„Was kann ich für Sie tun?“, fragte Christopher Gera, der einen abgetragenen beigefarbenen Trenchcoat trug und nun mit wenig Begeisterung in Eppenheims Büro Platz genommen hatte. Der mit dunklen, antiken Möbeln eingerichtete Raum versprühte eine drückende, unheilvolle Atmosphäre und der Mann, der ihm gegenüber hinter seinem Schreibtisch saß, tat nicht das geringste, um diese zu verbessern.
Jörg Eppenheim hatte – das wusste Gera durch seine eigenen Nachforschungen – einst eine steile Karriere als Kleinkrimineller, Reichsbürger und Schläger eingeschlagen, bevor er im neuen Regime an seinen Posten gekommen war. Bislang hatte der Mann das Polizeirevier höchstens als Gast kennengelernt, schien sich jedoch in seiner neuen Machtposition mehr als wohl zu fühlen. Die fettigen, schulterlangen blonden Haare inklusive kreisrundem Haarausfall am Hinterkopf, der dünne, ungepflegte Schnurrbart, der Anzug mit dem Parteilogo und vor allem seine bösen, blass-blauen Augen machten den achtundvierzigjährigen zu einem sehr unangenehmen Anblick. Gera wollte hier am liebsten weg. So ähnlich mussten sich seine damaligen Mitarbeiter gefühlt hatten, wenn sie in sein Büro gekommen waren. Doch Gera war keiner von diesen ängstlichen, armen Gestalten. Er würde sich von jemandem wie Eppenheim nicht einschüchtern lassen.
„Für mich gar nichts, aber für Volksrat Erwin Rosberg und seine Tochter eine Menge“, antwortete Eppenheim und genehmigte sich einen Schluck aus der Bierflasche, die neben einigen weiteren, bereits gelehrten auf seinem verschmierten Schreibtisch stand.
„Die Tochter von Rosberg? Was ist mit ihr passiert?“, fragte Gera.
„Um genau so was rauszufinden werden Sie doch bezahlt, oder etwa nicht?“, schnauzte Eppenheim.
„Wäre trotzdem ganz hilfreich, wenn Sie mir sagen, was Sie wissen“, entgegnete Gera, „Rosberg soll uns ja nicht für Stümper halten, oder?“
„Von mir aus“, sagte Eppenheim, „also, alles, was wir wissen ist, dass das Töchterchen ziemlich übel zugerichtet war. Beide Arme aufgeschnitten bis auf die Knochen. Ist fast verblutet. Rosberg vermutet dahinter Geistermenschen. Oder irgend so einen anderen Antifa-Schleim. Stellen sie also fest wer es war und verhaften sie die Schweine, damit wir sie ordentlich rannehmen können. Oder besser noch: knallen sie sie ab und deren Freunde und Familien gleich mit. Niemand vergeht sich ungestraft an Parteimitgliedern. Das muss jedem Penner da draußen klar sein. Ist dieser Punkt klar geworden?“
„Glasklar“, sagte Gera, „die Gerechtigkeit wird siegen. Haben sie die Adresse?“
„Die schick ich Ihnen per Messenger“, sagte Eppenheim und beugte sich vor, wobei er seinen nach Alkohol und ungeputzten Zähnen stinkenden Atem in Geras Gesicht blies, „und merken Sie sich eins, Gera. Wichtig ist allein, dass wir siegen. Die Gerechtigkeit kann mir die haarigen Eier lutschen.“
Gera nickte und beeilte sich dann schnellstmöglich den Raum zu verlassen. Für Gera war es noch immer eine ungewohnte Erfahrung nicht der widerlichste Mensch im Raum zu sein. Sowohl hygienisch als auch moralisch betrachtet.
~o~
Endlich stand Gera vor der vollverglasten Vorstadt-Protzvilla von Rosberg. Der Weg hatte viel länger gedauert als erhofft. Seit die CfD sowohl den öffentlichen Nahverkehr als auch das Fahrrad-Fahren unter Strafe gestellt hatte, hatten die Staus extrem zugenommen, auch weil der Bau der neu geplanten Innenstadt-Autobahnen nicht wirklich Fortschritte machte. Selbst die Fußgängerwege und ehemaligen Radwege wurden gelegentlich als Überholspuren genutzt, auf denen man aber auch nicht wirklich vorankam. Am Ende hatte sich Gera einfach dafür entschieden, irgendwo im Halteverbot zu parken (das für Angestellte der Behörden und Parteimitglieder ohnehin nicht galt) und die letzte halbe Stunde des Weges zu laufen. Entsprechend durchgeschwitzt und genervt war er jetzt. Immerhin hatte er aber so Zeit gehabt, etwas nachzudenken.
Schon ohne mit Rosberg oder seiner Tochter gesprochen zu haben, war er sich fast sicher, dass weder Geistermenschen noch sonst irgendwelche linken Aktivisten für diesen Übergriff verantwortlich sein konnten. Die hätten nie und nimmer Rosbergs Kind zum Ziel irgendeiner Verstümmelung auserkoren. Erst recht kein Mädchen. Allerhöchstens hätten sie sie entführt, um Rosberg oder seine Partei dazu zu bringen, irgendeine seiner Wahnsinnsideen nicht umzusetzen. Aber so ergab das überhaupt keinen Sinn. Diese Erkenntnis würde Eppenheim sicher nicht gefallen. Er wollte Blut sehen. Am besten das von Oppositionellen. Aber Gera war kein scheiß Auftragskiller. Er war immer noch Bulle. Und selbst zu früheren Zeiten hätte er solch ein Ansinnen schon aus Trotz abgelehnt. Mit Eppenheim würde er schon irgendwie fertig werden. Jetzt galt es erstmal die Wahrheit rauszufinden. Ob sie Eppenheim nun interessierte oder nicht.
Eigentlich hätten ihn das Mädel mit den beiden bandagierten Armen und der dickliche Mann mit den blonden, kurzen Haaren, die hinter der Glasscheibe auf ihrer teuren, hellblauen Couch saßen, längst gesehen haben müssen. Und Gera war sich sogar sicher, dass es so war. Aber sie schienen lieber darauf zu warten, dass er seinen Zeigefinger bemühte. Also tat er es auch und drückte auf die Klingel. Ein nerviges, übertrieben melodisches Schellen erklang und einige Sekunden später erhob sich nicht etwa Rosberg, sondern seine verletzte, verstörte Tochter, während sich ihr Vater weiter faul und wichtigtuerisch auf der Couch räkelte und irgendwelche Snacks in sich reinfutterte.
Dummer Bastard, dachte Gera und ertappte sich bei dem Gedanken, dass selbst er dem Mädchen ein besserer Vater sein würde als dieser Parteibonze.
Dann ging die Tür auf.
„Ha … Hallo“, sagte Anita Rosberg. Anders als ihr Vater sah sie einigermaßen gut aus und wirkte sogar beinah sympathisch. Ihr schwarzes, wahrscheinlich gefärbtes Haar bildete einen krassen Kontrast zu ihren blauen Augen und ihrem kalkweißen Gesicht. Sie war dünn. Am Rande der Magersucht, wenn auch weit genug davon entfernt, um kein Aufsehen zu erregen und ihre Unterarme waren komplett von Verbänden umgeben. Ihre Augen blickten etwas an ihm vorbei. Ihre Lippen zitterten.
„Schönen Tag auch“, sagte Gera und bemühte sich um einen freundlichen Ton, auch wenn das seinem Wesen ziemlich widersprach, „Christopher Gera. Polizeihauptkommissar. Ich bin hier, um mit Ihnen über den Vorfall zu reden, dem Sie das hier zu verdanken haben. Kann ich reinkommen?“
„Natürlich“, sagte das Mädchen und trat etwas zur Seite, „kommen Sie gerne rein. Wollen Sie etwas trinken?“
„Gern“, sagte Gera, „haben Sie vielleicht Zitronenlimonade?“
Gera hatte festgestellt, dass dieses Getränk ganz gut dafür geeignet war, seinen Bonbonkonsum etwas einzuschränken.
„Leider nicht“, sagte das Mädchen, „nur Wasser und MannaRed.“
„Dann Wasser“, erwiderte Gera, der lieber noch Eppenheims Pisse trinken würde als auch nur einen Tropfen dieses Hochglanz-Soylent-Green an seinen Mund zu lassen. Er hatte seinen Besuch bei Jonathan nicht vergessen.
Rosbergs Tochter nickte verschüchtert und führte ihn zum Sofa, auf dem sich ihr Vater eine Dose eben jenes Getränks gönnte und dennoch tonnenweise Nüsse in sich reinstopfte, was Gera mehr als bemerkenswert fand.
Während Gera sich auf einen Sessel gegenüber des Sofas fallen ließ, ging das Mädchen in die Küche, wo nach dem Willen von Rosberg und Konsorten ohnehin ihre Zukunft lag.
„Ach, Christopher Gera, nicht wahr?“, fragte Rosberg, „sie sollen ja ein ziemlich harter Hund sein. Schon damals, als die Polizei noch ein Haufen verweichlichter Pisser gewesen war. Gut, dass Eppenheim sie schickt. Sie werden sicher die Leute aus ihren Löchern zerren, die meiner Tochter das angetan haben.“
„Ganz sicher“, sagte Gera.
„Gut“, meinte Rosberg, „dieser Abschaum hat es verdient, dass man ihn in die Mangel nimmt. Wenn jemand meine Tochter missbraucht, dann bin ich es.“
Das Grinsen, das Rosberg daraufhin präsentierte, just in dem Moment, als seine Tochter zurückkehrte und das Wasser für Gera abstellte, mochte von einigen Menschen als Hinweis gedeutet werden, dass die zuvor getätigte Äußerung nur ein mieser Witz war. Und auch Gera war nun wirklich nicht sensibel, was derbe Sprüche betraf. Aber sein Instinkt sagte ihm, dass das hier nicht zutraf.
Rosberg missbrauchte seine Tochter tatsächlich. Wenn nicht sexuell, dann zumindest mit Prügelstrafen oder einer anderen Scheiße. Schon allein dafür hätte Gera ihm gerne eine Kugel verpasst. Aber das konnte er sich in seiner jetzigen Situation nicht leisten. Er musste offiziell als einer von diesen Arschlöchern gelten. Nicht als ein Arschloch mit einem Rest von Anstand. Dennoch würde er nicht weiterkommen, solange dieser Pisser in seiner Nähe war.
„Das ist ein gutes Stichwort“, sagte Gera und erwiderte das schmierige Grinsen, „Sie wissen ja, dass man Zeugen manchmal etwas härter anfassen muss und wenn ein Elternteil dabei ist … nun … das führt zur Zurückhaltung.“
Gera zuckte innerlich zusammen, als er das erschrockene Gesicht des Mädchens sah, aber er bemühte sich, es sich nicht anmerken zu lassen.
„Oh, Sie können alles mit ihr tun, was ihrer Ermittlungsarbeit weiterhilft. Diese Weiber sind manchmal nicht so helle im Köpfchen. Selbst, wenn sie vom besten Blute sind. Solang sie nicht so wild wüten wie diese Antifa-Arschlöcher hab ich damit kein Problem“, meinte Rosberg ganz offen.
Mein Gott, dachte Gera, und ich hab früher tatsächlich gedacht, ich würde Ehrlichkeit bevorzugen.
„Das weiß ich zu schätzen“, sagte Gera und nahm einen Schluck von dem Wasser, das ihm gerade nicht nur langweilig, sondern auch ziemlich bitter schmeckte, „aber trotzdem fällt reden nicht so leicht, wenn ein Angehöriger dabei ist. Mann muss die Zeugen allein packen. Verstehen Sie? Ich will einfach nur meinen Job machen, damit sie mich bald wieder los sind.“
„Ich verstehe“, sagte Rosberg zu Geras Erleichterung, „also gut. Gehen sie mit ihr hoch in ihr Zimmer. Ich bleibe so lange hier unten und genieße meine Nüsse. Sie schmecken zwar wie Scheiße, aber sie trainieren meinen Kiefermuskel und die Zähne. Aber lassen Sie sich nicht zu viel Zeit und sagen Sie mir alles, was Ihnen meine kleine Anita gequiekt hat. Und lassen Sie Ihren Schwanz schön in der Hose. So groß die Versuchung auch ist.“
Gera nickte schon allein, weil er es kaum mehr ertrug zu diesem Typen freundlich zu sein.
„Geh’n wir“, sagte Gera zu Anita und für einen Moment glaubte er, dass sie versuchen würde, zu fliehen. Doch die konstante Einschüchterung ihres sogenannten Vaters hatte ganze Arbeit geleistet. Sie folgte ihm gehorsam auf den Weg zu einer weiteren von den vielen Misshandlungen, die ihren Alltag bestimmten.
~o~
„So“, sagte Gera als sie in ihrem Zimmer angekommen waren und er sich aufs Bett setzte, während Anita auf ihrem Computerstuhl Platz nahm. Ihr Zimmer sah ganz anders aus als Gera angenommen hatte. Es war kein schmuckloses, jede Individualität entbehrendes, kahles Gefängnis. Ja, zuerst hatte er es für eine Emo-, Metal- oder Gothic-Bude gehalten, mit den dunklen Farben, den morbiden Figuren und den vielen expliziten Postern und Bilderrahmen. Doch die Bilder, die ausgeweidete Körper von Frauen und Männern zeigten, waren keine grenzwertigen Album-Cover, sondern vielmehr Gore-Aufnahmen von ganz realen Personen. Die einzigen künstlerischen Objekte in diesem Zimmer waren Darstellungen und Miniaturen von Schädeln, Knochen und Skeletten, die mal finster und mal comichaft-freundlich dreinschauten. Offenbar hatte da jemand einen recht speziellen Geschmack für Ästhetik. Doch selbst verglichen mit den widerlichen Gore-Fotografien war Anita selbst der erbärmlichste Anblick in diesem Raum. Sie zitterte, war kreidebleich und hatte eine geduckte, verteidigende Haltung eingenommen.
„Entspann Dich“, sagte Gera und gab seinem Erdmännchengesicht den freundlichsten Ausdruck, den es je getragen hatte, „ich werde dir nicht wehtun und mich auch nicht an dir vergreifen. Das war nur Show, damit wir deinen Rabenvater loswerden. Ich will einfach nur herausfinden, wer dir das zugefügt hat.“
„Die Geistermenschen!“, schoss es automatisch aus Anita hervor, die nur wenig von ihrer Anspannung verloren hatte.
„Ach ist das so? Interessant. Und wie soll das passiert sein?“, fragte Gera ruhig.
„Sie … sind … ich … ich habe am Schreibtisch gesessen und dann waren sie da und sind auf mich losgegangen“, entgegnete Anita unsicher.
„Dann müssen das sogar echte Geister gewesen sein“, frotzelte Gera, „wie sonst sollten sie durch das Fenster im zweiten Stock hereinschweben oder sich unbemerkt in dieses schwer gesicherte Haus schleichen?“
Anita sah ihn erschrocken an und schien nach Worten zu suchen, die ihr aber offensichtlich nicht einfallen wollten.
„Zeig mir doch mal die Wunden, die dir diese Gespensterchen zugefügt haben“, bat Gera.
„Das … das geht nicht. Sie bluten noch … und sind entzündet“, sagte das Mädchen und versteckte ihre Arme hinter ihrem Rücken.
„Dafür sehen die Verbände aber sehr sauber aus“, meinte Gera, „aber du musst sie mir auch nicht zeigen. Das finde ich auch so heraus.“
Gera nah sein Handy und tippte den Namen der Zeugin in seine Universaldatenbank. Die CfD hatte direkt nach der Machtübernahme jeglichen Datenschutz abgeschafft, sodass die Polizei auf sämtliche Daten und Dokumente zugreifen konnte, auf die sie gerade Lust hatte. Auch auf die von Ärzten und Krankenhäusern. Es dauerte nur einige Augenblicke, bis er die Aufnahmen von Anitas verletzten Armen auf seinem Handy hatte. Sie gingen tief. Verdammt tief. Bis auf den Knochen herunter, jedoch ohne diesen auch nur minimal zu beschädigen. Gera konnte sich nicht vorstellen, dass die Rebellen so etwas taten. Das war keine Art Wunde, die politische Aktivisten schlugen. Und auch niemand, der die Absicht hatte, sich selbst zu verletzen oder zu töten. So eine Verletzung fügte einem höchstens ein psychopathischer Ritualmörder zu. Oder aber …
„Hast du schon einmal von den Weisen des Gebeins gehört?“, fragte Gera.
Das Mädchen schüttelte den Kopf.
„Und sagt dir dann der Begriff ‚Entfleischung‘ etwas?“, hakte Gera nach.
Wieder wollte Anita den Kopf schütteln, hielt dann jedoch inne, so als hätte es sie irritiert, dass ein alter Sack ein Wort aus ihrer Szenesprache benutzte. Aus einem Kosmos, der allein ihr und ihren Gleichgesinnten zu gehören schien.
„Hab ich mal irgendwo gehört“, versuchte Anita sich zu retten.
„Oh ich schätze du hast es auch erlebt“, sagte Gera und verengte seine Augen kritisch, „wie ist es passiert? Hat sich irgendein Portal in deinem Zimmer geöffnet und so einen dürren Knochenschwurbler in dein Zimmer gespuckt, oder …“
„Nein …“, sagte Anita, aber Gera bemerkte, dass sich ihr Widerstand auflöste.
Gera sah sie an. So freundlich und offen wie er konnte, was für die meisten Menschen leider immer noch wie eine mittelschwere Drohung wirkte.
„Mein Vater …“, fuhr Anita dennoch fort, wobei sie augenscheinlich das Thema wechselte, „er glaubt nicht an den Kram. Den Knochenwald und all das. Er hält das alles für übertrieben. Meint, das wäre nur eine Scharade der Altparteien, die uns, die der CfD die Herrschaft streitig machen wollen.“
Ja, dachte Gera, das ergab absolut Sinn. Es gab sicher keine bessere Form der Konterrevolution als sich ein paar Riesenmaden- und Knochenzombiekostüme aus dem Ein-Euro-Shop klarzumachen, um dann Menschen am Stück zu snacken und mit Papas Zauberkasten die Raumzeit zu beugen.
„Du glaubst aber schon daran, oder?“, fragte Gera.
Anita nickte und plötzlich wirkte sie nicht mehr verschüchtert, sondern geradezu enthusiastisch, „Ja, das tue ich. Natürlich. Ich meine, jeder Mensch mit ein wenig Verstand tut das. Dafür braucht man nur mit offenen Augen durch die Welt zu gehen. Da draußen sieht man eine Menge faszinierender Dinge. Zumindest, wenn … wenn man einmal draußen sein kann. Das ist ein richtiges Wunderland. Und Rone und die anderen Streamer offenbaren einem noch viel mehr Wunder.“
„Wer ist dieser Rone?“, fragte Gera hellhörig.
„Rone the Bone“, erklärte Anita und sah Gera an, als wäre dieser schwer Dement, „der größte und sympathischste Bonefluencer im deutschsprachigen Raum mit 900.000 Subscribern.“
Gera war kein übergroßer Fan von Social Media – auch wenn er sich früher gern mal die Zeit damit vertrieben hatte, Leute zu trollen und in den Wahnsinn zu treiben – aber man musste auch kein Genie sein, um sich aus diesen Informationen eine Theorie zu bilden.
„Lass mich raten“, sagte Gera, während er den YouTube-Kanal des Typen aufrief und ihn das grinsende Gesicht eines schmierigen Großsprechers begrüßte, unter dessen Video-Thumbnails tatsächlich explizite Anleitungen zur schonenden Entfleischung zu finden waren, „dieser Rone hat dich dazu gebracht, dir deine hübschen Arme in Schaschlik zu verwandeln und dir erzählt, dass du dann eine Superheldin werden würdest.“
Anita schüttelte erst den Kopf, doch dann nickte sie und Tränen begannen über ihr Gesicht zu fließen. Beiläufig und undramatisch, wie durch ein zufälliges Leck in der Seele. „Ich wollte es schon immer. Er hat mir nur den Weg gezeigt. Ich wollte diesen Körper loswerden. Meine Knochen sind rein, wunderschön, frei, unberührt. Nicht wie … wie mein Fleisch.“
Mit einem Mal erreichte Geras Hass auf Rosberg neue Höhen. Anitas Worte trafen ihn mehr als er es für möglich gehalten hätte.
Auch das Gesicht der Teenagerin verdüsterte sich plötzlich.
„Ja“, sagte sie, „… ich wollte diese Kräfte. Ich wollte die Macht, Rache zu üben. Mich zu wehren. Ihn … aus meinem Leben zu werfen.“
„Aber es hat nicht funktioniert“, sprach Gera das Offensichtliche aus.
„Leider nein“, sagte Anita und der dunkle Sturm in ihrem Gesicht flaute zu einem lauen Lüftchen ab, „ich muss irgendwas falsch gemacht haben. Rone hat gesagt, wenn wir uns nur trauen, dann …“
„Sei froh, dass es nicht funktioniert hat“, sagte Gera, „du wärst sonst nur die Sklavin eines gnadenlosen Herren.“
„Das bin ich ohnehin“, sagte Anita.
Darauf konnte Gera nichts erwidern.
~o~
Gera kramte rasch ein Zitronenbonbon aus seiner Tasche. Er brauchte das jetzt, um den Kotzreiz zu vertreiben, den der Besuch in Rosbergs Haus in ihm hinterlassen hatte. Der peinliche, verlegene Abschied von Anita, die geschauspielerte Kumpelei gegenüber dem feisten Arschloch und der widerliche Blick des Mannes, den dieser seiner Tochter zugeworfen hatte, als diese mit Gera zurück ins Wohnzimmer gegangen war, waren weit ekelhafter gewesen als alles, was er beim Kampf gegen Devon erlebt hatte.
Gera war wirklich kurz davor gewesen dem Pisser den Arsch bis zu den Haarspitzen aufzureißen. Dass er das nicht getan hatte, hatte vor allem daran gelegen, dass ihm eine bessere Idee gekommen war.
Ein Plan, der in seinem alten Job vollkommen undenkbar und schwachsinnig, in einer Welt mit einer unkontrollierten Polizei mit unbeschränkten Befugnissen durchaus gangbar war. Ganz besonders, wenn man fast alle fähigen Kollegen gegen ideologisierte Döspaddel ausgetauscht hatte. Es hatte Gera nur etwa eine Viertelstunde gekostet, auf seinem Smartphone ein paar gefälschte Nachrichten in Rosbergs Messenger-Account zu schmuggeln, einige Fantasie-Propaganda-Plakate der Geistermenschen auf seinem Handy zu hinterlegen und diese „Beweise“ an die Abteilung für digitale Kriminalität weiterzuleiten. Die Tatsache, dass die vermeintlichen Geistermenschen den lüsternen Rosberg in den gefakten Dialogen mit sexuellen Dienstleistungen bezahlen wollten, war der Glaubwürdigkeit dieser Anschuldigungen sicher genauso zuträglich, wie der Umstand, dass Gera ein paar ganz reale Flugblätter in Rosbergs Arbeitszimmer platziert hatte, als er sich vor seinem Aufbruch für einen Toilettengang entschuldigt hatte.
Das alles war nicht ganz ohne Risiko, auch wenn Gera wusste, dass das innere von Rosbergs Haus aus Angst vor Spionage nicht mit Videoüberwachung ausgestattet war. Aber da die Polizeibehörde nach vorweisbaren Erfolgen gierte und es in der CfD gerade En Vogue war vermeintliche Abweichler in den eigenen Reihen zu jagen, sollte es funktionieren. Natürlich hatte er nicht vergessen darauf hinzuweisen, dass er diese korrumpierenden Beweise auch mit der Hilfe von Rosbergs linientreuer Tochter gesammelt hatte. Das würde dem Mädchen zumindest einen gewissen Schutz bieten, wenn sie künftig auf sich gestellt war.
Durch diese edle Tat und das süßsaure Aroma des Bonbons etwas erleichtert, schweiften Geras Gedanken wieder zu Rone the Bone. Dieser Mann war ihm ein Rätsel. Zum einen, weil sich über ihn nichts herausfinden ließ. Natürlich waren die Accounts und IP-Adressen aller in Deutschland verfügbaren Social-Media-Kanäle und deren Betreiber für Gera wie für alle seine Kollegen ein offenes Buch. Aber diese Spur führte nur zu einer Adresse auf den Philippinen, von der Gera ziemlich sicher war, dass er höchstens eine unschuldige Frau im Home-Office oder einen harmlosen Kerl beim Onanieren stören würde, wenn er die Dummheit besäße durch die Frontlinie zu brechen, nebenbei einen weiteren Krieg anzuzetteln und die betreffende Wohnung mit einem Team gewaltgeiler Fascho-Bullen zu überfallen.
Zum anderen waren ihm die Motive von Rone und den anderen, kleinen Bonefluencern schleierhaft. Wenn es selbst Weise waren, mussten sie doch wissen, dass die Opfer ihrer perversen Manipulation ihre Selbstverstümmelung niemals überleben würden. Immerhin waren die dunklen Einflüsse des Knochenwalds in dieser Welt längst nicht mehr stark genug, seit sie das Portal geschlossen hatten. Wenn es hingegen Schwindler waren, die es einfach nur geil fanden, Teenager in den Selbstmord zu treiben, dann verfügten sie über erstaunlich viel Insider-Wissen. So oder so musste er einen von ihnen in die Finger kriegen, um diesem Mysterium auf den Grund zu gehen. Rone wäre mit Abstand der beste Kandidat dafür. Aber wie sollte er den Typen aufspüren?
Während er den langen Fußweg zu seinem Auto zurücklegte, dachte er über diese Frage nach, kam jedoch zu keinem ernsthaften Ergebnis. Das wiederum frustrierte ihn so sehr, dass er sich kurzerhand sein Handy schnappte und Rone the Bone einfach eine freundliche Direktnachricht schrieb:
„Sehr geehrtes Dreckschwein. Ich bin wirklich neugierig, welches gehirngefistete, widerliche, impotente, gescheiterte Genexperiment eines Shitfluencers sich hinter diesem zusammengestotterten Unfall von einem Kanal verbirgt. Wenn sie abscheulicher Rotzgolem noch ein Bröckchen Rückgrat in ihrer skelettierten Schleimvisage haben, können wir gerne ein Treffen ausmachen, damit ich ihnen selbiges durch den verkrusteten After ziehen kann. Möge Ihnen für jeden Jugendlichen, dessen Leben Sie versaut haben, ein Glied ihres verkümmerten Schwanzknöchelchens abfaulen. Mit freundlichen Grüßen Polizeihauptkommissar Gera.“
Natürlich war diese Aktion weder schlau noch zielführend, aber sie sorgte dafür, dass Geras Laune sich wieder ein ganzes Stück hob. Andernfalls hätte er die nächste Hiobsbotschaft wohl auch weniger gelassen hingenommen.
Als er nämlich sein Auto erreichte, begrüßte ihn ein stechender Geruch, der von einem großen braunen Kackflatschen kam, dem ihm jemand auf die Fensterscheibe geschissen und großflächig darauf verteilt hatte. Zunächst fuhr Geras Puls gewaltig hoch, dann jedoch las er das Wort, das der Täter in die Fäkalien geritzt hatte: „CfDurchfall“ und konnte sich ein Kichern nicht verkneifen.
„Es gibt sie noch, die Helden des Alltags“, sagte Gera lachend und musste demjenigen, der den Mut gehabt hatte, diesen Anschlag in aller Öffentlichkeit durchzuziehen, wirklich Respekt zollen. Leute waren schon für weit weniger zu Tode gefoltert worden. Dann nahm er eine Ausgabe der Parteizeitung „Der Deutsche Weg“ und wischte den Haufen so gut es ging beiseite. Den Rest würde der Scheibenwischer erledigen.
~o~
„Ich glaube sie haben noch immer nicht verstanden, wo sie arbeiten“, schrie Eppenheim. Er schien mit den Ergebnissen von Geras Ermittlungen nicht sonderlich zufrieden zu sein, was Gera natürlich erwartet hatte.
„Bei der Polizei vermutlich“, antwortete Gera.
„Ihren Sarkasmus können sie sich in ihren inkompetenten Arsch stecken“, wütete Eppenheim nun noch verärgerter, „und nein, das hier ist nicht mehr die verblödete Polizei mit ihren kindischen Räuber- und Gendarm-Spielen. Das hier ist ein Parteiorgan. Es dient der Partei und niemandem sonst. Und wenn ich von ihnen verlange einem Anschlag der Geistermenschen auf ein Parteimitglied nachzugehen, dann tun sie das gefälligst auch und kommen mir nicht mit irgendwelchen Fantasiegeschichten von Knochenmagiern und Influencern.
„Rosberg ist ein Verräter, der nur mit dem Schwanz denkt. Seine Behauptungen sind einen Dreck wert“, konterte Gera kühl. Er war von Drohungen und verbaler Aggression nicht leicht einzuschüchtern. Dafür hatte er selbst schon zu viele solcher Schimpftiraden verteilt.
„Ja, das mag sein. Und dass sie herausgefunden haben, dass Rosberg ein Verräter ist, ist auch der einzige Grund, warum ich sie nicht heute noch rauswerfe und Sie an die verfluchte Front schicke“, antwortete Eppenheim, „aber das heißt nicht, dass diese Option vom Tisch ist. Ich werde sie sogar höchstpersönlich in zur Front schleifen, wenn sie mir nicht schnellstmöglich ein paar Sündenböcke besorgen. Irgendwelche Punks werden sie schon finden. Oder notfalls ein paar Obdachlose, die wir zu Widerstandskämpfern aufbauen können. Mir egal. Hauptsache, sie tun es. Wir haben eine Propagandaschlacht zu führen. Die Rebellenköpfe müssen rollen, bis sich keiner mehr traut, einen von uns auch nur schief anzusehen.“
Gera nickte, wenn auch vor allem aus taktischen Gründen. „Und was ist mit Rosberg?“, fragte er.
„Um den werden wir uns schon kümmern. Zur rechten Zeit. Er wird wahrscheinlich einen tragischen Unfall erleiden. Genau wie Sie, wenn Sie mir weiterhin meine Zeit stehlen und dumme Fragen stellen“, antwortete Eppenheim, „also, machen sie nun ihre Arbeit und bringen mir bis morgen Abend einen Schuldigen oder wollen sie sich lieber direkt den Madensoldaten anschließen?“
„Ich kümmer mich drum“, versprach Gera.
„Gut“, sagte Eppenheim, trank einen gewaltigen Schluck Bier und rülpste Gerade direkt ins Gesicht, „dann verpissen Sie sich endlich!“
~o~
„Verrottete Madenscheiße!“, zischte Gera und trat dabei gegen einen unschuldigen Baum aus gewöhnlichem Holz, der diese ruppige Behandlung stoisch hinnahm. Seinen Wutanfall im Polizeipräsidium rauszulassen, schien ihm viel zu riskant, erst recht bei der Laune, in der Eppenheim gerade war.
Gera war nie der große Kämpfer für Recht und Gerechtigkeit gewesen. Er hatte den Polizeiberuf primär ergriffen, um seine schlechte Laune an anderen auszulassen und sein Machtgefühl auszuleben. Aber dennoch: Selbst zu seinen schlimmsten Zeiten hatte er sich erfolgreich einreden können, dass er immer noch etwas Gutes tat, indem er gelegentlich Leute hinter Gittern brachte, die schlimmer waren als er. Jetzt jedoch … Holy Fuck, einen Typen gewähren zu lassen, der Kinder und Teenies in den Selbstmord trieb, um stattdessen völlig unschuldige in den Knast zu stecken war selbst für diese CfD-Nulpen ein neuer Tiefpunkt.
Doch was sollte er machen? Hinschmeißen und als stinkender Penner auf der Straße landen, falls ihn seine Ex-Arbeitgeber dann nicht gleich in irgendeinem Folterknast zu Tode streicheln würden? Nun, vielleicht sollte er das tatsächlich tun. Aber dann würde er Eppenheim seine Kündigung wenigstens direkt mit dem Lauf seiner Dienstwaffe überbringen. Damit würde der überhebliche Mistkerl sicher nicht rechnen.
Die Vibration seines Smartphones Riss Gera aus seinen Mordplänen. Er hatte eine Nachricht bekommen. Sie stammte von Rone the Bone.
„Hallo Herr Kommissar. Wir können uns sehr gerne treffen. Aber nicht um uns zu prügeln. Ich weiß, genau, welche Rolle Sie bei Devons Untergang gespielt haben und ich bewundere Sie für Ihren Mut. Auch wenn es Ihnen vielleicht schwerfällt es zu glauben, aber wir beide haben einen gemeinsamen Feind und ich habe ihnen einen kleinen Vorschlag zu machen. Kommen Sie heute noch in die Helenenstr. 143 und klingeln sie bei ‚Maier’. Dann können wir uns wie zwei Erwachsene unterhalten.“
Jedes einzelner dieser wahngeschwängerten Worte ließ die Fragezeichen über Geras strubbeligem Kopf gedeihen wie gedüngtes Unkraut. Was Gera aber noch viel mehr überraschte als der Inhalt der Nachricht, war die Tatsache, dass er sie nicht über die Plattform erhalten hatte, über die er den Bonefluencer kontaktiert hatte, sondern über seinen verschlüsselten Messenger, mit dem er eigentlich nur Kontakt zu den Geistermenschen und zu Bianca hielt. Der Knochenbubi war also irgendwie an seine Nummer rangekommen.
„Glückwunsch, Eppenheim“, murmelte Gera leise, „gerade hast du ein paar Stunden Lebenszeit gewonnen. Erstmal muss ich ein paar Knöchelchen knacken lassen.“
Dann ging er zu seinem vollgeschissenen Auto und machte sich bereit für ein weiteres unangenehmes Treffen an diesem schon jetzt überaus unerfreulichen Tag.