er aus der verfluchten Zone und schützte sie, sodass sie sich in Scharen auf mich und meine Begleiter stürzten und uns mit Klauen, Stacheln, Zähnen und Saugrüsseln zu vernichten suchten. Einer meiner beiden Begleiter starb, noch bevor ich seine Kraft nutzen konnte und die Energie des anderen brauchte ich bereits in Gandrors erster Angriffswelle vollständig auf. Ich wäre an diesem Tag gestorben. Aber als Jilan, dessen Schwert ihm von Gandror mit purem Willen aus der Hand gerissen worden war, sah, wie sehr uns der Weise überlegen war, flehte er mich an, seine Kraft für die Flucht zu nutzen. Ich tat es unter Tränen und mit Widerwillen. Aber ich tat es.

Während mein Geliebter als verschrumpelte Hülle niedersank, wob ich aus all der Wut, die Jilans Opfer in mir auslöste, eine Feuermauer, die Gandror lang genug fernhielt, um mir die Flucht zurück in die Stadt zu ermöglichen.

In den folgenden Tagen und Nächten weinte ich viel und in manch dunklen Stunden hoffte ich geradezu darauf, dass Gandror mir folgen und meinem durch den Tod meines Seelenpartners erkauften Leben ein Ende setzen würde. Aber das geschah nicht. Gandror tauchte für viele Monate nicht in unserer Stadt auf und so starb ich nicht, sondern ertrug den Schmerz und lernte. Ich lernte, dass es für uns Drix Tschatha keine Möglichkeit gibt, diesem Kreislauf zu entfliehen. Wir leben, um zu beschützen und wir beschützen, indem wir zerstören, was wir lieben. Etwas anderes zu glauben, ist Selbstbetrug.“

Inga konnte kaum sagen, was ihr größere Schmerzen zufügte: Der resignierte, geplagte Ausdruck auf Trinjas Gesicht oder die niederschmetternden Konsequenzen ihrer Worte. „Was ist danach passiert?“, fragte Inga im dem dringenden Wunsch ihre eigenen aufkommenden Grübeleien in Geschichten zu ertränken.

„Viel“, antwortete Trinja, „viel und noch viel mehr. Allerdings gibt es keinen Grund, dich jetzt mit jedem bitteren Detail zu belasten. Deshalb die Kurzfassung: Ich erzählte den anderen Lichthexen von dem, was im Wald vor sich ging. Die meisten glaubten mir – mehr oder weniger. Ihr Glaube reichte zumindest aus, um die Saat von Angst und Misstrauen in ihre Herzen zu pflanzen, aber nicht, um die Bedrohung ernst zu nehmen und zu bekämpfen. Sie mieden den Wald, auch wenn sie ihn stets mit nervösen Blicken bedachten, doch niemand war bereit, eine Expedition auszuschicken. Stattdessen begannen sie, den Männern zu misstrauen.

Ich hatte ihnen gegenüber stets betont, dass nur einige Wenige diesem dunklen Pfad gefolgt waren und natürlich, dass sich mein geliebter Jilan selbstlos geopfert hatte, aber das verhinderte leider nicht, dass viele begannen in jedem Mann einen Feind zu sehen. Zwar tauchten keine magisch begabten Männer mehr auf, aber das änderte leider nichts daran, dass das Misstrauen zunehmend wuchs.

Zuerst verhängte man abendliche Ausgangssperren für die Männer. Dann verbot man ihnen auf die Jagd zu gehen oder einem Handwerk nachzugehen, um sie nicht in den Besitz von Waffen gelangen zu lassen. Als es fünf von ihnen zu viel wurde und sie aus Rache und Verzweiflung das Haus unserer Obersten in Brand steckten – wohlgemerkt nachdem sie sich vergewissert hatten, dass gerade weder sie noch jemand anders dort war – wurde es noch schlimmer. Sie wurden gefangengenommen. Aber sie wurden nicht nach unserem für alle gleichermaßen gültigen Gesetz bestraft.

Stattdessen stellte man im Zentrum der Stadt einen eisernen Käfig mit nach innen gerichteten Stahlspitzen auf, in den Mann die Männer einsperrte. Dann versammelte sich eine Gruppe auf zwanzig wütenden Drix Tschatha rund um diesen Käfig und begannen mit dem, was sie unter einer gerechten Strafe verstanden. Sie fingen an, den eingesperrten Männern ihre Lebenskraft abzuzapfen, während sie die gewonnene Macht dazu nutzten, den Käfig immer weiter schrumpfen zu lassen. Als sich die Gefangenen nicht mehr enger zusammen drängen konnten und sich die Spitzen unausweichlich in ihr Fleisch bohrten, waren sie bereits alt, vertrocknet und halb schwachsinnig geworden.

Dennoch haben sie den Schmerz noch immer gespürt, da bin ich mir sicher. Schreie wie die, die ich an diesem Tag gehört habe, können nur von fühlenden und denken Wesen stammen. Das, was damals geschah, war ein Sakrileg, ein unglaublicher Tabubruch. Nicht nur, dass es in unserer Gemeinschaft bislang niemals eine Todesstrafe gegeben, wir hatten auch noch nie „Die Lebensbindung“, wie wir diese Kraftübertragung nennen, als Bestrafung eingesetzt. Ich bin froh, dass ich mich an diesem Tag nicht an den Gräuel beteiligt habe, aber ich habe auch nichts getan, um sie zu verhindern. Ich stand lediglich da und beobachtete. Fassungslos, hilflos und tatenlos. Das Gleiche galt für meine Freundinnen, die das ganze gleichermaßen entsetzte, die jedoch alle zu viel Angst davor hatten, einen Bürgerkrieg zu entfachen.

Dieser barbarische Akt trug jedenfalls nichts dazu bei, dass sich der Zorn der „Sehenden“, wie sich die fanatischen Männerhasserinnen unter den Drix Tschatha inzwischen selbst bezeichneten, abkühlte. Die anderen Männer wurden nun rund um die Uhr unter Beobachtung gestellt und als den Sehenden das nicht mehr ausreichte, begannen sie damit, sie bei jeder kleinen Verfehlung oder Unachtsamkeit mit dem Entzug von Lebenskraft zu bestrafen.

Schon ein falsches Wort oder ein schräger Blick reichten oft aus, eine solche Strafe nach sich zu ziehen. Aus Beschützerinnen wurden Tyranninen, die die Männer zuletzt nur noch als Notwendigkeit zur Reproduktion und als Energiequelle betrachteten, nicht aber als fühlende und denkende Menschen. Um die Weisen kümmerte man sich kaum noch, obwohl ihr Treiben ja der Anlass für die Zwietracht zwischen uns gewesen war.“

Ingas Gedanken schweiften für einen Moment ab in ihre Welt, in der Frauen schon eine ganze Menge nicht minder barbarischer Gräueltaten durch Männer erleben mussten und noch immer erlebten. Misshandlungen, Verstümmelungen, Psychoterror, Massenvergewaltigungen. Auch sie wurden lange Zeit nicht als vollwertige Menschen betrachtet und noch heute gab es Männer, die so dachten. Trotzdem glaubte sie, dass das eine Unrecht das andere nicht aufwog. Wenn es überhaupt einen Ausweg aus dieser ganzen Hass- und Machtspirale zwischen den Geschlechtern gab, war es vollkommene Gleichberechtigung, nicht Rache.

„Als ich und die anderen, die mit diesem Wahnsinn nicht einverstanden waren, endlich dagegen aufbegehrten, kam es nicht zu dem befürchteten Bürgerkrieg. Die Sehenden hatten schon lange auf einen solchen Akt des Widerstandes gewartet und kaum dass wir unsere Stimmen erhoben hatten, haben sie uns überwältigt und eingesperrt. Auf das wir zur Vernunft kommen, wie sie es nannten.

Sie entfernten alle Tiere und Männer aus unserer Umgebung, damit wir nicht ausbrechen konnten und ließen und streng bewachen. Sie mochten uns für fehlgeleitet halten, aber noch waren sie nicht bereit, ihre eigenen Schwestern zu töten. Zumindest die meisten nicht. Vereinzelt wurden auch Stimmen laut, die genau das forderten. An diesen Fanatikerinnen fielen mir mit der Zeit … Merkwürdigkeiten auf. Fast alle von ihnen schienen irgendein Gebrechen zu haben, welches sie humpeln ließ oder ihre Bewegungsfähigkeit einschränkte. Manchmal fluchten sie auch leise oder verzogen den Mund, so als litten sie heftige Schmerzen. Und häufig waren sie lange Zeit fort und wirkten dann wieder vital und voller Tatendrang, wo sie zuvor noch schwach und ausgelaugt gewesen waren. Auch hatten sie eine Vorliebe für lange Kleider und Kopftücher entwickelt.

All diese Beobachtungen formten mit der Zeit ein sehr beunruhigendes Bild in mir. Aber erst als bei einer meiner Wärterinnen für einen kurzen Moment der Ärmel verrutschte und ich sah, dass ihr Unterarm aus nichts weiter als blankem Knochen bestand, erlangte ich Gewissheit. Irgendwie hatte dieser dunkle Wald es geschafft, nicht nur die Männer, sondern auch die Drix Tschatha mit seinen Versprechungen zu ködern. Sie hatten ihr heiliges Erbe verraten und sich dem Gefühllosen angedient. Warum sie das getan haben, bleibt mir bis heute weitgehend schleierhaft. Immerhin verfügen sie schon von sich aus über Magie.

Vielleicht reizte es sie, dass ein Weiser des Gebeins nicht auf andere Lebewesen oder deren Leichen angewiesen war, um Magie zu wirken. Er brauchte dazu nur den Knochenwald und die Macht des eigenen Opfers. Vielleicht waren sie auch zu der Überzeugung gelangt, dass der Wald sich weiter ausbreiten würde und wollten unbedingt auf der Gewinnerseite stehen. Ich weiß es nicht. Klar war nur, dass sie ihre Entfleischung in unserer Stadt nicht auf magischem Wege verbergen konnten. Man konnte sie also enttarnen und genau das versuchte ich. Wann immer ich konnte, warnte ich jene Sehenden, die ich für nach wie vor menschlich hielt, vor der Bedrohung, flehte sie an, die Verräter in ihren eigenen Reihen zu enttarnen.

Aber leider ist es naiv zu glauben, dass es finsterer Mächte bedurfte, um das Denken von Menschen und Drix Tschatha zu vergiften oder ihren Geist zu verschließen. Das schaffen wir schon ganz gut alleine. Niemand von ihnen glaubte mir oder den Frauen, die so dachten, wie ich.

Ich glaube sogar, dass man uns, die wir eine andere Meinung vertraten, für einen gefährlicheren Feind hielt, als irgendwelche mysteriösen dunklen Mächte, die sich in den Wäldern versteckten. Immerhin waren wir hier und die nicht. Das zumindest dachten die Sehenden.

Es sollte aber nicht lange dauern, bis unsere „sehenden“ Schwestern mit dem konfrontiert wurden, was sie nicht sehen wollten. Zuvor jedoch begingen sie weitere Gräuel, die alles überstiegen, was sie bislang angerichtet hatten.

Ob es am Einfluss der Weisen unter ihnen lag oder an ihrem eigenen Fanatismus, kann ich nicht mit Sicherheit sagen. Aber sie schienen den Fortbestand unserer Art inzwischen für weniger wichtig zu halten als die vermeintliche Bedrohung, die vom anderen Geschlecht ausging. Sie trieben alle Männer und auch Jungen zusammen und kesselten sie ein. Einigen wenigen gelang die Flucht in den Wald, wo sie Hass und Verzweiflung wahrscheinlich in die Arme der Dunkelheit getrieben hatten. Ich kann es ihnen nicht einmal verübeln.

Als sie jene festgesetzt hatten, denen die Flucht nicht gelungen war, begannen sie einmal mehr ihre Magie zu weben, wobei sie diesmal nur so viel Energie von ihren Opfern nahmen, um sie zu durchbohren, zu verbrennen, aufzuschlitzen, erfrieren zu lassen oder mit Windzaubern meterweit durch die Luft zu schleudern, wo sie mit gebrochenem Genick liegen blieben. Es begann als systematische Vernichtungsaktion, aber es wurde schnell zu einem wilden, sinnlosen Schlachten. Ich weinte bittere Tränen und schämte mich so sehr, wie noch nie zuvor, eine Drix Tschatha zu sein. Meine Freundinnen weinten mit mir.

Beim ersten Massaker war ich zu feige gewesen, um einzugreifen. Nun hätte ich es mit Sicherheit getan, wurde jedoch durch massive Stäbe aus Eisen und meine eigene Machtlosigkeit daran gehindert. Sie ließen keinen der Männer am Leben. Nicht einmal die kleinsten Jungen. Als die Nacht hereinbrach, glich der Marktplatz einem Schlachtfeld. Einige der Leichen landeten sogar in unmittelbarer Nähe unseres Gefängnisses. Ich bin mir sicher, dass die Weisen unter ihnen innerlich schadenfroh gelacht haben.

In dieser Nacht kam der Wald und mit ihm unser Ende.

Meine Zellengenossin Tryga war die erste, die bemerkte, dass der Baum, der nicht fern von unserer Zelle stand, nicht mehr derselbe war wie noch vor wenigen Stunden. Es war eine Birke, weswegen die Veränderung nicht sofort auffiel. Aber dass ihre Krone mitten im Sommer plötzlich vollkommen kahl und ihr Stamm frei von jeglichen Flecken war, ließ schließlich keinen Zweifel daran, dass die Macht des gefühllosen Gottes im geschwärzten Herzen unserer Stadt angekommen war.

Wir schlugen Alarm, schrien, warnten die anderen so gut wir konnten, aber noch immer lachten sie über uns und als sie es letztlich auch erkannten, war es zu spät. Die „Weisen des Gebeins“, die sich unter unseren Schwestern verborgen gehalten hatten, ließen ihre Verkleidungen fallen und begannen damit ihre dunkle Magie zu wirken, nun wo der Wald ihnen so nahe war. Sie waren uns hoffnungslos überlegen. Während sie ihre Kraftquelle und ihre männlichen Verbündeten aus dem Wald mitbrachten, hatten sie uns dazu gebracht, unsere eigene zu vernichten.

Selbst die meisten der nutzbaren Leichen waren in der nächtlichen Gewaltorgie verbrannt worden. Ein paar der „Sehenden“ waren noch verrückt oder verzweifelt genug ihre eigene Lebenskraft zu nutzen, um Feuer- oder Windzauber gegen die Invasoren zu werfen, aber damit bewirkten sie nicht viel mehr als ihren Tod in die eigenen Hände zu nehmen. Vielleicht waren sie die glücklichen, denn alle anderen waren den bösen Launen der „Weisen des Gebeins“ hilflos ausgeliefert.

Vielen Drix Tschatha wurde der Schädel von innen zerquetscht oder die Wirbelsäule so stark verkrümmt, bis ihre Nervenbahnen rissen, oder sie wurden von den missgestalteten Kreaturen verschlungen, die die Weisen aus dem Wald mitbrachten. Allen voran jene monströs veränderten Maden, die uns heute als Schneidmaden bekannt sind und die mit der Zeit fast alle anderen Lebewesen verdrängen sollten, aber auch scheußlich anzusehende und äußerst gefährliche Rehe, Füchse oder Kaninchen. Andere wurden in Knochenzombies verwandelt, willenlose Sklaven der Weisen, die mit ihren peitschenden Knochenzungen weitere ihrer Art erschufen.

Auch uns hätte wahrscheinlich ein ähnliches Schicksal erwartet. Dass ich dir heute von jenen Ereignissen berichten kann, liegt allein an der Leiche eines unglücklichen Manns, der zuletzt neben unserem Käfig gelandet war. Obwohl „Leiche“ das falsche Wort war. Der Mann hatte noch gelebt. Er war kaum mehr als ein Sack voll gebrochener Knochen und ausströmendem Blut und sein Tod stand ohne jeden Zweifel unmittelbar bevor, aber noch atmete er. Im Nachhinein hab ich mich oft gefragt, ob ich mich richtig verhalten hatte. Aber damals habe ich nicht viel nachgedacht, sondern einfach gehandelt. Ich nutzte seine versiegende Lebenskraft und nach seinem Tod auch noch die Kraft, die in seinem Körper gespeichert war für einen konzentrierten Feuerzauber, der die Gitterstäbe unseres Gefängnisses schmelzen ließ. Mit mir entkamen neun meiner Freundinnen.

Gerne hätte ich auch die anderen von uns gerettet, aber ich hatte weder den Schlüssel für ihre Zellen, noch die Kraft, um sie mit Magie daraus zu befreien. Stattdessen flüchteten wir in den Wald. Nicht in den östlichen Wald, den der gefühllose Gott sich unter den Nagel gerissen hatte, sondern in jenen, der ein ganzes Stück entfernt im Westen lag. Es war eine gefährliche Flucht, aber die Weisen und ihre Diener hatten genug damit zu tun, unsere Schwestern abzuschlachten und noch gab es Orte, an denen ihre Macht nichts galt. Also versteckten wir uns dort. Mit der Zeit stießen noch einige „Sehende“ zu uns, die dem Massaker entkommen waren. Ihr irrationaler Hass auf uns war nicht verschwunden, aber sie waren zumindest rational und selbstkritisch genug, um zu begreifen, dass wir aufeinander angewiesen waren, wenn wir überleben wollten. Insgesamt waren wir siebenunddreißig Frauen. Siebenunddreißig, die von über sechstausend Frauen und fast achttausend Männern geblieben waren. Unsere Stadt war nach den Maßstäben eurer Welt nie sehr groß gewesen und soweit wir wissen, war es die einzige Stadt der Drix Tschatha, die es je gegeben hat. Auch wenn wir damals noch nicht völlig unfruchtbar gewesen waren, waren wir auch alles andere als gebärfreudig. Und da es früher, vor der Entstehung der Sehenden, auch verboten war, einen Mann allein für die Verlängerung des eigenen Lebens zu missbrauchen, sind wir auch nicht viel älter geworden als die Menschen in deiner Welt.

Jedenfalls … auch wenn wir wenige waren und noch dazu deprimiert und traumatisiert, schafften wir es irgendwie zu überleben. Sogar als die Knochenbäume auch in unsere neue Zuflucht Einzug hielten und die Tiere sich mehr und mehr veränderten. Wir suchten Schutz im Untergrund, gruben uns tiefe Tunnel und kamen nur noch an die Oberfläche, um uns mit Nahrung zu versorgen, wie widerlich sie auch sein mochte. Denn unterhalb der Oberfläche blieb der Einfluss des Gefühllosen Gottes begrenzt. Dafür dauerte es nicht mehr lange, bis sich die Oberfläche in einen grauenhaften Albtraum verwandelt hatte. Hier an diesem Ort, an dem wir von unserer Magie und aller Schönheit abgeschnitten waren, waren wir fest davon überzeugt, altern und schon in wenigen Jahren sterben zu müssen. Das alte Geschlecht der Drix Tschatha, der letzten wissenden Kämpferinnen gegen den Gefühllosen Gott, würde ausgelöscht werden.

Aber so sollte es nicht kommen. Denn unsere Rettung kam aus jener Welt, von der uns unsere Legenden und Überlieferungen zwar berichtet, zu der wir aber nie haben Kontakt aufnehmen konnten. Doch die Vergiftung unserer Welt hatte offenbar dazu geführt, dass die Grenzen zwischen beiden Welten verschwammen. Irgendwann tauchten die ersten Fremden hier auf. Frauen, aber auch Männer, die orientierungslos und verwirrt in den vielleicht gefährlichsten Ort im Universum hineinstolperten. Ich erzähle mir selbst gerne, dass es einige unter uns gegeben hätte, die ihnen lediglich helfen wollten, die sich nach Gesellschaft sehnten, die Gutes tun wollten und dass ich dazugehören würde. Teilweise stimmte das sogar. Aber im Grunde unserer Herzen verzehrten auch wir, die wir seit langem unsere Jugend und unsere Kraft schwinden sahen, uns nach etwas ganz anderem.

Natürlich retteten wir die Menschen, die aus Rix Anhir kamen – der Weichwelt, wie wir sie nennen. Diejenigen, die nicht sofort den Schneidmaden oder einer der anderen Kreaturen, die damals noch im Knochenwald lebten, zum Opfer fielen, führten wie in unsere unterirdischen Verstecke und Höhlen, gaben ihnen von unseren Vorräten und schenkten ihnen Sicherheit. Von manchen sprachen wir auch von Liebe oder lockten sie mit unseren Reizen. Dabei war uns das Geschlecht ziemlich egal. Traditionell lebten die Drix Tschatha seit jeher mit Männern zusammen, aber das lag daran, dass es keine Frauen ohne magische Begabung gab und es weder möglich noch sinnvoll wäre, voneinander Kraft zu ziehen. Diese Frauen jedoch waren genauso gewöhnlich wie die Männer und so konnten wir uns ihrer auch auf die gleiche Art bedienen. Und ja, „bedienen“ ist der richtige Ausdruck dafür. Hatte es einst noch eine, wenn schon nicht gleichwertige, so doch wenigstens respektvolle und freiwillige Verbindung zwischen den Drix Tschatha und ihrem Dron Athor gegeben, so lockten wir sie nun mit Täuschungen und falschen Versprechungen in diese Rolle hinein und schließlich machten wir uns nicht mal mehr diese Mühe, sondern nahmen sie einfach gefangen und lutschten sie aus wie schmackhafte Früchte. Jene von uns, die noch ein Gewissen hatten, beruhigten es damit, dass sie so handeln mussten, um ihr Leben zu verlängern und ihren Orden am Leben zu erhalten. Das Überleben gelang uns – wie du siehst – bis heute. Die Rechtfertigung jedoch nutzte sich schnell ab und machte irgendwann einer dumpfen, gedankenlosen Routine Platz.

„Es tut mir leid“, schloss Trinja ihre Erzählung ab, „jetzt habe ich doch weit mehr erzählt, als ich eigentlich wollte. Vielleicht liegt es am Alter. Alte Menschen erzählen nun mal gerne von der Vergangenheit – egal wie düster und traurig sie auch sein mag – weil sie davon weit mehr haben als von der Zukunft. Ich hoffe, du kannst mir verzeihen.“

„Schon in Ordnung“, antwortete Hexe, die tatsächlich mehr als gebannt gelauscht hatte, während sie durch die gleichförmigen, staubigen Tunnel geschritten waren, „Ich weiß ohnehin viel zu wenig von dieser Welt. Insofern kann ich jedes bisschen Wissen gebrauchen. Auch wenn ich zugeben muss, dass ich nicht sonderlich stolz auf meine ‚Familie‘ bin.“

„Da sind wir schon zu zweit“, sagte Trinja niedergeschlagen. Ihr Bericht hatte anscheinend alte Wunden wieder aufgerissen, „doch jetzt entschuldige mich. Ich muss nach vorne zu den anderen. Wir näheren uns jetzt dem Gebiet der Weisen und auch wenn wir nach wie vor unterirdisch bewegen ist hier der Einfluss des Knochenwaldes größer. Ich sollte also besser nach Gefahren Ausschau halten.“

„Was für Gefahren?“, fragte Hexe, aber Trinja antwortete nicht, sondern schob sich zusammen mit David, der ihr willenlos hinterhertrottete, durch die Reihen der anderen Drix Tschatha.

„Die größte Gefahr ist der Schwachsinn, den Trinja erzählt“, giftete Myna, die eigentlich die Nachhut gebildet hatte, aber nun Trinjas Platz an ihrer Seite einnahm, wobei sie ihre verstümmelten Männer mit sich führte.

„Willst du etwa behaupten, dass sie lügt?“, fragte Inga, wobei sie instinktiv ein Stück zur Seite wich, da sie Mynas Angriff vorhin nicht vergessen hatte. Schon allein die zwar leichte, aber schmerzhafte Verletzung an ihrem Arm erinnerte sie daran.

„Das behaupte ich nicht nur, es ist auch so“, antwortete Myna, „allerdings belügt sie sich vor allem selbst.“ Inga hörte ihre Worte. Aber es waren Mynas Augen, die sie in ihren Bann zogen. Sie waren kalt, ja, aber auch hypnotisch und von einer klaren, inspirierenden Dominanz erfüllt, die etwas in Inga erzittern ließ. Und sie war schön. Verdammt schön. Vielleicht zu schön, um die Bosheit akzeptieren zu können, die sich in ihren Taten und Worten zeigte.

„Inwiefern?“, wollte Inga wissen als sie sich wieder von dem Anblick losgerissen hatte.

„Nun, sie tut gerade so als wären die Männer bedauernswerte Unschuldslämmer gewesen und wir gnadenlose Monster. Sie geißelt sich selbst und das wäre auch ihr gutes Recht, wenn sie damit nicht unser aller Ruf in den Dreck ziehen würde. Wir waren keine Unterdrücker, die sich wie wahnsinnig gewordene Furien über Unschuldige hergemacht haben. Diese Männer haben ebenfalls viele von uns dahingeschlachtet. Wir hingegen haben uns gewehrt, wie es das Recht jedes atmenden Geschöpfes ist, aber unseren Schwestern haben wir nie ein Leid angetan. Jedenfalls nicht absichtlich. Was das angeht, lügt Trinja definitiv.“

Inga sah die faszinierend schöne Frau skeptisch an. Konnte sie ihren Worten tatsächlich trauen? Sie war sich da nicht so sicher.

„Du kannst aber kaum bestreiten, dass ihr eure Männer heute wie Dreck behandelt. Egal was früher gewesen sein mag“, wandte sie ein.

„Wir kämpfen ums Überleben, Inga!“, widersprach Myna energisch, „und Überlebenskämpfe sind immer hässlich.“

„Du hast einen deiner Männer geschlagen, einfach nur zum Spaß und du hast sie als Fleisch bezeichnet. Für mich sieht das nicht so aus, als würdest du lediglich ein notwendiges Übel in Kauf nehmen, um zu überleben. Auf mich wirkt das eher verdammt psychopathisch“, widersprach Inga.

„Das war nicht in Ordnung“, gab Myna zu, „manchmal setzt einem dieses ständige Leben in Angst und Dunkelheit nervlich einfach zu sehr zu. Außerdem konnte ich es nicht ertragen, dass eine Fremde sich das Recht herausnimmt über mich und mein ganzes Leben zu urteilen, nachdem sie mich gerade mal ein paar Minuten kennt. Zudem ist der, den ich geschlagen habe, ein Mörder, so viel habe ich über ihn herausfinden können. Er hatte gerade eine junge Frau ermordet, als er sich im Wald verirrt hatte und letztlich hierhergekommen ist. Er hatte sogar noch das blutige Messer in der Hand gehalten.“

„Wie bequem“, antwortete Inga, „das befreit dich – falls es überhaupt stimmt – dann gleich mal von jeder moralischen Verantwortung für deine eigenen Taten, was? Und was ist mit dem anderen Mann? Ist er ein Kinderschänder? Oder hat er nur falsch geparkt?“

„Er ist wirklich unschuldig“, gestand Myna, „jedenfalls so unschuldig, wie es ein durchschnittlicher Mensch sein kann. Um ihn tut es mir leid.“

„Das wird ihn sicher ungemein trösten“, ätzte Inga und zu ihrer eigenen Überraschung erkannte sie Scham in Mynas Gesicht. War das gespielt, oder echt? Inga konnte es nicht genau sagen.

„Versteh doch, Inga“, sagte Myna schließlich, nachdem sie einige Zeit geschwiegen hatte, „wir könnten alle aufhören, uns mit magischer Energie zu versorgen und einfach auf den Tod warten. Aber was dann? Wenn es niemanden mehr gibt, der sich noch gegen die Macht des Knochenwaldes auflehnt, dauert es nicht mehr lange, bis der gefühllose Gott umfassend triumphiert. Was glaubst du, ist der Grund, warum die Barriere zwischen dieser und deiner Heimatwelt überhaupt noch existiert?“

„Weil ihr sie aufrechterhaltet?“, fragte Inga verblüfft.

„Genau aus diesem Grund“, antwortete Myna, „allein unsere bloße Existenz behindert den Gefühllosen Gott in seinem Wirken. Wir sind ein Stachel in seinem Fleisch. Der Letzte – neben den wenigsten Drix Tschatha in eurer Welt. Versteh doch, ich bin nicht geil darauf diese Männer leiden zu lassen. Das ist niemand von uns. Aber ihr Leid ist nichts gegen das Leid der Milliarden und Abermilliarden Geschöpfe die leiden würden, wenn diese Barriere fällt.“

„Es ist nicht in Ordnung, ein Leben gegen ein anderes aufzurechnen“, widersprach Inga.

„Darüber kann man trefflich streiten“, antwortete Myna mit einem spöttischen Funkeln in den Augen, „allerdings nur, solange es noch eine Welt gibt, in der ein Streit mit Worten und nicht mit Klauen und Zähnen ausgetragen wird. Es philosophiert sich schlecht im gefühllosen Chaos, weißt du?“

So gerne Inga es gewollt hätte: Es gelang ihr nicht, Mynas Argumentation zu widerlegen, so zynisch sie auch war. Dennoch verblieb ein innerer Widerstand, ein schales Gefühl, das ihr sagte, dass Myna es sich zu einfach machte. Dass sie Unrecht hatte, auch wenn Inga nicht genau sagen konnte, warum.

Myna schien ihren inneren Zwiespalt an ihrem Gesicht abzulesen. „Hör mal Inga, wir mögen einen schlechten Start gehabt haben und wenn ich ehrlich bin, habe ich mich verhalten wie ein schlechtgelauntes Stück Scheiße, was wohl auch daran liegt, dass seit Jahrzehnten jedes neue Gesicht, das ich erblicke, entweder Gefahr bedeutet oder ein weiteres bitteres, aber notwendiges Opfer. Ich bin es nicht gewohnt jemand neuen, Gleichwertigen zu treffen. Aber die Wahrheit ist, dass ich dich mag.“

Plötzlich ergriff Mynas schlanke Hand Ingas Hand und allein an der Art wie sie das tat, an der Spannung ihrer Haut, an dem Kribbeln, das die feinen Härchen darauf auf ihrer Haut auslösten, spürte Inga, dass sich nicht der Wunsch nach Freundschaft, sondern vielmehr ein schlecht verborgenes Begehren hinter dieser Berührung verbarg.

Verwirrung, Neugier, peinliche Berührtheit, Empörung und ein Hauch von Erregung explodierten in ihr und noch bevor sie dieses Knäuel mit ihren Gedanken entwirren konnte, gellte ein Schrei durch die schweigende Prozession der Lichthexen.

„Draniden!“, schrie Trinja und kurz darauf sah Inga, wie sich dutzende, kalkbleicher, wurmartiger Kreaturen aus den Wänden und der Decke des Tunnels vor ihnen hervorbrachen, so als hätten die Knochenbäume ihre Wurzeln ausgestreckt, voller Zorn darüber, dass sie ihre Herrschaft ignorierten und sich anmaßten diese Welt im Untergrund zu beschreiten.

Die meisten der Lichthexen waren noch vollkommen perplex, als einige dieser Wesen bereits das Erdreich verließen, und sich mit weit geöffneten Mäulern auf jeden Flecken ungeschützter Haut stürzten, den sie erblickten. Kaum war ihnen das gelungen, teilten sich die dürren Leiber der Kreaturen wie die Finger einer sich spreizenden Hand. Dann setzten sie ihre „Fingerkuppen“ auf andere Hautregionen, wo sie mit pumpenden Bewegungen begannen irgendetwas aus ihren Opfern herauszusaugen, die ihrerseits zu schreien anfingen. All dies geschah in Sekundenbruchteilen.

„Was passiert hier?“, wollte Inga wissen, die – schon aus reiner Angst – ihre Hand fester um Mynas Hand geschlossen hatte.

„Draniden sind die autonomen Wurzeln sehr alter Knochenbäumen“, sagte Myna hektisch, „Sie durchstreifen das Erdreich auf der Suche nach Feuchtigkeit für ihren Mutterbaum. Nach jeder Art von Feuchtigkeit ganz gleich wo oder in wem sie sich befindet. Wir müssen die Mistviecher verscheuchen, sonst sind wir bald Staub.“

Inga, die trotz allem innerlich darüber grinsen musste, wie zutreffend ihre Metapher gewesen war, bemerkte wie Myna ihren Blick nach innen richtete. Einen Augenblick später sah sie Mynas Männer zusammenzucken, als wären sie von unsichtbaren Messern getroffen wurden und fast zeitlich wölbten sich mehrere steinerne Arme aus den Wänden, die mit ihren kräftigen Fingern nach jenen Draniden schnappten, die sich bereits ein Opfer erwählt hatten und sie ihnen mit einem Ruck von der Haut rissen, was zwar Verletzungen zu verursachen, den derart befreiten jedoch nicht den Tod zu bringen schien. Doch fast sofort gruben sich neue Draniden aus den Tunnelwänden und setzten zum Sprung auf die Wanderer an, wobei sie sich vor allem auf die besser genährten und vitaleren Drix Tschatha stürzten, jedoch auch die Männer nicht verschmähten. Einer von ihnen wurde sogar gleich von fünf der bleichen Wurzeln befallen, sodass Inga voller Grauen beobachten konnte, wie die Haut des Mannes verschrumpelte, seine Augen austrockneten und er letztendlich als mumiengleiches, nur noch von trockener Haut überspanntes Skelett zusammenbrach. Jene Lichthexen, die nicht durch einen Angriff der Draniden in ihrer Konzentration gestört wurden, versuchten Mynas Verteidigungsbemühungen zu unterstützen. Sie ließen dünne Eisschilde in der Luft erscheinen, um ihre Schwestern zu schützen, hüllten die Wurzeln in Feuer, zerteilten sie mit schwebenden Klingen aus Metall, schleuderten sie mit heftigen Windstößen davon oder lösten sie sogar wie mit unsichtbaren Äxten in ihre Bestandteile auf. Doch die Zahl der Draniden war schier unerschöpflich und jeder dieser magischen Angriffe kostete etwas von der Jugend, Intelligenz, Emotionalität oder Seele eines Menschen.

Inga war vollkommen klar, dass sie nicht gewinnen konnten. Dieser Tunnel würde ihr Grab werden.

„Hinter dir!“, schrie Inga fast ohne es selbst zu merken, denn als sie beobachte, wie sich zwei Draniden gleich blutgieriger Rüssel direkt hinter der abgelenkten Myna durch die tote Erde schoben, reagierte ihr Mund schneller als ihr Verstand. Trotzdem kam ihre Warnung zu spät. Schnell wie abgefeuerte Projektile stürzten sich die teuflischen Wurzeln auf Mynas ungeschützten Nacken und sie sah an Mynas Augen, dass ihr sehr wohl bewusst war, was das bedeutete.

„Hilf mir, Inga!“, flehte sie in einer eigentümlichen Mischung aus Bitte und Befehlston, „nutze die Männer!“

Ingas Blick schweifte zu den erbarmenswerten Geschöpfen, die Myna im Schlepptau führte. Der eine war ein etwa fünfzigjähriger Mann mit braunem, wirrem Haar, der andere war der junge Blonde, den Myna vorhin verletzt hatte. Der angebliche Mörder, der eigentlich recht harmlos aussah. Natürlich musste das nichts bedeuten. Die meisten Mörder sahen nicht so aus, wie man sich einen typischen Mörder vorstellte und wer lange genug nichts weiter sein durfte, als ein atmender, laufender Sack Magie, konnte wahrscheinlich nicht allzu einschüchternd aussehen. Dennoch waren es Menschen – der Mörder wie der Unschuldige – und beim Gedanken daran, sie anzuzapfen wie eine herrenlose Tanksäule drehte sich Inga der Magen um.

Als sie jedoch wieder zu Myna blickte, glaubte sie bereits zu sehen, wie ihre schöne, geschmeidige Haut rau und spröde wurde. „Hilf mir, Inga!“, krächzte sie schmerzerfüllt und Myna wurde bewusst, dass es keinen einfachen Ausweg aus diesem Dilemma gab. Letztlich würde sie so oder so jemandem schaden, entweder diese beiden Männer würden etwas von ihrer Lebenskraft verlieren oder Myna und allen anderen. Es war die Rechnung des Teufels und doch begann sie zu rechnen. Und sie kam zu einem Ergebnis.

Inga vermied es, die Männer anzusehen und konzentrierte sich allein auf Myna, die Draniden und den Zauber, der in ihr Gestalt annahm. Wobei „Gestalt“ vielleicht das falsche Wort war, denn all die Emotionen, die in ihr tobten, ließen sich nicht in eine klare Ordnung bringen und so war sich Myna selbst nicht sicher, was passieren würde, als die gestohlenen Energien sich in einem Zauber entluden. Doch sie ließ es einfach geschehen.

Selten hatte sie so eine Macht gefühlt. Knisternd und brennend floss sie durch ihren ganzen Körper, brachte ihre Muskeln zum Zittern, ihre Knochen zum Vibrieren, ließ die feinen Härchen auf ihrer Haut sich aufrichten und führte sogar zu seltsamen, pseudosexuellen Empfindungen in ihren Lenden, bevor die Magie als wilder, unkontrollierter Sturm die Grenzen ihres Körpers übertrat. Nervös atmete Inga aus und für einen Moment traute sie sich kaum einzuatmen, so als würde sie fürchten, dass sie die Luft durch ihren Zauber in etwas Giftiges und Gefährliches verwandelt hatte.

„Wessen Zauber war das?“, fragte eine Stimme, die nicht Myna, sondern Anscha gehörte. In Anschas Worten lag große Verblüffung und als Inga bewusst wurde, dass die gerade noch so gefährlichen Draniden nun allesamt mitten in ihren Bewegungen eingefroren waren und nichts wies darauf hin, dass neue aus dem Erdreich nachrücken würden.

„Es war Ingas Zauber“, sagte Myna, die sich gerade die inaktiven Draniden, die indessen wie versteinerte Geister in der Luft schwebten, aus ihrem Fleisch gezogen hatte, „Sie hat mich gerettet. Sie hat uns alle gerettet.“

Bevor Inga es richtig realisierte, drückte Myna, die noch immer ihre Hand umklammert hielt, ihr einen Kuss auf den Mund und auch wenn sie nicht wirklich wusste, was sie von dieser Frau halten sollte, ja obwohl sie sie vielleicht sogar für ein Monster hielt, konnte sie sich nicht dagegen wehren, dass es ihr gefiel. Seit ihrer Zeit mit Davox hatte sie nichts Ähnliches mehr empfunden und im Grunde war es nicht mal damit vergleichbar. Es war aufregend, rauschhaft, aber irgendwie auch so, als würde man sich mit einem verlorenen Teil seiner selbst vereinen, es war …

„Solch einen Zauber habe ich noch nie gesehen“, ertönte die lobende Stimme Trinjas, „ich weiß nicht, wie du das angestellt hast, aber nun sollte jeder Zweifel ausgeräumt sein, dass du eine von uns bist.“ Anscha und auch viele der anderen Drix Tschatha nickten anerkennend.

„Auch ich zweifle nicht mehr im Geringsten daran“, sagte jetzt auch Myna, nachdem sie ihre Lippen wieder von den ihren gelöst hatte.

Für einen kurzen Moment war Inga tatsächlich dazu bereit, dieses Lob anzunehmen, auch wenn sie selbst nur zu genau wusste, dass sie ihre Leistung kaum mehr als Zufall war.

Dann jedoch riss sie das dumpfe Geräusch von etwas schweren, dass auf den Boden fiel aus ihrem Siegestaumel. Sie drehte sich um und sah in die mittlerweile uralten, ausgezehrten Gesichter von Mynas Männern, die leblos auf dem pechschwarzen Erdboden lagen.

Das grauenhafte Gefühl von Schuld legte sich wie ein Leichentuch über all ihre Sinne. Sie hatte getötet. Nicht verletzt, sondern wirklich getötet. Keine Monster, sondern Menschen und das nicht einmal aus Notwehr. Nicht wirklich. Was würde Bianca nun von ihr denken, wenn sie sie sehen könnte? Was unterschied sie jetzt noch von Davox? Natürlich hatte sie nicht aus Bosheit gehandelt, war in einer komplizierten Lage gewesen, aber auch Davox‘ erste Schritte in die Dunkelheit waren nachvollziehbar gewesen. Der Weg der Finsternis mochte im Chaos enden, aber er war mit Rationalität gepflastert. Sie hatte nicht nur eine Wahl gehabt: Sie hätte weglaufen können, sie hätte sich darauf verlassen können, dass die anderen Drix Tschatha allein mit dieser Bedrohung fertig wurden, sie hätte ihre eigene Lebenskraft nutzen können, wie sie es früher getan hatte. Aber das hatte sie nicht und damit würde sie leben müssen.

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