Es war so still. Die Stille flutete die kleine Kammer wie herein strömendes Wasser und legte sich zentnerschwer auf meine Brust. In IHREM Bau hatte immer rege Betriebsamkeit geherrscht. Höhlen wurden gegraben, Nahrung gelagert, der Nachwuchs versorgt (oder gezeugt) oder sonst irgendwelche Aufgaben erledigt. In diesen Dingen waren sie Ameisen- oder Termitenvölkern sehr ähnlich, auch wenn sie offensichtlich etwas mehr Individualität und deutlich mehr persönliche Intelligenz besaßen und auch die Fortpflanzung – zu meinem Leidwesen – nicht über eine Königin funktionierte.
Nun aber, wie gesagt, war es still. Kein Zirpen, kein Klacken, kein Graben. Nur Stille.
Man könnte vielleicht vermuten, dass mir diese Stille beim Schreiben und bei der Besinnung auf die vergangenen Ereignisse gelegen käme. Aber dem war nicht so. Lärm bedeutete Sicherheit. Er kündete von einer Komfortzone, ein Kokon aus Gewissheiten, in dem ich es mir – bei allen Härten dieses Daseins – bequem gemacht hatte. Stille aber konnte nichts Gutes bedeuten. Entweder war der ganze Stock in den Krieg gezogen und befand sich im Kampf gegen die titanischen Prädatoren auf den Ebenen oder – und ich vermute stark, dass mich die Anfertigung meiner Aufzeichnung über Hyronanin auf diesen Gedanken gebracht hatte – sie waren alle einer Krankheit oder einem Gift zum Opfer gefallen. Und das war keine aus der Luft gegriffene Paranoia. Als ich damals in dieser Welt ankam und mich bis zu IHREM Stock durchgeschlagen hatte, habe ich, neben den Prädatoren, auch eine Menge anderer bizarrer Geschöpfe entdeckt, von denen sich viele in versteckten Nestern und Höhlen verbargen und nur hervorkamen, um Beute zu reißen. Es ist nicht auszuschließen, dass eine dieser Kreaturen über die Fähigkeit verfügt, auch große Massen von Gegnern den stillen Tod zu bringen. Und zudem gab es da noch immer die Gesunder. Wer wusste schon, wann sie wieder frische Gesundheit brauchen würden?
Was auch immer der Grund war, meine Lage würde dadurch nicht besser werden. Wer auch immer dieses Insektenvolk vernichtete, konnte sicher leicht in den Stock eindringen und sich davon überzeugen, ob es darin vielleicht doch ein paar leckere Snacks gibt, die überlebt hatten. Und selbst wenn nur SIE – etwa im Kampf – ums Leben gekommen sein sollte, konnte es für mich gefährlich werden. Meine Stellung hier hing letztlich allein von ihrer Gnade ab. Die anderen Weibchen gierten bereits danach, sich meinen Samen und letztlich auch mein Fleisch zu sichern.
Meine Überlegungen gaben meinem Fernweh neue Nahrung. Hatte ich diesen stinkenden Bau nicht satt? Hatte ich es nicht satt andauernd vergewaltigt zu werden? Wurde es nicht endlich Zeit ein letztes Mal zu neuen Ufern aufzubrechen? Konnte es überhaupt schlimmer werden? Immerhin hatte ich bislang praktisch nur Nieten gezogen, war es da nicht möglich, allein schon aus statistischen Gründen, dass die letzte Welt dem Paradies gleichkommen würde? Einem wirklichen, erfüllenden Paradies, anders als damals in den blendenden Himmeln von Uranor? Meine Hand setzte bereits unterbewusst dazu an endlich zur letzten Seite zu Blättern und den Schritt in ein weiteres großes Abenteuer zu tun. Aber ich hielt sie zurück. So wahr all die Argumente waren, die mein Verstand hier aufführte, so vergiftet waren sie auch. Denn sie alle wurden von einem Totschlagargument übertrumpft: Ich hatte nur eine Chance. Nur einen Sprung ins Dunkel ohne Fallschirm und ich sollte diese Karte erst spielen, wenn mir keine andere Wahl mehr blieb. Um mich sowohl von meinen Ängsten, als auch von der Versuchung abzulenken, beschloss ich, meine Aufzeichnungen fortzusetzen …
~o~
Als hätte Garwenias Satz ihn erst recht auf uns aufmerksam gemacht, bewegte sich der bislang eher zufällig agierende Bakteroid plötzlich wie ein wild gewordener, tödlicher Flummi direkt auf uns zu. “Was sollen wir nun tun?”, fragte ich Garwenia panisch.
“Was wohl, zum Wydranok? Rennen!” antwortete sie. Schon während sie das sagte, folgte sie bereits ihrem eigenen Rat und auch ich ließ mir das nicht zweimal sagen. Seite an Seite versuchten wir dem stählernen Ungetüm zu entkommen und uns zum Höhleneingang durchzuschlagen. Die Schmerzen, die Garwenia empfand, während ihre gehäuteten Füße in hoher Geschwindigkeit über den unebenen Höhlenboden flogen, mussten gewaltig sein. Dennoch gelang es ihr scheinbar mühelos mit mir Schritt zu halten.
“Warum setzen wir nicht unsere Waffen ein?”, fragte ich sie atemlos. Sie schüttelte den Kopf. “Damit können wir nicht viel ausrichten. Bakteroiden sind unheimlich widerstandsfähig. Um sie zu besiegen braucht es mindestens eine kleine Armee. Es sei denn …”
“Es sei denn, was?”, hakte ich nach. Obwohl wir im Zickzack liefen, um den ruckartigen, raschen und stets von einem lauten Zischen begleiteten Bewegungen des Bakteroiden zu entgehen, kam der Höhleneingang bereits näher. “Nun, du hast eine besondere Verbindung zu deinem Kwang Grong. Du könntest vielleicht etwas mehr erreichen, wenn du mit ihm in “Grong-Schin” … in Verschränkung gehst. Allerdings …” Sie schlug sich die rot glänzende Hand gegen den Mund und ihr Gesicht nahm einen schockierten Ausdruck an, so als hätte sie etwas unglaublich Dummes oder sogar Unverzeihliches gesagt. “Ach, hör nicht auf mich. Manchmal gebe ich mehr Dreck von mir als der After eines Lardrex. Vergiss es! Lass uns einfach zum Ausgang rennen und die anderen finden. Unser Stützpunkt ist nicht mehr weit. Tatsächlich sah es so aus, als ob wir den Ausgang erreichen könnten. Er war nur noch wenige dutzend Meter entfernt und bislang hatte sich der Bakteroid uns nicht in den Weg gestellt.
Dann aber hörte ich ein zischendes Geräusch, welches sich deutlich von den Geräuschen unterschied, die der Bakteroid bislang verursacht hatte und Garwenia, die bisher tapfer links neben mir gelaufen war, geriet ins Straucheln. Erst befürchtete ich, dass das Ding sie irgendwie erwischt hatte und war verblüfft wie sehr mich dieser Gedanke erschreckte. Als ich jedoch stehen blieb, um nach ihr zu sehen, stellte ich mit einem raschen Blick fest, dass sie unverletzt war. Der Bakteroid hatte zwar eine Art silbernen Pfeil auf sie abgefeuert, aus dem eine klare, blubbernde Flüssigkeit sickerte, sie dabei aber anscheinend knapp verfehlt. Trotzdem verspürte ich keine Erleichterung, denn mir war klar, dass der nächste Schuss des Bakteoriden mit Sicherheit treffen würde. Falls dieser Schuss überhaupt noch nötig sein würde. Das Ding würde in wenigen Sekunden bei uns sein.
Ich hatte Garwenias entsetzten Gesichtsausdruck als sie von diesem “Grong-Shin” gesprochen hatte, noch genau vor Augen, aber ich hatte keine Zeit, lange darüber nachzudenken oder abzuwägen. Ohne so richtig zu wissen wie, nahm ich Kontakt zu dem Geist in der Waffe auf, die ich nach wie vor bei mir trug. Und der Kwang Grong antwortete. Es war keine verbale Antwort. Es war eher ein … ein Gefühl. Ich spürte, wie der Kwang Grong bei mir … anklopfte. Das mag komisch klingen, aber das ist das Wort, dass es am besten beschrieb. Vorsichtig, aber bestimmt schlug er gegen jene unsichtbare Membran, die die Waffe – seine bisherige Heimat – von meinem Körper trennte. Es war kein Angriff, sondern ein Angebot. Das wusste ich intuitiv und doch konnte ich es nicht ablehnen. Die Alternative wäre ein grauenhaftes Schicksal für mich und für Garwenia gewesen. Also zertrennte ich diese Membran, diese Schutzhülle, von deren Existenz ich gerade erst erfahren hatte und ließ den Kwang Grong hinein. Dieses Niederreißen war einfach und tat nicht weh, aber was danach passierte erinnerte an einen gewaltigen Dammbruch, an einen wütenden Tsunami, der nun ungehindert über mein ganzes Wesen hinweg rauschte.
Ich spürte, wie sich die Waffe, der Kwang Grong und ich sich in unsere Bestandteile auflösten, wie Materie, Energie und Bewusstsein in ihre kleinsten Segmente zerfielen und jegliche Ordnung aufgaben. Mein Denken wurde wirr, sprunghaft und unzusammenhängend, bis es letztlich vollkommen aussetzte. Meine Gefühle mischten und verwirbelten sich. Angst wurde zu Freude, Liebe zu Verzweiflung und Erleichterung zu tiefster Depression, bis alles nur noch ein undefinierbarer, bunter Brei war. Auch mein Zeitgefühl geriet durcheinander. Irgendwann, nachdem dieser Malstrom enden würde, würde ich realisieren, dass dieser ganze Prozess nicht mal den kleinsten Bruchteil einer Sekunde gedauert hatte. Aber bis dahin vergingen Stunden, Monate, Jahre, in denen alles was mich, den Kwang Grong und überhaupt die gesamte Realität ausmachte, sich im Nichts verlor und wir verzweifelt um die Bildung einer neuen Einheit kämpften, unsicher ob wir sie je würden erreichen können. Und doch – irgendwann fanden wir sie. Atome wurden zu Molekülen, Moleküle zu Strukturen, Strukturen zu Komplexen und auch wenn eigentlich nichts mehr da sein sollte, um all das wahrzunehmen – kein Gehirn, kein Selbst, kein Ich – so erlebte ich doch jeden einzelnen dieser faszinierenden Schritte so unmittelbar wie nichts zuvor in meinem Leben. Letztlich kehrte mein – unser – Körpergefühl zurück und das Hochgefühl dieser Vereinigung, dieses Bündnisses aus Zellen und Gedanken entlud sich in einem gewaltigen, knisternden schwarzen Blitz, der sich gegen den heranspringenden Bakteroiden entlud. Die Energie traf praktisch sofort auf seine stählerne Außenhülle in der sich gerade eine kleine Öffnung auftat, um einen weiteren Pfeil voller gefährlicher Erreger auf uns abzuschießen.
Doch dazu sollt es nicht kommen. Die Hülle des Bakteroiden begann erst zu glühen, dann Blasen zu werfen und letztlich zu einer kaum tennisballgroßen gelblich glühenden Kugel zusammenzuschrumpfen, bevor sie mit einem gewaltigen Knall implodierte. Das Ganze sah nicht sonderlich spektakulär aus, aber die entstehende Druckwelle war so stark, dass sie uns beide fast gegen die nächste Höhlenwand schleuderte.
Diesmal kippte ich nicht in Ohnmacht und als das Klingeln in meinen Ohren langsam abklang, bemerkte ich, dass auch Garwenia bei Bewusstsein war, selbst wenn sie ziemlich benommen wirkte. Zudem waren die Wunden, die sie sich bei ihrem letzten Kampf zugezogen hatte, noch weiter aufgerissen und Blut und Eiter tropften an den verletzten Stellen aus ihrem Leib. Dennoch war sie es, die mich entsetzt ansah, während ich ihr die Hand hinstreckte, um ihr beim Aufstehen zu helfen.
“Was ist los?”, fragte ich.
Statt mir eine Antwort zu geben oder meine Hand zu ergreifen, kroch sie so schnell wie es ihr möglich war auf die Waffe zu, die ein paar Meter entfernt auf dem Boden lag und richtete sie auf mich.
“Erkläre dich, Kwang Grong”, sagte sie mit eisiger Stimme, “erkläre dich oder dein Bruder wird dich richten.”
“Ganz ruhig, Garwenia”, erwiderte ich verwirrt. “Geht es dir gut oder hast du einen Schlag auf den Kopf bekommen?”
Plötzlich spürte ich, wie ich die Kontrolle über mein Sprachzentrum verlor und mein ganzes Bewusstsein auf einen winzigen Punkt in meinem Hinterkopf konzentriert wurde.
Verängstigt und hilflos hörte ich zu, wie eine dunkle, fremde Stimme aus meinem Mund sprach.
“Kwardeni Zyratschon, quara di Äneth Arqua Arqua Gronginav dahoor.” Das zumindest waren die Worte, die ich mir aus dem mir völlig unverständlichen Kauderwelsch zusammenreimte. Dabei war ich mir jedoch nicht einmal so ganz sicher, ob ich in diesem Moment selbst eine mir bekannte Sprache überhaupt verstanden hätte. Zwar hatte ich nach wie vor Zugriff auf alle meine Sinne, aber die Informationen, die sie lieferten, wirkten steril, gefiltert und irgendwie sperrig. So als würde ich zufällige Radiosignale aus dem All empfangen. Trotzdem merkte ich, wie sie sich vorsichtige Erleichterung auf Garwenias Gesicht breitmachte. Kurz darauf endete dieser beängstigende Zustand der Gefangenschaft wieder und ich gewann die volle Kontrolle über meinen Körper zurück.
“Was zum Henker war das?”, fragte ich Garwenia und stellte zu meinem Erschrecken fest, dass sich die Waffe, in der der Kwang Grong gewohnt hatte, nicht länger in meiner Hand befand. Nein, sie hatte meine Hand ERSETZT. Dort, wo sich zuvor noch die beweglichen Finger meiner linken Hand befunden hatten, gab es jetzt nichts weiter als eine schwarze Strahlenpistole, die fest mit meinem Unterarm verwachsen war, was vor allem an der Nahtstelle, an der sich meine Haut und das unbekannte Material der Waffe mischten, sehr eigenartig aussah.
“Es ist meine Schuld”, sagte sie Anstelle einer Antwort. “Ich hätte dir nicht von der Verschränkung erzählen sollen.”
“Hättest du mir nicht davon erzählt, wären wir beide jetzt am Arsch”, erwiderte ich, während ich noch immer versuchte den Verlust meiner Hand und die Tatsache zu verarbeiten, dass ich nun eine Art Cyborg war.
“Das stimmt”, gab sie, wieder mit etwas mehr Wärme in der Stimme, zu. “Was du getan hast, war sehr mutig, wenn auch leider sehr dumm. Aber wie gesagt, ich hätte dir nicht davon erzählen sollen.”
“Was genau IST da eigentlich passiert?”, fragte ich sie. “Warum spreche ich in fremden Zungen ohne es zu wollen, als wäre ich in eine Neuverfilmung des Exorzisten gestolpert? Und vor allem: Warum habe ich nun eine Waffe Anstelle meiner linken Hand?”
Garwenia seufzte. “Ich habe keine Ahnung, was ein Exorzist ist. Aber eins steht fest: Der Kwang Grong und du, ihr seid eine Verbindung eingegangen. Ihr seid Grong-Shin und damit praktisch eins.”
“Was?!”, rief ich entsetzt.
“Du hast mich schon verstanden”, stellte Garwenia kühl fest. “Du kannst mir nicht erzählen, dass du es nicht gespürt hast. Diese Erfahrung ist sehr intensiv. Ich habe es selbst nie erlebt, aber in meiner Heimat kursieren viele Geschichten über jene, die sich an einer Verschränkung versucht haben. Einige von ihnen sind große, weise und respektiere Anführer geworden. Die meisten jedoch gemeingefährliche Wahnsinnige und Massenmörder.”
“Na, das klingt ja wunderbar”, sagte ich sarkastisch und ruppiger als ich es beabsichtigt hatte, “was hat mein neuer Mitbewohner dir denn erzählt? Und vor allem: Warum redet er mit dir, aber nicht mit mir, verflucht nochmal?”
Garwenia warf mir einen giftigen Blick zu. “Du brauchst keinen solchen Ton anzuschlagen. Ein Kwang Grong entschuldigt nicht für alles. Zumindest nicht im Frühstadium der Verschränkung. Außerdem würde ich an deiner Stelle künftig sehr gut darauf achtgeben was ich sage, tue und denke. Der Kwang Grong beobachtet dein Verhalten.”
Ich runzelte die Stirn. “Wie meinst du das?”
“Nun, du hast zumindest nicht das schlimmste Los gezogen. Die Kwang Grong sind nicht alle gleich. Genauso wenig wie Menschen oder Bravianer. Sie haben unterschiedliche Temperamente. Vielleicht wäre es übertrieben sie in Kategorien von Gut und Böse einzuteilen, zumal die Übergänge fließend sind. Aber ich denke, man könnte sie als mehr oder weniger invasiv beschreiben. Der erste Typ ist am häufigsten und löscht den Willen und die Erinnerung seines ‘Partners’ meistens restlos aus. Fast wie bei einem dieser Einsiedlerkrebse, die ihr in deiner Welt habt. Krebschen rein, Schnecke raus, fertig ist das neue Haus.” Sie lachte über ihren eigenen Scherz. Ich jedoch lachte nicht darüber.
“Einigen Kwang Grong dieses Schlages sind die Wesen, die sie übernehmen, einfach nur egal, andere machen sich sogar einen Spaß daraus, sie zu quälen und langsam zu verdrängen. Dieser erste Typ ist jedenfalls die absolute Arschkarte und der Grund, warum sich nur Wenige auf das Experiment einer Verschränkung einlassen. Der zweite Typ ist extrem selten und so etwas wie der Jackpot. Diese Kwang Grong sind sehr devot und gewissermaßen selbstlos. Sie übertragen ihre Fähigkeiten an ihren Wirt und lösen sich dann entweder komplett in Nichts auf oder werden zu einem stillen und unauffälligen Teil seiner Persönlichkeit. So ganz sind sich unsere Gelehrten da immer noch nicht einig, aber wahrscheinlich kommt es ohnehin aufs Selbe raus.”
“Und der dritte Typ?”, fragte ich.
“Tja, mein Freund, den dritten Typ hast du dir geangelt. Diese Kwang Grong haben durchaus einen eigenen Willen, aber sie sind nicht so aggressiv wie der erste Typ. Die gute Nachricht ist, dass sie das Ideal einer Kooperation mit ihrem Wirt anstreben. Die Schlechte ist, dass sie recht hohe Ansprüche haben, was das betrifft. Sie wollen einen wirklichen Partner, jemanden, mit dem sie perfekt harmonieren können. Erst wenn sie davon überzeugt sind, ihn gefunden zu haben, nehmen sie verbalen Kontakt auf. Bis dahin beobachten sie. Mit mir hat er nur gesprochen, um sich zu Erkennen zu geben. Was er gesagt hat, war so eine Art Standardfloskel. In deine Sprache übersetzt bedeutet es in etwa: “Ich bin hier um zu Sehen und zu Urteilen.” Und genau das tun sie auch. Wenn der Kwang Grong dich akzeptiert, hast du gewissermaßen einen Freund fürs Leben, wenn auch leider nie wieder Privatsphäre.”
Vor der nächsten Frage fürchtete ich mich, stellte sie aber dennoch. “Und was passiert, wenn sein Urteil negativ ausfällt?”
Garwenia sah mich mitleidig an. “Erinnerst du dich an das, was ich über Typ eins gesagt habe?”.
“Das sind ja fantastische Aussichten.”, sagte ich, diesmal mehr resigniert als sarkastisch. “Und wie weiß ich, welches Verhalten ihm gefällt?” Schon während ich das sagte, beschlich mich das unangenehme und leider ja auch ganz und gar nicht falsche Gefühl beobachtet zu werden. Wie nur, sollte ich so Leben können? Das war ja schlimmer als bei Orwell.
“Diese Frage brauchst du dir gar nicht erst zu stellen. Erstens hat jeder Kwang Grong ein anderes Wesen und andere Vorlieben. Zweitens wird er dir nicht verraten, wie seine Wünsche aussehen und drittens wirst du dich ihm gegenüber nicht auf Dauer verstellen können. Immerhin kennt er deine Gedanken, auch wenn es für die meisten von ihnen natürlich auch eine Rolle spielt, in welche Handlungen und Worte du sie verwandelst. Tut mir echt leid, aber da musst du wohl durch.” Bei ihren letzten Worten verflüchtigte sich der schnippische, lockere Ton aus ihrer Stimme und machte einem ehrlichen Bedauern Platz. Sie ging einen Schritt auf mich zu und legte ihre feuchtglänzende Hand auf meine.
“Ich werde dich unterstützen, so gut ich kann. Immerhin hast du mir das Leben gerettet.” Ihr Lächeln war offen und warmherzig. “Und außerdem bist du so ein sympathischer Typ, dass der Kwang Grong schon ziemlich bescheuert sein müsste, um dich vernichten zu wollen.”
Ihre plötzliche Zuwendung tat gut, auch wenn sie wenig daran änderte, dass mich das Wissen darum, ein Wesen in mir zu tragen, welchen jeden meiner Gedanken beobachtete und mich vernichten würde, wenn sie ihm nicht gefielen, an den Rand des Wahnsinns brachte. Ich versuchte aber diese Vorstellung abzuschütteln und mich wieder auf das Hier und Jetzt zu konzentrieren – ändern konnte ich ja ohnehin nichts daran. “Danke”, sagte ich und zwang mich ebenfalls zu einem Lächeln. “Was machen wir jetzt?”
Sie ließ meine Hand los und zuckte mit den Schultern. “Dasselbe wie zuvor. Wir suchen meine Freunde. Weit sollte es nicht mehr sein.”
Also machten wir uns wieder auf den Weg durch die verschlungenen Höhlen von Hyronanin, nachdem ich eine weitere Dosis Gesundheit zu mir genommen hatte. 31:36 Uhr zeigte die Uhr nun an. Nur noch fünf Dosen waren übrig. Mein Vorrat schmolz beängstigend schnell und auch wenn ich wusste, dass es kaum einen Unterschied machen würde, bemühte ich mich schneller zu laufen.
Anfangs versuchte ich an rein gar nichts zu denken, schon aus der Angst heraus, dass es das Falsche sein könnte, aber auf Dauer ließ sich das leider nicht durchhalten. Allein schon deswegen nicht, weil nicht allein mein eigener Zustand mir Sorgen bereitete.
Wir waren kaum mehr als vielleicht zehn Minuten gelaufen, als Garwenia plötzlich ins Stolpern geriet.
“Alles in Ordnung?”, fragte ich sie.
“Ja”, sagte sie tapfer lächelnd, “nur ein herumliegender Stein.” Dann lief sie zwar ungerührt weiter, aber das ich nirgendwo einen losen Stein entdecken konnte, trug nicht gerade zu meiner Beruhigung bei.
In der nächsten halben Stunde stolperte sie noch dreimal. Einmal rutschte sie dabei auf etwas aus, was ich erst für die Hinterlassenschaften eines Keimbeutels hielt. Dann aber erkannte ich meinen Irrtum: Es war ihr eigenes Blut. Anders als zuvor hatten sich ihre Wunden nicht wieder geschlossen und auch die Blutgerinnung schien nicht mehr sonderlich gut zu funktionieren. Es war nicht so, dass sie ihren Lebenssaft literweise verlor, aber dennoch tropfte immer wieder Mal etwas davon auf den Boden.
Diesmal stellte ich sie zur Rede. “Erzähl mir jetzt nicht, das alles in Ordnung ist. Dir geht es beschissen. Hat das etwas mit dem Bakteroiden zu tun?”, fragte ich sie.
Statt mir auf dieser Frage zu antworten, stellt sie mir ihrerseits eine. “Riechst du das?”
Tatsächlich lag ein unangenehmer, schwefelig-süßlicher Geruch in der Luft. Bislang hatte ich noch gedacht, dass er von Garwenias eiternden Wunden stammen würde. Aber jetzt, wo sie mich darauf aufmerksam gemacht hatte, bemerkte ich, dass er aus der Höhle vor uns kam, deren enger Eingang nur noch einige Meter von uns entfernt lag. “Was ist das für ein Geruch?”, fragte ich sie.
Sie schien nachzudenken. Dann jedoch sagte sie: “Warte hier, ich muss etwas überprüfen.” Schnell, aber auch erschreckend unsicher und zitternd ging sie auf den Eingang zu und warf einen Blick in die Höhle hinein.
Nach einigen Sekunden kam sie bereits zurück. Auf ihrem Gesicht lag ein sorgenvoller Ausdruck. “So ein Wydranok! Die Seuchenquelle ist ausgebrochen! Wie viel Pech kann man eigentlich haben?”
Seuchenquellen. An diesen Ausdruck erinnerte ich mich. Davon hatte mir Ryxah erzählt. “Was heißt das?”, fragte ich sie trotzdem. Immerhin wusste ich ja nicht, worum genau es sich dabei handelte.
“Sieh selbst!”, sagte sie und machte eine Geste in Richtung des Höhleneingangs.
Mit einem äußerst unguten Gefühl bewegte ich mich auf den Eingang zu und steckte vorsichtig meinen Kopf hindurch, so als würde dort etwas lauern, dass mich beißen könnte. Und das stimmte auch. Jedoch war es kein Ungeheuer, sondern eine grauenhaftere, stärkere Version des Gestanks, auf den Garwenia mich aufmerksam gemacht hatte. Viel schlimmer noch als der Geruch und die schweißtreibende Wärme, die die Höhle ebenfalls erfüllte, war jedoch das, was mir meine Augen offenbarten. In der Höhle vor mir erstreckte sich eine Art Fluss, der zwischen uns und dem Ausgang floss und die Höhle fast genau in der Mitte teilte. Die Höhle besaß ein leichtes Gefälle von links nach rechts, welches die Strömung begünstigte, die die enthaltene Flüssigkeit von einer kraterförmigen, wulstigen Öffnung auf ein Loch in der rechten Höhlenwand zutrieb. Allerdings war es kein normaler Fluss. Die Flüssigkeit darin war zäh, undurchsichtig und größtenteils gelblich, jedoch auch von kleinen bräunlichen, grünlichen, rötlichen und schwarzen Linien durchzogen. Darin schwammen – gleich Bojen in einem unterirdischen Meer – einige klumpige, weiße Brocken, die sich regelmäßig ausdehnten und zusammenzogen und von denen manche in unregelmäßigen Abstände kleine Strahlen der gelben Flüssigkeit etwa bis zu einem Meter in die Höhe oder auch zur Seite spuckten. An den Wänden hingen bleiche, fluoreszierende Flechten, die zumeist klein und dünn, aber mit zunehmender Nähe zu der Seuchenquelle immer größer und kräftige wurden und in unmittelbarer Nähe dieses abartigen Stroms beinah armdick waren.
Würgend und angeekelt stolperte ich zurück und wandte mich an Garwenia, die sich an eine Wand gelehnt hatte. Wie ich vermutete, um Kraft zu sparen.
“Gibt es einen anderen Weg?”, fragte ich sie.
Sie schüttelte den Kopf. “Leider nicht. Bisher hatte das auch kein Problem dargestellt. Wir allen haben zwar von der Seuchenquelle, die sich hier befindet, gewusst, aber sie war … unreif gewesen. Sie hatte kein infektiöses Sekret produziert.”
“Und davon konntest du mir nicht früher erzählen?”, bemerkte ich empört.
“Das hätte ich vielleicht tun sollen, aber ich habe einfach nicht daran gedacht. Die Quelle war schon unreif gewesen, als ich in Hyronanin angekommen war. Du musst wissen, es ist bei diesen Dingern ein wenig wie bei einem inaktiven Vulkan: Für viele Jahre oder sogar Jahrhunderte regt sie sich überhaupt nicht und dann plötzlich fließt die Lava in Strömen. Nur, dass es in diesem Fall keine Lava ist, sondern eine hoch ansteckende Flüssigkeit. Anders als bei den Keimbeuteln, sind die Krankheiten, die sie in sich trägt, nicht über die Luft übertragbar, aber ein Tropfen reicht aus und deine Gesundheit ist dahin.”
“Uns beide betrifft das aber nicht, oder? Ich meine, wegen meines Heilmittels und deiner besonderen Biologie als Bravianerin. Oder ist es wie bei den Bakteroiden?”
“Nein, zum Glück nicht”, gab Garwenia zurück. “Allerdings wird die Überquerung dennoch nicht ungefährlich. Die infektiöse Wirkung kann uns vielleicht halbwegs egal sein, aber der Vergleich mit Lava passt wirklich sehr gut. Das Zeug ist nämlich nicht nur extrem infektiös und extrem eklig, sondern auch extrem heiß. Das Loch in der Wand ist nicht von selbst entstanden. Glaub mir, davon willst du nichts abbekommen. Außerdem gibt es da noch die Siechenden Flechten.”
“Das Zeug an den Wänden?”
“Genau.”
“Und was haben wir davon für Liebenswürdigkeiten zu erwarten?”, fragte ich.
“Auch sie verbreiten Krankheitserreger, aber das ist nicht das Wesentliche. Normalerweise sind sie ziemlich harmlos, aber wenn sie von einer Seuchenquelle genährt werden, werden sie gefährlicher. Dann gehen sie auf die Jagd, strecken sich nach warmen, lebenden Körpern aus und versuchen sie in ihre verhängnisvolle Umarmung zu ziehen, wo sie ihnen Stück für Stück die Gesundheit aussaugen. Es geht nicht so schnell wie bei einem Bakteroiden, aber auch sie können uns gefährlich werden.”
“Also sollten wir uns lieber von den Wänden fernhalten und die Seuchenquelle in der Mitte überqueren?”
“Exakt. Hoffen wir einfach, dass es nicht zu viele Spucker dort gibt, die uns an den Rand drängen.”
Ich fragte sie nicht, was “Spucker” sind, da ich davon bereits eine recht gute Vorstellung hatte.
“Also gut.”, sagte ich. “Dann lass uns mal in unser Verderben spazieren.”
“Ich schätze deinen Optimismus”, gab Garwenia lächelnd zurück. Ihr Lächeln wirkte aber noch gezwungener als sonst. Außerdem stand Schweiß auf ihrer länglichen Stirn und ihre Augen besaßen einen fiebrigen Glanz. Irgendwas stimmte ganz und gar nicht mit ihr. Ich verzichtete aber darauf, sie erneut darauf anzusprechen. Zum einen hätte sie es wahrscheinlich wieder ignoriert und zum anderen hatten wir ohnehin keine andere Wahl, als es mit der Höhle aufzunehmen, ganz egal wie schlecht oder gut es gerade um unsere Gesundheit bestellt war.
Ohne ein weiteres Wort gingen wir gemeinsam in die stinkende Höhle hinein und diesmal bemerkte ich noch deutlicher die große Hitze, die darin herrschte. Bereits nach ein paar Schritten, stand auch mir der Schweiß auf der Stirn. Ab und zu warf ich einen nervösen Blick zu den Siechenden Flechten, die manchmal leicht zuckten, aber vorerst noch darauf verzichteten, nach uns zu angeln. Garwenia hingegen wirkte mit einem Mal erschreckend unaufmerksam. Ein paar mal glaubte ich sogar, dass sie gleich einschlafen würde, aber das tat sie zum Glück nicht.
So näherten wir uns dem der Seuchenquelle, wobei wir wie besprochen genau darauf achteten in der Mitte zu bleiben. Leider bewahrheitete sich auch Garwenias Vermutung bezüglich der Spucker. Denn die weißen Brocken waren hier tatsächlich am zahlreichsten und katapultierten ihre heißen, infektiösen Strahlen in alle Richtungen. Das gute war, dass sie nie viel weiter als etwa einen Meter spuckten und zudem nicht etwa genau auf uns zielten, sondern eher zufällig in der Gegend herum schossen. Trotzdem wäre es purer Wahnsinn gewesen, an dieser Stelle auf die andere Höhlenseite zu springen.
“Was machen wir jetzt?”, fragte ich Garwenia hilflos.
Aber Garwenia reagierte nicht.
“Hey!”, schrie ich ihr entgegen. “So kommen wir nicht rüber, was also sollen wir jetzt tun?”
“Charjong-Rosen pflücken”, sagte sie schwach. Ihre Augen waren trübe und ihr Gesicht glänzte vom Fieber. “Die Violetten waren dir immer die Liebsten, mein Dra-Daun. Damals im Schoß der gläsernen Kaskaden. Oh wie ich dich vermisse unter den Himmeln. Oh wie ich unsere Wege vermisse.”
“Waas?!”, fragte ich verwirrt, während ich ein Stück zurücksprang und sie an ihrer gehäuteten Hand mit mir zog, damit wir nicht Opfer eines der Spucker wurden.
Plötzlich klärte sich ihr Blick wieder etwas. “Verzeihung. Was hast du gesagt?”, fragte sie mich.
“Ich hatte dich gefragt, ob du eine Ahnung hast, wie wir trotz all der Spucker die andere Seite erreichen sollen. Und was zum Teufel ist ein ‘Dra-Daun’?”
Sie sah gleichermaßen erschrocken wie irritiert aus. “Ein … ein Dra-Daun ist so etwas wie ein Seelenpartner. Aber wie kommst du jetzt darauf?”
“Du hast davon geredet, während du …”
“Hörst du das?”, unterbrach Garwenia mich.
Und tatsächlich hörte ich, was sie meinte. Hinter uns erklang eine Vielzahl, dumpfer, donnernder Geräusche, wie von vielen rennenden Füßen. “Sind das wandelnde Kranke?”, sprach ich meine Vermutung aus, während ich mich zum Eingang umdrehte.
“Ja”, antwortete Garwenia, “und es sind verdammt viele. Wir müssen schnell hier weg!”
“Das ist mir klar, aber wie sollen wir das anstellen?”, fragte ich zum dritten Mal. Ich selbst hatte nämlich nach wie vor keinen Schimmer.
Sie dachte nach, während die Schritte immer näher kamen. Obwohl sie nun wieder etwas konzentrierter war, schien ihr das Denken noch immer schwer zu fallen. Endlich aber schien sie eine Idee zu haben. “Der Kwang Grong!”, rief sie, “gegen normale Schüsse sind diese Spucker immun, aber du hast schon den Bakteroiden erledigen können. Versuche es einfach erneut. Wenn du genug von ihnen vernichtest, schaffen wir es auf die andere Seite. ”
Die Idee war nicht schlecht, wenn auch so naheliegend und banal, dass ich eigentlich selbst darauf hätte kommen können. Allerdings hatte ich eine Ahnung, warum ich diese Möglichkeit nicht erwogen hatte. Der Kwang Grong machte mir Angst. Irgendwie hatte ich das Gefühl, dass ich einen Pakt mit dem Teufel schließen oder ihn besser gesagt noch vertiefen würde, wenn ich dieses Geschöpf in mir um einen solchen Gefallen bat. So richtete ich zwar die Waffe an meinem linken Arm in Richtung der Spucker, zögerte aber noch, Kontakt mit dem Kwang Grong aufzunehmen.
“Worauf wartest du noch?”, rief sie panisch.
Ich warf einen raschen Blick über die Schulter und entdeckte tatsächlich die ersten unserer Verfolger. Eine Gruppe von vielleicht zehn Individuen. Sechs von ihnen waren Menschen (Womöglich auch Bravianer oder Einwohner von Andradonn, so genau ließ sich das auf die Schnelle und aus der Entfernung nicht erkennen), es gab aber auch zwei Schlangenwesen, ein seltsames unförmiges, amöbenartiges Geschöpf und ein Insekten hybrid, der – aus heutiger Perspektive – wahrscheinlich vom gleichen Volk war wie SIE. Sie alle waren in einem erbärmlichen Zustand: Hustend, bleich und schwitzend. Und das war noch nicht alles: Ich sah abgebrochene Chitinplatten, fehlende Hautpartien, eiternde Geschwüre, verwachsene und nekrotische Gliedmaßen. Das Amöbengeschöpf, in dessen Mitte sich ein großer, schwarzer Zellkern befand, verlor sogar andauernd Teile seiner gewaltigen Körpermasse, in Form einer klaren Substanz, die auf den Höhlenboden tropfte und eine schleimige Spur darauf zurückließ. Doch so krank sie alle auch waren, so entschlossen wirkten sie. Entschlossen, jene ins Verderben zu reißen und ihrer Gesundheit zu berauben, die die Unverfrorenheit besaßen, gesünder zu sein als sie. Entschlossen, ihre Körper zu zerreißen und sie dann nach nützlichen Dingen wie etwa einem kleinen Fläschchen Gesundheit zu durchsuchen. Immerhin: Soweit ich das erkennen konnte, trug keiner von ihnen Strahlenpistolen oder Gewehre. Dafür waren sie mit Speeren, Keulen, Schwertern und eines der Schlangenwesen sogar mit einem seltsamen, dicken Bogen bewaffnet, den es gerade spannte. Und das hier war nichts als die Vorhut. Wer wusste schon, was dahinter noch für Wesen lauern würden?
Garwenia hatte recht, mir blieb keine andere Wahl mehr. Also zielte ich auf einen der Spucker und bat den Kwang Grong still um Unterstützung. Seit die Waffe ein Teil meines Arms geworden war, besaß sie keinen Abzug mehr, weshalb ich versuchte sie irgendwie mit einer Muskelbewegung in meinem Unterarm auszulösen. Ein Geräusch wie von einem startenden Motor, der sofort wieder abgewürgt wurde, erklang und machte mir klar, dass ich die richtige Bewegung ausgeführt hatte, aber anscheinend nicht auf die Kooperation des Kwang Grong zählen konnte. Dann sonst geschah rein gar nichts. Abgesehen davon, dass ein dunkelroter Pfeil ganz knapp an meiner rechten Schulter vorbeiflog und kurz darauf in den Salven der Spucker verglühte.
“Tu endlich was!”, schrie Garwenia in einer Mischung aus Wut und Verzweiflung, während sie ein paar Schritte näher kam, “sie sind gleich da!”
Neben den Schritten und dem allgegenwärtigen Husten erklangen nun auch röchelnde Schreie und Schlachtrufe aus vielen Kehlen. Neben mir hörte ich, wie Garwenia einige Schüsse auf die Meute abgab, aber an ihren Flüchen erkannte ich, dass sie nicht besonders viel Erfolg dabei hatte. Wahrscheinlich beeinträchtigte ihr schlechter Zustand ihr Zielvermögen.
Ich betätigte noch mal meine Waffe mit genau dem gleichen Ergebnis. So eine Scheiße, dachte ich, warum nur hilft mir dieser Mistkerl nicht? Kurz dachte ich daran, dass er diese Beleidigung vielleicht gehört haben könnte. Auf der anderen Seite machte das wohl auch keinen Unterschied, wenn wir beide in ein paar Sekunden nichts weiter sein würden als ein Haufen zerfetzter Körperteile. “Hör mal Kollege”, dachte ich, “falls du darauf spekulierst, in diesem Körper hier dauerhaft zu wohnen, wollte ich dich nur informieren, dass dein neues Traumhaus gerade ganz akut von einer Horde Abrissbirnen bedroht wird. Ich werde gleich nochmal schießen und wenn du nicht unheimlich scharf darauf bist in einem Haufen Gewebematsch herumzuspuken, kommt besser einer von diesen hübschen Schattenstrahlen da raus.”
Ehrlich gesagt glaubte ich selber kaum daran, dass er meiner Aufforderung nachkommen würde. Aber als ich die Waffe ein drittes Mal betätigte löste sich tatsächlich ein knisternder, rauchiger Schattenstrahl aus meinem Arm, flog dem von mir anvisierten Spucker entgegen und löste ihn praktisch sofort auf. Ohne zu zögern, erledigte ich einen zweiten, einen dritten und vierten der Brocken und schuf so langsam aber sicher eine Schneise durch die Seuchenquelle.
“Hinter dir!”, rief Garwenia und ihre Warnung verhinderte, dass ein rostiges Schwert meinen Rücken traf. Als ich mich umdrehte, erkannte ich, dass es von einem asiatisch aussehenden Menschenmann mit aschgrauer Haut, ausgefallenen Zähnen und trüben Augen geschwungen wurde. “Rache”, nuschelte er wahnhaft und es war mehr als offensichtlich, dass er nicht einmal wusste, wofür er eigentlich Rache nehmen wollte. Jedenfalls war er nicht der einzige, der uns inzwischen erreicht hatte. Die meisten unserer Verfolger waren zum Glück nicht besonders gut zu Fuß, aber neben dem Mann waren auch eines der Schlangenwesen und eine Bravianerin zum Nahkampf mit Garwenia übergegangen und die eigenartige Amöbenkreatur war ebenfalls nur noch wenige Meter entfernt. Immerhin gelang es mir den Mann mit einem Schuss ins Gesicht zu blenden und ihm zudem große Schmerzen zu verursachen, was mir trotz allem leidtat.
Ich war es nicht gewohnt, Menschen zu verletzen, selbst wenn es sich eigentlich um Notwehr handelte. Im Grunde konnte keiner unserer Angreifer etwas für seinen Wahnsinn. Das war allein die Schuld dieses grauenhaften Ortes. Aber selbst wenn ich weniger Skrupel besessen hätte, hätten wir keine Chance gegen diese Übermacht gehabt. Das wurde mir spätestens klar, als sich zehn weitere Humanoide und ein graues breit gebautes, unförmiges Geschöpf ohne Gesicht aber mit viel zu vielen Muskeln und einem gewaltigen, mit Pilzflechten überwachsenen Mund auf unsere Position zubewegten. Doch noch viel beunruhigender als dieser Hüne, war eine riesige Flugkreatur, die mit ihren breiten, ledrigen und halbdurchsichtigen Schwingen und ihrem gallertartigen Schnabel ungefähr an eine Mischung aus einer Qualle und einem Flugsaurier erinnerte. Ihre Flügel waren teilweise zerfetzt und durchlöchert, weswegen sie langsam und mühsam flog. Aber bei Gott, sie FLOG!
“Wir können nicht länger warten”, rief ich Garwenia zu.
“Das glaube ich auch”, sagte sie, während sie dem Schlangenwesen ihre Waffe direkt in den Mund rammte, dabei den Biss seiner Giftzähne (falls es Giftzähne waren) ignorierte, abdrückte und seinen Kopf zum Explodieren brachte. Dann setzte ich Mithilfe des Kwang Grong die Bravianerin außer Gefecht, wobei ich es zum Glück schaffte, sie nicht zu schwer zu verletzen.
Anscheinend hatte Garwenia ihre Benommenheit zumindest vorerst abgeschüttelt und nutzte die Gelegenheit, um zu mir aufzuschließen.
“Ist der Weg frei?”, fragte sie mich.
Ich war einen Blick auf die Seuchenquelle, wo sich die von mir geschaffene Lücke glücklicherweise noch nicht wieder geschlossen hatte. Trotzdem gab es dort nach wie vor Spucker, die uns gefährlich werden konnten.
“Nicht ganz” gab ich zu. Während das die herannahende Riesenamöbe den Boden erschütterte. “Aber es muss reichen”, fügte ich hinzu, “Los!”
Der Seuchenfluss stank zwar wie die Hölle, war aber zumindest nicht allzu breit. Mit einem beherzten Sprung gelang es mir ihn zu überqueren und durch ein hastiges Ausweichmanöver direkt nach der Landung, den Attacken von gleich zwei Spuckern zu entgehen. Garwenia hatte weniger Glück. Sie war direkt nach mir gesprungen, aber durch ihren geschwächten Zustand, gelang es ihr nicht, das sichere Ufer zu erreichen. Zumindest nicht ganz. Stattdessen balancierte sie unsicher auf der Kante, während sich die wandelnden Kranken am Ufer sammelten und die Geschosse der Spucker nur knapp an ihr vorbei sausten. Irgendwann würden sie treffen und ihr den Rest geben, falls sie nicht vorher in den heißen Fluten verschwand.
So schnell ich konnte ,ergriff ich Garwenias Hand und versuchte, sie auf meine Seite zu ziehen. Erst dachte ich, dass ich es schaffen könnte – immerhin war ich im Laufe all meiner Reisen sehr sportlich geworden – aber ihre feuchte, rutschige Hand entglitt meinem Griff und für einen schrecklichen Augenblick sah es so aus, als würde sie rettungslos in den heißen, verseuchten Fluten versinken. Dann aber ergriff ich mit der Hand ihren Arm und zog sie letztlich erfolgreich auf sicheren Boden. Leider konnte ich nicht verhindern, dass ein Spucker ihr linkes Bein traf. Ausgerechnet an einer der wenigen Stellen ihres Körpers, die noch von Haut bedeckt war, fraß sich die widerwärtige Substanz durch ihr Fleisch und entlockte ihr einen lauten Schmerzensschrei. Sie knickte ein und auch wenn ich ihren Schmerz nachfühlen konnte, zog ich sie gewaltsam ein paar Schritte mit mir mit, um sie aus der Gefahrenzone zu bringen.
Unsere Verfolger und sogar die Flugkreatur blieben auf der anderen Seite der Seuchenquelle zurück. Vorerst. Früher oder später würden sie sicher einen sicheren Weg zu uns finden oder sich zumindest nicht mehr von den Spuckern einschüchtern lassen.
Garwenia, die erschöpft vor mir auf dem Boden lag, stöhnte laut auf. Wenigstens war sie bei Bewusstsein. “Wir müssen weiter“, sagte ich zu ihr, „wir sind alles andere als in Sicherheit.”
Sie sah mich mit einer Mischung aus Schmerz und Trauer an. Sie sah schlimm aus. Zwar hatte die Substanz aufgehört sich weiter durch ihr Fleisch zu fressen, aber sie hatte auch so bereits einen breiten, gezackten Kanal durch das Gewebe ihres Oberschenkels gegraben. Auf ihrer Stirn glänzte kalter Schweiß und in ihren Augen stand purer Schmerz. “Geh ohne mich”, sagte sie. “ich würde es ohnehin nicht schaffen. Mein Bein ist unbrauchbar und … der Pfeil des Bakteroiden hat mich leider doch gestreift. Zwar nur leicht, aber anscheinend ausreichend um mich zu infizieren. Es war schön dich getroffen zu haben, aber …”
“So ein Schwachsinn!”, rief ich, “du läufst jahrelang fast ohne Haut durch diese verseuchten Horrorhöhlen und jetzt gibst du einfach auf? Und dann noch mit dieser klischeebeladenen ‘Lass-mich-zurück‘-Nummer? Kommt gar nicht in die Tüte”, sagte ich und zog sie mit einem Ruck auf die Füße.
Dann geschahen drei Dinge gleichzeitig. Garwenia brach sofort wieder schreiend zusammen, weil ihre Muskeln ihr Gewicht tatsächlich nicht mehr halten konnten. Die gewaltige Amöbe entschloss sich zur Überquerung des Seuchenflusses, ignorierte die Attacken der Spucker, deren Geschosse sich durch ihr geleeartiges Zellgewebe fraßen nicht nur, sondern stülpte sich einfach über die Plagegeister und verleibte sie sich ein, wodurch sie den Weg für die anderen Wandelnden Kranken freimachte. Und aus dem Höhlenausgang hinter uns erklangen weitere Schritte. Offensichtlich kamen sie nun von zwei Seiten.
Dazu entschlossen, bis zuletzt zu kämpfen richtete ich meine Waffe auf die Amöbe, die der nächste und wahrscheinlich auch einer der gefährlichsten Gegner zu sein schien und löste einen Schuss aus. Oder besser gesagt: Ich versuchte es. Denn am Lauf meiner Waffe tat sich nichts. Rein gar nichts. Der Kwang Grong verweigerte seine Kooperation. “Danke für nichts, du Wichser!”, fluchte ich und fühlte mich sogar ein wenig erleichtert, da es mir gerade herzlich egal war, welche Meinung dieses Ding von mir hatte.
Das war’s, dachte ich. Immerhin würde das hier kein langweiliger Tod werden.
Doch während die Amöbe mit ihrem glitschigen, amorphen Leib auf mich zu walzte und ich der festen Überzeugung war, das letzte Kapitel meiner Reise geschrieben zu haben, schlugen mit einem Mal dutzende höchst unterschiedlicher Projektile und Strahlen in den Körper der Kreatur ein. Ich hörte und sah gewöhnliches Gewehrfeuer aber auch schwarze Schattenstrahlen, rote Laserstrahlen, Bolzen, Blitze, gezackte Wurfwaffen und viele weitere Geschosse, die allesamt genau auf den Zellkern zielten und ihn zum größten Teil durchschlugen. Ein oder zwei Sekunden blieb die Amöbe wie eingefroren stehen, zitterte dann gleich einem heftig angeschlagenen Gong und zerfloss schließlich wie ein angestochener Wasserballon, wobei sich ihre Flüssigkeit zischend in der heißen Seuchenquelle verteilte.
“Garwenia!” hörte ich eine besorgte, tiefe Stimme rufen. Neugierig drehte ich mich um und erblickte einen bärtigen, extrem dürren Mann, dessen Kopfform ihn ebenfalls als Bravianer auswies. Auch er trug eine der Schattenwaffen, die ich so langsam zu hassen begann. Sein Gesicht war derart eingefallen, dass sein Kopf sich nur in unwesentlichen Details von einem Totenschädel unterschied, aber in seinen Augen glitzerte Erleichterung. Hinter dem Mann wartete eine ganze Reihe weiterer Bravianer, aber auch einige Menschen, drei fischköpfige Wesen, eine reptilienartige Kreatur und sogar ein Mann und eine Frau, die mich verblüffenderweise an Gesunder erinnerten. Sie alle sahen nicht gut aus, wenn auch nicht ganz so schlimm, wie die Angreifer auf der anderen Seite, und sie alle waren bewaffnet.
“Branosch!”, erwiderte Garwenia fröhlich, wenn auch schwach, “woher wusstest du, dass ich in Gefahr bin?”
“In diesen Höhlen ist man immer in Gefahr, oder nicht?”, antwortete Branosch lächelnd.
Diese Leute waren ganz offensichtlich keine weiteren Feinde. Anscheinend war mein Ende doch noch nicht sicher.
Unsere Rettung aber leider auch noch nicht. Denn die wandelnden Kranken kümmerten sich nicht um rührende Wiedersehens-Szenen, sondern nutzten die Gelegenheit, um auf unsere Seite des Ufers zu gelangen. Ein wilder Kampf begann, an dem ich mich nicht beteiligen konnte, da der Kwang Grong sich weiterhin standhaft weigerte auch nur einen Schuss abzugeben. So versuchte ich stattdessen mich und Garwenia aus der unmittelbaren Gefahrenzone zu bringen, schaffte es aber erst, als Branosch mir zur Hilfe eilte, der mehr Kraft besaß, als seine zerbrechliche Statur vermuteten ließ. Während wir die schwer verletzte Garwenia in Richtung des Höhlenausgangs schleiften, nahmen die anderen den Kampf mit den wandelnden Kranken auf.
Statt der erhofften Rettungsmission wurde es ein Gemetzel. Auch wenn Garwenias Mitstreiter etwas fitter und besser bewaffnet waren, als ihre Gegner, so waren diese doch in der Überzahl und hatten zudem Luftunterstützung. Bevor das Flugungeheuer letztlich zur Strecke gebracht wurde, verwandelte es drei unserer Retter mit einem ätzenden, rotbraunen Sekret in kampfunfähige Ruinen und hob einen weiteren in die Luft, um in Mitten in die Seuchenquelle fallen zu lassen. Er kam nicht wieder heraus und ich fragte mich, was mit jenen geschah, deren Körper vollständig vernichtet wurden, während sie in Hyronanin weilten. Durften wenigstens sie sterben? Klammerten sich ihre Seelen an jedes verbliebene Molekül oder Atom? Streiften sie einfach ziel- und körperlos umher und wurden zu so etwas wie Geistern? Ich konnte es nicht sagen.
Andere Schicksale waren klarer, wenn auch nicht minder brutal. Eine Menschenfrau, die auf unserer Seite kämpfte, kam während ihres Kampfes gegen das Insektengeschöpf der Seuchenquelle zu Nahe und wurde von einem der verbliebenen Spucker getroffen. Die Flüssigkeit brannte sich gierig durch ihren Arm, aber da sie nicht mit der Bravianischen Widerstandsfähigkeit gesegnet war, war es die infizierende Wirkung, die ihr Schicksal besiegelte. Wenige Sekunden nach dem Hautkontakt breiteten sich so schnell bis zum Bersten gefüllte Pestbeulen auf ihr aus, dass sie zuletzt mehr wie ein zu lange gebackener Auflauf aussah, als wie ein Mensch. Ein Echsenmann wurde von dem grauen, gesichtslosen Muskelberg zerquetscht, der ihm genüsslich jeden einzelnen Knochen brach, bevor er mit mehren Schüssen aus Branoschs Schattenstrahler und einigen Gewehrsalven von den Beinen geholt wurde. Doch nicht nur die Kämpfe gegen die halb- oder vollständig wahnsinnigen Wandelden Kranken forderten Opfer. Einer der beiden Gesunder (der Mann) unter Garwenias Freunden geriet zu nah an eine der dicken, Siechenden Flechten, wurde von gleich einem Dutzend von ihnen gepackt, wie eine Puppe in die Luft gehoben und zuletzt von ihnen eingewickelt. Wie eine gefangene Fliege hing er an der Höhlenwand und welkte sichtlich dahin, während die Flechten seine Lebenskraft aus ihm hinaus und beständig neue Krankheitserreger in ihn hineinpumpten.
Am Ende verlor fast die Hälfte unserer Retter ihr Leben oder – besser gesagt – ihre Handlungsfähigkeit, aber immerhin gelang es ihnen auch unsere Angreifer restlos bewegungsunfähig zu machen oder in die Flucht zu schlagen.
Branosch, der auch zu den Überlebenden gehörte, ging sofort nach dem Ende des Kampfes zu Garwenia und versuchte ihr aufzuhelfen. Aber er machte dabei die gleiche Erfahrung, wie ich sie zuvor gemacht hatte: Garwenia konnte nicht mehr aus eigener Kraft gehen. Statt sie jedoch zurückzulassen wurde sie von zwei der gesündesten Überlebenden gestützt und gemeinsam traten wir den Weg zum Lager an und verließen die stinkende Höhle. Denn nachdem Garwenia grob geschildert hatte, wer ich war und welche Gefahren wir zusammen durchgestanden hatten, hatte niemand aus der Gruppe etwas dagegen gehabt, dass ich mitkam. Von dem Reisekatalog, mit dem man diese verfluchte Welt wieder verlassen konnte, erzählte sie jedoch vorerst nichts.
Interessanterweise schien es die Rebellen jedoch weder sonderlich zu stören, dass ich eine Verbindung mit einem Kwang Grong eingegangen war, noch dass ich eigentlich im Auftrag der Gesunder unterwegs war. Ohnehin waren die meisten aus der Gruppe sehr freundlich zu mir. Lediglich die Echsenwesen wahrten eine gewisse Distanz, was mich aber auch nicht großartig störte. Dass sich Garwenia hingegen nicht mit mir, sondern vor allem mit Branosch unterhielt, störte mich da schon mehr. Ich war nicht sicher, hatte aber doch den Eindruck, dass die beiden entweder ein Liebespaar oder wirklich sehr sehr enge Freunde waren. Anscheinend war ich wirklich eifersüchtig, auch wenn das natürlich lächerlich war. Wir waren kein Paar und ehrlich gesagt war ich mir nicht mal sicher, ob meine durchaus große Sympathie für Garwenia wirklich stärker war als mein Ekel. Und doch: Die Eifersucht blieb.
Um mich abzulenken, beobachtete ich die Gesunderin, die sich entgegen aller Wahrscheinlichkeit den Rebellen angeschlossen hatte. Sie sah nicht annähernd so vital und einschüchternd aus wie Ryxah. Ihre Bewegungen wirkten müde und schleppend, ihr Atem ging rasselnd (wie überhaupt so ziemlich alle in diesem Zug der Verdammten andauernd röchelten, husteten, niesten oder würgten) und auf ihrer Haut fanden sich viele schwarze Flecken, die sich zwar farblich gut mit ihrem durchlöcherten schwarzen Arztkittel ergänzten, aber dennoch alles andere als ansehnlich waren. An ihrer rechten Hand waren ihr anscheinend zwei ihrer Sieben Finger abgefault und lediglich schwarz-graue Stummel zurückgeblieben. Einer der Finger an ihrer linken Hand hatte die gleiche Farbe, die mich ein wenig an diese Raucherbeine erinnerte, die zur Abschreckung auf Zigarettenpackungen gedruckt wurden und würde wohl auch nicht mehr lange an ihrer Hand bleiben. Was ihren Mund betraf … nun, ich wusste nicht mit Sicherheit, was sich unter Ryxahs Mundschutz verbarg, aber sicher nicht solch eine bröckelige Ruine von einem Mund, wie sie diese Frau besaß. Ihre Erscheinung faszinierte mich genauso, wie sie mich abstieß und auch wenn ich mir alle Mühe gab, nicht allzu offensichtlich zu starren, schien sie mein Interesse schnell zu bemerken und kam langsam, aber entschlossen auf mich zu.
“Was verwundert dich mehr? Meine Anwesenheit oder mein Äußeres?”, fragte sie unverblümt und verbreitet einen derart üblen Mundgeruch, dass ich eigentlich hätte Würgen müssen. Aber nach dem, was die Seuchenquelle an Gestank verströmt hatte, kam mir alles andere nur halb so schlimm vor.
“Ersteres“, antwortete ich wahrheitsgemäß, “dein Gesundheitszustand überrascht mich nicht, immerhin sind wir hier in Hyronanin und wie euer Volk aussieht, ist mir bereits bewusst.”
Sie lachte trocken, wobei dieses Lachen in einem heftigen Hustenanfall endete, der viel Spucke und schlechte Luft in mein Gesicht beförderte. “Wen hast du getroffen? Trydir? Arxos? Renosa?”, fragte sie, als sich der Anfall gelegt hatte.
“Ryxah.”, antwortete ich knapp.
“Ryxah?”, sagte sie. “Dann hast du ja fast noch Glück gehabt. Sie ist moralisch gesehen genauso eine Katastrophe wie die anderen, aber sie verkauft den Scheiß besser, stilvoller. Das war wohl auch der Grund, warum ich sie damals nicht von der Bettkante gestoßen hatte.”
Auch wenn ich es selbst nicht bemerkte, musste ich ein ungläubiges Gesicht gemacht haben.
“Ja, Ryxah und die gute alte Antiella waren einmal ein Paar. Natürlich war ich damals gutaussehender … und skrupelloser. Dann kam Xaviris. Er war es eigentlich, der mich überzeugt hatte unsere sichere Höhle zu verlassen. Er war es, der mir bewusst gemacht hatte, wie falsch das ist, was wir all den anderen Völkern antun und das wir damit brechen müssen, selbst wenn es auf Kosten unserer eigenen Gesundheit geht. Er war es, nicht ich.”
Bei ihren letzten Worten klang sie unendlich traurig.
“Was ihm passiert ist, tut mir leid. Das war grauenhaft”, sagte ich zu ihr und hoffte, dass das Mitleid, welches ich empfand, sich auch in meiner Stimme zeigen würde. Plötzlich kam mir eine Idee. “Aber er ist doch nicht tot. Wir könnten zurückkehren und ihn von diesen Flechten los schneiden.”
“Und was dann?”, fragte sie sarkastisch, “denkst du, das würde seine Existenz nur einen Deut besser machen? Denkst du, die Flechten haben auch nur einen Funken Kraft in ihm zurückgelassen?”
“Vielleicht nicht”, gab ich zu, “aber könntest du ihm nicht eine Portion Gesundheit …”
“SPRICH NIE WIEDER DAVON!”, unterbrach sie mich herrisch. Diese Eigenart ihres Volkes hatte sie wohl nicht hinter sich gelassen, “wir leben nicht mehr auf Kosten anderer. Das haben wir uns geschworen und ich werde nicht diejenige sein, die ihn dazu zwingen wird, seinen Schwur zu brechen.”
Mit einem Mal schien sie die Lust an unserem Gespräch verloren zu haben. “Es war schön mit dir zu reden, aber ich muss mir meine Kraft sparen. Nicht jeder von uns ist so gesund wie du.” Mit diesen Worten verließ sie mich wieder und ging zurück an die Spitze unserer kleinen Gruppe, wo sie gleich neben Branosch und Garwenia einreihte.
Das Gespräch mit Antiella ließ ein seltsam melancholisches Gefühl in mir zurück. Allerdings hielt es nicht lange an, denn es blieb nicht das einzige Gespräch. Zwar verlief der Rest der Reise zumeist schweigend, aber diese endete bereits nach etwa zwanzig Minuten und wir erreichten letztlich das Lager der Rebellen. Ich weiß nicht, was ich erwartete hatte, aber logisch betrachtet hätte ich genau das erwarten müssen, was ich nun sah. Eine karge, nach Krankheit stinkende, schmucklose Höhle mit einem kleinen, nicht abgedeckten Waffenlager bevölkert von Angehörigen verschiedenster Spezies, von denen sich die meisten in Lumpen gehüllt in der Nähe der Höhlenwände hingelegt hatten. Es gab vier müde Gestalten, die aufrecht standen und ihre Waffen in der Hand hielten. Wahrscheinlich handelte es sich um die eingeteilten Wachen. Der Rest der Rebellen lag jedoch erschöpft und hustend in den improvisierten Krankenlagern und sparte seine Kräfte. Manche von ihnen wanden sich in Fieberträumen und gaben derart wirres Zeug von sich, dass ich vermutete, dass es wohl nicht mehr lange dauern würde, bis sie den Verstand verlieren und als Wandelnde Kranke unkontrolliert auf die Jagd gehen würden. Die meisten jedoch, sahen zwar schlecht, aber durchaus noch zurechnungsfähig aus. Trotzdem schien Branosch noch die Kräftigsten unter ihnen auf seine Rettungsmission mitgenommen zu haben.
Jedenfalls kam langsam etwas Leben in diese apathische Gemeinschaft, als die Rückkehrer von den anderen bemerkt wurden und es gab sowohl Trauer um die Verluste, als auch Lob für die gelungene Mission und Wiedersehensfreude wegen der Rückkehr von Garwenia, auch wenn sie diese Zuwendungen nicht so recht genießen konnte. Ihr Zustand hatte sich weiter verschlechtert und als ich sie nach ihrem Befinden fragte, erzählte sie zunächst nur wieder eigenartiges Zeug “Die goldenen Mauern von Jip-Sa sind zerbrochen. Das Schloss nichts als Staub und Tränen. Oh mein Dra-Daun. Die Schatten obsiegten. Die eiskalt Lachenden. Sie werden sich erheben, verwirbeln, infiltrieren, eindringen wie die zuckenden Zangen der Arhir. Immer sind sie es, die …”
Erst ein heftiger Schreikrampf unterbrach diesen verwirrenden Fluss aus Worten und klärte anscheinend ihren Geist. “Du bist hier”, sagte sie sanft. “der freundliche Reisende. Der, der uns retten wird. Der uns aus dieser Hölle führen wird.”
Ihre breiten Augen blickten mich freundlich und entschlossen an. Aber sie zitterte bei jedem Wort und ich sah, dass sich ihr rohes Fleisch, welches sonst verblüffenderweise irgendwie den gnadenlosen Umweltbedingungen getrotzt hatte, an vielen Stellen entzündet hatte und blutete oder eiterte. Der Anblick dieser starken Frau, die so tapfer gegen ihr Schicksal gekämpft hatte und die nun so elendig dahinsiechte, versetzte mir innerlich einen heftigen Stich und ich dachte wieder an das kleine Fläschchen mit seinem schrumpfenden Inhalt. Ich könnte ihr helfen, könnte sie wieder gesünder machen, hätte damit aber auch meine eigene Situation verschlechtert. Also blieb das Fläschchen, wo es war und alles, was ich ihr gab, waren Worte. “Es tut mir so leid, Garwenia”, sagte ich, “bestimmt wird es dir bald besser gehen.”
Ein wenig war ich sogar darüber erleichtert, dass ihr Bewusstsein da schon wieder in unbekannte Sphären abgeglitten war. Andernfalls hätte ich sicherlich die Enttäuschung über meine lahmen Worte, über die billige, fadenscheinige Lüge und über meine Selbstsucht in ihren Augen lesen können.
“Sie braucht jetzt Ruhe”, hörte ich Branosch hinter mir sagen. Schuldbewusst und von Selbstekel erfüllt, leistete ich seiner Bitte instinktiv Folge und entfernte mich zusammen mit dem hageren Anführer der Rebellengruppe ein paar Schritte von der schwerkranken Garwenia. Anscheinend hatte Branosch unser Gespräch belauscht. “Garwenia sagte, dass du uns retten wirst. Stimmt das oder entspringt es nur ihren Fieberfantasien? Und wenn sie die Wahrheit spricht, was genau meint sie dann damit?”
Einen Moment sah ich in das ernste, bärtige Gesicht von Branosch und überlegte, ob ich es fertigbringen würde auch ihn zu belügen. Aber im Grunde ist es dabei wie bei allen unmoralischen Handlungen: Das erste Mal fällt schwer, danach aber wird es immer leichter und wenn man einmal einen solchen Weg eingeschlagen hat, ist es verdammt hart, wieder umzukehren. Also erzählte ich ihm in den schillerndsten Farben von der Macht des Katalogs und mit jedem Wort hellten sich seine Züge auf. Kaum, da ich geendet hatte, wandte er sich laut an alle anderen und stellte mich ihnen als Retter und Heilsbringer vor. Da ich ihm zumindest erzählt hatte, dass sich der Katalog gerade nicht in meinem Besitz befand und das Ryxah mir verraten hatte, dass er sich im Keimpfuhl befinden soll, fragte er die anderen ebenfalls, ob ihnen ein solcher Ort bekannt sei. Tatsächlich meldete sich eine ältere Bravianerin namens Arschena und erzählte, dass sie tatsächlich den Weg zum Keimpfuhl wüsste, welcher durch einen engen und gut versteckten Seitentunnel führe. Auch wenn sie äußerst nachdrücklich darauf hinwies, dass es ein extrem gefährlicher Ort sei, brach daraufhin eine regelrechte Euphorie aus und man feierte mich schon jetzt als Helden. Das verursachte bei mir zwar ein unheimlich schlechtes Gewissen, brachte mich jedoch nicht dazu die Zweifel zu äußern, die ich wegen des Katalogs und bezüglich seiner Fähigkeit zum Transport mehrerer Personen hegte.
Immerhin schien mir dieser unverdiente Erlöserstatus endgültig die Tore zur ihrer Gemeinschaft aufzustoßen. Nachdem sich ausnahmslos alle auf ihre Krankenlager gebettet hatten, unterhielt ich mich mit Garwinor, Arienesch, Ranieram (allesamt Bravianer mit eher weniger dramatischen Krankheiten, von denen es keinen so schlimm erwischt hatte wie Garwenia), aber auch mit einigen Menschen. Zu ihnen gehörte auch Brian, ein sehr mitteilsamer amerikanischer Soldat mit größtenteils ausgefallenen Haaren und Zähnen und einem gewaltigen Kropf, der sich bei einem Auslandseinsatz im Irak verirrt hatte, niedergeschossen wurde und irgendwie in Hyronanin wieder aufgewacht war. Er vermutete, dass die Gesunder oder einer ihrer Handlager (also jemand, wie ich es werden sollte) ihn entführt hatten und ich teilte seine Vermutung. Ein ebenfalls sehr interessanter Gesprächspartner war Zindor, der offensichtlich zu jenen Stämmen gehörte, die in Dank Qua gegen die Gärtner und gegeneinander kämpften. Mein Interesse an ihm lag aber vielmehr darin begründet, dass er der erste lebende Mensch aus diesem Volk war, dem ich begegnete und weniger an seinem Charme.
Man merkte Zindor an, dass er einer Kultur angehörte, die sich fast ausschließlich kannibalisch ernährte und ständig Krieg führte. Am liebsten redete er von Methoden andere Menschen zu töten und bedauerte wortreich, dass dies in Hyronanin nicht wirklich möglich war. Andere Themen waren der Geschlechtsakt im Allgemeinen und Speziellen inklusive detaillierter Schilderungen über die sexuellen Fähigkeiten, Vorzüge und Mängel jedes Mitglieds der Rebellen. Dabei erfuhr ich auch, dass Branoschs Geschlechtsteil schon vor Jahren einer krankhaften Fäulnis zum Opfer gefallen war, was immerhin meine irrationale Eifersucht ihm gegenüber ein wenig dämpfte. Zudem ließ Zindor sich lang und breit über den Geschmack von Menschenfleisch aus und betonte, dass er rohem Fleisch immer den Vorzug vor Gebratenem geben würde und dass die Leber von rothaarigen Knaben geschmacklich ein echter Geheimtipp sei. Ich musste zugeben, dass mich diese Schilderung beunruhigte, jedoch unternahm er immerhin nicht den Versuch von mir zu kosten und sah mich auch nicht allzu hungrig an. Überhaupt – Hunger. Erst jetzt fiel mir auf, dass ich in der ganzen Zeit, in der ich schon in Hyronanin war, keinerlei Hunger verspürt hatte. Auch hatte ich noch niemand anders hier essen sehen. Offensichtlich schien dieser Ort – bei allen Krankheiten, die er verursachte – auch jedes Bedürfnis und jede Notwendigkeit zu essen auszuschalten.
Aber selbst wenn ich zuvor noch Hunger verspürt hätte, so hätten Zindors Erzählungen ihn ohnehin vertrieben und so war ich sehr erleichtert, als er sich ein paar Minuten später entschuldigte, um sich in sein Krankenlager zurückzuziehen und sich etwas auszuruhen. Auch ich spürte eine gewisse Erschöpfung, obwohl mein Schlafbedürfnis anscheinend durch das Fläschchen Gesundheit ebenfalls gemindert worden war. Also nahm ich noch ein paar Tropfen (Die Stunde war praktischerweise gerade wieder um), womit noch vier Stunden und Dosen verblieben und bat eine der Wachen mich in einer Dreiviertelstunde wieder zu wecken. Immerhin würde ich so etwas Ruhe bekommen und zudem befanden sich sowohl der Keimpfuhl als auch die Portalmaschine nicht allzu weit entfernt. Ersteres hatte Arschena verlauten lassen, letzteres zeigte mir der digitale Kompass an meiner Bravianischen Uhr. Welchen Weg ich jedoch einschlagen würde und ob ich es wirklich riskieren würde mit so wenig verliebendem Heilmittel einen so gefährlichen Ort zu besuchen, wusste ich noch nicht, auch wenn ich den Rebellen natürlich etwas anderes erzählt hatte. “Vielleicht rette ich euch, womöglich, mache ich aber auch mit euren Unterdrückern gemeinsame Sache, bis mir die Gelegenheit günstiger erscheint”, war nicht unbedingt die Art von Äußerung, die die Leute gern von ihren Idolen hörten.
Also legte ich mich ebenfalls in die Nähe einer der Höhlenwände hin, nutzte einige von den Lumpen, die mir – dem Retter und Helden – zu diesem Zweck zur Verfügung gestellt worden waren, als Kopfkissen und schlief bereits kurze Zeit später ein, obwohl rings um mich Personen würgten und husteten.
~o~
Als ich wieder erwachte, hustete ich ebenfalls. Allerdings war “Husten” dafür noch eine sehr harmlose Beschreibung. Meine Lungen brannten vielmehr wie Feuer und bei jeder Eruption, die durch meinen Brustkorb jagte, hatte ich das Gefühl winzige Stücke von Lungengewebe auszuhusten. Mein ganzer Körper glühte vor Fieber und meine Augen waren so verkrustet und verklebt, dass ich kaum etwas sehen konnte. “Branosch! Garwenia! Antiella!” röchelte ich, aber das Echo, welches meine raue, brüchige Stimme in der Höhle erzeugte, blieb meine einzige Antwort. Waren die anderen allesamt verschwunden? Ein heftiges Gefühl der Angst, der Einsamkeit und der Orientierungslosigkeit gesellte sich zu den Schmerzen in meiner Brust. Ich wollte noch einmal nach den anderen rufen, scheute aber davor zurück, da jedes Wort wie ein Messer in meiner Kehle schmerzte. Stattdessen öffnete ich unter größter Anstrengung und Mithilfe von schwachen und zittrigen Fingern meine verkrusteten Augen.
Es war genau, wie ich befürchtet hatte. Ich war allein und offensichtlich hatte ich so lange geschlafen, dass die Wirkung des Fläschchens Gesundheit geschwunden und ich den vielfältigen Keimen von Hyronanin schutzlos ausgeliefert gewesen war, da niemand mich geweckt hatte. Wo aber waren sie hingegangen? Warum sollten sie mich zurücklassen, wo ich ihnen doch die Hoffnung auf ein besseres Leben angeboten hatte? Ich hatte keine Antwort darauf. Aber als meine unkoordiniert zuckenden Finger auf der Suche nach der Flasche Gesundheit ins Leere griffen, hatte ich das Gefühl, dass mir die Antwort auch nicht gefallen würde.