Das Haus war leer gewesen. Leerer als ein Ballsaal nach einem rauschenden Fest. Diese Leere hatte ihn erdrückt, hatte ihn wie eine wehrlose Puppe mit sich gerissen, als sie gleich einer unsichtbaren Lawine von der Decke und den Wänden auf ihn hinabgeströmt war. So eine Leere hatte er noch nie zuvor gespürt. Nicht einmal in der dunklen Zeit, in der seine erste Frau ihn verlassen hatte und er nur wenige Schritte von einem hoffnungslosen Alkoholiker – und schlimmer noch – von einem psychopathischen Stalker entfernt gewesen war.
Dann hatte er Josephine kennengelernt und alles war anders geworden. Heller, weicher, leichter. Trotz eines Berufs, in dem ihm Tod, Leid und Gewalt stets allgegenwärtig waren. Nun aber war diese Leere mit doppelter Kraft zurückgekommen. So als wäre sie eine Strafe für sein unverdientes Glück.
Er hatte den Abschiedsbrief auf dem kleinen, dunklen Holztisch neben ihrem Bett gefunden. Er war herzlich gewesen und tieftraurig, so wie sie es manchmal gewesen war. Sie hatte darin von Problemen gesprochen, die für sich genommen alle lösbar gewesen wären, sie aber in ihrer Gesamtheit letztlich vernichtet hatten. Gesundheitsprobleme, wie die chronischen Schmerzen in ihrem rechten Bein und ihre vielen Allergien. Geldsorgen. Ihre pflegebedürftige und stets gehässige Mutter. Auch Probleme zwischen ihnen, wenn er mal wieder alles in sich reingefressen und ihre Zuwendung wie eine seelenlose Black Box abgeblockt hatte. Er hätte diesen Brief am liebsten verbrannt, zerrissen, jedes einzelne Atom davon ausgelöscht. Aber er war zu sehr Polizist gewesen, um das zu tun. Immerhin war dieser Brief ein mögliches Beweismittel gewesen.
Natürlich hatte ihr Brief auf einen Selbstmord hingedeutet. Es waren eindeutig ihre geschwungene Schrift und ihre sanfte Stimme gewesen, die aus den Zeilen zu ihm gesprochen hatten. Trotzdem hatte es keine Leiche gegeben. Keine blaugesichtige, glubschäugige Version von Josephine, die irgendwo von einer Decke hing. Keine Badewanne, in der ihr kostbares Blut sich mit lauwarmem Wasser vermischt hatte. Er hatte ihr ganzes Haus abgesucht und keine weitere Spur von ihr gefunden.
Selbstverständlich hätte sie sich auch irgendwo draußen umbringen können. Von einer Brücke springen oder sich vor den Zug werfen. Aber er hätte im Polizeifunk davon gehört und das hatte er nun einmal nicht. Nein, er glaubte nicht, dass sie sich umgebracht hatte. Es gab andere Erklärungen.
Er hatte an Francesco denken müssen. Ein wichtiger Mann bei der örtlichen Mafia. Ihn hatte er noch nicht hinter Gitter bringen können, aber dafür viele seiner engsten Verbündeten. In jedem Fall hatte er seinen Geschäften mit Drogen und Prostitution sehr geschadet. Hatte er nicht auf seine gewohnt subtile Weise angedeutete, dass er sich dafür rächen würde?
Vielleicht hatte er Susanne aus dem Haus gezerrt, erschossen und ihre Leiche vergraben oder im Fluss entsorgt. Wenn dem so war, würde er es herausfinden und sich bei Francesco angemessen dafür bedanken. Notfalls auch jenseits des Gesetzes.
Andererseits konnte es auch sein, dass Susanne noch lebte. Es war nicht sehr wahrscheinlich, aber auch nicht unmöglich, dass Francesco und seine Schergen sie lediglich entführt hatten. Vielleicht wollten sie ihn erpressen oder ihn mit dem Wissen quälen, dass sie sie langsam zu Tode foltern würden.
In diesem Fall würde er sie vorher finden. So gering die Chance auch war, er musste es versuchen. Aber wo sollte er mit der Suche anfangen? Und sollte er den offiziellen Weg gehen und das Revier da mit reinziehen? Auf beide Fragen hatte er schnell eine Antwort gefunden.
Er würde das hier allein durchziehen. Wenn er jetzt seine Kollegen eingeschaltet hätte, hätte das nur seine Handlungsfähigkeit beschnitten und die Suche unnötig verzögert. Wenn er eine konkrete Spur hatte, konnte er immer noch Verstärkung anfordern. Er hatte auch eine Ahnung gehabt, wo er mit der Suche beginnen konnte. Nicht weit von ihrem Haus gab es ein kleines Wäldchen und dort wiederum hatten sie bei einem ihrer häufigen gemeinsamen Spaziergänge eine kleine Hütte entdeckt. Sie war zwar seit langem unbewohnt und baufällig, wäre aber dennoch ein ideales Versteck für eine Geisel, da es darin einen Keller gab, der über eine Falltür erreichbar war.
Vielleicht, hatte er gedacht, war das hier nur ein Strohhalm, nach dem er in seinem Kummer griff, aber es war besser gewesen als auch nur eine Sekunde länger den inneren Schmerz und die äußere Leere zu ertragen. Also hatte er seine Waffe entsichert und hatte sich auf den Weg in den Wald gemacht. Zu diesem Zeitpunkt war die Sonne gerade untergegangen, aber als umsichtiger Polizist hatte er immer eine Taschenlampe dabei und durch seine Spaziergänge kannte er das kleine Wäldchen ohnehin in- und auswendig.
Umso mehr war er überrascht gewesen, als sich an einer Stelle, an der sich zuvor stets nur dichtes Unterholz befunden hatte, ein kleiner Weg aufgetan hatte. Dieser Weg hatte zwar nicht in Richtung der Hütte geführt, in der er Josephine vermutet hatte, aber dennoch war er unfähig gewesen, einfach daran vorbeizugehen, denn der Weg war von einem eigenartigen, fahlen grünen Licht beleuchtet gewesen. Und die Bäume, die sich wie ein natürliches Dach darüber beugten, waren auf ungewöhnliche Weise verdreht und verkrüppelt gewesen.
Trotz einer unguten Vorahnung und trotz des unbedingten Willens seine Frau schnellstmöglich zu finden, hatte er sich der Faszination nicht entziehen können. Also war er näher gekommen und hatte weitere Merkwürdigkeiten gesehen. In seiner knappen Freizeit beschäftigte er sich gerne mit Insekten, die er für weitaus vielfältiger und interessanter als die meisten Menschen hielt. Deshalb konnte er vor Erstaunen kaum an sich halten, als er mehrere große Heuschrecken entdeckte, von denen jede über drei Köpfe verfügte und die in einer seltsamen Prozession dorthin hüpften, wo sich der Weg in der Dunkelheit verlor. Solche Mutationen waren extrem selten, falls sie überhaupt je aufgetreten waren. Und so versuchte er eines der Insekten zu fangen, die jedoch allesamt zu schnell waren, um sie zu fangen und während er unwillkürlich auf jenen geisterhaften Pfad eingebogen war, hatten sich die Bäume verändert.
Sie waren verkrüppelt und unheilvoll geblieben, waren jedoch plötzlich weiß geworden. Und statt des würzigen Geruchs der Blätter und Nadeln, hatte er jetzt Blut, Horn und einen Hauch von Verwesung wahrnehmen können. Gerüche, mit denen er nur allzu vertraut war.
Was sich danach abgespielt hatte, hatte nur bruchstückhafte Spuren in seinem Gedächtnis hinterlassen. Er erinnerte sich daran, dass er verzweifelt und vergeblich den Weg gesucht hatte, auf dem er hergekommen war. Er erinnerte sich an hässliche, dicke, weiße Kreaturen, die ihn gejagt hatten und denen er nur knapp entkommen war, indem er sich in einer verzweifelten Anstrengung auf die knochigen Bäume geflüchtet hatte. Er erinnerte sich an Hunger, Durst, abgenagte Skelette und eine Angst, die allgegenwärtig gewesen war. Und er erinnerte sich an einen Strauch voll mit süßen Beeren – rot und prall und süßer als alles was er je gekostet hatte, an scharfe, nadelspitze Schmerzen, an Schwäche und ein abgleiten in die Ohnmacht.
Jetzt war er aus dieser Ohnmacht erwacht. Wie lange er ohnmächtig gewesen war, wusste er nicht. Aber da er noch immer einen unendlich süßen Geschmack in seinem Mund spürte, konnte es nicht allzu lange gewesen sein. Andererseits befand er sich zwar ganz offenbar noch immer in diesem schrecklichen Wald, jedoch nicht mehr an der Stelle, an der er jenen Strauch entdeckt hatte. Vor allem jedoch entdeckte er in jenem schwarzen, kranken Licht, welches entgegen aller Regeln der bekannten Physik manche Dinge dennoch offenbarte, zwei ihm bislang völlig unbekannte, dafür aber grauenhafte Gestalten.
Der eine war ein dicklicher, älterer Mann in einem schmutzigen Bandshirt und mit einem blassen, leeren Gesicht, von dem ein säuerlicher Geruch nach Urin und krankem Schweiß ausging. Der andere war kein Mann, sondern ein Skelett mit Augen, Gehirn und einigen weiteren Organen in seinem blanken Brustkorb. Zuerst war er davon überzeugt, dass das Knochengeschöpf ihn beobachten und binnen Sekunden töten würde, so verdorben und düster war dessen Präsenz. Dann jedoch bemerke er, dass die Augen des Geschöpfes nach innen verdreht waren und in dessen Schädel blickten. Er konnte es nicht mit Sicherheit sagen, aber irgendwie vermutete er, dass das bedeutete, dass es schlief. Da auch der stinkende Mann seine Augen geschlossen hatte, fragte er sich, ob es sinnvoll wäre, zu versuchen von hier zu fliehen.
Dass er in der Gesellschaft dieser beiden Kreaturen nicht gut aufgehoben war, war ihm klar. Die Frage war nur, ob sie wirklich so unaufmerksam waren, wie er vermutete und was sie mit ihm anstellen würden, wenn er floh. Das wiederum hing wahrscheinlich davon ab, warum sie ihn entführt hatten. Dass es sich um eine Entführung handeln musste, erschien ihm unzweifelhaft, auch wenn er aus irgendeinem Grund nicht gefesselt zu sein schien. Vielleicht hatten seine Entführer nicht erwartet, dass er so schnell das Bewusstsein wiedererlangen würde. Oder aber sie hielten es tatsächlich nicht für nötig, da sie davon ausgingen, dass eine Flucht vor ihnen unmöglich sein würde. Das klärte aber noch nicht die Frage nach dem Motiv.
Als Polizist wusste er, dass diese Frage wichtig war und auch wenn ihm dieser düstere Ort und die Tatsache, dass er von einem Moment, auf den anderen die Realität gewechselt hatte, noch immer zu schaffen machte, arbeitete der jahrelang geschulte, analytische Teil seines Wesens nach wie vor einwandfrei. Er wusste, dass er durch Angst und Verzweiflung gerade genauso wenig zu gewinnen hatte, wie durch philosophische Spekulationen. Also: Welche gemeinsamen Interessen könnten dieser Mann und das Skelett teilen?
Es war vielleicht nur ein Gefühl, aber irgendetwas sagte ihn, dass die beiden nicht gleichberechtigt waren. Von dem Skelett-Geschöpf ging eine weitaus stärkere Aura der Gefährlichkeit aus als von dem alten Mann. Dennoch glaubte er nicht, dass auch er ein Gefangener des Wesens war. Sein Gestank, seine bleiche, schwitzige Haut und die eigentümliche Ruhe und Entspannung, die sein Gesichtsausdruck wiesen ihn darauf hin, dass auch er womöglich kein richtiger Mensch war. Vielleicht war er eine Art Untergebener des Knochenmannes. Ähnlich wie eine Arbeiterin, die einer Bienenkönigin diente oder wie ein Leibdiener aus früherer Zeit. In diesem Fall käme es vor allem darauf an, wo die Interessen des Knochenmannes lagen. Doch welche konnten das sein? Eine Geiselnahme schied in dieser bizarren Welt wahrscheinlich aus. Es gab niemanden, von dem sie Lösegeld fordern konnten. Wenn sie ihn einfach nur töten wollten, hätten sie das mit Leichtigkeit während seiner Bewusstlosigkeit direkt erledigen können. Wenn sie ihm aus irgendwelchen Gründen freundlich gesinnt gewesen wären, hätten sie einfach mit ihm reden können, anstatt ihn niederzuschlagen.
Blieben also noch zwei Erklärungen übrig: Religion und Magie. Er war nie ein großer Fan von Märchen und Fantasiegeschichten gewesen, aber als Jugendlicher hatte er zumindest seinen Herrn der Ringe gelesen und wenn man sich in einer Welt befand, in der die Sonne schwarz, die Maden riesengroß und die Bäume aus Knochen gemacht waren, fiel es nicht schwer an Zauberer und dunkle Mächte zu denken. Erst recht nicht bei einem lebendigen Skelett. Davon abgesehen hatte er schon genug Erfahrung mit verblendeten religiösen Spinnern und merkwürdigen Sekten gemacht, um zu wissen, dass auch sie gerne Menschenopfer verwendeten, um diesen oder jenen Gott gnädig zu stimmen.
Nein, was auch immer diese beiden mit ihm vorhatten, würde definitiv nicht zu seinem Vorteil sein. Wenn er jetzt nicht seine Chance zur Flucht nutzte, würde er früher oder später sicherlich festgeschnallt auf einem steinernen Altar enden, während sein Blut in irgendeine Opferschale lief.
Doch wie sollte er die Flucht anstellen? Er drehte vorsichtig den Kopf, um sich ein genaueres Bild von seiner Umgebung zu machen. Gerade lagerten sie auf so etwas wie einer Lichtung, aber bereits wenige Meter hinter ihm standen die Bäume dichter beieinander. Vielleicht könnte er sie als Deckung nutzen und sich im Notfall wieder in eine der Kronen flüchten. Natürlich war das gefährlich. Dieser ganze Wald war gefährlich, zumal man ihm seine Waffe weggenommen haben musste, da er sie nirgends entdecken konnte, aber er musste es versuchen.
Zunächst überlegte er noch, ob er einfach langsam und leise über den Boden robben sollte, bis er die Baumgrenze erreicht hätte. Allerdings war es auf dem von Knochenstücken übersäten Boden aller Wahrscheinlichkeit nach unmöglich, leise voranzukommen. Also entschied er letztendlich, dass ein schneller, kurzer Sprint eine bessere Methode sein würde. Unendlich langsam und ohne den Alten und den Knochenmann aus den Augen zu lassen, brachte er sich von einer liegenden in eine sitzende Position.
Leider konnte er es nicht vermeiden, dass die Knochenfragmente unter ihm ein paar mal hörbar aneinanderrieben und knirschten und er hielt vor Schreck den Atem an, als der im Sitzen schlafende Alte plötzlich seine Position veränderte. Glücklicherweise blieben die Augen des Alten geschlossen und nachdem er einige Sekunden abgewartet hatte, um sicherzugehen, dass der Mann wieder eingeschlafen war, erhob er sich vollständig. Er warf einen letzten kritischen Blick auf die beiden und rannte so schnell ihn seine Beine trugen zum nächstbesten Baum. Bedauerlicherweise hatte seine Kraft und Schnelligkeit stärker unter der Ohnmacht gelitten als er zunächst angenommen hatte. Nicht nur, dass er lediglich schleppend vorankam; er musste sich auch sehr konzentrieren, um nicht zu stolpern und der Länge nach auf dem knochenübersäten Boden zu landen. Jeden Moment rechnete er damit, dass er hören würde, wie sich der Knochenmann erheben und seinem Schergen befehlen würde, ihn zu verfolgen. Aber das geschah nicht. Erschöpft, aber unbehelligt lehnte er seinen Rücken an den erstbesten, glatten Knochenstamm und gönnte sich ein paar tiefe Atemzüge.
Trotzdem wusste er, dass er nicht länger hier bleiben konnte. Die beiden Wesen mochten seine Flucht noch nicht bemerkt haben, aber er hatte keine Garantie, dass das noch lange so bleiben würde. Zudem hatte er nach wie vor die Absicht, den verfluchten Wald so bald wie möglich wieder zu verlassen und seine Suche nach Josephine fortzusetzen. Das größte Problem daran war, dass er diesmal keine Waffe hatte. Schon mit seiner Dienstpistole war es schwer gewesen, sich dieser madenartigen Geschöpfe zu erwehren und ganz unbewaffnet standen seine Chancen noch weitaus schlechter. Nun, dachte er schulterzuckend, er würde eben improvisieren müssen. Nach einem weiteren tiefen Atemzug und einem kurzen Blick zu der seltsamen schwarzen Sonne, die wie ein noch schwärzerer Kreis am dunklen Himmel stand, setzte er seinen Weg zum nächsten Baum fort.
Sein Zeitgefühl war an diesem Ort sicher nicht das Beste, aber er schätzte, es konnten höchstens zehn Minuten vergangen sein, als er aus dem Waldstück hinter sich das schleifende Geräusch mehrerer verdammt schneller Körper hörte, die sich über den Boden auf ihn zubewegten. Er war schon vorher verschiedenen Rudeln der Maden-Kreaturen begegnet, aber den Geräuschen nach zu urteilen musste es diesmal eine ganze Menge von ihnen sein. Hektisch sah er sich nach einem Knochenbaum um, an dem er vielleicht würde hochklettern können, als das seltsame Licht der schwarzen Sonne plötzlich auch vor ihm und am Rande seines Blickfelds weitere Maden illuminierte. Sie waren von unterschiedlichster Größe. Angefangen von rattengroßen Wesen, bis hin zu solchen, die fast so massiv wie Flusspferde waren.
Er war umzingelt, begriff er. Und zu seinem großen Schrecken begriff er auch, dass keiner der Bäume nah genug war oder genügend tiefe Äste besaß, um rechtzeitig auf seine Krone zu gelangen. Er war durchaus kein Angsthase, aber als er in die hungrig geöffneten, mit scharfen, kreisrunden Zähnen gefüllten Münder dutzender Riesenmaden sah, ergriff ihn erneut eine gnädige Ohnmacht.
Hexe hatte nur wenige Augenblicke Zeit, um sich zu orientieren. Sie erkannte sofort, dass sie sich noch immer im Knochenwald befand, jedoch nicht mehr an der Stelle, an der Davox ihr die Glasbeeren gegeben hatte. Vor allem aber erfasste sie direkt, dass sie von mehreren Schneidmaden umzingelt war und jeder Ruf nach Hilfe – so sie denn überhaupt kommen würde – zu spät käme. Stattdessen griff sie instinktiv auf die ihr innewohnenden Kräfte zu. Auch wenn sie mit dieser Art von Gefühlen bereits üble Erfahrungen gemacht hatte, konzentrierte sie sich auf all den Zorn, den Davox‘ Verwandlung, sein unmenschliches Verhalten und ihre praktisch ausweglose Situation in ihr auslösten und schickte sie als hochkonzentrierten, vernichtenden, feurigen Ring in alle Richtungen davon.
Eigentlich sollte solch ein Zauber im Knochenwald unmöglich sein, wie Hexe erst in diesem Augenblick wieder einfiel. Jedoch scherte sich dieser spezielle Zauber nicht darum, sondern fraß sich wie ein glühender Draht nicht nur durch die anrückenden Schneidmaden, sondern auch durch die Stämme mehrerer mächtiger Knochenbäume, bis er letzten Endes seine Wirkung verlor. Die Maden glotzten sie einen Moment lang stumpfsinnig an, dann glitten die meisten ihrer oberen Körperhälften als glitschige, weißliche Fleischklumpen auf den Boden und ließen den Rest ihres Körpers als abscheuliche, schleimige Skulpturen zurück. Nur einige ganz kleine Maden waren zurückgeblieben, traten jedoch nach dieser machtvollen Zurschaustellung von Magie den Rückzug an, statt Hexe weiter zu belästigen.
Kurz darauf krachten auch die Kronen der zerschnittenen Knochenbäume mit einem lauten Donnern auf den Boden und wirbelten dicke Wolken aus Knochenstaub auf, die Hexe sofort zum Husten brachten.
„Ich weiß nicht, wer du bist oder was du hier willst“, erklang von irgendwo hinter ihr eine dunkle, aber weibliche Stimme, „aber wenn du mir genau das nicht sofort sagst, ist dein Leben verwirkt.“
Erschrocken drehte sich Hexe sofort um und erblickte eine spindeldürre Frau mit unordentlichen, verfilzten, weißblonden Haaren, die vor einem der Knochenbaumstümpfe stand, die Hexe durch ihren Zauber geschaffen hatte. Ihr Alter war schwer abzuschätzen. Ihre faltigen Arme, ihre etwas gebeugte Haltung und ihre zutiefst verbitterte Ausstrahlung deuteten auf eine Greisin, ihr Gesicht sah jedoch nicht älter aus, als es das von Hexe vor der Entdeckung ihrer Magie gewesen war.
Ihr restlicher Körper wurde von einem grauen, schmutzigen Leinengewand verhüllt, das auf ihr hing, wie die Hautreste jener mysteriösen Kreaturen, die sich auf einigen der Knochenbäume fanden. Um ihren Hals hing eine Kette aus verschiedenen Knochenstücken und auf ihrem rechten Arm sah sie eine verschlungene, beinah keltisch anmutende Tätowierung. Sie sah nicht wie jemand aus, der bluffte oder scherzte.
„Mein Name …“, begann Hexe und hatte dabei seltsamerweise für einen Moment Schwierigkeiten sich ebendiesen ins Gedächtnis zu rufen. „Mein Name ist Inga“, sagte sie schließlich, „man nennt mich aber zumeist Hexe.“
„Hexe?“, sagte die Unbekannte gleichermaßen skeptisch wie interessiert, „was soll wohl eine Hexe in meinem Wald wollen?“
„Dein Wald? Willst du mir jetzt etwas erzählen, dass du die Herrin des Knochenwaldes bist?“, wunderte sich Hexe.
Plötzlich brach sie in ein gackerndes Lachen aus, das zwar grauenhaft klang, sie jedoch nichtsdestotrotz gleich ein ganzes Stück sympathischer machte. „Ich, die Herrin des Knochenwaldes? Das wäre doch mal was, nicht wahr? Dann könnte ich all den Knochenbäumen befehlen, sich in Dünger für einen echten Wald zu verwandeln und diesen unseligen Gerippen, die sich wie Herrenmenschen aufspielen, könnte ich geradewegs in die schwarze Sonne schicken, statt mich wie ein Wurm in der Erde zu verstecken. Vielleicht könnte ich sogar den gefühllosen Gott höchstselbst anweisen von unserer Welt abzulassen und sich einen anderen Spielplatz zu suchen. Aber so ist es leider nicht.“
Sie seufzte leise und das klang so traurig, dass Hexe beinah Mitleid mit ihr empfand. „Nein. Es ist mein Wald, genau wie du die Stadt aus der du gekommen bist als ‚deine Stadt‘ bezeichnen würdest. Aber du bist – zumindest vermute ich das – nicht ihre Herrscherin gewesen. Genauso wenig gebiete ich über den Knochenwald. Ich bin seine Sklavin. Wie fast alle heutzutage. Nur bin ich eben eine flüchtige Sklavin.“
Dann verfiel sie für einen Moment in Schweigen und blickte hinauf zur schwarzen Sonne, deren deprimierendes Licht unablässig wie dunkler Eiter auf sie beide hinabtropfte.
„Wolltest du nicht noch wissen, warum ich hier bin?“, fragte Hexe, die das Schweigen der Frau mehr beunruhigte als ihre ursprüngliche Drohung.
„Ich weiß es nun“, sagte sie abwesend, „und wenn ich ehrlich bin, wusste ich es schon von Anfang an. Du bist eine Drix Tschatha, eine Lichthexe. So wie ich. Und wie ich einst bist du dem Irrtum erlegen, den Knochenwald besiegen zu können.“
„Woher weißt du das?“, fragte Hexe verblüfft, auch wenn die Feststellung der Frau nicht ganz der Wahrheit entsprach.
„Du hast diese Ausstrahlung“, sagte sie im geheimnisvollen Tonfall einer Jahrmarkt-Wahrsagerin und blickte sie dabei verschwörerisch mit ihren haselnussbraunen Augen an, bevor sich ein Lächeln auf ihr Gesicht stahl, „Außerdem nennst du dich Hexe und ich kenne wenige gewöhnliche Frauen, die einen ausgewachsenen Knochenbaum fällen können, ohne ihn dabei auch nur zu berühren.“
„Klingt logisch“, gab Hexe zu, die sich ziemlich dumm vorkam, da sie nicht selbst darauf gekommen war.
„Nicht wahr?“, sagte die Frau amüsiert.
„Warum konnte ich meine Magie überhaupt anwenden?“, fragte Hexe, „Seit meiner Ankunft im Wald war mir das eigentlich unmöglich. Es war im Grunde reine Verzweiflung, dass ich es überhaupt probiert habe.“
Die junge alte Dame schenkte ihr einen unergründlichen Blick. „Solche Dinge besprechen wir besser nicht hier draußen, wo jederzeit ein Weiser des Gebeins oder einer ihrer Verbündeten vorbeikommen könnte. Wenn du magst, können wir in meinem Versteck weiterreden.“
Sie machte eine wischende Handbewegung und unter dem scheinbar massiven Wurzelwerk des Knochenbaums tat sich plötzlich eine kleine, hell erleuchtete, etwa einen Meter breite und hohe Öffnung auf.
„Herzlich willkommen in meinem Reich.“, sagte die Unbekannte, „mein Name ist übrigens Anscha.“
„Angenehm“, sagte Hexe und meinte das ernst, auch wenn sie der Frau nach wie vor etwas misstraute. Wahrscheinlich war das für zufällige Begegnungen an diesem Ort auch die gesündeste Einstellung. „Aber wie sollen wir jetzt hineingelangen?“, fragte sie verwirrt.
„So“, sagte Anscha grinsend, hastet erstaunlich behände zu der Öffnung, hielt sich mit den Händen daran fest und rutschte mit ordentlich Schwung in das seltsame Loch hinein als wäre sie das Kaninchen bei Alica im Wunderland.
„Das ist nicht dein fucking Ernst“, fluchte Hexe, die wenig Lust auf so eine akrobatische Aktion hatte. Vom langen Marsch mit Davox und Professor Wingert war sie nach wie vor erschöpft und die Schmerzen in ihren Muskeln hatte nicht mal die Glasbeere vertreiben können. Ganz zu schweigen davon, wie sehr es ihr widerstrebte, sich in den Untergrund eines Ortes zu begeben, dessen Oberfläche schon derart düster und gefährlich war. Dennoch folgte sie der mysteriösen Frau durch das seltsame Loch. Die Alternative wäre von Davox und Wingert gefunden zu werden oder alleine durch diesen gefährlichen Wald zu streifen. So betrachtet war eine Rutschpartie keine so üble Sache.