Als ich in der neuen Welt ankam, brauchte ich erst mal einige Sekunden, um mich zu orientieren. Anders als bei meinen Reisen mit dem Katalog war der Weltenwechsel mit der Portalmaschine eine ziemlich unerfreuliche Erfahrung. Das lag zum einen daran, dass sich mein Körper nicht am Stück, sondern in mehreren Schichten in Cestralia materialisierte. Zunächst erschien mein bloßes Skelett. Dann Muskeln, Sehnen, Fettgewebe, Gefäße und Blut. Als meine Nerven folgten, bekam ich eine grobe Ahnung davon, wie Garwenia sich fühlen musste, denn ich war den Umwelteinflüssen von Cestralia völlig ausgeliefert, was heftige Schmerzen mit sich brachte, die erst endeten, als sich auch meine Haut wieder meinem Körper anschloss.
Das alles war äußerst qualvoll, aber die Tränen kamen mir erst, als ich Cestralia das erste Mal erblickte. Was ich sah, war eine Welt der Nacht. Jedoch nicht in ihrer boshaften und albtraumgeschüttelten Erscheinungsform, sondern als jenem Sehnsuchtsort, den sich Heerscharen von Dichtern, Romantikern und Eskapisten als Schutzraum vor dem gnadenlosen Zugriff der Realität erträumt hatten. Ich sah taubedeckte, kleine Wälder mit magisch anmutenden, knorrigen Bäumen, die sich aus einer malerischen von sanften Hügeln beherrschten Graslandschaft erhoben und deren Wurzeln bis in die Tiefe des Erdkerns zu reichen schienen. Ich erblickte geheimnisvolle, spiegelglatte Seen, in denen das silberne Licht eines hellen, freundlichen Mondes badete und die in mir das wilde Verlangen wachriefen, mich kopfüber dort hineinzustürzen und am Grund nach sagenhaften Schätzen zu suchen. Ich sah kleine, weitverzweigte Pfade, die zu wunderbaren, noch unerzählten Geschichten führten und deren sanfte Windungen eine angenehme, erfüllende Art von Fernweh in mir auslösten, die das direkte Gegenteil von jener verzehrenden Sucht war, die der Katalog in mein Herz gehämmert hatte. Ich roch feuchtes Gras, saubere Erde, frische Luft, würzigen Waldboden.
Ich spürte und hörte den warmen, kräftigen Wind einer Sommernacht.
Ich hörte das Flüstern unzähliger Geheimnisse, das Versprechen von Abenteuern ohne Gefahren, von Verständnis ohne Worte, von Wundern ohne Gewöhnung, von Vielfalt in Verbundenheit.
Ich ahnte das Potenzial tiefer Freundschaften und bedingungsloser Liebe.
Hier könnte ich zu Hause sein, dachte ich, hier könnte ich verdammt noch mal alt werden.
Heißes, salziges Wasser lief über mein Gesicht, kitzelte meine Wangen und spülte das Mühsal all meiner Reisen und ganz besonders den üblen, kränklichen Dunst aus Hyronanin fort. Jeder Atemzug war ein Stück Heilung, jeder Moment an diesem Ort ein Geschenk und ich war nicht mehr weit davon entfernt vor Freude zu kichern wie ein Wahnsinniger (oder ein Kind), als mich ein vernichtender Gedanke wie eisiges Wasser überströmte und alle Freude in Gift verwandelte.
Ich war nicht als Freund hier. Nicht einmal als Gast. Ich war das Raubtier, das dazu bestimmt war, Unglück in diese Welt zu bringen. Ich sollte diesen Frieden nicht genießen. Ich sollte ihn zerstören.
„Es ist ein wunderschöner Ort, nicht wahr?“ Die Stimme, die diese Worte sprach, klang leise, fast flüsternd und war kaum vom Wind zu unterscheiden. Erschrocken, wenn auch nicht verängstigt, drehte ich mich um und erblickte eine große, schlanke Frau mit einem freundlichen Gesicht, neugierigen Augen und langen Haaren, die ihr beinah bis zum Rücken gingen. Über die Farbe ihrer Haut, ihrer Augen oder ihrer Haare konnte ich keine genaue Aussage treffen, da ihr Körper – wie von On-Grarin angekündigt – tatsächlich fast völlig durchscheinend war. Selbst das leichte tunikaartige Gewand, das sie trug, hatte keine wirkliche Farbe, wobei ich am ehesten noch auf ein unendlich zartes Blau tippen würde, wenn ich eine nennen müsste. Auch ihr restlicher Körper hatte am ehesten noch etwas von dieser Farbe.
„Ja“, sagte ich nur zerstreut und wischte mir die Tränen aus den Augen.
„Du bist ein Mensch, oder?“, fragte sie aufgeregt, so als wäre das etwas unglaublich spannendes.
„Ja, das bin ich, wieso?“, fragte ich zurück.
„Die anderen nehmen uns immer mit sich mit. Die schlangenhaften, und die vogelartigen, und die Dunklen und die Wurmwesen. Sie bringen uns an schöne Orte, wie sie sagen. An Orte, wie wir sie noch nie gesehen hätten. Die Menschen tun das seltener. Das finde ich gut. Ich will hier nämlich nicht weg, weißt du? Ich kann mir keinen schöneren Platz vorstellen als Cestralia. Verstehst du da? Oder willst du mich auch wegbringen?“, fragte die Unbekannte mich.
Was sollte ich darauf antworten? Würde ich die Lüge über die Lippen bringen? Ja, realisierte ich. Das musste ich. Wenn ich einen Weg finden wollte, On-Grarin auszutricksen, durfte ich meine Absichten jetzt noch nicht offenbaren. Außerdem war es nicht wirklich eine Lüge. Immerhin WOLLTE ich sie ja tatsächlich nicht wegbringen. Trotzdem musste ich mich beherrschen, um nicht vor Scham die Augen zu senken. Es war wie On-Grarin gesagt hatte: Diesen Geschöpfen strahlte die Naivität und Freundlichkeit aus jeder ihrer schimmernden Poren.
„Nein“, sagte ich so nachdrücklich wie möglich.
„Das ist gut. Mein Name ist Ilivia. Wie lange wirst du bleiben?“, fragte sie.
„Nur… ein paar Tage“, log ich, „mein Name ist übrigens…“
„Sag ihn mir nicht!“, sagte Ilivia unerwartet heftig.
Ich sah wie verwirrt an. „Nicht bös gemeint“, erklärte sie entschuldigend, „aber Namen machen den Abschied so schwer, weißt du? Wir wollen sie deshalb nur von jenen erfahren, die sich entscheiden, bei uns zu bleiben.“
„Es ist möglich bei euch zu bleiben?“, wollte ich wissen.
„Natürlich“, antwortete Ilivia, „Wir nehmen gerne neue Geister, neue Sichtweisen und Geschichten in unsere Gemeinschaft auf. Was gibt es Schöneres? Außerdem leben wir selbst zwar vom Licht des Mondes, aber in den Wäldern gibt es genügend Beeren, Pilze und Wurzeln, die sehr schmackhaft und nahrhaft sind, wenn man unseren bisherigen Gästen Glauben schenkt.“
„Wie viele… Fremde leben denn in eurer Gemeinschaft?“, fragte ich.
Ilivias Gesicht bekam einen bedauernden Ausdruck. „Zurzeit leider niemand. Vor etwa hundertfünfzig Jahren ist der letzte unserer Gäste an Altersschwäche gestorben. Wir Cestral leben länger als deine Spezies, weswegen ich ihn noch persönlich kennenlernen durfte. Er war ein Mann und gehörte zum Volk der Bravianer, wenn ich mich recht entsinne, aber so viel bedeutet uns die Herkunft nicht. Für uns sind alle Wesen gleich viel wert, egal woher sie stammen, oder wie sie aussehen. Jedenfalls war sein Tod frei von Schmerzen. Er ist einfach friedlich eingeschlafen und wir haben ihn nach seinem Wunsch auf dem Grund des Hiäy-Sees beigesetzt. Seitdem sind viele weitere Wesen nach Cestralia gekommen, aber sie alle blieben nur kurz, die meisten sogar nur eine Stunde. Dass du ein paar Tage bleiben willst, ist immerhin ein Anfang. Vielleicht kann ich dich ja überzeugen zu bleiben“, ihre Stimme drückte kindliche Zuversicht aus. Sie lächelte warmherzig und offen, „möchtest du mit in unsere Stadt kommen?“
„Warum nicht?“, sagte ich und hatte gleichzeitig ein flaues Gefühl im Magen. Das Schaf lädt den Wolf in sein Gehege ein, dachte ich bitter.
Ilivia führte mich auf einen der kleinen gewundenen Waldpfade und kaum, da wir die Baumgrenze erreichten, fühlte ich mich so berauscht von den würzigen und zugleich unglaublich sauberen Gerüchen, dass ich meine dunkle Mission beinah wieder vergaß. Obwohl dies hier eine Sommernacht zu sein schien, roch ich frisches Herbstlaub, gemischt mit eher unerwarteten Aromen wie von gerösteten Kastanien oder gekochten Kürbissen, zudem roch ich frisch gemähtes Gras und die Düfte unzähliger, verschiedener Beeren. Und nicht nur meine Nase war von all den Eindrücken überwältigt, auch meinen Augen wurde genug geboten. Ich sah uralte, knorrige, dicht gewachsene Bäume, in deren Blätterdach Tautropfen glitzerten und deren bloßer Anblick die Abenteuerlust in mir anfachte, zumal sich manchmal in wurzelnähe höhlenartige Öffnungen in ihnen befanden in denen nicht selten ein silbernes Licht glitzerte.
Ich erblickte kleine vogelartige und ebenfalls ätherisch wirkende Geschöpfe mit platten Schnäbeln und glasklaren Gesangsstimmen, die zwischen den Bäumen umherflogen und die manchmal zu großen Nestern flogen, in denen kleine, aufgeregt zwitschernde Junge auf Nahrung warteten. Ich beobachtete eine Vielfalt kleiner und großer Tiere, von denen mich manche vage an Kreaturen aus meiner Welt erinnerten (etwa ein gehörntes Kaninchen mit sechs Pfoten und ein rehartiges Geschöpf, das so bullig wie ein Stier war) andere aber auch vollkommen fremdartig waren. Zu letzter Kategorie gehörten etwa umher rollende Räder, in deren Mitte sich ein Mund und drei Augen befanden, die über speichenartige Verbindungen mit dem Radkörper verbunden waren, lebendige, schimmernde Tücher, die vom Wind durch die Luft getrieben wurden und die gelegentlich rote, gelbe oder purpurne Wolken aus glitzerndem Staub ausstießen und kleine, zweibeinige Wesen, die tollpatschig durch das Unterholz liefen und sich immer wieder teilten oder sich mit anderen ihrer Art vereinten. All das ließ mich staunen, aber mein besonderes Interesse weckten die durchscheinenden, rosafarbene Pilze, die an vielen der Bäume wuchsen und die ein seltsam fruchtiges, überaus verführerisches Aroma verströmten.
„Sind die giftig?“, fragte ich Ilivia und zeigte dabei auf ein faustgroßes Exemplar, welches direkt unter einem niedrigen Ast wuchs.
Kurz sah mich Ilivia verwirrt an, so als hätte sie dieses Wort noch nie in ihrem Leben gehört. Dann breitete sich Erkennen auf ihrem Gesicht aus und sie fing direkt schallend zu lachen an, wobei sie es dennoch fertigbrachte, dieses Lachen nicht im geringsten beleidigend wirken zu lassen. „Nein“, sagte sie noch immer kichernd, „so etwas wie Gift gibt es in Cestralia nicht. Diese Pilze nennen sich Jynar und sind überaus schmackhaft. Pflücke sie ruhig, wenn du Hunger hast. Wir Cestral vermeiden es zwar, uns von anderen Geschöpfen zu ernähren, da wir jedem ein Recht auf Leben zugestehen, aber wir urteilen auch nicht. Immerhin muss jeder mit der Biologie zurechtkommen, die sein Urselbst ihm gegeben hat.“
„Urselbst?“, fragte ich verwirrt.
„Das was größer ist, als das, was du hier bist“, sagte sie erklärend.
„Also eine Art Gott?“, hakte ich nach.
„Nein“, widersprach Ilivia lächelnd, „kein Gott. Nur du selbst, aber ohne Schranken. Götter sind nichts als Führer, die dich von dir selbst wegführen und Führer brauchen wir hier nicht.“
Schafe ohne Hirten, dachte ich und entschied mich, mich lieber nicht auf theologische Diskussionen mit ihr einzulassen, auch wenn ich das unter anderen Umständen – schon aus reiner Neugier – sehr gerne getan hätte. Allerdings musste ich nun wieder an meine Mission denken. Verstohlen warf ich einen Blick auf meine Bravianische Armbanduhr. Noch dreiundvierzig Minuten. Die Zeit verging viel zu schnell.
„Was hast du da?“, fragte sie mich. Ihre Neugier mochte wahrscheinlich mit keinerlei Hintergedanken verbunden sein, aber dennoch beschlich mich die Angst, mich verdächtig gemacht zu haben.
„Eine Uhr“, sagte ich möglichst neutral und fügte dann hinzu, „ich wollte wissen, ob die Zeit an diesem Ort anders vergeht als dort, wo ich herkomme.“ Wie schön das wäre, dachte ich bei mir. Am besten viel langsamer.
„Ich glaube nicht“, sagte Ilivia, „aber wir machen uns so oder so nicht viel daraus.“
Ihr Glücklichen, dachte ich, griff mir dann in einer bloßen Übersprungshandlung den leuchtenden Pilz vom Baum, und biss hinein, um mich am Ende nicht noch durch irgendeine ungeschickt Äußerung zu verraten. Der Pilz ließ sich mühelos vom Stamm lösen und der erste Bissen war eine der eigenartigsten Erfahrungen meines an Eigenartigkeiten nicht eben armen Lebens. Der Pilz, dessen Aroma mich ein wenig an eine Mischung aus Mango, Banane und Kiwi erinnerte, bot meinen Zähnen so wenig Widerstand, dass ich mir wahrscheinlich auf die Lippe gebissen hätte, wenn ich nicht so vorsichtig zugebissen hätte. Es war ein wenig, wie in strukturierte, verfestigte Luft zu beißen und dennoch war der Geschmack nicht weniger intensiv als bei einer Frucht aus meiner Welt. Als ich den Bissen herunterschluckte, fühlte es sich an, als würde ein sanfter, kühler Luftzug durch meine Speiseröhre gehen. Schnell aß ich auch den Rest.
„Köstlich!“, urteilte ich wahrheitsgemäß.
„Das glaub ich gerne“, sagte Ilivia, „es gab Gäste, die sie zu Hunderten in sich hineingestopft haben. Allerdings muss man dazu auch sagen, dass sie nicht viele… Qual… Kar… Kalorien haben. Sie sind nur zum Teil in dieser Welt. So wie auch wir.“
„Darf ich noch weitere pflücken?“, fragte ich.
„Wie gesagt: Tu, was immer du willst“, antwortete sie.
Und so nahm ich mir noch eine handvoll der schimmernden Pilze, bevor wir unseren Weg fortsetzen, und genehmigte mir immer dann einen Bissen, wenn mein Gewissen mich zu plagen begann. Es half nicht viel, aber immerhin etwas.
Wenn ich nicht gerade aß, beobachtete ich Ilivia. Sie schien über dem Boden zu schweben, auch wenn sich ihre Beine wie die eines gewöhnlichen Menschen bewegten. Sie hielt das gleiche Tempo wie ich, aber irgendetwas sagte mir, dass sie mich mit Leichtigkeit hätte abhängen können, wenn sie das gewollt hätte.
Wir waren etwa zehn Minuten unterwegs und mein Vorrat an Pilzen war aufgebraucht, als sich zwischen zwei besonders knorrigen Bäumen eine Lichtung auftat. Das, was sich auf dieser Lichtung befand, war eine der faszinierendsten Städte, die ich je erblickt hatte. Es war so, als ob ein schwer zugedröhnter Hippie, ein Science-Fiction-Autor aus den Siebzigerjahren und ein modernen Fantasy-Regisseur gemeinsam ihre urbanen Fantasien hätten ausleben können. Hohe, blau schimmernde, mal solide und mal halb transparente Gebäude mit spiralförmigen Balustraden, vieleckigen Fensterausschnitten, röhrenförmigen Gängen, verspielten Verzierungen, eckigen, runden oder ovalen Formen reihten sich in schier endloser Folge aneinander. Manche von ihnen bildeten eine verwirrende Einheit mit vereinzelt herumstehenden Bäumen, andere schwebten in der Luft und waren nur über eine fast unsichtbare Treppe oder Leiter zu erreichen. Wieder andere waren in einem gewaltigen Krater in die Erde eingelassen und hoben sich von dort wie nadelförmige Elfenbeintürme in den mondbeschienenen Nachthimmel. Auf dieser verwirrenden Vielfalt von Konstruktionen tummelten sich tausende von Frauen, Männern, Mädchen, Jungen und Personen, deren Geschlecht sich unmöglich bestimmen ließ. Sie lachten, tanzten, saßen im Gras und träumten, musizierten, sangen fremdartige Lieder von bizarrer Schönheit, die Tonleitern verwendeten, welche mir vollkommen unbekannt waren. Manche von ihnen spielten Spiele, versammelten sich im Kreis um Geschichtenerzählern zu lauschen, unterhielten sich, oder liebten sich sogar auf offener Straße, ohne dass es irgendjemanden zu stören schien. All dies taten sie ohne jede Gewalt oder Bosheit, mit einer so spielerischen Leichtigkeit und Selbstverständlichkeit, dass mir erneut die Tränen kamen.
Mein von vielfach durchlittenen Schrecken gequälter Geist suchte instinktiv nach einem dunklen Geheimnis hinter all diesem Frohsinn. Nach einem fanatischen Kult, einem barbarischen Opferritual, einer verdammten Cthulhu-Sekte, nach einer düsteren, grausamen Wahrheit, die sich wie ein schattenhaftes Scheusal hinter all dieser offensichtlichen Schönheit verbarg. Mit so etwas hätte ich klarkommen können. Viel schlimmer wäre es, wenn es ein solches Geheimnis nicht gäbe. Dann nämlich, würde ich tatsächlich in ein Paradies einfallen.
Ich sah erneut auf die Uhr. Nur noch etwa eine halbe Stunde. Die Zeit rann durch meine Finger. Mir musste endlich etwas einfallen. Es musste einen Trick geben, irgendeinen Weg, um all diese Leute hier nicht ans Messer zu liefern. Aber welchen, gottverdammt? Wenn ich mit leeren Händen zurückkäme, würde On-Grarin mich für die nächsten tausend Jahre in den Verwahrer sperren und so lange dieser nutzlose Kwang Grong mir nicht half, würde ich das auch nicht verhindern können. Vielleicht könnte ich ja…
Plötzlich spürte ich, wie mich jemand am Rücken berührte. Ich schrie auf, wirbelte instinktiv herum, hob meine Faust und… blickte in das Gesicht eines verängstigten kleinen Jungen, der ziemlich große Augen machte, auch wenn ich meinen Schlag gerade noch hatte zurückhalten können. „Was machst du da?“, fragte der Junge neugierig, wenn auch mit einem leichten Zittern in der Stimme.
„Ich… es tut mir leid…“, begann ich, senkte schnell die Hand und spürte, wie mir die Röte ins Gesicht stieg. „Was tut dir leid?“, fragte der Junge verwirrt, „hier ist nichts, dass dir ein Leid antut. Ich schon gar nicht!“ Ein spitzbübisches Lächeln erschien auf seinem bläulichen, halbtransparenten Gesicht und löste in mir den Wunsch aus, den Jungen gleich vom Fleck weg zu adoptieren.
„Das ist Xidan, mein Sohn. Er hätte sich nicht so anschleichen dürfen“, erklang die Stimme von Ilivia. Ich hatte vor lauter Staunen gar nicht gemerkt, dass sie gegangen war, aber nun kehrte sie an der Seite eines jungen Cestral-Mannes zurück, der sogar noch einen Kopf größer war als sie. „Xidan, du musst wissen, dass dieser Mann aus einer Welt kommt, in der es nicht so ist wie hier. Dort gibt es durchaus Dinge, die einem Leid antun können“, sagte sie und streichelte dem Jungen über seinen Wuschelkopf.
„Ich wollte dich nicht erschrecken“, sagte Xidan betrübt und wurde dann sofort wieder fröhlich. „Ich mag dich!“, rief er laut, stürmte auf mich zu und schloss mich in die Arme. Anders als ich erwartet hatte war sein Griff kaum weniger fest als der eines Jungen aus Fleisch und Blut. „Ich dich auch“, sagte ich überrumpelt und konnte mich nicht gegen das Lächeln wehren, das auf meinem Gesicht erschien.
Auch Ilivia lächelte breit, wie hier überhaupt jeder oft und gerne zu lächeln schien. „Mit wem habe ich denn hier die Ehre?“, fragte ich und blickte zu dem jungen Mann, den Ilivia mitgebracht hatte.
„Mein Name ist Nalin“, sagte er, „ich bin Ilivias Partner. Herzlich willkommen in Cestralia!“ Auch er begrüßte mich freundlich, allerdings sah ich etwas in Nalins Augen, dass mich in Alarmbereitschaft versetzte. Es war kein wirkliches Misstrauen, aber doch eine gesteigerte, kritische Neugier, die ihn von Ilivia unterschied. Vielleicht täuschte ich mich aber auch. Vielleicht war es lediglich die gute alte Eifersucht.
„Danke“, sagte ich, „ich freue mich, hier zu sein.“
Nalin nickte.
„Nalin und ich hatten uns gefragt, ob du vielleicht mit uns schlafen willst. Den meisten Neuankömmlingen bereitet das viel Freude und auch wir fänden es sehr interessant.“
Also doch keine Eifersucht, dachte ich. Ich war schlicht zu verblüfft, um darauf zu antworten. Ein solches Angebot von Wildfremden, die noch dazu liiert waren, war nicht unbedingt etwas, an das ich gewohnt war. Dennoch: Wäre ich unter anderen Umständen in Cestralia gewesen, wäre ich nicht einmal abgeneigt gewesen. Neugier war schon immer ein wesentlicher Charakterzug von mir gewesen und seit ich ein Fortgeschrittener geworden war, hatte sie mich noch fester im Griff. Zudem war Ilivia wirklich eine Schönheit. Allerdings sollte ich gerade ganz andere Dinge im Kopf haben und außerdem war Nalin nun einmal ein Mann und ich war, trotz aller Neugier, im Wesentlichen heterosexuell.
„Ich kann mein Geschlecht ändern, wenn dir das hier nicht zusagt“, sagte Nalin, so als hätte er meine Gedanken gelesen. Bereits einen Augenblick später hatte er sich in eine Frau verwandelt. Noch dazu in eine nackte und äußerst attraktive Frau, die von ihren Gesichtszügen her seine Schwester hätte sein können. „Ist es so besser?“, fragte Nalin bzw. Nalina mit einer nun deutlich höheren Stimme.
„Wie… wie machst du das?“, fragte ich vollkommen perplex.
„Wir können alle unser Geschlecht wechseln“, erklärte Ilivia, „Nalin, Xidan ich und jeder andere Cestral. Egal ob Mann, Frau oder irgendwas dazwischen. Geschlechter sind nichts als Rollen, nicht als Kleider, die wir abstreifen, wann immer uns danach ist. Sie sagen nichts über unser Wesen aus, aber sie alle bieten auf ihre Art interessante Erfahrungen. Willst du jetzt eine solche Erfahrung mit uns teilen?“
Wollte ich das? Ehrlich gesagt fand ich die Vorstellung immer faszinierender. Aber zum Teufel, ich war nicht zum Vergnügen hier. Das durfte ich nicht vergessen. „Ich… ich glaube, ich will Erstmal nur reden“, sagte ich.
„Schade“, sagte Ilivia, „aber du bist ja noch ein paar Tage hier.“
„Ein paar Tage?“, fragte Nalin… Nalina, „das ist sehr ungewöhnlich. Die meisten Besucher bleiben entweder eine Stunde oder für den Rest ihres Lebens. Warum also, willst du nur ein paar Tage bleiben?“
Scheiße. Er – oder sie – war kritischer, als mir lieb sein konnte. Hoffentlich würde sie nicht fragen, wie ich hierhergekommen war, dachte ich, ansonsten hätte ich ein Problem.
„Ich will mich einfach noch nicht festlegen“, sagte ich, „zuvor will ich mir eure Welt ansehen.“
Nalina sah mich zweifelnd an, hakte aber nicht weiter nach.
„Dann solltest du das auch tun“, sagte Ilivia fröhlich, „wir könnten dir die Stadt zeigen, oder… warte, ich hab eine noch bessere Idee: Irgendwo findet gerade sicher eine Mentravia statt, nirgendwo kannst du mehr über Cestralia erfahren, als dort.“
„Eine Mentravia?“, fragte ich, „was ist das?“
„Das musst du unbedingt erleben!“, sagte Xidan, „das ist der pure Wahnsinn. Komm mit! Bitte, Bitte!“
„In Ordnung“, sagte ich und zwang mich dazu, nicht auf die Uhr zu blicken, um Nalina nicht wieder zu unangenehmen Fragen zu reizen. Trotzdem sagte mir mein Zeitgefühl, dass ich nicht mehr viel Zeit hatte. Eigentlich konnte ich weder zu einer Mentravia noch irgendwo sonst hingehen. Doch offensichtlich hatte ich gerade kaum eine andere Wahl.
„Super!“, brüllte Xidan fröhlich und auch Ilivia lächelte mich an und gab mir einen prickelnden Kuss auf die Wange. Dann bedeutete sie mir, ihr zu folgen und genau das tat ich auch.
Es dauerte nur wenige Minuten, bis ich mich an dem Ort wiederfand, an dem diese mysteriöse ‚Mentravia‘ stattfinden sollte. Unterwegs erkundigte sich Nalina nach dem seltsamen ‚Ding‘ an meinem Arm, gab sich aber mit der improvisierten Erklärung zufrieden, dass dies lediglich ein ungewöhnlicher Geburtsfehler war. Nach einem kurzen, aber verwirrenden Fußmarsch durch die verwinkelten Gassen der Stadt, führten Ilivia, Nalina und Xidan mich in eines der elfenbeinturmartigen, spitzen Gebäude, in dessen Innern sich bereits fast hundert, in lautstarke Unterhaltungen vertiefte Cestral direkt auf dem Boden niedergelassen hatten. Auch wir taten es ihnen gleich und ich musste feststellen, dass der Boden unerwartet weich, warm und geradezu bequem war. So bequem, dass er sich bezüglich des Komforts kaum von einem Kinosessel unterschied. Auf einer leicht erhöhten Bühne, die gegenüber des Eingangs lag, saß ein älterer, bärtiger Mann, der ein Buch in der Hand hielt. Links und rechts von ihm hatte man Fackeln mit blau leuchtenden Flammen aufgestellt. Irgendwie hatte ich das Gefühl, dass dieser Mann (der ja zugleich eine Frau war) eine wichtige Rolle bei dieser ‚Mentravia‘ spielen würde. Also doch ein Priester, dachte ich mir, von wegen ‚keine Führer‘.
Verstohlen warf ich nun doch einen Blick auf die Uhr. Noch neunzehn Minuten und dreiundzwanzig Sekunden. Was zum Teufel machte ich hier? Meine Gedanken kreisten und kreisten um eine Lösung meines Dilemmas, fanden sie aber nicht. Das Xidan immer wieder fröhlich kicherte und Ilivia meine Hand drückte, während sie mir unablässig aufregende Blicke zuwarf, war dabei auch nicht gerade hilfreich.
Als der „Priester“ letztlich mit einer tiefen, sonoren Stimme zu sprechen begann, begriff ich, dass er keiner war. Er (und sie) war vielmehr so etwas wie ein Geschichtenerzähler, wenn auch alles andere als ein gewöhnlicher. Seine Worte waren mehr als bloße Aneinanderreihungen von Lauten. Sie wanden sich um meinen Kopf und glitten sanft hinein, hüllten mich ein, wie eine sanfte, frisch gewaschene Decke. Sie schufen einen Kosmos aus Bildern und ließen ein Feuerwerk der Emotionen in mir aufkommen. Ich weinte, lachte, zitterte und liebte mit unbekannten Helden, die epische Abenteuer in fremdartigen Welten erlebten. Ich fühlte Sehnsucht, Stolz, Verlangen, Mitleid und gerechten Zorn. Nicht all diese Dinge waren schön und friedlich. Im Gegenteil: Es gab finsterste Ungeheuer, blutige Kämpfe und schreiende Ungerechtigkeiten, aber zugleich war nichts davon wirklich schrecklich. Das alles war Fantasie und das war mir in jeder Sekunde klar. Selbst die dunkelste Szene war in ein warmes Licht der Geborgenheit gehüllt, die mir zurief: Alles ist gut und dennoch nahm diese Gewissheit nicht den kleinsten Funken von der Aufregung und Spannung dieser Geschichten weg. Ich empfand so viele Emotionen, dass ich jedem Moment damit rechnete, dass mein Gehirn vollkommen ausgebrannt aufgeben und mich als gefühllose Hülle zurücklassen würde. Entkernt, nicht durch ein zwielichtiges Ministerium, sondern durch all diese wundersamen Geschichten. Aber das geschah nicht. Der wunderbare Strom riss nicht ab und wurde sogar noch intensiver, als ich nun all diese Dinge nicht mehr nur hörte und vor meinem inneren Auge sah, sondern auch fühlte. Ich fühlte Regen und Kälte auf meiner Haut, wenn der Protagonist sich durch eine dunkle Nacht bewegte oder Wärme, wenn er eine mysteriöse Höhle betrat. Ich roch Gras, Früchte, Blut. Ich schmeckte beißenden Rauch, Schwefel und Süßigkeiten. Alles verschmolz zu einem vernichtend schönen, berauschenden Kaleidoskop aus Sinneseindrücken und ich hätte mich wahrscheinlich noch viele Stunden und Tage von diesen Erzählungen forttragen lassen, wenn mir nicht dieser eine Gedanke gekommen wäre: „Die Uhr“, dachte ich benebelt und empfand zur gleichen Zeit Erleichterung und Panik. Panik, da ich sicher schon viel zu lange diesen Geschichten lauschte und Erleichterung, weil ich nichtsdestotrotz noch hier war. Es mussten doch bereits Stunden vergangen sein und noch immer war ich hier. Vielleicht konnte mich die Portalmaschine nicht zurückbringen. Vielleicht hatte On-Grarin gelogen oder sie war nach all den Jahrhunderten, in den sie ihr teuflisches Werk bereits verrichtete, kaputtgegangen. Das würde zwar bedeuten, dass meine Reisen hier zu Ende wären, aber es gab wahrhaft schlimmere Orte, an denen man stranden konnte, als diesen. Das wusste niemand besser als ich. Und wenn mich das Fernweh zu sehr quälen würde, hätte ich noch immer das hier. Diese fantastische, unglaubliche Mentravia. Hier gab es alle Welten, die ich brauchte, ohne wirkliche Gefahr, ohne Terror, ohne Leid. Hoffnungsvoll blickte ich auf die Uhr und las dort die ernüchternden Zahlen, die mir sagten, dass gerade einmal ein paar Minuten vergangen waren. Der Rücktransport stand mir immer noch bevor. Irgendwie musste die Mentravia die Zeit oder zumindest das Empfinden davon manipulieren. Ein eiskalter Ball aus Ernüchterung formte sich in meinem Bauch und mein Magen verkrampfte sich. Gleichzeitig nahm ich wieder die Umgebung wahr, die meine äußeren Augen mir zeigten. Dutzende halb-transparenter, friedfertiger Geschöpfe, die den melodiösen aber nun gewöhnlich klingenden Worten eines freundlichen alten Mannes zuhörten. Unter ihnen auch Ilivia, die noch immer meine Hand hielt, Xidan, der gespannt lauschte und Nalina, die Ilivias andere Hand hielt. Diese Cestral durften nicht zu meinen Opfern werden. Sie durften nicht auf den Operationstischen der Gesunder landen, nicht in Verwahrer gesperrt werden oder als wandelnde Kranke hustend, kotzend und schweißgebadet durch die verfluchten Höhlen von Hyronanin kriechen. All das wollte ich aus ganzem Herzen vermeiden und endlich, in dieser Sekunde, fiel mir ein möglicher Ausweg ein. Er war verzweifelt und unwahrscheinlich und aus heutiger Sicht war es die reinste aller Torheiten, ihn auch nur in Erwägung zu ziehen, aber nach diesem Sturm der Emotionen und so verbunden, wie ich mich mit den Cestral fühlte, schien er mir das einzig Richtige zu sein.
„Ich bin hier, um euch zu ernten!“, schrie ich so laut, wie ich nur konnte. Sofort erwachten die Cestral aus ihrer entrückten Verzückung und auch der für mich namenlose Geschichtenerzähler unterbrach seine Erzählung.
„Wie meinst du das, junger Mensch?“, fragte der Mann verwirrt. Auch die anderen sahen mich überrascht an, unter ihnen Ilivia, Nalina und Xidan, deren Blicke wie Blei auf mir lasteten. Ich konnte nicht glauben, dass ich das gerade ausgesprochen hatte, aber nun war es zu spät.
„Man hat mich hierher geschickt, um möglichst viele von euch zu entführen. Ich soll euch an einen schrecklichen Ort bringen, wo man euch die Gesundheit nehmen und euch krank und schwach durch von Krankheitserregern geschwängerten Höhlen irren lassen wird.“
In diesem Moment hätte man in dem Gebäude eine Stecknadel fallen hören können.
Dann meldete sich ein älterer Mann aus der Reihe vor mir zu Wort. „Er ist doch nur berauscht von all den Geschichten“, sagte er lachend, „es wäre nicht das erste Mal, dass ein Gast von der Mentravia überfordert ist.“
„Das sind keine Geschichten. Hier geht es um ganz reale Schmerzen. Um echtes Blut und verdammt wirkliches Leid. Man wird euch wie Vieh abtransportieren, euch auf Liegen festschnallen und euch schreckliche Dinge antun. Ihr werdet unglaubliche Schmerzen erleiden. Eure Mägen werden von ständiger Übelkeit erfüllt sein. Ihr werdet Husten, Schwitzen, Kotzen und vielleicht eure Haut verlieren. Ihr werdet bei jedem eurer brennenden Atemzüge um einen Tod betteln, der niemals kommen wird. Ich jage euch nicht freiwillig. Man hat mich gezwungen hierher zu kommen. Und ich bin nicht der Erste, der hier ist, um euch zu entführen. Alle sogenannten ‚Gäste‘ oder zumindest jene, die nur eine Stunde bei euch geblieben sind, haben euren Freunden genau das angetan. Sie haben sie nicht an neue, aufregende Orte gebracht, egal was sie euch erzählt haben mögen, sondern in eine der dunkelsten und schrecklichsten Welten des ganzen Universums.“
Ich sah, wie es in den Gesichtern der Cestral arbeitete. Vor allem aber, sah ich in Ilivias Gesicht. Immerhin war sie es gewesen, der ich als erstes begegnet war. Zuerst sah ich Unglauben in ihren Zügen, dann Zweifel und zuletzt reines Grauen. Da erkannte ich, dass sie mir glaubte. Die Cestral waren vielleicht naiv, aber nicht dumm und womöglich spielte es auch eine Rolle, dass durch die Mentravia zwischen uns allen ein gewisses Band entstanden war, welches noch immer nachwirkte. Ilivia, Nalina, Xidan und all die anderen wussten einfach, dass ich sie nicht anlog. Diesmal nicht. Nun, dachte ich, würden sie mir zuhören und vielleicht würden wir gemeinsam einen Plan entwickeln können, um zu verhindern, dass Cestralia je wieder von Erntern heimgesucht werden konnte.
Doch noch bevor ich zu einem solchen Vorschlag ansetzen konnte, brach die Hölle los. Schneller, als ich es je für möglich gehalten hatte, erhoben sich die Cestral von ihren Plätzen und rannten zum Ausgang. Dabei war es mir beinah unmöglich einzelne Bewegungen auszumachen. Alles, was ich sah, waren bloße Schemen von halbdurchsichtigen, blauen Leibern, die sich förmlich durch den Eingang hinaus teleportierten und ich spürte durch die Reste der schwindenden Verbindung zwischen uns eine grenzenlose Enttäuschung und Angst. Was immer ich sonst erreicht hatte: Ich hatte gerade die unbeschwerte Naivität ihrer Welt zerstört. „Wartet“, schrie ich, „ich will euch nichts antun. Ich will mit euch zusammen eine Lösung finden!“, aber niemand schien mich zu hören. Auch nicht Ilivia, Nalina und Xidan, die zwar bislang noch nicht vor mir geflüchtet waren, mich aber noch immer tief erschüttert anstarrten. Inzwischen waren sie die einzigen Cestral, die sich noch im Gebäude befanden. Sogar der Geschichtenerzähler war längst geflohen.
In diesem Moment begriff ich drei Dinge: Erstens würden die fliehenden Cestral mit Sicherheit ihr gesamtes Volk warnen und es mir unmöglich machen, sie in den verbleibenden Minuten einzufangen, denn sie waren nicht nur unnatürlich schnell, sondern lebten auch in einer Welt von unbekannten Ausmaßen und hatten – laut On-Grarin – noch einige mir unbekannte Tricks auf Lager. Zweitens würde ich in wenigen Minuten mit leeren Händen nach Hyronanin zurückkehren und On-Grarins Zorn zu spüren bekommen. Drittens gab es nur noch drei Personen, die mir ein solches Schicksal ersparen könnten. Ich war zu dieser Zeit kein wirklich schlechter Mensch. Verdammt, ich hätte vielleicht sogar meinen Tod in Kauf genommen, um die unschuldigen Cestral zu beschützen. Aber was mich erwartete, wenn ich versagte, war weit schlimmer als der Tod. „Xabit Draj…“
Es war Nalina, die die Formel unterbrach. Und sie wendete dafür – vielleicht zum ersten Mal in der Geschichte der Cestral – Gewalt an. Ein Schlag, wie ein heftiger Windstoß, der einen Stein mit sich führte, traf meinen Hals. Heute weiß ich, dass sie ihren Schlag genau dosiert hatte. Sie hatte mich nicht töten wollen. Damals jedoch, sah ich das anders. Eine unglaubliche Wut erwachte in mir und verband sich mit heftigen Schmerzen und dem Gefühl, dass mein Kehlkopf zerquetscht worden war und mir jeden Moment die Luft ausgehen würde. Gleichzeitig sah ich, wie Nalina die beiden anderen, noch immer paralysierten Cestral an die Hand nahm, und sie mit sich zog. Es wäre leicht, sich einzureden, dass ich aus Instinkt gehandelt hatte. Aus einem bloßen Reflex heraus. Aber die Wahrheit war: Ich wollte es!
Ich wollte die Schmerzen, die ich fühlte, tausendfach zurückgeben. Ich schmeckte puren Zorn auf meiner Zunge und liebte den Geschmack. Die Zeit verlangsamte sich so sehr, dass ich heute noch nicht weiß, ob es nur meine Wahrnehmung war oder eine unbekannte Macht eingegriffen hat. Tatsache war jedoch, dass ich Nalina, Ilivia und Xabit wie in Zeitlupe vor mir weglaufen sah. Ich wollte sie aufhalten, hatte aber keine Waffe bei mir, außer der an meinem Arm. Jene Waffe, die mir schon so oft nicht gehorcht hatte. Diesmal jedoch, tat sie es. Wie der Zauber eines finsteren Racheengels löste sich ein schwarzer Blitz aus meinem Arm und traf die fliehende Nalina direkt in den Rücken. Das halb ätherische Wesen stoppte mitten im Lauf, schrie auf und fiel der Länge nach hin, wobei es Xidan und Ilivia mit sich riss. Ohne zu zögern, feuerte ich einen weiteren schwarzen Blitz auf Ilivia, die bereits dabei war sich wieder auf die Beine zu kämpfen und zuletzt auch auf den kleinen Xidan. Jeder Schuss traf. Alle drei lagen vollkommen still auf dem glatten, blauen Fußboden unter einer endlos hoch scheinenden, spitz zulaufenden Decke. Während ich langsam wieder in der Lage war einen quälenden Atemzug zu nehmen, ging ich auf die drei auf dem Boden Liegenden zu. Offenbar atmeten sie noch, waren aber bewusstlos. Ich warf einen Blick auf den liebenswerten Xidan, den ich so liebend gern adoptiert hätte. Er sah fast so aus, als würde er friedlich schlafen, wäre da nicht dieser verständnislose ängstliche Blick auf seinem Gesicht, der verriet, dass seine Kindheit in dieser eigentlich so kindgerechten Welt so oder so zu Ende war. Einen ähnlichen Ausdruck sah ich auf der so offenen und vertrauensselige Ilivia und selbst aus dem Gesicht der misstrauischen Nalina, die ich als Nalin kennengelernt hatte, las ich heraus, dass sie mir das hier niemals zugetraut hätte. Ich hätte mit den Beiden schöne Stunden verbringen können. Das zumindest hatten sie mir angeboten. Was sie nun erleben würden war…
Ich schob die Mischung aus Selbstekel, Scham und Schuld beiseite und schluckte den Kloß, der sich in meinem Hals gebildet hatte herunter, als mein Blick erneut auf die Uhr an meinem Arm fiel. Nur noch fünfzehn Sekunden. Ich hatte keine Zeit mehr für mein moralisches Dilemma. Ich musste handeln. Meine Kehle schmerzte noch immer und weigerte sich fast die Worte zu sprechen, aber sie kamen dennoch heraus: „Xabit Drajit Gandrit“ hallte es durch den fast leeren Raum und während wir uns dematerialisierten kam mir eine Frage in den Sinn: Warum hatte der Kwang Grong gerade jetzt meinen Befehlen gehorcht?
~o~
Obwohl ich die Luft in der Portalhöhle besser war als im Rest von Hyronanin, spürte ich – nun, da ich wieder in einer so gänzlich anderen und viel schöneren Welt gewesen war – doch deutlich den Unterschied. Sobald der schmerzhafte Prozess der Materialisierung abgeschlossen war, fühlte ich den Druck der uralten, kaum bewegten, stickigen Höhlenluft wie ein schweres Gewicht auf meiner Lunge lasten. Noch belastender war nur der Anblick der drei Cestral, die sich – noch immer bewusstlos – neben mir materialisierten.
„Drei von zehn Punkten“, hörte ich On-Grarin zugleich tadelnd und vergnügt sagen, „und einer von ihnen ist sogar noch ein Balg.“
Der schlangenhafte Andrin schüttelte seinen Kopf, wobei die Kette mit seinem „Artian-Re“ wild hin und her schwang. „Ist dir eigentlich klar, dass ich so manchen Ernter, der derart erfolglos war, ausgiebig gefoltert habe?“
Seine grau schattierten Augen sahen mich drohend an.
Ich zuckte lässig mit den Schultern. Mein eigenes Schicksal war mir in diesem Moment seltsam gleichgültig. „Ich bin nicht mit leeren Händen zurückgekehrt“, wandte ich dennoch ein.
„Das ist mir klar“, antwortet On-Grarin, „wärst du es, hätte ich dich schon längst in den Verwahrer gesperrt. Die Folter ist die mildere Strafe, für geringere Unfähigkeit.“
Eine Zeitlang starrte er mich derart intensiv mit seinen verwirrenden Augen an, als würde er versuchen auf diese Weise in meinen Kopf zu gelangen und ihn dann von Innen heraus zu zersprengen. Ich hielt seinem Blick stand, auch wenn ich ehrlich gesagt nicht weiß, woher ich die Kraft dazu nahm, denn eigentlich, hätte ich mich vor ihm fürchten sollen. Aber aus irgendeinem Grund tat ich es nicht. Letztlich war es On-Grarin, der das Blickduell aufgab und weitersprach.
„In einer Welt, in der der Tod unmöglich ist, hat die Folter einen besonderen Reiz, weißt du? Es gibt kein ‚zu viel‘, keine Grenze, die man nicht überschreiten darf und es gibt auch keine Fluchtmöglichkeit für das Opfer. Natürlich kann man den Körper nicht beliebig zerstören, denn Asche kann auch in Hyronanin keinen Schmerz empfinden, aber nichtsdestotrotz sind die Möglichkeiten mannigfaltig.“ Während er er diese Worte sprach, leuchtete sein Medaillon auf wie ein kleiner Stern und ein breites Grinsen bemächtigte sich seines Gesichts, „dennoch verzichte ich heute darauf, dich zu quälen“, fügte er hinzu, während das Feuer in der Kette sich legte. Er ging ein paar Schritte auf mich zu und trotz seiner Ankündigung schwor ich mir, den Kwang Grong um Unterstützung anzurufen, falls On-Grarin übergriffig werden sollte.
Das tat er jedoch nicht, auch wenn er mir so nah kam, dass ich seinen flachen, zischenden Atem hören, und dessen schwaches, aber strenges Raubtier-Aroma wahrnehmen konnte.
„Ich werde dich vorerst verschonen, denn du hast immerhin gezeigt, dass du nicht zu weich bist, um als Ernter zu dienen. An dieser Frage scheiden sich die Nützlichen von den Nutzlosen. Es ist wichtig, dass du Killerinstinkt beweist. An allem anderen kann man noch arbeiten und dafür wirst du ausreichend Zeit haben“, On-Grarin lachte trocken und wich dann wieder ein paar Schritte zurück, was mich ungemein erleichterte.
„Was passiert jetzt mit ihnen?“, fragte ich so neutral wie nur möglich, „wirst du ihre Gesundheit gleich hier abzapfen?“
„Nein, du Narr!“, sagte On-Grarin, „das vermögen nur die Gesunder. Sie schicken mir regelmäßig einige Boten vorbei, die das frische Material abtransportieren und uns zugleich mit neuer Gesundheit beliefern. Die nächste Abordnung wird schon Morgen hier eintreffen. Bis dahin sperre ich diese Schafe in ihre Verwahrer.“
Bis morgen, dachte ich, während ich einen verstohlenen Blick auf die noch immer bewusstlosen Gefangenen warf. Vielleicht würde sich in dieser Zeit noch die Chance ergeben Ilivia, Nalina und Xidan zu befreien und… ja, und was dann? Sie stattdessen hilflos durch Hyronanin irren zu lassen? Das wäre nur wenig besser, als der Verwahrer und es wäre nur eine Frage der Zeit, bis man sie wieder eingefangen hätte. Vielleicht, dachte ich, wäre es möglich, sie in ihre Welt zurückzuschicken, wenn ich nur… Dann jedoch fiel mir wieder ein, dass das nicht möglich war. Eine Stunde, mehr Zeit gewährte einem diese höllische Maschine nicht. Genug Zeit um zu zerstören, aber nicht genug Zeit, um zu heilen. Was ich den dreien angetan hatte, konnte ich nicht wieder rückgängig machen. Mit einem Mal durchfuhr mich eine so heftige Welle der Verzweiflung, dass es mir nicht mehr möglich war, meine Tränen zurückzuhalten. Heiß und klebrig liefen sie über mein Gesicht.
„Die Schuld, nicht wahr?“, kommentierte On-Grarin ungewohnt mitfühlend, „die Folter des Gewissens. Eine Qual, die wir nur schwer nachvollziehen können. Es gibt Andrin, die daran forschen, die ausprobieren, wie Opfer reagieren, wenn man sie selbst zu Tätern werden lässt, aber ich habe mich für so etwas nie interessiert. Mir ist das zu akademisch, zu verworren, zu mittelbar. Kein Vergleich zur einfachen, ursprünglichen Beziehung zwischen Folterer und Gefoltertem. Dennoch weiß ich aus meiner Tätigkeit hier, dass diese Qualen abnehmen. Der erste Schritt ist der Entscheidende. Wer daran nicht zerbricht, wird ein guter Ernter. Weine deine Tränen ruhig, aber gehorche. Andernfalls werden dir die Konsequenzen nicht gefallen. Und jetzt hilf mir, die Verwahrer zu befüllen.“
On-Grarin ging zu den bewusstlosen Cestral, beugte sich hinab und packte die Schulter von Nalina. „Hilf mir, Pragmatiker!“, verlangte er.
Ein Teil von mir wollte aufbegehren, wollte sich den Befehlen dieses gnadenlosen Mannes widersetzen, aber ehe ich mich versah, hatte ich die Füße von Nalina gepackt und brachte sie zusammen mit ihm zu den Verwahrern. Sie war leichter als ein gewöhnlicher Mensch, aber nicht so leicht, wie ich erwartet hatte. Während ich sie trug, fiel es mir immer schwerer, sie als Person wahrzunehmen und nicht als eine Last, einen Gegenstand, den man lediglich von A nach B transportieren musste. Vielleicht, das hoffte ich zumindest, lag das auch daran, dass unser Verhältnis nicht so angenehm gewesen war, wie das zu den anderen beiden.
Als wir bei den Verwahrern angekommen waren, machte On-Grarin – während er Nalina weiter mit einer Hand festhielt – eine geübte Handbewegung und öffnete damit einen leeren Verwahrer, der jedoch noch immer mit Körperflüssigkeiten verklebt war und einen stechenden Geruch verbreitete.
„Reinigt ihr sie nicht?“, fragte ich angewidert.
„Wir neutralisieren die Keime darin, zumindest für jene, deren Gesundheit wir noch benötigen. Was den Geruch betrifft… nun, es soll ja nicht zu komfortabel sein, oder?“, antwortete On-Grarin dämonisch lächelnd. „Wir heben sie gemeinsam hinein, in Ordnung? Auf drei. Eins, zwei, drei!“
Obwohl ich mich dabei ziemlich schlecht fühlte, gehorchte ich und kurz darauf lag die bewusstlose Nalina in dem besudelten, stinkenden Verwahrer, den On-Grarin mit einer lässigen Bewegung wieder schloss. „Das wäre geschafft.“, sagte er.
Auf die gleiche Weise verfuhren wir mit Xidan, was mir allerdings noch deutlich schwerer fiel. Immerhin handelte es sich bei ihm um ein Kind. Ich rang bei jedem einzelnen Schritt mit mir und erwog einen Angriff auf On-Grarin, egal ob mit dem Kwang Grong oder mit bloßen Fäusten, aber… ich war… gottverdammt, ja, ich war schlicht zu feige, um es zu versuchen. Es dauerte nicht lang, bis ich das bereuen sollte, denn gerade als wir Xidan in seinen nicht minder schmutzigen Verwahrer gelegt hatten, schlug er plötzlich die Augen auf. „Hallo. Du bist es? Wo sind wir hier?“, fragte der kleine Junge (der zugleich ein Mädchen war) und den ich so gerne adoptiert hätte noch immer benommen, „warum stinkt es hier so? Ich will hier nicht sein, hilfst du mir hier raus?“
Mein Herz zerbrach bei diesen Worten. Ich wollte irgendetwas sagen, irgendetwas tun, aber On-Grarin kam mir zuvor und rammte den Verwahrer mit aller Kraft in die Wand. „Nein, das wird er nicht“, sagte der Andrin kalt, auch wenn ihn der eingesperrte Xidan wahrscheinlich nicht mehr hörte.
Auch ich hörte ihn nicht. Alles, was ich hörte, war ein Echo jener Worte, die Xadin zu mir gesagt hatte. „Hilfst du mir hier raus?“, „Warum stinkt es hier so?“, „Ich will hier nicht sein?“. Die Worte erklangen so deutlich, dass ich nicht mal sicher war, ob sie nur meiner Erinnerung entsprangen oder von Xadin direkt in meinen Kopf projiziert wurden.
„Wir sind hier fertig“, sagte On-Grarin und brachte damit Xidans Worte vorerst zum Verstummen, „Es wird Zeit für deine nächste Mission. Wir sollten noch möglichst viel ernten, bevor die Abordnung der Gesunder hier eintrifft.“
„Was ist mit Ilivia?“, fragte ich.
„So heißt das Schaf also? Nun, das ist nicht deine Angelegenheit“, stellte On-Grarin fest.
„Doch, ist es!“, schrie ich, denn so langsam versagten meine Nerven.
On-Grarin sah mich finster mit seinen grau schattierten Augen an, lachte dann jedoch. „Ganz schön frech, Pragmatiker. Aber wenn du es unbedingt wissen willst: Auch ich brauche von Zeit zu Zeit ein wenig Zerstreuung. Und die werde ich mir holen, während du auf deiner nächsten Mission bist.“
Es brauchte nicht viel Fantasie, um sich vorzustellen, worin für ihn diese Zerstreuung bestehen würde. „Was ist mit ihrer Gesundheit?“, gab ich zu bedenken, „wenn du sie folterst, wird man nicht mehr viel davon aus ihr herausholen können.“
On-Grarin schüttelte den Kopf. „Da irrst du dich. Mir ist durchaus bekannt, wie ich maximale Qualen bei minimalen körperlichen Schäden verursachen kann. Und wenn doch mal etwas schiefgeht… nun, dann wird das auch kein großes Problem darstellen. Immerhin ist sie nur ein Schaf und wer Ryxah so treu dient wie ich, genießt gewisse… Privilegien.“
Es gibt Punkte in jedem Leben, an denen man Entscheidungen nicht länger aufschieben kann und das hier war so einer. Ich dachte nicht nach, ich wog nicht ab, ich handelte einfach nur. Es war, als hätte die Last meines schlechten Gewissens, ein solches Gewicht erreicht, dass sie mich förmlich auf diesen Handlungspfad zwang. Ich spürte, dass sich der Kwang Grong erneut weigern wollte, meinen Befehlen zu gehorchen, aber ich kämpfte dagegen an, rang mit ihm und triumphierte.
Eine regelrechte Kaskade aus schwarzen Blitzen schoss aus meinem Arm hervor. Jedes dieser Geschosse war direkt auf On-Grarin gezielt und traf ihn in Brust, Kopf, Schulter, Hals oder Bauch. „Stirb, du verdammter Bastard!“, schrie ich, auch wenn ich wusste, dass dieser Wunsch an diesem Ort nicht in Erfüllung gehen konnte, und schrie mir damit den ganzen Schmerz von der Seele, den dieser aufgeblasene, schmerzgeile Wichser mir eingebrockt hatte. Erst nachdem zwanzig oder mehr Blitze knisternd meinen Arm verlassen hatten, versagte mir die Waffe ihren Dienst. Fluchend blickte ich auf, um zu sehen, was von On-Grarin übrig geblieben war und sah zu meinem Entsetzen, wie die letzten der sonst so verheerenden Geschosse von seiner seltsamen Kette aufgesogen wurden, bevor sie gänzlich darin verschwanden. Der vollkommen unversehrte Andrin ließ ein wütendes Zischen hören. Dann stürmte er direkt auf mich zu und ergriff meinen Hals auf eine Weise, die weiß glühende Schmerzfeuer in all meinen Nervenbahnen aufflammen ließ. Ich wollte mich losreißen, konnte mich aber praktisch nicht bewegen.
„Hör mir zu, Abschaum“, sagte er mit eiskalter Stimme, „ich habe große Lust dich zu foltern, bis du mit jedem einzelnen Atemzug darum bettelst für immer in den Verwahrer gesperrt zu werden, um endlich meiner liebevollen Zuwendung zu entgehen. Aber du hast Glück: Ryxah wartet auf eine neue Lieferung und gerade habe ich bedauernswerterweise keinen anderen Ernter zur Stelle, der sich darum kümmern könnte. Deshalb wirst du fortan auf jeder deiner Missionen Höchstleistungen bringen. Ich will die maximale Anzahl an Geernteten, ich will kein Jammern und Heulen und ich will, dass jeder einzelne meiner Befehle ohne Zögern, ohne dumme Fragen und ohne jeden Skrupel befolgt wird. Solltest du dich noch einmal widersetzen, solltest du noch einmal versuchen mir zu schaden oder auch nur eine Regung oder einen Charakterzug zeigen, der nicht zu einem willenlosen Befehlsempfänger passt, gibt es keine zweiten Chancen mehr und es gibt keine Beschränkung auf vierundzwanzig Geerntete, wie du es mit Ryxah ausgemacht hattest. Du dienst mir, so lange ich will. Ist das klar?“
Ich nickte. Was sollte ich auch sonst tun? Widerstand schien keine Option zu sein.
„Gut“, sagte er und lies meine Kehle los. Dann hob er seine Hände und materialisierte damit einen steinernen Stuhl direkt auf den Boden. Das erinnerte an meine erste Begegnung mit Ryxah, auch wenn es damals ohne ihr Zutun geschehen war. „Pack sie an den Füßen!“, sagte er und zeigte auf Ilivia.
Ich gehorchte und gemeinsam setzten wir Ilivia auf den Stuhl, aus dem sich sofort Fesseln materialisierten und um ihre halb durchscheinenden Arme und Beine legten. Dann ging On-Grarin erneut zu jener Wand, in der die Verwahrer eingelassen worden waren und machte eine weitere seiner rätselhaften Handbewegungen, woraufhin sich eine Schublade löste, die jedoch zu klein war, um ein lebendiges, humanoides Wesen beherbergen zu können. Was er dort tat, konnte ich trotz der noch immer aktiven Fernsicht nicht erkennen, da er mit dem Rücken zu mir stand, aber als er zurückkehrte, hielt er ein langes, schlankes und äußerst scharf wirkendes Messer in der Hand.
Instinktiv wollte ich fragen, was er damit vorhatte, entschied aber, es lieber bleibenzulassen. On-Grarins Drohung klang noch immer in meinen Ohren nach und gerade schien mir nicht die Zeit zu sein, ihn erneut herauszufordern. Trotzdem erschrak ich innerlich, als er mit dem Messer auf die festgeschnallte Ilivia zeigte. „Du hast versprochen mir fortan bedingungslos zu gehorchen. Solch ein Versprechen ist schnell gegeben, aber ich will sehen, dass du auch danach handelst.“
Mein Magen verkrampfte sich, als mir klar wurde, worauf das hinauslief. „An dieser Stelle haben die Schafe die größte materielle Dichte und empfinden folglich Schmerz am intensivsten“, er wies auf einen Bereich, etwa in auf der Höhe des Solar Plexus, „dort wirst du schneiden. Ich will einen tiefen und gezackten Schnitt mit weit auseinanderklaffenden Wundrändern. Wenn du das erledigt hast, wirst du deine nächste Mission antreten und sie mir überlassen. Ich weiß, habe dir gesagt, dass es normalerweise nicht meinem Geschmack entspricht andere zu Tätern zu machen, aber in diesem Fall… tja, sagen wir, das hast du dir selbst eingebrockt.“ Er reichte mir das Messer und zeigte auf Ilivia, „Tu nun, was ich sage, oder trage die Konsequenzen.“
Ich zögerte noch für den Bruchteil eines Wimpernschlags, dann ging ich langsam auf Ilivia zu. Ich versuchte ihr nicht ins Gesicht zu sehen, in der Hoffnung, dass es so leichter sein würde und positionierte das Messer an der Stelle, die mir On-Grarin gezeigt hatte, trotz ihrer ätherischen Gestalt, spürte ich den bedrückenden Widerstand festen Fleisches. „Warte!“, verlangte der Andrin, „sieh sie dabei an“, gehorsam hob ich den Kopf und sah in das friedliche, freundliche, fein geschnittene Gesicht jener Frau, die mich vor nicht einmal zwei Stunden in ihrer Welt willkommen geheißen hatte. Ein bitterer Kloß formte sich in meinem Hals und ich verspürte eine Art von Schwindel, der keine körperlichen Ursachen hatte. „So ist es gut“, lobte mich On-Grarin, „aber warte noch, bevor du schneidest.“
Verwirrt sah ich zu ihm herüber. Hatte dieser Sadist es sich anders überlegt? Wollte er mich nur testen?
Meine diesbezügliche Hoffnung löste sich in Asche auf, als er zu Ilivia ging und ihr mehrere heftige Ohrfeigen verpasste. Kurz darauf schlug auch sie die Augen auf. „Du?“, fragte sie verwirrt, „warum hast du mich angegriffen? Wo bin ich hier? Warum bin ich gefesselt? Wo sind Xidan und Nalin?“ Das Schlimmste war, dass ich weder in ihren Augen, noch in ihrer Stimme die geringste Spur von Verurteilung oder Zorn erkennen konnte. Sie wollte lediglich Antworten auf ihre Fragen. Antworten, die ich ihr nicht geben konnte.
„Jetzt kannst du schneiden!“, sagte On-Grarin, der sich ansonsten nicht groß um die Worte der Cestral kümmerte.
Erst jetzt schien sie das Messer in meiner Hand zu bemerken.
„Was hast du damit vor? Ich habe dir nie etwas getan, warum willst du mir weh tun?“, fragte sie unter Tränen und mit ängstlicher Stimme und zugleich mit einer Unschuld, die so kindlich, so vollkommen frei von jeder Berechnung war, dass es körperlich weh tat. Meine Hand zitterte.
„Denk daran, was ich dir gesagt habe!“, ermahnte mich On-Grarin in einem dunkle und zischenden Tonfall.
Hilflos und innerlich zerrissen schwankte ich zwischen sinnlosem Widerstand und dem Wunsch zu überleben. Letztlich aber fiel die Entscheidung. Ich versuchte noch, Ilivia eine stumme Entschuldigung zu übermitteln, ohne zu wissen, ob sie sie verstehen würde. Dann schnitt ich.
~o~
An den bestialischen Schrei, den die Cestral ausstieß, kann ich mich heute noch ganz genau erinnern und doch bin ich unendlich dankbar, dass ich ihr weiteres Martyrium nicht hatte miterleben müssen. Denn nachdem ich On-Grarin gegenüber gehorsam gezeigt hatte, schickte er mich auf eine ganze Reihe von Missionen, die mich zwar ständig mit neuen moralischen Zwickmühlen konfrontierten, mich zugleich aber auch von meiner grausamen Tat an Ilivia ablenkten. Ich besuchte zahlreiche Welten, die mir zumeist noch unbekannt waren. Welten voll leuchtender Sümpfe oder in lebendigen Wassern, Städte mit Straßen, die bizarren Irrgärten glichen, Länder, die allein von Kindern bevölkert wurden und solche, die von winzigen, hässlichen, Geschöpfen bewohnt wurden, die sich von Steinen und Sand ernährten. Und ich besuchte auch die Erde. Genauer gesagt mein Heimatland, auch wenn es mir glücklicherweise erspart blieb, die Ernte in meinem Geburtsort einzufahren. In jeder dieser Welten begleitete mich die Unmenschlichkeit meiner Mission wie ein allgegenwärtiger Schatten. Weder die vertraute Luft der Erde, die ich für eine schmerzhafte, unwirkliche Stunde besuchen durfte, noch die größten Wunder dieser fremden Welten – von denen keine so schrecklich und bösartig war, wie die, auf den schwarzen Seiten des Kataloges – konnte diesen Schatten auslöschen. Dabei tat ich alles, um den Schaden, den ich an diesen Orten anrichtete, so gering wie nur möglich zu halten. Ich entführte – nach Xidan – keine weiteren Kinder mehr und ich lockte nur solche Individuen nach Hyronanin, die mir bösartig, verkommen und kriminell erschienen, in der Hoffnung den Zurückgebliebenen womöglich sogar einen Gefallen zu tun. Aber um ehrlich zu sein, hatte ich nur selten Gelegenheit hier wirklich sicherzugehen. Eine einzige Stunde reichte kaum aus, um die moralischen Qualitäten einer Person zu beurteilen, erst recht nicht, wenn man einen Großteil dieser Stunde darauf verwenden musste, sich in Reichweite möglichst vieler Personen zu begeben und nach Möglichkeit Orte zu finden, an denen deren plötzliches Verschwinden nicht zu viel Aufsehen erregte.
Und selbst in den seltenen Fällen, in denen ich mir sicher war einen Schläger, Vergewaltiger oder gar Mörder mit nach Hyronanin zu nehme, blieb die bohrende Frage, ob deren Taten – so schlimm sie auch wahren – ewige Krankheit und ständigen Schmerz rechtfertigten. Letzten Endes war das, was ich tat, nichts als Willkür und Selbstjustiz und auch wenn ich mich zum Richter über diese Personen aufschwang, so war ich am Ende doch nicht weniger ein Krimineller als sie. Wahrscheinlich war ich sogar schlimmer.
Die Tage kamen und gingen. Ryxahs Boten besuchten uns mit großen Gefängniswagen aus mattem Stahl, die sie bis zum Anschlag mit den von mir Geernteten füllten. Sicher waren darunter auch Ilivia, Xidan und Nalina gewesen, jedoch nahm ich davon kaum noch Notiz. Anfangs hatte ich mich oft gefragt, wie es den Dreien, und insbesondere Ilivia, ging, und mich mit heftigen Schuldgefühlen gequält, dann hatte ich diese Fragen aus reinem Selbstschutz verdrängt. Inzwischen jedoch, interessierte es mich schlicht nicht mehr. Das ständige Jagen und Verstellen hatte meinen Geist und meine Seele derart abgestumpft und deformiert, dass ich nur noch von einer Mission zur Nächsten dachte. Ich hatte schon so oft gegen meine Überzeugung gehandelt, dass ich nicht mehr wusste, wer ich überhaupt war.
Immerhin war ich erfolgreich. So erfolgreich, dass On-Grarin seinen Groll gegen mich mit der Zeit vergaß und mich sogar gelegentlich lobte. Vielleicht empfand ich sogar so etwas wie grimmigen Stolz auf meine Leistungen, zumindest jedoch war ich erleichtert über die verbesserte Stimmung des Andrin, weil dies die Wahrscheinlichkeit verringerte, dass mich sein Zorn traf. Es war kein schönes, aber doch ein interessantes und auf verdrehte Weise einfaches Leben. Ich bereiste wunderschöne Welten, jagte, wurde mit Gesundheit oder anerkennenden Worten belohnt, lauschte manchmal On-Grarins düsteren Andeutungen über seine Heimat oder gönnte mir kurze Ruhephasen. Auf gewisse Weise war es wie ein Rausch. Natürlich empfand ich – trotz meiner Abstumpfung – das Flehen, die Schreie und die Vorwürfe meiner Opfer als unangenehm, aber dennoch: Wahrscheinlich wäre es so weitergegangen. Für Jahre, Jahrzehnte, vielleicht Jahrhunderte, wenn man bedachte, dass Alter und Tod in Hyronanin praktisch keine Macht besaßen.
Jedoch waren wahrscheinlich nur etwas mehr als zwei oder drei Wochen vergangen, als etwas unerwartetes passierte. On-Grarin hatte sich gerade zur Ruhe gelegt, wobei er eine der seltsamen Anomalien der Höhle ausnutzte und mit einem selbstzufriedenen Lächeln ein klein wenig über dem Boden schwebte. Nicht mehr als ein paar Zentimeter, für den Fall, dass die gewohnten Naturgesetze zurückkehren sollten. In diesen Zustand, der irgendwo zwischen Tiefschlaf und Meditation lag, verfiel er nicht oft, aber ein paar Mal hatte ich es schon beobachtet und einmal hatte es fast acht Stunden gedauert. Ich hingegen war noch wach und gestärkt von einem Schluck Gesundheit, den ich mir gerade erst einverleibt hatte. Wahrscheinlich war dies der Grund, warum meine gewöhnlichen, menschlichen Ohren die Schritte vor seinen Reptiliensinnen bemerkten. Ein anderer war sicher mein in vielen Missionen geschärfter Ernterinstinkt. Kaum, da ich das leise Geräusch bemerkte, schnellten meine Augen hoch und erblickten jemanden, den ich nie und nimmer dort erwartet hatte: Garwenia.
Tausend Gefühle wirbelten in mir und das stärkste von allen war Zorn. Ich wollte sie leiden lassen für das, was sie mir angetan hatte und mein erster Impuls war auch, On-Grarin zu wecken, um zu sehen, was seine Folterkunst an ihr bewirken könnte. Etwas hielt mich aber davon ab. Es war nicht der Finger, den sie vor ihre Lippen hielt und auch nicht der erbärmliche Anblick, den ihr geschundener, fast hautloser Körper bot, auch wenn ich in dieser aufgrund der reichlich zur Verfügung stehenden Gesundheit, beinah keimfreien Oase, fast vergessen hatte, wie die kranken Bewohner von Hyronanin aussahen. Es war etwas in ihrem Gesicht, dass ich dank der zurzeit wieder herrschenden Fernsicht erkennen konnte. Es war ein aufrechtes Bedauern, eine stumme Entschuldigung, die zwar nicht ausreichte, um meine Wut auszulöschen, sie aber so weit abkühlte, dass ich darauf verzichtete ihr Eindringen an On-Grarin zu melden. Mehr noch: Als Garwenia eine lockende Geste machte, ließ ich mich sogar dazu herab, zu ihr zu kommen. On-Grarin hatte mir, nach dem ich so lange zu seiner Zufriedenheit gehandelt hatte, erlaubt, mich ein wenig im Umkreis der Portalhöhle zu bewegen, sofern ich mich dabei nicht außerhalb seiner Rufweite bewegte. Zudem war ich ziemlich neugierig darauf, was Garwenia von mir wollen könnte.
Vorsichtig und peinlichst genau darauf achtend, On-Grarin durch kein lautes Geräusch aus seiner Meditation zu wecken, stand ich auf und begab mich zu dem kurzen Eingangstunnel, an dessen Ende Garwenia auf mich wartete.
Die ungewohnte Nähe zu ihr löste widersprüchliche Gefühle in mir aus. Ihr entzündeter Geruch stieß meine, von der halbwegs neutralen Luft der Höhle verwöhnte Nase ab, und die Erinnerung an ihre Treulosigkeit, als sie und ihre Freunde mich krank in ihrem Stützpunkt zurückgelassen hatten, schmerzte zutiefst. Aber da war auch noch immer jene alte Sympathie, die ich für die quirlige, intelligente Frau früher empfunden hatte und – wie ich verwirrender Weise feststellte – auch jetzt noch empfand. Eigentlich hatte ich gedacht, dass mir diese Frau nichts mehr bedeuten würde.
„Was machst du hier?“, fragte ich sie betont kühl und distanziert, um ihr weder meinen Zorn, noch meine absurde Wiedersehensfreude allzu offensichtlich zu zeigen.
Sie antwortete nicht, sondern bedeutete mir mit einer weiteren Geste, ihr um die Ecke in einen quer zur Portalhöhle verlaufenden Tunnel zu folgen. Ein Teil von mir fragte sich, ob es eine Falle sein könnte, aber die Logik sagte mir auch, dass das durchaus Sinn ergab, wenn man das Risiko, dass On-Grarin jedes Wort unserer Unterhaltung mitbekam, minimieren wollte.
Wir gingen gemeinsam einige Schritte in jenen Seitengang hinein und ich beobachtete mich selbst dabei, wie ich in die rechte Tasche jener futuristisch anmutenden silbernen Hose griff, die ich mir auf meiner letzten Mission besorgt hatte und die ich noch immer zusätzlich zu meinem Patientenkittel trug. Darin befand sich ein Fläschchen mit Gesundheit, welches ich schützend mit meiner Hand umschloss. Ich hatte wenig Lust darauf, erneut bestohlen zu werden.
Plötzlich hielt Garwenia an und sah mir direkt in die Augen. „Es tut mir leid, was dir passiert ist“, sagte sie voll aufrichtigem Bedauern.
„Was mir passiert ist?“, wiederholte ich ungläubig, „ihr seid mir passiert! Ihr habt mich bestohlen und krank und schwach in eurem Versteck zurückgelassen. Es war euch offensichtlich scheißegal, was aus mir wird. Wobei, vielleicht ist es ungerecht das so auszudrücken, immerhin habt ihr mich ja um meine Gesundheit erleichtert, damit ich nicht so viel schleppen muss. Entweder das oder ihr alle seid nichts weiter als verlogene, hinterhältige Bastarde!“
„Nicht so laut“, zischte Garwenia und blickte sich nervös um. Tatsächlich hatte ich in meiner Wut lauter gesprochen, als gut war. Hoffentlich hatte On-Grarin nichts von unserem Gespräch mitbekommen. Wir beide lauschten einige Augenblicke auf verdächtige Geräusche, bemerkten jedoch nichts Auffälliges.
„Hör mal zu, mein Hübscher“, fuhr Garwenia schließlich fort, „wie du dich vielleicht erinnerst, war ich selbst in keinem besonders guten Zustand, als wir dich verlassen haben. Ich konnte nicht mal mehr laufen, geschweige denn irgendwelche Intrigen spinnen.“
„Du hattest meine Gesundheit“, wandte ich ein.
„Einen kleinen Rest, ja. Aber nicht, weil ich dich bestohlen habe, sondern weil die anderen ihn mir eingeflößt haben. Trotzdem hat er ausgereicht, um mich wieder einigermaßen fit zu bekommen. Wenigstens für kurze Zeit“
„Also hast nicht du mich im Stich gelassen, sondern deine feinen Rebellenfreunde?“, schlussfolgerte ich.
„Nein… Ja.“, gab sie widerwillig zu, „aber sie hatten gute Gründe dafür.“
„Ach, hatten sie?! Und welche sollen das sein?“, antwortete ich.
„Ein Bakteroid hat unseren Stützpunkt angegriffen. Wir mussten fliehen. Deshalb haben sie dir auch das Fläschchen entwendet. Sie wollten mir die nötige Kraft verleihen, um mit ihnen fliehen zu können“, erklärte Garwenia.
„Und dabei habt ihr MICH einfach zurückgelassen? Damit der Bakteroid mich ungestört bis zum Rand mit Keimen vollpumpen kann?“, sagte ich fassungslos.
„Er hatte es nicht auf dich abgesehen. Warum, weiß ich nicht. Ich weiß nur, dass er uns durch die Höhlen gejagt hat. Im Grunde haben wir ihn von dir weggelockt“, sagte Garwenia.
„Wie edel“, bemerkte ich trocken.
„Ich verstehe, dass du sauer bist. Aber sie kennen mich. Sie sind meine Freunde. Für sie hingegen, bist du ein Fremder, wenn auch ein sympathischer Fremder. Hör mal, mir gefällt ihre Entscheidung auch nicht. Ich bin tiefenverseucht, meine Gesundheit ist praktisch vollkommen zerstört. Ich hätte mich gerne geopfert, um dir zu helfen, aber meine Freunde haben anders entschieden. Es mag keine gute Entscheidung gewesen sein, aber sie haben sie getroffen und wir alle müssen nun damit leben“, gab Garwenia zurück.
Die schonungslose Offenheit, mit der sie mir all dies erklärte, war verletzend und entwaffnend zugleich und ich brauchte einen Moment, bis ich wieder darauf reagieren konnte. „Warum habt ihr mich nicht wenigstens mitgenommen?“, fragte ich schließlich.
„Der Bakteroid ist am Höhleneingang aufgetaucht. Hidat, der Mann, der mir die Gesundheit gebracht hat, wollte zurückkehren, um dich zu holen, aber ein Pfeil hat ihn direkt in den Kopf getroffen und sein Nervenzentrum ausgeschaltet. Der Rest von uns… nun, es war das totale Chaos. Schreie, Geschosse, Flüchtende, umherspringender, gefährlicher Wahnsinn aus Metall. Am Ende sind wir einfach nur noch kopflos geflohen.“
„Warum stehst du dann hier so vital vor mir? Du sagtest doch, du bist tiefen…“
„Tiefenverseucht“, ergänzte Garwenia, „Der Bakteroid hat mich gründlich ruiniert. Er hat jegliche Selbstheilungskräfte meines Körpers ausgeschaltet und mein Immunsystem zertrümmert. Ich habe der Umwelt von Hyronanin kaum noch etwas entgegenzusetzen. Der Schluck Gesundheit reichte nicht mal mehr eine Viertelstunde, dann mussten mich die Stärksten von uns tragen, da meine Beine versagten und sich mein Verstand wieder einzutrüben begann. Irgendwann erreichten wir eines unserer anderen Verstecke, wo man mich erneut fiebernd und schwach niederlegte. Kurz darauf begann ich wieder zu Halluzinieren. Stärker als zuvor. Ich sah Personen und Orte, die nicht da waren, vermischte Zukunft, Gegenwart und Vergangenheit und redete eine Menge wirres Zeug, wenn ich nicht gerade von heftigen Würge- und Schüttelkrämpfen geplagt wurde. Das ging viele Tage so und wurde immer schlimmer. Gegen Ende wurde ich auch immer häufiger aggressiv. Hidat habe ich sogar ein Ohr abgebissen, als er nach mir sehen wollte. Wahrscheinlich wäre aus mir längst eine wandelnde Kranke geworden, wenn unsere Späher nicht zufällig einem Gesundheitstransport begegnet wären und ihn um seine Fracht erleichtert hätten. Er hatte nicht sehr viel geladen, aber es reichte, um mich – und einige andere, die wir nicht unterwegs zurücklassen mussten – davon abzuhalten, den Verstand zu verlieren. Aber die Flaschen werden nicht ewig vorhalten und wir wissen, dass uns die Gesunder noch erbarmungsloser jagen werden, nun, wo wir ihren Transporter überfallen haben. Deshalb haben wir uns entschieden uns nicht länger zu verstecken und in die Offensive zu gehen. Wir wussten von unseren Spähern, dass dieser Andrin On…“
„… On-Grarin“, ergänzte ich.
„On-Grarin, genau. Dass er hier in der Portalhöhle eine ganze Menge Gesundheit hortet und wir wussten, wie du dir denken kannst, dass du bei ihm bist. Beides zusammen könnte ausreichen, um mich und die anderen Tiefenverseuchten davor zu bewahren, für immer den Verstand zu verlieren. Wenn du uns tatsächlich in eine andere Welt bringen könntest, in eine Welt, in der die Luft nicht mit Keimen gesättigt ist, könnten wir vielleicht irgendwo ein neues Leben beginnen.“ Bei den letzten Worten wurde ihre Stimme brüchig und schwach. Kurz darauf schloss sie mich so heftig und überraschend in die Arme, dass ich zuerst an einen Angriff dachte. Ihr entzündeter Gestank drang mit Macht in meine Nase und mischte sich mit den verwirrenden, beinah amourösen Gefühlen, die diese Geste der Zuwendung in mir Auslöste. „Hilf uns… Hilf mir…“, hauchte sie zitternd in mein Ohr, „… ich habe diese Schmerzen so satt und ich will nicht… ich will mich nicht auch noch selbst verlieren.“
Die Verzweiflung, die in ihrer Stimme mitschwang, war mehr als ich ertragen konnte. Ich erwiderte ihre Umarmung, während mein schlechtes Gewissen drohte, mich auseinanderzureißen. Mein Zorn war in diesem Moment vergessen. Ich wollte, dass Garwenia ein friedliches Leben führen konnte. Vielleicht in Cestralia oder einer anderen Welt, die wenigstens nicht völlig einem Alptraum gleichkam. Aber das würde nie passieren. Ich hatte sie belogen. Sie und ihre Freunde. Ich mochte ihr Verrat vorwerfen, aber in Wahrheit war ich der größte Verräter von allen.
„Wie rührend“, ertönte mit einem Mal eine zischende Stimme.
Schlagartig löste ich mich von Garwenia und drehte mich um.
„On-Grarin!“, sagte ich erschrocken, „ich habe nur…“
„Ich habe genug gehört. Du brauchst dich gar nicht erst an Ausreden zu versuchen. Andererseits höre ich mir gerne jede Einzelne an, die dir einfällt, während ich nach und nach die Wahrheit aus dir herausschäle. Bei deiner Freundin wurde ja schon ganz gut vorgearbeitet.“ Mit diesen Worten zog On-Grarin irgendetwas aus der Tasche, dass ich nicht genau zuordnen konnte.
„Jiobad!“, schrie Garwenia so laut sie konnte und schoss mit ihrer schwarzen Strahlenkanone auf den Andrin, der sich nicht einmal die Mühe machte auszuweichen. Das Geschoss traf On-Grarin in den Bauch, ohne das dieser auch nur zuckte. Gleichzeitig machte der Andrin ein paar rasche, kompliziert wirkende Bewegungen mit seiner Hand. Ein schnappendes Geräusch ertönte und plötzlich hielt er eine lange, mit Widerhaken versehene, lederne Peitsche in den Händen, die er probeweise auf den Höhlenboden knallen ließ. „Das wird ein Tanz!“, sagte er lachend und führte einen zweiten Schlag, der diesmal direkt auf Garwenia zielte. Ich versuchte noch meine Armwaffe zum Einsatz zu bringen, in der Hoffnung, damit wenigstens die Peitsche zu beschädigen, jedoch war On-Grarins Waffe dazu viel zu schnell. Den noch immer nicht geringen Abstand zwischen ihm und Garwenia ignorierend, raste das Folterinstrument, von dessen Existenz ich vor wenigen Sekunden noch nicht einmal gewusst hatte, auf Garwenias hautlosen Bauch zu und riss ihr in einer blutigen Fontäne gleich mehrere Stücke Fleisch heraus. Die Bravianerin schrie auf und ging in die Knie. „Für meinen Geschmack hast du immer noch zu viel auf den Rippen!“, rief On-Grarin und noch bevor es ihr gelang, wieder aufzustehen, holte On-Grarin erneut aus und riss ihr einen Fetzen Haut und weiteres Fleisch von der linken Schulter.
„Du verdammter Bastard!“, schrie ich und rannte auf den Folterer zu, wobei ich entgegen jeder Vernunft den Kwang Grong durch pure Willenskraft zwang, immer wieder auf On-Grarin zu feuern.
„Soll ich lieber mit dir weiter machen, Pragmatiker?“, fragte On-Grarin, der die Geschosse nach wie vor völlig unbeeindruckt wegsteckte, drehte sich zu mir um und machte eine lässige Bewegung mit seiner Hand. Alles, was ich hörte, war ein Luftzug, bevor ein grausamer Schmerz durch meine Brust fuhr. Einige schreckliche Augenblicke lang dachte ich, dass er meine Lunge getroffen hätte, da der Schmerz schlicht zu groß war, um auch nur ans Atmen zu denken. Noch bevor ich wieder damit anfing, zerriss etwas in meinem rechten Oberschenkel und dann spürte ich einen kalten Luftzug an meiner Wange und hörte ein hohes Pfeifen, bevor mir ein weiterer Peitschenhieb so viel Muskelgewebe von meiner Wange abriss, dass ich fühlen konnte, wie die Außenluft trotz geschlossenen Mund in meinen Rachen drang. Ich brüllte wie von Sinnen, hatte das Gefühl förmlich in Flammen zu stehen und wusste nicht, wie viele dieser Angriffe ich noch überstehen würde, ohne den Verstand zu verlieren. Ich versuchte wegzulaufen, konnte mich aber kaum bewegen.
„Gefällt dir das, Pragmatiker? Schmerz ist eine existenzielle Erfahrung, nicht wahr? Er zeigt uns, dass wir leben. Gerade versucht dein Körper dich mit Drogen vollzupumpen, um ihn dir erträglicher zu machen, aber ich weiß, worauf es ankommt, um das zu verhindern. Meine Peitsche enthält eine Substanz, die diese Botenstoffe blockiert. Keine Drogen für dich, Pragmatiker. Aber keine Angst: Nur noch ein paar Hiebe und du und deine geliebte Bravianerin habt endlich den perfekten Partnerlook.“
On-Grarin mochte gut darin sein, sein Opfer psychologisch zu quälen, aber mich erreichten seine Worte kaum. Es war mir egal, was er sagte, so lange er nur nicht erneut zuschlug. Doch das tat er, wenn auch diesmal so chirurgisch präzise, dass er lediglich einen Streifen Haut von meinem Hals entfernte, was jedoch ausreichte, um meine Nerven in Brand zu stecken.
On-Grarin hatte nicht gelogen: Meine Schmerzen dachten nicht einmal im Ansatz daran nachzulassen. Mein Nervensystem, welches für diese Belastung schlicht nicht ausgelegt war, bombardierte mein Bewusstsein mit einem ungekannten Maximum an Qualen. „Gnade!“, hörte ich mich selbst weinerlich rufen und hasste mich dafür.
Der Andrin reagierte mit einem lauten, gackernden Lachen und einem weiteren Peitschenhieb, der diesmal wieder Garwenia traf. Er hörte meinen Ruf nach Gnade nicht. Aber ein anderer Ruf war gehört worden. Durch das Dauerfeuer meiner Schmerzrezeptoren hörte ich die Schritte dutzender Füße. Ich zwang mich meinen Kopf zu heben und sah wie Branosch, die abtrünnige Gesunderin Antiella, Zindor, der Kannibale aus Dank Qua und sämtliche anderen Rebellen durch den Höhleneingang strömten.
Manche von ihnen waren mit Strahlern bewaffnet, die meisten jedoch mit Speeren, alten Gewehren oder lediglich mit einer Handvoll Steine. Zindor hielt sogar einen großen, angespitzten Oberschenkelknochen in der Hand, was ziemlich bizarr war, da in jedem Knochen in Hyronanin noch das hilflose Bewusstsein seines Besitzers steckte.
„Abschaum!“, zischte On-Grarin knapp. Dann holte er wieder und wieder mit der rätselhaften Peitsche aus, die immer genau die Länge erreichte, die er brauchte. Er traf Branosch am Oberschenkel, riss Antiella einen Teil ihres Gesichtes weg, verursachte eine Blutfontäne an Zindors nackter Brust und hielt auch unter den anderen Rebellen reiche Ernte. Dennoch ließen sich die Rebellen nicht beirren und griffen den Andrin mit allem an, was sie hatten. Steine flogen, Geschosse wurden abgefeuert und auch der ein oder andere Speer traf sein Ziel, ohne jedoch mehr anzurichten als zuvor die Angriffe von mir und Garwenia. Manche von jenen Rebellen, die keine Fernkampfwaffen trugen, versuchten direkt zu On-Grarin zu gelangen, doch der Foltermeister, dessen Reflexe und Bewegungen mir schier überirdisch schienen, ließ keinen von ihnen näher als zehn Meter an sich heran. Mit einer Ausnahme: Der wütende, wilde und wendige Zindor schaffte es tatsächlich den Peitschenhieben zu entgehen und sich bis auf Armlänge an den von der Vielzahl der Angriffe abgelenkten Andrin heranzupirschen. Vielleicht konnte sein seltsamer Knochen aus der Nähe bewirken, was Fernkampfwaffen nicht gelang, dachte ich.
Jedoch kam es nie zu dieser Probe, da die tückische Portalhöhle ausgerechnet in diesem Moment die Macht ihrer Anomalien unter Beweis stellte und den Mann aus Dank Qua erst wie eine Rakete hundert Meter geradewegs in die Höhe katapultierte und ihn dann mit der gleichen Geschwindigkeit und sicher gut vierfacher Schwerkraft wieder auf den Boden knallen ließ, wo er als zerbrochener Haufen Knochen und Gewebematsch liegen blieb. Unrettbar zerstört, aber immer noch voller Bewusstsein. Der Mann mochte ein Kannibale und mehrfacher Mörder sein, aber bei dem Gedanken an ein solches Schicksal, schauderte es mich.
Die restlichen Rebellen verstärkten ihre Anstrengungen – selbst Garwenia, die trotz ihrer schweren Verletzungen wieder ihren Strahler benutzte. Die meisten zielten weiter stumpf auf On-Grarin, in der Hoffnung, dass sein unerklärlicher Schutz irgendwann nachlassen würde, andere versuchten die Peitsche zu zerstören, was aufgrund des dünnen Zieles und der schnellen Bewegungen des Andrin quasi unmöglich war und wieder andere versuchten – ungeachtet des Schicksals des unglücklichen Zindor – in On-Grarins Nähe zu gelangen. Doch obwohl die Rebellen alles an Kraft aus ihren geschwächten, von Krankheit gezeichneten Leibern holten, war es On-Grarin ein Leichtes, sie vor sich herzutreiben. Mit wachsendem Vergnügen verstümmelte er, riss Haut, Fleisch und Augen aus gepeinigten Körpern heraus und verwandelte nicht wenige seiner Gegner nach und nach in entstellte, bewegungsunfähige Ruinen.
Unsere Lage war aussichtslos. Und da ich diese Geschichte hier aufschreibe, liegt es nahe, dass mir – oder jemand anderem – irgendein genialer Ausweg eingefallen ist. Ein Meisterstück taktischer Finesse und intellektueller Brillianz. Aber so war es nicht. Selbst ohne die höllischen Schmerzen, die mich seit On-Grarins Peitschenattacke plagten, bezweifle ich, dass mir irgendein schlauer Plan eingefallen wäre, um das Wüten des blutgeilen Folterers zu stoppen. Doch die Portalhöhle schien ihren Herren ebenfalls nicht zu mögen, denn plötzlich setzte sie mich wie eine Schachfigur direkt in den Rücken des Andrin. Anders als bei der Reise durch die Portalmaschine fand diese seltsame Teleportation nicht langsam, sondern von einem Wimpernschlag auf den nächsten statt. Heute ist mir klar, dass ich mit etwas Pech genau IN On-Grarin hätte landen können – was unser beider Verderben gewesen wäre und uns wahrscheinlich zu einem besonders grotesken siamesischen Zwilling zusammen geschweißt hätte – oder ein Stück zu weit von ihm weg. So aber befand ich mich genau an der richtigen Position, um das zu tun, was mir ein plötzlicher, vollkommen unreflektierter Impuls zu tun vorgab: Ich griff mir die leuchtende Kette an On-Grarins Hals und riss mit aller Kraft daran. Das Glas war warm – nicht richtig heiß, aber doch warm genug, um längeren Kontakt damit vermeiden zu wollen – und es war offenbar zerbrechlich genug, um unter meinem Griff zu reißen. Feine, gläserne Splitter lösten sich von der Bruchkante und das darin eingeschlossene Zerebralgewebe zerriss wie ein zu straff gespanntes Seil. Ein kleiner Rest davon, blieb mit seinem Kopf verbunden und hing lose über seiner Schulter, der Großteil jedoch fiel scheppernd zu Boden und zersplitterte. Weitere Speere, Pfeile und andere Geschosse flogen auf den Andrin zu, und diesmal trafen sie. Das bewies auch ein Speer, der direkt durch On-Grarins Bauch ging und an seinem Rücken austrat, wo er beinah meinen Kopf getroffen hätte.
„Stopp!“, schrie ich, so laut ich mit meiner zerfetzten Wange konnte, „er ist besiegt! Wenn ihr weiter schießt, trefft ihr nur mich!“
Tatsächlich stellten die Rebellen kurz darauf das Feuer ein und zumindest jene, die nicht von allzu heftigen Schmerzen gepeinigt wurden, verfielen in lauten Jubel. Vorsichtig wagte mich aus der Deckung von On-Grarins Rücken und warf einen Blick auf den Andrin. Das höhnische Lächeln auf seinem Gesicht war erloschen und hatte einem stumpfen und desinteressierten Ausdruck Platz gemacht. Die Peitsche, die in den letzten Minuten so viele Qualen ausgelöst hatte, ruhte schlaff in seiner Hand.
„Lebst du noch?“, fragte ich ihn.
„Wie kann ich dienen“, erklang die monotone Antwort und sofort war mir klar, was das bedeutete. Die Kette war nicht nur für seinen rätselhaften Schutz verantwortlich gewesen. Sie hatte auch sein Artian-Re beherbergt und ohne sein dunkles Feuer, war er einmal mehr wesensentkernt. Der Folterer, der Sklavenmeister, der bereits so viele Seelen und Körper zerstört und mich zum vielfachen Täter gemacht hatte, war nun nichts weiter als eine leere Hülle. Und das sollte er bleiben. Einer dunklen Regung folgend riss ich mit einem Ruck die Reste der Kette und der seltsamen Nervenstränge aus seinem Kopf, was bei ihm, außer einem leichten Zucken, kaum eine Reaktion auslöste. Dann warf ich alles auf einen Haufen und zielte mit dem Strahler an meinem Arm darauf, bis von seinem Artian-Re nichts mehr übrig war als schwarze Asche. On-Grarin war Vergangenheit, selbst wenn seine geistlose, graue Hülle noch immer wie eine vergessene Statue herumstand.
„So gefällt er mir besser“, sagte die schwache Stimme von Garwenia. Trotz ihrer Schmerzen lächelte sie.
„Mir auch“, sagte ich und erwiderte dabei ihr Lächeln.
„Danke,“ sagte Branosch, der gerade zu uns stieß und dessen rechtes Bein kaum mehr war als eine Ruine aus Fleisch, Blut und zersplitterten Knochen, „ohne dich wären wir alle geendet wie Zindor. Wir haben schändlich gehandelt, als wir dich zurückließen, auch wenn wir es nicht aus Bosheit taten.“
„So kann man es auch ausdrücken“, antwortete ich gepresst lachend, da mir die anhaltenden Schmerzen das Reden noch immer erschwerten. Das war vielleicht auch der Grund, warum ich ihm nicht zu verstehen gab, dass ich seinen Verrat nicht so einfach vergessen konnte, egal wie altertümlich feierlich seine Entschuldigung auch formuliert war: Ich hatte gerade schlicht keine Kraft für solche Diskussionen. „Jedenfalls war das hier nicht allein mein Verdienst“, gab ich stattdessen zu, „ohne die Hilfe dieser exzentrischen Höhle, wäre ich niemals so nah an ihn rangekommen.“
„Dann warst du vom Schicksal begünstigt“, sagte Antiella, die sich uns nun ebenfalls zusammen mit einigen anderen Rebellen genähert hatte, „aber dennoch warst du weise genug, diese Gunst zu nutzen“. Die Gesunderin hatte als eine der wenigen das Glück gehabt, von On-Grarins Peitschenhieben verschont zu bleiben. Offensichtlich kannte sie sich mit dem Schicksal aus.
„Was geschieht nun mit ihm?“, fragte Garwenia, „sollen wir ihn in kleine Scheibchen hacken? Ich hätte jedenfalls große Lust dazu.“
„Nein, so etwas tun wir nicht“, sagte Antiella, „nicht bei einem besiegten Feind. Wir sind keine wandelnden Kranken und wir sind auch nicht wie die Gesunder.“
„Wir könnten ihn nutzen“, schlug Branosch vor, „er scheint nun sehr gehorsam zu sein und welche Kraft er besitzt, haben wir gerade zu unserem Leidwesen erfahren.“
Erst schien mir Branoschs Vorschlag eine gute Idee zu sein – immerhin konnte es nicht schaden, einen so kräftigen Diener zur Ablenkung und als „Kugelfang“ zu haben – letztlich aber widersprach ich. „Wir haben keine Garantie dafür, dass er nur uns dient. Es ist genauso möglich, dass Ryxah oder einer der anderen Gesunder ihn übernimmt und gegen uns verwendet. Ich weiß ehrlich gesagt nicht so richtig, wie das mit diesen Wesensentkernten funktioniert.“
„Mir erscheint das auch zu riskant“, stimmte mir Antiella zu, „ich weiß nicht allzu viel über Andradonn, aber ich weiß sehr wohl, wozu Ryxah in der Lage ist.“
„Was machen wir dann?“, fragte Branosch, „wenn wir ihn hierlassen, werden Ryxahs Leute ihn direkt aufsammeln.“
„Wir sperren ihn in den Verwahrer“, schlug ich vor, „Dort ist er sicher. In seinem Zustand wird es ihn nicht stören“ Dass On-Grarin mir erzählte hatte, dass man als Wesensentkernter durchaus noch etwas von seiner Umwelt mitbekam, verschwieg ich absichtlich. Sollte der Bastard doch ruhig lebendig begraben bleiben. Von mir aus, bis ans Ende aller Zeit.
„Das ist ein guter Vorschlag“, sagte Garwenia, „aber zunächst sollten wir uns die Gesundheit besorgen. Ich halte diese Schmerzen kaum mehr aus, und ihr wisst, dass ich einiges gewöhnt bin, was das betrifft.“
„Das geht mir nicht viel anders“, ächzte ich, „aber wir müssen danach suchen. Ich habe leider keine Ahnung, wo On-Grarin die Flaschen aufbewahrt. Er hat sie stets in meiner Abwesenheit geholt.“
„Suchen wird nicht nötig sein“, sagte Antiella, „ich weiß, wo sie sich befinden.“ Ihrem Gesichtsausdruck zufolge, war das nichts Gutes, zumal sie keine Anstalten machte, sich zu irgendeinem geheimen Versteck zu begeben.
„Dann hol sie, verdammt!“, schrie Garwenia, als sie offenbar von einer erneuten Schmerzwelle übermannt wurde.
Antiella sah Garwenia abschätzig an. In ihrem Blick mischte sich die die herrische Arroganz der Gesunder mit idealistischem Trotz. „Ich nehme keine Befehle entgegen. Weder von dir, noch von jemand anderem. Ich habe zugestimmt, euch das Versteck zu zeigen, obwohl ich es für Frevel halte, diese Gesundheit zu verwenden, die zuvor anderen gewaltsam entrissen wurde.“ Sie blickte zu mir und schien dabei in meine Seele zu blicken, schien die Schicksale von Ilivia, Xiban, Nalina und all den anderen zu erkennen, die ich geerntet hatte, „und ich habe mich an eurem Angriff auf den Transport beteiligt. Damit habe ich zweimal Xaviris Andenken verraten. Dafür verlange ich, wenigstens mit Respekt behandelt zu werden.“
„Tut mir leid“, sagte Garwenia entschuldigend, „ich wollte nicht… Diese Schmerzen, ich… ich verliere den Verstand.“
Schließlich setzte sich Antiella doch in Bewegung, ging zu einer Stelle an der Wand, etwas Abseits von den Verwahrern und zauberte mit einer Folge verwirrender Bewegungen ihrer siebenfingrigen Hand eine Schublade aus der Wand hervor, in der sicher einhundert oder mehr der kleinen Pyramidenflaschen in übereinander angeordneten, schwarzen Rahmen ruhten.
„Bedient euch“, sagte sie knapp, „aber nehmt nur so viel, wie ihr wirklich braucht.“
Tatsächlich stürzten sich Garwenia, Branosch, die anderen Rebellen und auch ich regelrecht auf den unschätzbar kostbaren Vorrat an Flaschen, die es glücklicherweise sogar fertigbrachten, die chronischen Schmerzen verschwinden zu lassen, die On-Grarins Peitsche verursacht hatte. Auch meine Verletzungen und selbst Garwenias Wunden regenerierten sich zum Teil, wenn auch längst nicht im gleichen Maße, wie bei mir und den anderen. Jene, die sich nicht mehr, oder nur noch unter größten Qualen bewegen konnten, wurden von ihren Brüdern und Schwestern mit Gesundheit versorgt und erfuhren wundersame, wenn auch leider temporärer, Genesungen. Lediglich Zindor blieb von diesen Segnungen verschont, da sein Körper zu zerstört war, um noch einen Mund oder eine andere Öffnung ausfindig machen zu können. Antiella beobachtete den gierigen Gebrauch der Fläschchen, deren nicht benötigter Vorrat bis zur letzten Flasche in Lumpen, alte Stoffbeuteln, Hosentaschen oder in der bloßen Hand verstaut wurde, mit deutlicher Missbilligung, verzichtete aber auf einen Kommentar.
„Was ist mit den armen Wesen in den Verwahrern, befreien wir sie auch?“, fragte Garwenia und ich wunderte mich, dass ich selbst nicht auf diesen Gedanken gekommen war.
Antiella dachte einen Moment nach, bevor sie antworte. „Viele von ihnen sind schon Jahre oder gar Jahrhunderte da drin. Ihr Verstand ist vollkommen zerrüttet, selbst wenn wir ihre Körper wiederherstellen könnten, hätten sie nichts von ihrer wiedergewonnenen Freiheit. Die Glücklicheren unter ihnen haben sich längst in ihre eigene Traumwelt geflüchtet. Wenn wir sie so plötzlich da rausholen, könnte alles geschehen. Vielleicht laufen sie Amok oder sie versuchen sich selbst in Stücke zu reißen. In jedem Fall aber, würden wir ihr Leid nur vergrößern, zumal ihre Körper nach so langer Zeit wahrscheinlich selbst mit Gesundheit nicht wiederhergestellt werden könnten. Bei denen, die weniger als sechs Monate dort drin sind, können wir es aber versuchen. Ich werde die entsprechenden Schubladen öffnen. Ihr könnt ihnen dann – wenn unbedingt nötig – Gesundheit einflößen und jene, die euch noch klar genug im Kopf erscheinen, befreien.“
So geschah es. Nach und nach öffnete Antiella die Schubladen ausgewählter Verwahrer und förderte Personen in unterschiedlichsten Verfassungen zutage. Einige von ihnen waren Menschen, bei anderen handelte es sich um Bravianer, Echsenwesen, Vogelartige, Cestral (was mich schmerzhaft an das Schicksal von Ilivia und den anderen erinnerte) und viele weitere Wesen, deren Herkunft und Form mir nach wie vor unbekannt ist. Sogar ein Andrin war unter ihnen, den wir aber sofort wieder hineinschoben, obwohl er ein genauso bemitleidenswertes Bild bot, wie die anderen Gefangenen. Wir kamen jedoch überein, dass von ihm eine zu große Gefahr ausging und man ihm nicht trauen könnte.
Noch heute Frage ich mich, ob wir richtig gehandelt haben. On-Grarin hatte zwar selbst gesagt, dass die Andrin von Natur aus böse waren, aber auch uns Menschen war es ja durchaus möglich, gegen unsere Natur zu handeln. Mir widerstrebt die Vorstellung, dass das moralische Verhalten eines Individuums sich allein durch seine Geburt bestimmt zutiefst, und ich habe im Laufe meiner Reisen noch einige Beispiele kennenlernen dürfen, die in mir diese Überzeugung gestärkt haben. Damals aber habe ich nicht allzu lautstark protestiert und so verschwand der Andrin wieder im dunklen Bauch des Verwahrers, zusammen mit einigen anderen, die trotz ihres verhältnismäßig „kurzen“ Aufenthalts in dem grausamen Gefängnis so aggressiv und verrückt geworden waren, dass sie sofort versuchten uns anzugreifen, als sie uns erblickten. Die meisten Gefangenen jedoch, wurden mit Gesundheit wieder aufgepäppelt und von den Rebellen so schonend wie möglich über die Lage aufgeklärt. Manche zeigten sich dankbar, euphorisch, weinten vor Freunde und schlossen sich den Rebellen sofort an, andere waren aber zu verwirrt, desorientiert oder depressiv, um eine solche Entscheidung zu treffen. Diesen gab man eine Flasche Gesundheit und versprach ihnen, später wieder nach ihnen zu sehen, wenn sie bis dahin in der Portalhöhle blieben. Bis dahin würde von ihrer neu gewonnenen Gesundheit nicht mehr viel übrig sein, dachte ich bitter.
Die Menschen, die wir befreiten, sprachen oft Sprachen, die ich trotz meiner recht breiten Sprachkenntnisse nicht beherrschte. So war unter ihnen etwa ein männlicher Aborigine, eine schlanke Frau mit mongolischem Aussehen und ein breit gebauter Mann mit schütterem Haar, den ich von seiner Sprache her als Russe oder Weißrusse einschätze. Andere Gefangene, die Deutsch, Englisch, Französisch, Schwedisch, Spanisch oder eine der anderen sprachen Sprachen, die ich mehr oder weniger beherrschte, waren nicht in der Lage ein sinnvolles Gespräch zu führen, sondern gaben eher verwirrende, unzusammenhängende Sätze von sich, von denen: „Hinter den Schleiern erblühen die Verlorenen. Ich will dort nicht wachsen. Kein staubiges Blut mehr. Kein kriechendes Serum mehr!“, „Ihre Münder berührten mich von Innen. Sie saugen und schmatzen. Es brennt so sehr!“ und „Das Morgen kann nicht sein. Es darf nicht sein, Mutter. Nein! Die Zukunft erzürnt sie, lässt sie toben, weckt den Wunsch zu fressen. Sie wollen nur diese Stunde. NUR DIESE EINE STUNDE! WIEDER UND WIEDER!“ noch die Vernünftigsten waren. Lediglich eine ältere, dunkelhäutige Amerikanerin führte ein kurzes, freundliches Gespräch mit mir, brach es dann aber wieder ab, da sie nach dieser langen Zeit der Isolation offensichtlich Schwierigkeiten hatte, sich länger auf eine Sache zu konzentrieren.
Nachdem die Frau mit dem Namen Sarah mich verlassen hatte, fiel mein Blick wieder auf On-Grarin, den wir nach wie vor nicht wie geplant in den Verwahrer gesperrt hatten, da die Befreiung der Gefangenen Vorrang gehabt hatte. Dabei bemerkte ich, dass seine seltsame Peitsche wieder verschwunden war. Seine rechte Hand, in der sich das verheerende Folterinstrument befunden hatte, war noch immer um einen imaginären Griff gekrümmt, da der Andrin sich seit seiner erneuten Wesensentkernung nicht vom Fleck bewegt hatte. Ich suchte in meinem Herzen nach irgendeiner Form von Mitleid für sein Schicksal, konnte aber nichts dergleichen finden. Stattdessen interessierte ich mich für den Verbleib der Peitsche. Kurz versicherte ich mich, dass mich keiner der anderen allzu aufmerksam beobachtete, dann ging ich auf On-Grarin zu, bog seine Finger ohne Widerstand auseinander und entdeckte in seiner Handfläche eine etwa Zwei-Euro-Stück-große, metallene, schwarze Scheibe mit einem dunkelroten Edelstein darin. Das musste der Gegenstand sein, in den sich die Peitsche zurückverwandelt hatte. Der Rand der Scheibe war nicht glatt, sondern von unregelmäßig angebrachten, verschieden großen Zacken gesäumt. Vorsichtig entfernte ich die Scheibe aus seiner Hand, wobei ich darauf achtete, die Zacken nicht zu berühren und brachte seine Finger dann wieder in ihre ursprüngliche Position. Prüfend fuhr ich mit Daumen über die Zacken, bemerkte aber, dass sie nicht scharf, sondern offenbar sorgfältig rundgeschliffen waren. So tödlich die Peitsche in ihrer aktivierten Form auch war, so harmlos schien sie jetzt zu sein. Ich wusste nicht genau, wie ich den Mechanismus auslösen konnte (auch wenn der rote Stein natürlich als Auslöser nahelag), aber obwohl der Besitz dieser schrecklichen Waffe ein kaltes Schaudern in mir hervorrief, ahnte ich doch, dass sie nützlich sein wurde. Sorgsam verstaute ich sie in der Tasche meiner silbernen Hose.
„Unglaublich, wie viel Leid dieser Mann verursachen konnte“, sagte Garwenia, die plötzlich neben mir erschien. Sie sah gut aus. Noch immer fehlten große Teile ihrer Haut, aber ihre Entzündungen waren zurückgegangen und die tiefen Verletzungen, die On-Grarin geschlagen hatte, waren ebenfalls gänzlich verschwunden.
„Das stimmt“, sagte ich zu ihr, „ich frage mich, was wohl aus seiner Waffe geworden ist“ Die Lüge kam erstaunlich glatt über meinen Lippen und sorgte für ein Stirnrunzeln auf Garwenias Gesicht.
„Tatsächlich, sie ist weg“, bemerkte sie erstaunt und blickte neugierig in seine leere Hand und auf den eben so leeren Boden unter ihm, „vielleicht… vielleicht hat er sie allein durch Gedankenkraft materialisiert, auch wenn so etwas nicht gerade leicht ist. Es gibt ein paar Bravianer, die Ähnliches beherrschen – die meisten von ihnen sind Kwang Grong-Symbionten -, aber von einem Andrin ist mir so etwas nicht bekannt. Andererseits kenne ich mich auch nicht so gut mit ihrer Kultur und ihren Fähigkeiten aus.“
„Was plant ihr nun?“, fragte ich sie, schon allein, um von dem Thema abzulenken. Irgendwie wollte ich nicht, dass sie erfuhr, dass ich mir die Peitsche angeeignet hatte.
„Im Grunde das, was wir schon geplant hatten, bevor wir dich im Stützpunkt zurücklassen mussten: Wir wollen gemeinsam mit dir zu diesem Keimpfuhl, deinen Katalog dort rausholen und dann gemeinsam in eine Welt reisen, in der es besser ist als hier, was meiner Meinung nach nicht schwer sein sollte“, antwortete Garwenia.
„Ihr kennt den Weg?“, fragte ich.
„Natürlich“, sagte Garwenia schnippisch, „wahrscheinlich haben dir die Schmerzen das Gehirn vernebelt, ansonsten würdest du vielleicht noch wissen, dass Arschena sich an den Weg dorthin erinnern konnte. Das war keine Lüge.“
„Umso besser. Von Lügen habe ich genug“, antwortete ich mit größter, aber wie ich zu meiner eigenen Überraschung feststellen musste, gespielter Strenge, bevor meine Gesichtszüge bereits nach wenigen Sekunden in ein verschmitztes Lachen entgleisten. Ich mochte diese Frau am Ende einfach doch zu sehr. Leider. Um wie vieles leichter wären mir die nächsten Stunden gefallen, wenn es nicht so gewesen wäre.
~o~
Bereits wenige Minuten später brachen wir auf. Arschena führte unsere Gruppe gemeinsam mit Branosch an, da sie allein den Weg kannte. Direkt dahinter folgten Garwenia und ich, sowie Antiella und die anderen Rebellen. Die neu hinzugestoßenen ehemaligen Gefangenen aus den Verwahrern bildeten die Nachhut.
Laut Arschena sollten wir den Keimpfuhl in zwei, oder höchstens drei Stunden erreicht haben, als die faltige Bravianerin mit den glasigen Augen jedoch immer öfter an Weggabelungen stehen blieb, prüfend in beide Richtungen sah und einmal sogar offen zugab, dass wir die falsche Abzweigung genommen hatten, bekam ich da so meine Zweifel.
Anfangs hörte ich immer wieder einige der Rebellen fröhlich, fast schon euphorisch miteinander reden. Zwar verstand ich sie zumeist nicht, da sie nicht meine Sprache benutzten, aber Garwenia erklärte mir, dass sich die meisten dieser Gespräche um die neue, unbekannte Heimat drehten, die sie schon in Kürze betreten würden, was mir einen heftigen Stich in den Magen versetzte. Zum Glück schaffte ich es aber, mir nichts anmerken zu lassen.
Diese anfangs so gelassene Stimmung, wandelte sich aber schon bald, als die ersten Zwischenfälle kamen. Zwar hatten wir vorerst das Glück weder den Gesundern, noch einem ihrer Diener zu begegnen jedoch barg Hyronanin genügend andere Gefahren. In einem engen Gang, der zwar extrem hoch, aber gerade einmal breit genug war, um einer Person nach der anderen Durchlass zu gewähren, holten sich siechende Flechten, deren Wurzeln sich hoch oben an der unsichtbaren Decke befinden mussten, ein halbes Dutzend von uns, bevor wir endlich wieder eine offene Höhle erreichen. Auch mich hätte es beinah erwischt, wenn ich die Flechte nicht durch konzentriertes Feuer aus meinem Arm davon hätte überzeugen können, lieber die „Finger“ von mir zu lassen. Ich hatte zwar keine Ahnung, warum der so lange widerspenstige Kwang Grong inzwischen so problemlos mit mir kooperierte, aber ich war ungemein dankbar dafür.
Der Wert dieses Verbündeten zeigte sich einmal mehr, als wir auf eine große Gruppe vollkommen degenerierter, wandelnder Kranker trafen, die damit angefangen hatte Haufen und sogar regelrechte Skulpturen und Altäre aus den noch lebenden Gliedmaßen Organen und Köpfen jener Unglücklichen zu errichten, die zuvor schon ihren Weg gekreuzt hatten und die sogar zu ihren perversen Schöpfungen sprachen und sie anbeteten, als handle es sich um leibhaftige Götter. Unsere Truppe war zwar deutlich gesünder als diese Wilden, aber auch drei zu eins in der Unterzahl und ohne die schwarzen Schattenstrahlen, die sowohl ich als auch Garwenia der Meute entgegenspuckten, hätten sicher noch mehr als vier von uns einen Arm oder ein Bein verloren.
Trotzdem nagten derartige Vorfälle so sehr an der Geduld und den Nerven der Rebellen, dass aus den angeregten Gesprächen sehr schnell bleiernes Schweigen wurde. Diese Stille war so mächtig und zwingend, dass Garwenia mir praktisch ins Ohr flüsterte, als sie sich entschied, mich nun doch auf meine Zeit bei On-Grarin anzusprechen.
„Wie viele Welten hast du besucht?“, fragte sie mich.
„Du meinst, bevor ich hierherkam?“, fragte ich zurück, da ich mir nicht sicher war, worauf sie sich bezog.
„Nein, ich meine in der Portalhöhle“, erklärte sie.
Ich dachte nach und versuchte ernsthaft aus diesem rauschhaften Strom aus Erinnerungen irgendeine Zahl herauszudestillieren, scheiterte aber letztlich. „Ich weiß es nicht“, gab ich schließlich zu, „aber es werden viele gewesen sein.“
Garwenia sah mich mitleidig an. „Wie kommst du damit klar?“, fragte sie. In ihren Worten lag auch ein wenig Verurteilung. Aber nicht viel. Sie ist verliebt in mich, dachte ich nüchtern. Nicht ganz, aber beinah. Deshalb verzeiht sie vieles.
Das war eine gute Frage. Ehrlich gesagt kam ich viel zu gut damit klar. Damals, als ich noch bei meinen Eltern gewohnt hatte, hatte es schon fast zu einer posttraumatischen Belastungsstörung gereicht, wenn ich eine Mücke getötet oder versehentlich einen Käfer zertreten hatte. Wenn ich mal aus dem Affekt heraus meiner Mutter, meinem Vater oder einem Mitschüler ein böses Wort an den Kopf geworfen hatte, hatte mich das praktisch in eine tiefe Sinnkrise gestürzt. Nun jedoch hatte ich dutzende von Menschen und anderen Wesen Leuten ausgeliefert, gegen die die übelsten Menschenhändler aus meiner Welt noch freundliche Humanisten waren und spürte… fast gar nichts. Natürlich, wenn ich an Ilivia oder Xidan dachte – was ich nur selten tat – war es anders. Dann tat es weh, dann schämte ich mich. Womöglich lag es daran, dass sie meine ersten gewesen waren, oder dass ich den Fehler gemacht hatte, mich emotional auf sie einzulassen. Bei meinen anderen Missionen habe ich instinktiv versucht, das zu vermeiden. Ich habe mich lediglich als Werkzeug gesehen, als Marionette, die keine Wahl hatte, außer vielleicht noch, wie gut sie die Aufgabe erledigte, die ihr zugedacht war. Und was hätte ich auch anderes tun können? Welche Wahl hatte ich denn gehabt? Was bringt es verflucht nochmal, sich selbst zu zerfleischen, wenn man doch einfach nur leben will?! Ich wollte, ich MUSSTE leben. Weitere Welten sehen, meine Fußspuren in unbekannten Böden hinterlassen, die Luft atmen, die von fremden Winden in meine Lungen getrieben wurde. ICH HATTE DAS VERDAMMTE RECHT DAZU!!!
„Was ist los?“, fragte Garwenia. Offenbar war mein innerlicher Wutausbruch nicht spurlos an meinem Gesicht vorübergegangen, „alles in Ordnung mit dir?“
„Ja“, druckste ich herum, „alles in Ordnung. Es ist nur… es war nicht leicht, aber letztlich… letztlich muss ich damit klarkommen. Es… man muss nur weitermachen. Einfach weitergehen, einfach nur einen Fuß vor den anderen setzen, nicht wahr? Einen Fuß vor den anderen!“
Garwenia sah mich zweifelnd an, legte dann aber tröstend ihre Hand auf meine Schulter. „Es wird besser werden mit der Zeit“, sagte sie sanft, „ich mache dir keinen Vorwurf und wenn wir erst zusammen in einer neuen Welt sind, wirst auch du deinen Frieden damit machen können. Vielleicht bleibst du ja sogar eine Weile bei uns, bevor du weiterziehst. Falls du dann noch weiterziehen willst.“
Sie lächelte spitzbübisch und ich lächelte ein wächsernes Abbild dieses Lächelns zurück, während ich dem Ratschlag meiner eigenen, wirren Worte folgte und tatsächlich einfach nur einen Fuß vor den anderen setzte. Das war immerhin besser als zurückzuschauen, wo sich immer wieder ein schlankes Messer in das halbtransparente Fleisch einer unschuldigen Frau bohrte, oder in die Zukunft, wo sich ebenfalls ein Weg abzeichnete, der alles andere als gerade war.
Garwenia versuchte noch einige Male ein Gespräch mit mir zu beginnen, aber ich wies sie immer wieder mehr oder weniger freundlich ab und verwies darauf, dass ich nachdenken musste. Allerdings war das eine glatte Lüge, denn in Wahrheit versuchte ich meinen Gedanken zu entfliehen, wie einem Rudel hungriger Raubtiere. Ich konzentrierte mich aufs Atmen, Riechen, Schmecken, Hören, Sehen und Laufen, aber das Denken vermied ich, so gut es nur ging. Und deshalb weiß ich auch nicht mit Sicherheit, wie lange es dauerte, bis ich Arschenas aufgeregte Ruf hörte.
„Dort hinten ist er!“
Mit dem Gedanken endlich meinen geliebten (und gehassten) Katalog zurückzubekommen, all dem hier zu entfliehen, in der Hoffnung, dass die nächste Welt besser sein würde als diese, erwachte ich aus meinem gedankenlosen, tranceartigen Zustand und schloss sofort wieder zu Arschena auf.
Der See, der sich nur etwa zwanzig Meter vor uns erstreckte, entsprach ganz und gar nicht dem, was ich mir unter einem „Keimpfuhl“ vorgestellt hatte. Es war kein schlammiger, schleimiger, stinkender grünbrauner Tümpel, der die Pestilenz förmlich ausatmete, sondern ein kristallklarer, sauber wirkender See, der mich bis hinab auf seinen felsigen Grund sehen ließ. Dieser Umstand jedoch, ließ ihn mir noch viel gefährlicher erscheinen, denn es war klar, dass dieser Frieden täuschen musste. Dieses Empfinden von Gefahr wurde jedoch überstrahlt vom Anblick meines Rucksacks, der Mitten auf dem Grund des kleinen, unterirdischen Sees ruhte. Wer auch immer ihn dort herausholen wollte, würde tauchen müssen.
„Geh ich recht in der Annahme, dass es keine gute Idee ist, dort einfach hineinzuspringen?“, fragte ich Arschena, die neben mir stand.
„Ich weiß nicht viel über den See. Nur, dass er sehr gefährlich sein soll. Ich würde mich dort nicht einfach reinstürzen“, erwiderte die alte Frau.
Na, wunderbar, dachte ich. „Hat jemand von euch vielleicht eine Waffe, die lang genug ist, um den Rucksack herauszuholen?“, schlug ich vor und wandte mich an die Menge der Rebellen hinter mir.
„Vielleicht ich“, meldete sich ein dunkelhäutiger Mann mit einem leicht fischartigen Aussehen, der tatsächlich einen langen Speer (oder wie auch immer man so etwas nannte) mit einem gläsernen Haken daran, sein eigen nannte, den er demonstrativ in die Höhe reckte, „ich kann auch gern versuchen den Rucksack herauszufischen. Wasser liegt mir von Natur aus“, sagte er lachend, auch wenn etwas an seiner Stimme verriet, dass er in Wahrheit große Angst vor diesem harmlos wirkenden See hatte.
„In Ordnung“, sagte ich zufrieden, da ich mir durchaus vorstellen konnte, dass die Waffe des Unbekannten für diesen Zweck geeignet sein würde, erst recht in Verbindungen mit seinen gewaltigen Armen, die fast so lang wie seine muskulösen Beine waren.
„Bist du dir sicher, dass du das versuchen willst?“, fragte Branosch, dessen bärtiges Gesicht eindeutig Sorge ausdrückte.
Der Mann wechselte einen kurzen Blick mit Branosch und zögerte einige Sekunden, bevor er letztlich antwortete. „Ja, ich mache das. Sollte ja auch nicht schwerer sein, als gegen Wandelnde Kranke zu kämpfen“, er sprach mit geradezu angeberischer Selbstsicherheit, allerdings vermutete ich, dass er vor allem befürchtete sein Gesicht zu verlieren. Womöglich stammte er aus einer Welt, in der Ehre eine sehr große Rolle spielte.
Während also alle gebannt die Augen auf den – zumindest für mich – namenlosen Krieger richteten, bewegte dieser sich langsam und vorsichtig auf den nahen Keimpfuhl zu. Erst kurz vor dessen Ufer blieb er stehen. Sein Atem ging schnell, auch wenn man ihm ansah, dass er sich seine Nervosität nicht anmerken lassen wollte. Er brachte seine Füße in eine Position, die ihm den sichersten Stand versprach und tauchte die Spitze seines Speers ins Wasser.
Nichts geschah. Weder löste der Speer sich auf, noch kroch irgendein aggressiver, gefährlicher Schleim an ihm hoch, um zum Arm des Kriegers zu gelangen. Dadurch ermutigt, tauchte der Mann den Speer tiefer in den Pfuhl und noch tiefer, bis er die Waffe fast nur noch ganz am Ende festhielt. „Mist! Ich kann ihn beinah erreichen“, sagte er frustriert, ging noch ein Stückchen näher an das gefährliche Wasser heran und begann, sich nach vorne zu beugen.
„Warte, wir versuchen etwas anderes“, rief Branosch noch, aber da war es bereits zu spät.
In seinem Bemühen an den Rucksack zu gelangen verlagerte der Fischmann seinen Schwerpunkt zu weit nach vorne. Zwar gelang es ihm durch eine unglaublich schnelle, reflexhafte Bewegung zu verhindern, dass er Mitten in den Keimpfuhl hineinstürzte, jedoch musste er, um das zu schaffen, seinen rechten Fuß ein kleines Stück weiter nach vorne setzen. Sofort schrie der Mann auf. Er kippte nach hinten auf den steinernen Boden und so sahen wir alle, warum er schrie. Sein nackter, abgesehen von feinen Schwimmhäuten zwischen seinen Zehen, überwiegend humanoider Fuß veränderte sich in rasender Geschwindigkeit. Dicke, hornige Warzen erschienen darauf, die sich zu kleinen, wurmartigen Türmen aufschichteten, feuchte, pralle, schwarze Geschwüre bildeten sich, zerplatzten und entwickelten sich neu, während sein Fuß jegliche Form verlor und zu einer schleimigen, amorphen Maße zerfloss, die sich langsam, aber sicher an seinem Bein hocharbeitete. Trotz seiner Schmerzen versuchte der schreiende Mann vom Keimpfuhl wegzukriechen und schaffte es auch, seinen Fuß aus dem „Wasser“ zu bekommen, was aber keinerlei Effekt auf seinen Gesundheitszustand hatte.
Garwenia reagierte schnell. Sie riss einem verdutzten Echsenmenschen neben sich sein scharf aussehendes, schwarzes Schwert aus der Hand, rannte zu dem schreienden Mann, hieb dem befallenen Krieger mit einem kräftigen Hieb das Bein kurz unterhalb des Knies ab und zog ihn von dem verseuchten, abgeschlagenen Körperteil weg. Der Mann brüllte wie am Spieß und schleuderte Garwenia übelste Beleidigungen entgegen, während das abgetrennte Bein sich binnen weniger Sekunden endgültig in eine hässliche, warzige Masse verwandelte. Doch noch etwas Seltsames geschah. Aus dem Stumpf, der eigentlich heftig bluten sollte, sickerte nicht einmal das kleinste bisschen Blut. Stattdessen begannen sich nun auch dort schwarze Warzen und Blasen zu bilden, obwohl Garwenia ein gutes Stück scheinbar gesunden Gewebes zusammen mit dem infizierten Fuß abgeschnitten hatte.
„Wydranoook!“, rief Garwenia, doch noch bevor sie etwas tun konnte, tauchte Antiella neben ihr auf, zwang dem Krieger die Lippen auseinander und schüttete eine ganze Flasche Gesundheit in seinen Mund.
Einen Moment lang hielten alle den Atem an. Dann begann das verseuchte Gewebe sich zurückzuziehen und hinterließ einen sauberen, verheilten Stumpf.
„Mein Bein! Wie soll ich ohne mein Bein hier zurechtkommen!“, beschwerte sich der Fischmann, beeilte sich aber ein knappes „Danke“ hinzuzufügen, als er in Antiellas tadelndes Gesicht sah.
„Ich denke, deinen Katalog können wir abschreiben“, sagte Garwenia resigniert, während sie dem verstümmelten Mann half, sich so weit wie möglich vom Pfuhl zu entfernen. Das kranke Bein, welches inzwischen nur noch einer grotesken, schwarzen Wurst ähnelte und das unablässig neue Beulen und Warzen ausbildete, ließ sie, wo es war.
„Nicht unbedingt“, sagte Branosch nachdenklich, woraufhin sich alle Blicke auf ihn richteten.
„Wie meist du das?“, fragte ich.
„Nun, offenbar hilft es, sich genug Gesundheit zuzuführen, um dem infektiösen Effekt des Pfuhls zu entgehen. Wenn ich genug Flaschen Gesundheit mit mir führe, könnte ich zum Grund des Sees tauchen und…“
„Hast du den Verstand verloren?!“, schrie Garwenia, „Du kannst unmöglich in das da hineintauchen. Das ist vollkommener Wahnsinn.“
„Es ist lieb von dir, dass du dich um mich sorgst, Garwenia. Aber willst du wirklich die Chance ungenutzt lassen, aus dieser Hölle zu entfliehen?“, erwiderte Branosch.
„Nein“, sagte Garwenia, „das will ich nicht. Aber es muss eine andere Lösung geben.“
„Welche denn?“, fragte Branosch, „Niemand von uns hat so lange Arme und eine so große Waffe wie Jyod und er kann ohne sein Bein keinen zweiten Versuch mehr unternehmen. Jemand muss hineintauchen.“
„Vielleicht“, fügte sich Garwenia widerwillig seiner Logik, „aber nicht du. Ich werde gehen!“
Branosch schüttelt heftig den Kopf „Ich bin gesünder als du. Meine Haut ist noch intakt. Alles, was ich brauche, sind ein paar mehr Flaschen Gesundheit.“
Ebendiese Flaschen besorgte er sich bei den anderen Rebellen und befestigte sie an einem exotischen Spinnenhautgürtel, den einer der Personen aus dem Verwahrer – ein dicker, fleischiger Mann mit einer vorgewölbten Stirn und gelblicher Haut – ihm überließ. Der Gürtel hatte offenbar die wunderbare Eigenschaft, dass Gegenstände, die man daran befestigte, ganz von selbst an ihm festhielten, bis man sie absichtlich davon entfernte. So ausgerüstet begab sich Branosch an den Rand des Sees, setzte eine weitere der kleinen Pyramidenflaschen an seine Lippen, leerte sie und machte sich bereit hineinzuspringen.
„Bitte! Halte ihn davon ab!“, flehte Garwenia mich an, so als würde es in meiner Macht liegen Branosch von irgendetwas abzuhalten. Ich schwieg und fing mir einen bösen Blick von Garwenia ein.
Branosch hingegen sprang kurzerhand in den Keimpfuhl und dank des zwar infektiösen, aber kristallklaren Wassers sahen wir alle, wie sein gesamter Körper begann Blasen zu schlagen, er eine weitere Flasche leerte und dieser Kreislauf von neuem begann. Trotz dieser anstrengenden Fortbewegungsweise schaffte er es bis hinunter auf den Grund, schlang sich einen der Tragegurte des Rucksacks über seinen Arm und schwamm sofort wieder auf die Oberfläche zu, während er mit von Geschwüren bedeckten Fingern eine weitere Flasche aus dem Gürtel zog…
… und ihm die Flasche aus der Hand rutschte.
„Nein!!!!“, brüllte Garwenia und versuchte zu Branosch zu gelangen, aber ich hielt sie fest, „bleib hier, Garwenia! Du kannst ihm nicht helfen.“
Garwenia sah mich trotzig an, blieb aber dennoch stehen, als ihr Verstand begriff, dass ich recht hatte.
Die Geschwüre breiteten sich nun explosionsartig über Branoschs Körper aus. Verzweifelt versuchte er eine andere Flasche aus seinem Gürtel zu ziehen, was ihm jedoch mit seinen von Geschwüren und Schorf verkrusteten Händen, die inzwischen an klobige Krebsscheren erinnerten, nicht gelang. Manch anderer hätte sich jetzt einfach kopfloser Panik ergeben, aber der Rebellenführer war aus einem anderen Holz geschnitzt. Mit letzter Kraft wuchtete er den Riemen des Rucksacks mit seinen beiden unförmigen Händen von seiner Schulter und schleuderte ihn an Land, bevor er kraftlos und kaum mehr als humanoides Wesen erkennbar auf den Boden sank.
Ein paar Sekunden herrschte fassungslose Stille. Dann stimmten die Rebellen einen tiefen, brummigen Gesang an, in den auch Garwenia einstimmte und der aus so vielen unterschiedlichen Kehlen etwas zutiefst Bewegendes hatte. Kurz musste ich an die Mentravia denken. Das hier war zwar nicht ganz so intensiv, aber auf irgendeine seltsame Weise ähnlich.
„War das ein Trauerlied?“, fragte ich, nachdem der letzte Ton der fremdartigen Melodie verklungen war.
„Ja“, sagte Garwenia und nickte mit belegter Stimme.
„Ich dachte, in Hyronanin kann niemand sterben“, erwiderte ich.
Garwenia sah mich an, als hätte ich ihr ins Gesicht geschlagen. Ihr Mund zitterte, ihre Augen waren wie zerbrochenes Glas, „er ist nicht tot“, sagte sie, „aber er ist unrettbar verloren. Das ist viel schlimmer.“
„Bei Zindor habt ihr auch nicht gesungen“, wandte ich ein.
„Zindor ist ein Arschloch gewesen. Er ist unser Verbündeter gewesen, ja, aber niemand hat ihn wirklich gemocht. Er war nicht unser Anführer. Er war nicht derjenige, der uns allen neuen Mut und ein Ziel gegeben hatte, als wir schon kurz davor waren, den Verstand zu verlieren. Er war nicht mein bester Freund!!“, die letzten Worte schrie sie und heiße Tränen liefen über ihr Gesicht. Ich spürte das Verlangen sie zu trösten, aber ein anderes Verlangen war viel stärker. Ich dachte an den Rucksack, der nun am Ufer des Keimpfuhls auf mich wartete und der das Tor zu neuen, wundersamen (wenn auch womöglich schrecklichen) Welten barg und ging fast automatisch darauf zu. Das Fernweh, welches ich so lange hatte in Zaum halten müssen und das durch die Kurztrips über die Portalmaschine nur unzureichend befriedigt worden war, kehrte mit Macht zurück und erfüllte mein ganzes Sein mit einem rauschhaften, aufregenden Kribbeln. Ehrfurchtsvoll kniete ich vor dem alten, mitgenommenen Rucksack nieder. In meiner wilden Gier wollte ich sofort danach greifen, erinnerte mich aber dann doch an die Gefahren, die von dem Wasser ausgingen, welches noch immer daran klebte. Kurzerhand riss ich ein großes Stück vom linken Ärmel meines Patientenkittels ab, wickelte den Stoff mehrfach um meine Hand – wozu ich mangels einer zweiten Hand meine Zähne benutzte – und zog den Reißverschluss des klitschnassen Rucksacks auf. Als ich den Katalog im Inneren entdeckte, kamen mir die Tränen. So lange, so unendlich lange hatte ich ihn nicht mehr angefasst, hatte nicht mehr darin geblättert und die kostbaren, dünnen Seiten gestreichelt. Allein beim Gedanken daran, dass dieses wertvolle Kleinod als matschiger Papierklumpen im infektiösen Wasser treiben könnte, wurde mir schlecht. Doch zum Glück hatte Ryxah einen solchen Frevel verhindert. Stattdessen war der Katalog wie versprochen sorgfältig in eine durchsichtige, an Plastik erinnernde Folie eingeschweißt worden. Behutsam nahm ich ihn heraus und legte ihn auf den Boden.
Sicherheitshalber nahm ich einen kräftigen Schluck von einer Flasche Gesundheit, riss die Folie vorsichtig mit dem Tuch auseinander, wobei ich darauf achtete, dass der Katalog nicht mit der besudelten Außenseite in Kontakt kam und brachte letztlich jenes kostbare Artefakt wieder in meinen Besitz.
„Wie funktioniert er?“, fragte Garwenia, die sich anscheinend wieder einigermaßen gefangen hatte, auch wenn ihr noch immer ihre Trauer um Branosch anzumerken war, „müssen wir direkt in deiner Nähe sein, oder reicht es, dass wir uns im selben Raum befinden?“
„Das wird reichen“, sagte ich abwesend und ohne aufzublicken, während ich prüfend im Katalog blätterte und mich genussvoll zur nächsten, unbekannten, schwarzen Seite vorarbeitete.
Plötzlich erklang ein Schmerzensschrei und ich hörte Schüsse, sowie das Geräusch von etwas metallischem, dass hart gegen Fels schlug.
„Die Gesunder!“, brüllte irgendjemand, „Die Gesunder haben uns gefunden. Und sie haben Bakteroiden mitgebracht. Zwei verfluchte Bakteroiden!“
Weitere Schüsse Schreie erklangen. Die Rebellen erwiderten das Feuer, aber ich konnte praktisch vor meinem geistigen Auge, wie sich die Bakteroiden durch die Reihen der Rebellen schlachteten. Ich kannte Ryxah nicht sehr gut, aber doch gut genug, um zu wissen, dass sie keinen Feind angreifen würde, dem sie unterlegen war. Sicher hatte sie genügend fähige Untergebene in ihren Diensten. Untergebene wie On-Grarin, gegen die ein zusammengewürfelter Haufen Rebellen wenig ausrichten konnte. Noch dazu, wenn diese Rebellen in der Falle saßen und in ihrem Rücken ein gesundheitszertörender See wartete.
Garwenia legte eine Hand auf meine Schulter. „Du musst dich beeilen! Bring uns endlich hier weg!“
Tatsächlich gab ich mein verträumtes herumblättern auf und schlug stattdessen zielgerichtet die schwarze Seite auf, die mein – und nur mein – Ausweg aus Hyronanin sein würde. Ich blickte auf das Wort – „Konor“ – und während ich es aussprach, hielt ich meinen Blick stur auf den Katalog gerichtet.
Noch heute frage ich mich, ob ich damit hatte vermeiden wollen, dass sich die Enttäuschung und die Angst, die sich unweigerlich in Garwenias Gesicht abzeichnen mussten, in mein Gedächtnis brannten, oder ob mir ihr Schicksal und das ihr Freunde in diesem Moment einfach nur egal gewesen war.
~o~
Nachdem ich diese letzte, beschämende Episode meiner Abenteuer in Hyronanin mit Chitin und Käferblut in die verblassten Katalogseiten geschrieben hatte, bemerke ich nicht nur, dass meine Finger von meinem unförmigen, grotesken „Schreibgerät“ schmerzen, sondern auch, dass die gespenstische Stille, die ich zwischendurch wahrgenommen hatte, der Vergangenheit angehört. Draußen höre ich nun einmal mehr Schritte, Klopfen, Klacken und vereinzelte, unmenschliche Laute, die durchaus zur gewohnten Geräuschkulisse des Baus passen. Aber ist das auch ein gutes Zeichen? Wer sagt mir, dass diese Geräusche von IHREM Volk verursacht werden? Immerhin sind sie nicht die einzigen Insektoiden in dieser Welt und die Schritte scheinen deutlich weniger Beinen zu entstammen als noch vor einigen Stunden. Auf einmal bemerke ich eine Präsenz, wie ein unangenehmes Kratzen im Rücken. Mein Herzschlag gerät außer Kontrolle und der Schweiß presst sich stechend durch meine Poren. Jemand ist hier. Jemand hat mich beim Schreiben beobachtet. Geistesgegenwärtig nehme ich die letzte Katalogseite in meine Finger und halte mich für meine letzte Flucht bereit, während ich ganz langsam den Kopf drehe und in IHR Gesicht blicke. Erleichterung und Entsetzen führen einen wilden Tanz in mir auf. Offenbar ist kein namenloser, unaussprechlicher Schrecken in den Bau eingedrungen. Trotzdem hat sie mich beobachtet. Sie wird wütend werden, mir den Katalog wegnehmen, ihn untersuchen und womöglich zerstören.
Was ich jedoch in ihrem sonst so starren Gesicht erkenne, als ich mich dazu überwinde direkt hineinzusehen, ist keine Wut. Es ist Trauer. Tiefe, bodenlose Trauer, die der Emotion, die ich bei anderen fühlenden Wesen erlebt hatte, in nichts nachsteht. Ich weiß nicht genau, woran ich es erkenne. Vielleicht sind es winzige, kaum sichtbare Muskelbewegungen in ihrem überwiegend menschlichen Gesicht, vielleicht ist es ihre schräge, leicht geneigte Kopfhaltung, oder aber ihre fremdartige Seele wirft ihr vielfach gestreutes unstoffliches Licht wie ein leuchtendes Netz direkt durch ihre Facettenaugen, auf der Suche nach jemandem, irgendjemanden der ihr Trost spenden kann. Womöglich aber kenne ich sie inzwischen einfach zu gut. Mein Blick senkt sich auf ihren Körper. Sie ist verletzt und blutet aus einigen kleineren Wunden. In ihrem nackten Bauch, sehe ich gezackte Bissspuren, die sich bis hinein in ihr darunterliegendes Chitinskelett gegraben haben. Vor allem aber sehe ich Vanessa in IHREN Armen, die anders als IHRE fast menschlichen, von Haut bedecken Beine und Füße einem wilden Gemisch aus Knochen, Chitin, menschlichem Fleisch und dürren, vierfingrigen Klauen gleichkommen. Vanessa, das Kind, für das ich schon fast etwas wie Liebe empfand, liegt als zerbrochenes, mitleiderregendes Häuflein vor mir und trotz ihres eingedrückten Schädels, der das hässliche, glänzende Chitin zum Vorschein bringt, kann ich nicht anders als die Katalogseite loszulassen und ihr kleines, mir so ähnliches Gesicht zu streicheln. Ich muss an Xidan denken, jenen kleinen Jungen, den ich so gerne adoptiert hätte und dem ich am Ende doch ein so grausames Schicksal bereitet hatte. Damals war ich das Monster gewesen.
Nun aber spüre ich Hass. Schwarzen Hass auf das Wesen, das meiner Tochter das angetan hat und als ich glaube, in IHREN Augen die stumme Botschaft zu erkennen, dass es von unseren anderen Kindern nicht mal mehr etwas gibt, dass man zurückbringen könnte, weine ich auch. Aller Ekel, der sich so lange in meine bizarre Vaterliebe gemischt hatte, ist in diesem Moment verschwunden.
SIE kann nicht weinen. Das weiß ich mit ziemlicher Sicherheit. Aber ich erkenne, dass sie es jetzt am liebsten getan hätte. Doch SIE will dafür etwas anderes und obwohl mich diese… Frau so oft wie ihr willenloses Eigentum behandelt hat, bin ich bereit, es ihr zu geben. Ich schließe das Buch und verstaue es unter dem Bett. Sie versuchte nicht einmal es mir wegzunehmen und irgendetwas sagt mir auch, dass ich, zumindest von ihr, deswegen nichts zu befürchten habe. Dann lege ich mich in unser gemeinsames Bett, wo sie sich schon kurz darauf mit klackenden Bewegungen neben mir niederlässt, mich in ihre grotesken Arme nimmt und ihren zugleich weichen und harten Körper gegen mich drückt. In dieser Nacht erzwingt sie keine Vereinigung. Was sie will, ist tatsächlich nur Trost. Und so trauern wir gemeinsam in einer bizarren Symphonie aus wortlosem Verstehen und unüberbrückbarer Fremdartigkeit. Während die fieberheißen Klauen düsterer, schuldgeschwängerter Träume schon gierig nach mir greifen, denke ich kurz an die blutigen Ebenen von Konor. Jenes Kapitel meines Lebens zu beschreiben, wird mir vielleicht helfen, mit meiner Trauer klarzukommen. Denn im Vergleich zu jenen Tagen, führe ich heute ein reines und gesegnetes Leben.
Ich konnte mal wieder nicht aufhören die Geschichte zu lesen. Es ist einfach unglaublich auf was für Ideen du kommst und ich hoffe das es auch so schön weiter geht. Aber bitte bitte bitte lass es „gut“ ausgehen also nicht irgendwie „oh es war alles ein Traum“ aber zumindest etwas in Richtung Wiedervereinigung mit seinen Bekanntschaften.
Ps. Lieblings Creepypasta Autorin haha
Hallo Marc,
echt schön, dass dir Fortgeschritten so gefällt. Wegen des Endes habe ich mich noch nicht festgelegt, aber es wird definitiv nicht sein, dass alles nur ein Traum war. Das wäre mir auch zu platt. Lassen wir uns einfach überraschen. Das mit der Lieblings Creepypasta-Autorin ehrt mich, auch wenn ich männlich bin. ;-).
Beste Grüße
Angstkreis
Haha naja hab jetzt einfach mal geraten xD dann halt Autor. 😀
Nicht schlimm, wollte es nur anmerken 😉