Tarena blickte auf das abgenagte, blutige, aber von seiner Statur noch immer beeindruckende Skelett der toten Rorak. Dann wanderte ihr Blick zu ihrem Sohn und dessen fremdartigen, aufgedunsenen, blutverschmierten Kopf. Sie hatte selbst schon oft lebendiges Fleisch gefressen, hatte sogar ihre eigenen Kinder verspeist, während ihr Sohn, ihr unschuldiger Sohn lediglich totes Fleisch verzehrt hatte. Und doch stieß sie sein Anblick ab, wie es sich eigentlich nicht für eine Mutter gehörte. War das hier noch Andy, oder hatte sie bei ihrer Flucht lediglich einen Teil von Nollotsch mit sich genommen, der seine Form benutzt? War es ihre eigene Veränderung, die ihren Blick verzerrte? Die Folgen eines Traumas? Ein Zeichen unverzeihlichen Egoismus? Oder war es lediglich eine weitsichtige, innere Stimme, die sie warnte?
So gut sie konnte, versuchte Tarena diese kreisende Fragen und vor allem diese unangenehme Empfindung zu verdrängen, war Andy doch eine der wenigen verbliebenen Konstanten in ihrem immer chaotischer werdenden Leben.
Sie schüttelte ihren Ekel ab, ging auf ihren Sohn zu und nahm ihn einmal mehr auf den Arm, wobei sie immerhin erkannte, dass die kompromisslose, blinde Gier, die ihren Sohn in den letzten Minuten beherrscht hatte, der Vergangenheit angehörte. Sein Hunger war gestillt. Dennoch hatte sie fast den Eindruck, dass er sich noch weiter verändert hatte. Dass er noch weicher, größer und unförmiger geworden war. Sie war sich nicht sicher, nein, aber dennoch traten Angst und Sorge an die Stelle ihrer mühsam verdrängten Abscheu.
„Danke“, sagte sie dennoch knapp, an Any gerichtet und hieß die Gelegenheit willkommen, ihren Blick von ihrem Sohn abzuwenden.
„Kein Problem. Auf diese Weise dient der Tod dem Leben. Ein sinnvoller Kreislauf“, antwortete Any, „außerdem haben wir hier keinen Mangel an Feinden. Die Leichenproduktion steht nicht still, wenn du verstehst.“
Ein kurzes Lächeln huschte über Anys cremeweiße Lippen. Wie um ihren Worten recht zugeben fuhr eine weitere Erschütterung durch das Efryum und drohte sie erneut von den Füßen zu reißen. Diesmal gelang es Tarena jedoch besser, die Balance zu halten.
„Nachschub für die Produktion?“, fragte Tarena.
„Sieht ganz so …“, begann Any, als ihre Worte von einem ohrenbetäubenden Krachen unterbrochen wurden.
„Was war das?“, fragte Tarena besorgt als der Lärm endlich nachließ und die dumpfe Taubheit aus ihren Ohren gewichen war, „das klang anders als zuvor.“
Any antwortete nicht. Ihr Blick war starr auf die Treppe gerichtet. Tarena fuhr herum und sah in dieselbe Richtung.
Auf ebenjener Treppe entdeckte sie die schwarzen, mit dem Wappen von Astrera verzierten Uniformen von Rorak, Andrin und Bravianern, die nach- und nebeneinander die breiten Stufen heruntereilten, Schusswaffen in den Händen.
Tarena hatte keine Waffe bei sich, abgesehen von Adrians Peitsche. Tarena aktivierte sie. Aber noch bevor sie auch nur daran denken konnte, sie einzusetzen und sich den Eindringlingen entgegenzustellen, sah sie eine Phalanx aus Gräber-Geschossen direkt auf die Kuppel zufliegen.
Any reagierte schneller als sie. Statt den Feinden im Kampf zu begegnen, schwang sie ihr Pendel in einem komplizierten Zick-Zack-Muster. Noch ehe die Angreifer und die Masse der lebenden Geschosse das offene Tor erreichten, schloss es sich und versprühte ein schimmerndes, bläuliches Energiefeld, welches sich fast augenblicklich über die gesamte Kuppel ausbreitete. Drei Gräber jedoch schlüpften durch die Öffnung, bereit ihre tödliche Bestimmung zu erfüllen.
Sofort ließ Tarena Andy auf den Boden sinken, schwang ihre Peitsche und zerfetzte einem der rattenartigen Geschöpfe das Rückgrat. Zwei jedoch sprangen an ihr vorbei, direkt auf Any zu, die sie wohl instinktiv als ihre wichtigste Gegnerin erkannten.
Die Frau, die vollkommen versunken in ihrer Pendelarbeit war, bekam von diesem Angriff rein gar nichts mit.
„Vorsicht!“, rief Tarena warnend, aber Any schien sie nicht zu hören. Ihre Augen blieben allein auf ihr Pendel gerichtet, selbst als sich die Gräber genüsslich in ihre gepanzerte Brust bohrten.
„Verdammt, nein“, flüsterte Tarena entsetzt, die als Adrian Gefährtin und Zuhörerin genau wusste, was das bedeutete. Ihre Beschützerin war verloren. Ihr Körper mochte vorerst noch atmen und sich bewegen, aber das war eine Momentaufnahme, ein letztes Abbild der Vergangenheit. Im Grunde stand hier bereits eine Leiche. Eine zerfetzte, entstellte Leiche.
Entsprechend kümmerte sich Tarena auch nicht mehr um die Hüterin des Efryums, deren schmackhafter Körper die lebenden Waffen zumindest eine Zeitlang davon abhalten würde, sich auf sie und Andy zu stürzen. Stattdessen blickte sie auf die kleine Einsatztruppe, die sich vor der Kuppel versammelt hatte. Es waren etwa zwei Dutzend. Hauptsächlich Bravianer und Rorak. Frauen und Männer. Sie sah in ihre Gesichter. Gesichter, die weitaus individueller waren als es ihre Uniformen vermuten ließen. Viele von ihnen schmückten sich mit Tätowierungen. Bunten Sternen, verspielte Runen, unbekannten Tieren, klangvollen Namen, die ihnen selbst oder auch nahestehenden Personen gehören mochten oder auch mit kurzen Sinnsprüchen. Manche hatten silbern oder golden schimmernde Haare, andere verschiedenfarbige Augen und einige außergewöhnlich breite oder längliche Gesichtsformen, die auf plastische oder genetische Eingriffe hindeuteten.
Allesamt Merkmale, die exotisch und individuell wirkten, jedoch nur selten bedrohlich. Genauso wie die Personen, die sie trugen. Sie schienen entschlossen, ja. Kriegerisch, wie es bei Soldaten zu erwarten wäre, aber nicht böse. Nicht im eigentlichen Sinne. Nicht wie die Sadisten oder Psychopathen, wie man sie mit Kriegern einer chaotischen Macht verbindet und wie Tarena es nach den Andeutungen von Any und Adrian erwartet hatte. Trotz ihrer Lage nahm sie sich die Sekunde, einige der Slogans zu entziffern. „Ich bin kein Zahnrad“, „Zufall ist der Treibstoff der Freiheit“, „Brich die Maschine“ und „Mein Leben gehört mir“ standen dort in verschiedenen Sprachen geschrieben, die für Tarena jedoch kein Hindernis darstellten.
Diese Leute traten offenbar für etwas ein, sei es nun eine schöne Lüge oder ein echtes Ideal. Aber dennoch würden sie wahrscheinlich nicht zögern, sie zu töten, wenn sie die Gelegenheit bekämen. Sobald die Gräber Anys Gehirn erreichten und die Barriere fiel, würden diese Leute in die Kuppel hineinstürmen und sie auseinandernehmen. Erst sie, dann Andy und zuletzt Adrian.
Und das konnte Tarena ihnen nicht einmal wirklich übelnehmen. Sie waren Soldaten. Sie wähnten sich im Krieg und fühlten sich jener Mission verpflichtet, die sie hergeführt hatte. Damit hatten sie ihr einiges voraus. Tarena hatte keine Mission. Über Anys wirkliche Absichten wusste sie viel zu wenig, um mit ihr zu sympathisieren, selbst wenn sie nicht tot gewesen wäre. Adrian war – zumindest im Moment – praktisch ein Zombie und Andy war genauso sehr ihr Kind wie ein Fremder.
Wenn überhaupt, dann war am ehesten Nollotsch ihre Mission und den hätte sie am liebsten in Flammen aufgehen lassen. Trotzdem würde sie sich verteidigen, würde ihr Leben schützen, wie es jedes Lebewesen tat, wenn es in Bedrängnis geriet.
Aber würde sie das wirklich? Musste sie das wirklich? Sie konnte kämpfen, ja. Aber letzten Endes war sie eine Diplomatin. Ob sie nun wollte oder nicht.
„Hört mich an!“, rief sie in der Sprache der Bravianer, „das hier muss keine lange, blutige Belagerung für euch werden. Ich bin nicht eure Feindin. Diese Frau hat mir Zuflucht gewährt, ja, aber ich bin nicht ihre Verbündete. Ich weiß nichts über euren Konflikt. Lasst mich, meinen Freund und meinen Sohn ziehen. Dann öffne ich euch die Kuppel und erzähle euch alles, was ich weiß. Und wenn ihr mögt, könnt ihr mir von eurer Mission berichten, vielleicht kann ich euch sogar helfen, sie zu erfüllen. Zeigt mir das Ulandora, wenn ihr einverstanden seid.“
Kaum da sie die ersten Worte gesprochen hatte, bemerkte Tarena, wie ihr Selbstbewusstsein wuchs. Ihre Stimme hallte wie eine Offenbarung durch das Efryum. Laut, tragend und fast mystisch. Weder ihre Verzweiflung, noch ihre Todesangst waren ihr anzumerken und zu ihrer großen Überraschung begannen die Angreifer angeregt miteinander zu diskutieren. Sie taten es leise, zu leise selbst für Tarenas Ohren, aber dass sie es taten, stand außer Frage.
Tarena verspürte den wachsenden Drang, nach Any zu sehen, nach Andy und Adrian, doch sie wusste, dass sie diesem Impuls nicht nachgeben durfte. Sie musste alles vermeiden, was womöglich Misstrauen erregte oder das Ganze unnötig in die Länge zog. Was sie hier tat, war ein bloßes Pokerspiel. Immerhin wusste sie nicht, wie lange das Kraftfeld nach Anys Tod noch intakt bleiben würde. Wenn es ohne ihr Zutun verschwand, konnte sie sich ihre gesamte Diplomatie in die Haare schmieren.
Schließlich, nach gefühlt unendlich vielen Schwingungen des imaginären Pendels in ihrem Kopf, das die Zeit in kleine, wahrnehmbare Einheiten teilte, geschah es. Die Hand eines dunkelhaarigen Bravianers mit einem roten und einem gelben Auge und Blumenranken im Gesicht, formte das Ulandora. Jenes bravianische Friedenszeichen, bei dem sich Daumen und kleiner Finger berührte und die restlichen Finger gerade nach oben wiesen. Sie war froh, dass Bravianer zu der Gruppe gehörten. Die meisten Rorak verstanden wenig vom Frieden, von den Andrin ganz zu schweigen.
„Danke“, sagte Tarena erleichtert, „ihr werdet es nicht bereuen. Gebt mir nur einen Augenblick.“
Dann drehte sie sich um und ging auf Any zu. Die Hüterin des Efryums war überraschenderweise noch nicht explodiert oder zerfetzt worden und stand sogar noch auf ihren Beinen. Aber sie wirkte starr, leblos, wie eine Statue, ganz ähnlich wie Adrian.
Hatten die Gräber sie innerlich zerfressen und dabei selbst den Tod gefunden? Konnten sie ihren harten, gepanzerten Körper nicht mehr verlassen? In jedem Fall schien kein Leben mehr in Any zu stecken. Dass das Kraftfeld trotzdem noch existierte, war auf der einen Seite beruhigend, aber wenn es weiterhin bestehen blieb, wäre sie genauso gefickt. Irgendwie musste es ihr gelingen, es zu deaktivieren.
Der Schlüssel dazu lag sicherlich in Anys Pendel, aber da sie die nötigen Bewegungsmuster nicht kannte, brachte ihr diese Vermutung nicht viel. Tarena riskierte einen raschen Blick auf die Angreifer, die zunehmend ungeduldig zu werden schienen. Sie fragte sich, ob die Soldaten das Kraftfeld und die Kuppel auch ohne ihr Zutun über kurz oder lang sturmreif schießen konnten oder ob sie dazu bestimmt sein würde hier drin auszuharren, bis ihr Sohn erst sie, dann Adrian und schließlich sich selbst vor lauter Hunger verschlingen würde.
Dann jedoch kam ihr ein Gedanke. Sie erinnerte sich an das, was Adrian mit der Peitschenmünze und seiner Chaos-Murmel zustande gebracht hatte. Er hatte dadurch Einblick in Dinge erhalten, die ihm andernfalls verschlossen geblieben wären, selbst wenn diese Einblicke nicht immer zuverlässig gewesen waren. Die Chaos-Murmel stand ihr zwar nicht zur Verfügung, da Any sie auf unbekannte Weise vor ihr verborgen hatte, aber Tarena wusste, wie sie Zugriff auf die anderen Murmeln bekommen konnte, war doch dieses Pendelmuster nicht ganz so kompliziert gewesen. Sie griff nach dem Pendel in Anys Hand, das sie ihr mühelos entwenden konnte, was ihre letzten verbliebenen Zweifel an ihrem Tod ausräumte. Dann ging sie damit ein paar Schritte auf Adrian zu, schwang das Pendel und rief seine Seelentafel herbei, wobei sie sich ein wenig schäbig fühlte, fast als würde sie Adrians Tagebuch lesen oder ungefragt in seine Gedanken eindringen. Aber leider hatte sie gerade kaum eine andere Wahl.
Ihr Blick flog über jene Murmeln, die in ihren Fassungen ruhten. Das von Any erschaffene Konstrukt, welches als einziges Element verloren im Chaos-Quartal steckte, würde sie natürlich nicht benutzen, da es wahrscheinlich alles war, was Adrian noch halbwegs am Leben hielt. Genauso wenig würde sie die Kugeln anrühren, die seine Fähigkeiten oder erlebten Abenteuer betrafen. Stattdessen entschied sie sich für eine der Ordnungsmurmeln, von denen ihr Freund ohnehin mehr als genug angesammelt hatte. Vielleicht würde das sogar noch besser funktionieren und ihr einen zuverlässigen Rat geben, wo das Chaos nur Wahrscheinlichkeiten anbot.
Sie fackelte nicht lang, wissend, dass die Angreifer sicherlich nicht viel Geduld mitgebracht hatten und dass das Kraftfeld noch immer jederzeit verschwinden konnte. Ihre drängendste Frage im Herzen nahm sie die schneeweiße Murmel heraus und führte sie zu der Peitschenmünze in ihrer Hand.
Augenblicklich verschwand die Welt vor ihr und sie sah einen weißen Raum vor Energie knisternden Raum, in dem gleichsam weiße Schnüre von der Decke hingen. An diesen Schnüren war ein Ebenbild von ihr befestigt, welches bleich, kauernd, kraftlos und scheinbar leblos an den Fäden hing. Tarena erschrak und verspürte den irrationalen Wunsch sich zu vergewissern, dass diese Kopie ihres Selbst nicht so tot, nicht so erschreckend leblos war, wie sie aussah.
Doch bevor sie ihr Abbild berühren oder ansprechen konnte, begann es sich ruckartig und mechanisch zu regen, fast wie ein auf den Rücken geworfener Käfer, der sich mühsam auf die Beine kämpfte. Das Abbild richtete sich auf, öffnete seine linke Hand und offenbarte ein Pendel, welches es sofort in einem komplizierten Muster zu schwingen begann. Ein vielschichtiges, schnell gezeichnetes Muster, das Tarena sich unmöglich merken konnte, wie sie verzweifelt erkannte, als die Bewegung endete.
Nach ein paar Sekunden jedoch, begann die Sequenz von neuem. Sie wiederholte sich einmal, dann noch einmal und dann wieder. Tarenas Augen folgten den Bewegungen berauscht, hypnotisiert, sklavisch. Und während sie das taten, bemerkte sie, dass sie das Muster langsam doch zu verstehen begann. Es erinnerte sie vage an eine Rune aus dem alten Dank Qua. Eine Rune, die man dort einst auf Häuser gemalt hatte, um Wanderern anzuzeigen, dass Besuch erwünscht war. Lange, bevor man diesen Besuch kurzerhand ermordet, ausgenommen und verspeist hätte. Und dieses Verstehen, dieses Erkennen, war bezaubernd, geradezu erhaben. Ja, je mehr sie verstand, je mehr sie erinnerte und dem Fluge des Pendels in der Hand ihrer Doppelgängerin folgte, desto mehr wollte sie davon sehen. Sie wollte sehen, wie es hin und her schwang, hin und her, einen Bogen beschrieb, hin und her, einer Linie folgte, hin und her. Immer wieder, immer wieder. Solange dieser Raum existierte. Solange das Multiversum existierte.
„Was mache ich hier eigentlich?“, rief sie sich zur Ordnung oder – in diesem Fall zur Unordnung, als sie erkannte, wohin dies führen würde. Ein Teil von ihr wollte augenblicklich fliehen, wollte sich und die gewonnene Erkenntnis retten, aber ein anderer wehrte sich dagegen, wollte um jeden Preis hierbleiben. Dieser Teil von ihr versuchte ihre Sinne zu verwirren und ihre Zunge zu lähmen, damit sie nicht auf den absurden Gedanken kam, dieses wunderschöne, gleichmäßige, stille Schauspiel zu stören.
„Genug!“, keuchte Tarena mühsam lallend, aber entschlossen und sofort fiel ihr Ebenbild in sich zusammen, so leblos und starr wie zuvor und hörte damit auf, das Pendel zu schwingen.
Der Raum löste sich auf, diffundierte vor ihren Augen ins Nichts und binnen zweier Atemzüge war sie zurück im Efryum. Erleichtert, zumindest dieser Falle entkommen zu sein und zugleich erfüllt von ein wenig Sehnsucht nach diesem einfachen, berechenbaren Raum, legte sie die Murmel zurück in die Seelentafel, ließ sie verschwinden und schwang das Pendel in vollendeter Perfektion auf die soeben gelernte Weise.
Sie spürte einen kurzen, sanften Luftzug. Ein Rascheln, wie von blechernem Laub, erklang. Dann verschwand das Kraftfeld und die Tür öffnete sich.
„Das hat lange gedauert“, sagte eine glatzköpfige Andrin etwas mürrisch. Ihr Gesicht und ihr gesamter Kopf waren mit Sternen, nein, mit einem regelrechten Firmament bedeckt, dessen Hauptgestirne ihre golden leuchtenden Augen bildeten. Sie hielt ihre schlanke, silberne, an eine Mischung aus Gewehr und Speer erinnernde Schusswaffe halb erhoben in beiden Händen.
„Ich musste erst herausfinden, wie es funktioniert“, erklärte Tarena wahrheitsgemäß, „wie gesagt, ich bin nicht Anys Verbündete. Sie hat mich nicht in alle ihre Geheimnisse eingeweiht.“
Die Andrin nickte und ging ein paar schlangenhafte Schritte über die Schwelle. Vorsichtig, so als ob sie damit rechnete augenblicklich von irgendwelchen versteckten Monstren oder Fallen erwischt zu werden. Tarena konnte ihr das nicht verübeln, sie wusste ja selbst nicht, welche Vorkehrungen Any für solche Fälle getroffen hatte.
Als die Frau nicht explodierte, folgten ihr die anderen hinein. Während sie sich wie schwarzes Wasser in der Kuppel sammelten, warf Tarena einen nervösen Blick auf Andy. Sein Gesicht drückte mehr aus als bloße, kindliche Neugier, während seine hungrigen Augen den Neuankömmlingen aufmerksam folgten. Um Schlimmeres zu verhindern, beeilte sich Tarena ihr Kind auf den Arm zu nehmen.
„Was für ein hässliches Kind“, urteilte einer der Rorak, ein blonder, narbenübersäter Kerl, tätowiert mit protzigen Schwertern auf den Armen und dem Wort „Mora“ auf der breiten Stirn. Er trug eine Gräberkanone seinen massigen, schwieligen Händen. Wahrscheinlich war er derjenige, der Any auf dem Gewissen hatte, „bist du sicher, dass das nicht die Nachgeburt ist?“
Tarena spürte, wie eine gepfefferte Bemerkung über ihre Lippen rutschen wollte. Sie mochte ihr Kind gerade selbst nicht sehr ästhetisch finden, aber niemand hatte das Recht so über Andy zu sprechen, schon gar nicht so ein dahergelaufener Pisser. Ihr früheres Jägerinnen-Ich hätte diesem vorlauten Dreckskerl wahrscheinlich bereits die Augen ausgestochen. Aber sie war nun eine Diplomatin und das schien ihr eine unglaubliche Selbstbeherrschung zu verleihen.
„Halt dein Maul, Noraf“, sagte eine großgewachsene, dunkelhaarige Rorak mit pinken, wallenden Haaren und einem länglichen Gesicht mit roten Wellentätowierungen, „wir schätzen Vielfalt. Deshalb sind wir hier. Jeder von uns hat seinen eigenen Schönheitsstandard und wenn ich meinen anlege, bist du auch kaum attraktiver als ein Haufen vergammelte Zuhhonka-Scheiße!“
Halb erwartete Tarena, dass dieses Gespräch in einem Mord oder wenigstens einem Handgemenge enden würde, aber Noraf knurrte nur irgendetwas Unverständliches und wandte dann den Blick ab.
Tarena atmete auf, doch ihre Erleichterung währte nur kurz.
„Was!? Ist das etwa … Mora?“, fragte Noraf gepresst, während er auf die tote, von Andy halb verspeiste Rorak zuging und ihr über das zerfleischte Gesicht strich. Dass er sie überhaupt noch erkennen konnte, war ein Wunder. Ein Wunder, das aber durch den Schmerz in Norafs Gesicht zur Genüge erklärt wurde. Er hatte diese Kriegerin geliebt. Ob als Partnerin, Freundin oder Schwester war dabei nicht klar, aber vielleicht auch nicht wichtig, „was habt ihr Zahnradlutscher mit ihr angestellt? Sie abzumurksen ist eine Sache, aber das hier. Das ist …“
„Ich habe damit nichts zu tun“, verteidigte sich Tarena und bemühte sich, keinen verräterischen Blick auf ihren Sohn zu werfen und sich zu vergewissern, ob noch Blut oder Gewebereste an seinem Mund klebten, „das war allein Anys Werk.“
Tarena zeigte auf die Frau, die reglos auf dem Boden lag.
„Sehr bequem, einer Toten die Schuld zu geben“, sagte Noraf, während er auf Anys Leiche zuging, auf sie spuckte und ihr einen harten Schlag gegen den Kopf gab. Ein metallisches Geräusch erklang, aber sie rührte sich nicht.
„Wer bist du eigentlich?“, fragte eine lockenköpfige, rothaarige Bravianerin ohne Tätowierungen, aber mit besonnenem, intelligentem Blick, „Woher kennst du überhaupt all unsere Sprachen und was hast du im Kern dieses tyrannischen Unheils zu suchen, wenn du keine Schuld daran trägst?“
Nun fühlte Tarena sich tatsächlich ein wenig ratlos. Wie sollte sie ihre Geschichte so zusammenfassen, dass diese Leute sie verstanden und nicht die falschen Schlüsse zogen? Sie wusste nicht viel über die Anhänger von Astrera, vermutete aber, dass auch diese Leute nicht unbedingt begeistert wären, es mit der Dienerin eines Planetenkrebses zu tun zu haben.
„Ich bin eine Fortgeschrittene“, improvisierte sie, „mein Katalog hat mich in diese Welt geführt und ich habe mich vor den Kreaturen in den Bergen hierhin geflüchtet.“
„Eine Fortgeschrittene?“, wunderte sich die Bravianerin, „Dann solltest du eigentlich bei ‚Ran‘ sein und den Angriff auf Neuratia begleiten. Nicht hier, wo deinesgleichen eigentlich dem Tode geweiht ist.“
„Genug des Geplänkels“, meldete sich die Andrin zu Wort und ging dabei direkt auf Tarena zu, ihre Waffe bedrohlich erhoben, „während dieses Uhrwerkrädchen uns seine Geschichten auftischt, sterben da draußen noch immer unsere Leute durch dieses miese Gebäude und bevor wir die Kernachse gefunden haben, wird das nicht aufhören. Also – ‚Fortgeschrittene‘ – kannst du uns sagen, wo sie das Scheißding versteckt haben oder bist du nutzlos für uns?“
Tarena wurde eiskalt. Natürlich hatte sie keine Ahnung, wo diese Achse zu finden war oder wovon genau diese Frau überhaupt sprach. Allerdings verstand sie, dass sie womöglich zu viel riskiert hatte, als sie sich entschieden hatte, mit diesen Leuten zu verhandeln. Diplomatie war etwas Mächtiges, aber sie war zugleich eine stumpfe Waffe, wenn man im Notfall kein Druckmittel in der Hinterhand hatte. Tarena wusste, dass sie stark war. Das war sie schon vor ihrer Transformation gewesen. Wenn diese Andrin es auf einen Konflikt anlegte, fühlte sie sich durchaus in der Lage sich zu wehren, ja sich vielleicht sogar einen Weg nach draußen zu bahnen. Aber was würde sie dort erwarten?
Wenn sie es richtig verstanden hatte, war der Angriff auf das Gebäude noch immer im vollen Gange und lediglich diese kleine Gruppe hatte es irgendwie geschafft in das Efryum einzudringen. Sie wusste nicht, wie viele Soldaten dort draußen lauerten und sie hatte auch nicht die Absicht die Leben von Adrian und Andy zu gefährden.
„Ich … ich weiß es nicht genau“, gab Tarena zu, während sie nervös über die Peitschenmünze in ihrer Hand fuhr, vorerst ohne sie zu aktivieren, „aber ich kann euch gerne bei der Suche helfen.“
„Verkauf mich nicht für dumm, Schlampe!“, sagte die Andrin speichelsprühend, schnellte dabei wie eine Kobra nach vorn und drückte den Lauf ihrer Waffe direkt gegen Tarenas Stirn.
„Lass sie in Ruhe“, wandte die Bravianerin ruhig ein, „wir sind vielleicht im Krieg, aber wir müssen uns nicht benehmen, wie Tiere.“
„Besser Tiere als Maschinen!“, sagte die Andrin und drückte ab. Genauer gesagt, Tarena war sich absolut sicher, dass ihr Gehirn ihren Händen diesen Befehl gegeben hatte, aber dieser Befehl erreichte sie nicht. Tarena, die längst mehr war als das, was sie bei ihrer Geburt gewesen war, hatte ihre zusätzlichen Hände blitzschnell um den schlanken Körper der Andrin gelegt, sie ihr in den Rücken gebohrt und ihr mit einem kräftigen Ruck das Rückgrat zertrennt. Schreiend und querschnittsgelähmt fielen Frau und Waffe auf den Boden, während Tarena die Münze in eine Peitsche verwandelte.
„Feuer!“, keifte der Rorak und pumpte eine Ladung Gräber direkt in Tarenas Richtung. Tarena aber hatte damit gerechnet und zerlegte die lebenden Geschosse kinderleicht mit ihrer zielsuchenden Peitsche, wobei sie sich bemühte, ständig in Bewegung zu bleiben.
Während der Rorak offenbar nachladen musste und die anderen Soldaten noch zögerten, startete sie einen Gegenangriff, indem sie die Peitsche um die Gräberkanone schlang und sie aus der Pranke des Kriegers riss. Es funktionierte. Und nicht nur das. Da die Hand des Rorak auch von der teuflischen Waffe berührt wurde, wirkte die besondere Magie, die sie Adrians Aktion im Inneren von Nollotsch zu verdanken hatte. Die fleischige Faust des Rorak wurde sofort taub und bewegungsunfähig.
„Mist!“, knurrte Noraf wütend. Dann holte er mit seiner Linken eine weitere, kleinere Waffe aus seinem Gürtel und eröffnete – diesmal mit gewöhnlichen Geschossen – erneut das Feuer auf Tarena. Die anderen Rorak-Soldaten, die ebenfalls über eine konventionelle Bewaffnung verfügten und auch die Andrin, deren Waffen teilweise geschliffene Metallscheiben verschossen, schlossen sich ihm an.
Tarena aber erwies sich als zu flink, drehte Pirouetten, machte wilde Sprünge und entschloss sich, den lähmenden Effekt der Peitsche strategisch einzusetzen. Statt ihren Gegnern mühsam Haut und Fleisch abzureißen, bis sie irgendwann verbluteten, versuchte sie lediglich Arme und Beine ihrer Feinde zu treffen. Auf diese Weise machte sie zwei Andrin und vier Rorak kampfunfähig, während sie selbst nur einige Streifschüsse kassierte, die ihre Bewegungsfähigkeit kaum einschränkten.
„Zermetztelt die Hure!“, verlangte die am Boden liegende, gelähmte Andrin wütend, „und ihr Balg und ihren Freund gleich mit. Zerbrecht ihre Knochen. Lasst sie leiden!“
„Nein!“, flehte die Bravianerin, der das Entsetzen über die Geschehnisse am Gesicht abzulesen war und gab ihren Leuten dabei ein Zeichen, sich zurückzuhalten, „so sollte das nicht laufen. Wir sind nicht hier, um zu morden, sondern um uns zu befreien. So wenig Opfer wie möglich und keine Unbeteiligten, das war unsere Vereinbarung. Hört auf!“
„Wie du gesagt hast, Lennia: Wir sind im Krieg“, sagte der Rorak düster, „und im Krieg gibt es keine Grenzen.“
Dann schwenkte er den Lauf seiner Waffe zu Andy. Und schoss.
Die schweren Kugeln schlugen hart in den Wasserkopf des kleinen Jungen ein. Blut und Gewebeflüssigkeit spritzten an die gläserne Decke der Kuppel, während Andy einen spitzen, zirpenden Schrei von sich gab und dann einfach umkippte.
„Ja!“, lachte die am Boden liegende Andrin hysterisch, „verdammt nochmal, ja!“
Tarena, die den Angriff auf ihren Sohn wie in Zeitlupe beobachtete, bekam das Gefühl, dass sich die Welt von ihr lösen würde. Dass sich alles, die Bilder, die Geräusche, die Gerüche explosionsartig von ihr entfernen und sich in den Weiten des Alls verlieren würden. Dann aber kam all das mit Macht zu ihr zurück und entflammte ein Feuerwerk des Zorns.
Die Diplomatin schwang die Peitsche nicht länger als taktisches Instrument, sondern als die Folter- und Mordwaffe, als die sie von den Andrin erschaffen worden war. Den Kopf der lachenden Andrin traf es als Erstes. Ihre Augen platzten, ihre Haut flog in fransigen Streifen davon und da Tarena das noch nicht genügte, stürmte sie auf sie zu und schlug ihr ihre Klauen ins Gehirn, zerquetschte nicht nur ihr Artian-Re, sondern all den wertlosen, bösartigen Müll, der sich hinter dieser gehässigen Visage verbarg.
Tarena registrierte kaum, wie nun doch einige Kugeln und geschärfte Metallscheiben in ihren Körper einschlugen und sie ignorierte den metallischen Geschmack von Blut auf ihrer Zunge. Der Mörder ihres Sohnes lebte noch. Dieses böse, hässliche Stück Biomasse stahl noch immer den Sauerstoff, der für bessere Wesen gedacht war.
Tarena stolperte nach vorne, kassierte einen Schuss in die linke Schulter, der ihr Schulterblatt fast durchtrennte, aber sie schaffte es immerhin in Reichweite des Rorak zu gelangen. Der Moment dehnte sich. Auge in Auge standen sie sich gegenüber und unter all der Bosheit und Brutalität des Mannes glaubte sie eine schwache, verletzte Seele zu erkennen. Es war ihr egal. Die Muskeln ihres rechten Arms zuckten und die Peitsche gehorchte, bewegte sich unerbittlich in Richtung des Rorak. Der Mann versuchte auszuweichen, aber die Waffe ließ ihm keine Chance. Tarena hatte gut gezielt. Die Widerhaken durchschlugen seinen linken Arm und zerfetzten seine Halsschlagader. Seine zweite Kanone fiel zu Boden. Unfähig seine Hände zu bewegen und die Blutung zu stillen, wich unaufhaltsam das Leben aus ihm.
Doch Tarena war noch immer nicht zufrieden. Ihre Wut war entfacht und die Peitsche, die es offenbar genoss Teil eines Massakers zu sein, riss sie mit. Sie traf Gesichter, löschte Augenlichter, verstümmelte Hände und riss Bäuche auf, während sie wie in Trance zwischen den feindlichen Projektilen hindurchtanzte und aus ihren eigenen Wunden einen feinen Nebel aus Blut versprühte, als wäre es der Schweif eines Kometen.
Dann machte sie einen fatalen Fehler. In ihrem blinden Zorn traf ihre Waffe Lennia, jene Bravianerin, die versucht hatte, die Situation zu deeskalieren, quer über die Brust. Die Widerhaken der teuflischen Waffe schnitten so tief, dass sie die Lungen der Bravianerin perforierten – und lähmten.
Unfähig zu atmen oder zu sprechen, starrte sie die Frau nur entsetzt an, während ihr Gehirn seine letzten Sauerstoffvorräte verbrauchte. Nun griffen auch die Bravianer ein. Bislang abwartend und neutral spuckten ihre Waffen jetzt rötliche Energiestrahlen, die es Tarena unmöglich machten, dem massiven Beschuss weiterhin so gekonnt auszuweichen. Sie kassierte dutzende von Treffern, während Brust und Bauch vor Schmerzen schier explodierten. Haut riss, Fleisch zerplatzte und Chitin knackte. Ihr Körper öffnete sich, die Grenzen zwischen ihm und seiner Umwelt lösten sich auf und ließen langsam den Tod hinein.
„Mein Pendel“, hörte Tarena plötzlich eine Stimme rufen. Es war die Stimme von Any. Zweifellos. Die Stimme der Frau, die eigentlich tot sein sollte. Tarena hinterfragte es nicht. Sondern drehte sich um, zielte und warf.
Zu Tarenas großem Glück schienen ihre Feinde sich vor allem darauf zu konzentrieren, ihr das Licht auszublasen und verfolgten genauso wenig die Flugbahn des Pendels, wie Tarena selbst, die von einer widerlichen Übelkeit geschüttelt wurde, als die Energiewaffen ihr Chitinskelett systematisch zerschnitten, ihre Bauchhöhle öffneten und ihre Magensäure zischend herauslief.
Sie wartete auf den Tod. Ja, hieß ihn willkommen. Aber trotz ihrer Qualen bemerkte sie, dass er nicht kam. Und mehr noch. Sie bemerkte, wie die Projektile der Angreifer einfach mitten in der Luft anhielten. Und nicht nur die. Auch ihre Feinde waren allesamt in ihrer Bewegung eingefroren. War sie bereits im Delirium?
„Schnell, Tarena! Zu mir!“, schrie Any. Ja, es war tatsächlich Any, wie Tarena mit einem raschen Blick feststellte. Halb erhoben auf ihren Knien schwang ihr Pendel in einem gleichbleibenden Muster und sah Tarena streng und ermahnend an. Tarena rannte. Oder besser: Sie stolperte ungelenk in Anys Richtung, während Blut, Tränen, Magensaft und Speichel ungehindert aus ihrem Körper auf den Boden tropften.
„Schneller!“, feuerte Any sie barsch an und Tarena hätte lauthals gelacht, wenn das in ihrer Situation nicht so verdammt schmerzhaft gewesen wäre. Dennoch tat sie ihr bestes, zwang ihre zitternden Muskeln zu einem höheren Tempo und erreichte den Rand der Kuppel, wo Any kauerte.
„Was … wie kannst du … wie ist das möglich?“, fragte Tarena hustend, aber Any unterbrach sie streng.
„Halt dich an mir fest“, verlangte sie, „Jetzt!“
Tarena gehorchte, und kaum, da sie Anys harten Körper berührte, änderte diese das Muster ihres Pendelschwungs.
Sofort begannen die eingefrorenen Bewegungen sich fortzusetzen. Erst langsam, dann aber immer schneller. Die ursprünglich auf Tarena gezielten Schüsse donnerten allesamt in Adrians Körper hinein. Sein Katalog fiel hinab und klappte zu, während er schwer getroffen in sich zusammensackte.
„Nein! NEIN!! Warum hast du das nicht verhindert?!“, rief Tarena, der Verzweiflung nah.
„Sei still!“, flüsterte Any streng und führte ihr Pendel mit einem Ruck nach unten. Mit offenem Mund beobachte Tarena, wie alle überlebenden Angreifer wie von einer unsichtbaren Hand platt auf den Boden gedrückt wurden. Dann riss Any das Pendel nach oben, woraufhin sich sowohl die Lebenden als auch die Toten ein paar Meter in die Luft erhoben und führte das Pendel schließlich zu ihrer Brust.
Fasziniert sah Tarena dabei zu, wie sich die Körper aller Feinde in Anys Richtung bewegten, immer blasser und kleiner wurden und – kurz bevor sie Tarena und Any erreichten – einfach in der Luft verschwanden. Alles, was von ihnen blieb, war eine kleine, messingfarbene Energiekugel, die sich ein wenig drehte, schließlich stoppte und gleich darauf in einer lautlosen Eruption gelblichen Lichts explodierte. Lautlos war dabei wörtlich zu nehmen, denn nicht nur verursachte dieses Ereignis kein Geräusch, es schien auch alle Geräusche aus Tarenas Ohren zu stehlen. Sie hörte nicht einmal mehr ihren Herzschlag oder ihren Atem. Alles, was sie noch wahrnahm, als das Licht sie berührte, war eine heftige Müdigkeit und ein warmes, elektrisches Kribbeln.
Dann war es vorbei. Und sie waren allein. Jeder einzelne Krieger Astreras war aus dem Efryum verschwunden.
„Warum hast du das hier nicht früher gemacht“, empörte sich Tarena, kaum da ihr Hörvermögen zurückgekehrt war, „warum hast du gewartet, bis es Adrian und meinen Sohn getroffen hat? Hasst du sie, hasst du mich, wirklich so sehr?!“
„Sieh dich um“, verlangte Any trocken und emotionslos, während sie ihr Pendel an ihrem Körper verstaute und sich erhob. Tarena folgte ihrem Ratschlag und entdeckte erst ihren kleinen, hässlichen Sohn, der lebendig auf dem Boden saß, den intakten Wasserkopf auf seine Klauen gestützt. Dann wanderte ihr Blick zu Adrian, der wieder gerade und unverletzt, wenn auch reglos am hinteren Ende der kleinen Kuppel saß. Erst dann bemerkte sie auch, dass auch ihre eigenen schweren Wunden nicht länger existierten.
„Du hast uns geheilt“, stellte Tarena fest.
„Ich nicht“, antwortete Any, „das Efryum und diese Leute von Astrera, die du freundlicherweise in unsere Zuflucht eingeladen hast. Ihr Tod hat unsere Heilung erst ermöglicht. Ich habe diese Chance lediglich genutzt.“
„Ich hatte keine Wahl“, verteidigte Tarena sich, „ich war mir sicher, dass du tot wärst. Hätte ich gewusst, dass es möglich ist, einen Angriff von Gräbern zu überleben, hätte ich nicht versucht, mit ihnen zu verhandeln.“
„Ich mache dir keinen Vorwurf“, sagte Any leichthin. Doch da war durchaus Enttäuschung in Anys Stimme. Vielleicht sogar kalter Zorn, „nicht wegen deines Verrats an mir und der Stabilität des Multiversums zumindest. Du kennst mich noch nicht lange genug, und du hast noch nicht genug gesehen und gehört, um mir vollends zu vertrauen oder zu wissen, was hier auf dem Spiel steht. Dir hätte aber dennoch, klar sein sollen, dass man diesen Leuten nicht trauen kann und dass man nie aus einer so offensichtlichen Position der Schwäche heraus verhandelt. Hätten diese Soldaten gewusst, wie stark du bist, wäre es etwas anderes gewesen, aber so mussten sie davon ausgehen, dich übervorteilen zu können. Doch immerhin hast du sie hierhergelockt. Das ist auch etwas wert. Andernfalls wären wir sie nicht so leicht losgeworden.“
Tarena erkannte das versteckte Lob in Anys Worten, aber sie war klug genug sich nicht davon einlullen zu lassen. Sie würde fortan noch vorsichtiger sein müssen, was die Hüterin des Efryums betraf. Sie mochte durchaus nachtragend sein und Tarena war sich ohnehin nicht sicher, welche die „richtige“ Seite dieses Konflikts war. Gerade nach diesem Angriff empfand sie nicht viel Liebe für Astrera, aber sie konnte auch nicht behaupten, dass ihr Any sonderlich sympathisch war. Und da war auch noch diese Bravianerin – Lennia – gewesen, die sich nicht gerade wie eine Wilde aufgeführt hatte. Im Gegensatz zu ihr.
„Werden nicht noch mehr von ihnen kommen?“, fragte Tarena, während sie ihren Sohn erneut auf den Arm nahm und tatsächlich keinen Kratzer an ihm feststellen konnte, „es machte mir nicht den Eindruck als ob dieser Angriff vorbei wäre.“
„Vorerst nicht“, sagte Any, „die Sprengung des Eingangs hat sie sicher viel Energie gekostet und das Loch, das sie geschaffen haben, ist längst wieder geschlossen. Es ist aber möglich, dass sie es wieder versuchen werden. Das Efryum ist stark, aber offenbar verletzlicher als selbst ich für möglich gehalten hatte. Allein können wir diesem Ansturm nicht dauerhaft widerstehen. Deshalb musst du etwas für mich tun. Nein, eigentlich musst du es für uns tun.“
„Was verlangst du von mir?“, fragte Tarena skeptisch, die ahnte, dass es sich um mehr als eine harmlose Bitte handeln würde.
„Nimm Kontakt zu Nollotsch auf. Vielleicht kann er uns helfen“, antwortete Any und ihre Worte trafen Tarena wie ein Hammerschlag in die Mandibeln.
„Wie bitte soll uns DAS helfen?“, fragte Tarena zweifelnd und nach jedem Grund suchend, der ihr eine Unterredung mit ihrem verhassten Meister ersparen könnte, „Nollotsch hockt wie eine fette Spinne in seinem falschen Supermarkt. Sollen wir warten, bis unsere Feinde neugierig werden oder Hunger bekommen, damit er sie sich holen kann?“
Any lachte. Es klang humorlos und mechanisch. „Für sein wichtigstes Werkzeug weißt du wirklich wenig über Nollotsch. Er wohnt nicht nur in diesem Supermarkt. Seine Wurzeln reichen tief und sind rund um das Erfryum verzweigt. Wenn er will, KANN er uns helfen.“
„Was, wenn ich mich weigere?“, fragte Tarena.
„Du könntest dir im weißen Orakel ansehen, was dann passieren würde“, schlug Any vor, „aber ich denke, du bist schlau genug, um es selbst zu wissen.“
Das stimmte. Spätestens ihre Begegnung mit den Andrin und den Rorak unter dem Banner von Astrera hatte Tarena bewiesen, dass sie nicht auf Gnade hoffen konnten, falls Anys Feinde noch einmal in das Efryum eindrangen.
„Was muss ich tun?“, fragte Tarena gepresst, da sie wenig Lust verspürte, mit diesem Monster zu reden, das ihr und ihrer kleinen, zersplitternden Familie so viel angetan hatte.
„Bitten und Zuhören“, sagte Any, „und dabei ganz Diplomatin sein. Beherrsche deine Gefühle, wenn du mit ihm redest. Bitte ihn darum, uns zu verteidigen und akzeptiere jeden Preis, der dir nicht völlig untragbar erscheint.“
„Wird er nicht ohnehin meine Gedanken und Gefühle lesen?“, fragte Tarena.
„Wahrscheinlich“, gestand Any ein, „aber er wird es zu schätzen wissen, wenn du dich wenigstens bemühst, höflich zu sein. Das ist ein Zeichen von Disziplin, wie es sich für eine Dienerin geziemt. Hier drin kann Nollotsch dich nicht einfach kontaktieren. Das Efryum verhindert es. Aber ich kann einen Kommunikationskanal für euch öffnen. Bist du bereit?“
Tarena nickte und fand es dabei äußerst erstaunlich, wie sehr man mit einer simplen Geste lügen konnte.
~o~
„Hallo Zungentochter“, begrüßte Tarena eine bekannte Stimme in einem unbekannten Tonfall, „es ist schön, dich wieder zu spüren.“
Die Stimme klang warm. Freundlich, aber nicht schmierig. Tatsächlich ein wenig, wie die Stimme eines Vaters oder Mentors und auch wenn Tarena sich redlich bemühte sie zu hassen, fiel ihr das schwer. Und das, obwohl sie aus einem abscheulichen, fleischigen, trichterförmigen Mund drang, der unmittelbar vor ihr aus dem Boden ragte und der höchstwahrscheinlich nur ihrer Einbildung entsprang.
„Ich wünschte, ich hätte unsere letzte Begegnung in ebenso guter Erinnerung“, erwiderte Tarena, die sich diese Antwort nicht verkneifen, sondern lediglich harmlosere Worte wählen konnte als die, die sie am liebsten ausgesprochen hätte.
„Ich weiß, Zungentochter“, sagte Nollotsch mitfühlend, „aber keine Geburt verläuft ohne Schmerzen.“
„Dafür ist man dabei normalerweise nicht gefesselt und allein“, erwiderte Tarena, „und man wird vor der Entbindung nicht entführt.“
„Bist du dir da sicher?“, antwortete Nollotsch lachend, „Weißt du, was bei deiner ersten Geburt geschah? Oder wie es war, bevor du geboren wurdest? Hast du dich ganz bewusst entschieden, dein Leben zu beginnen, an dem Ort, an dem du es begonnen hast? In diesem Fall wäre mein Respekt vor dir noch größer als er es ohnehin schon ist.“
„Mein Respekt vor dir würde wachsen, wenn du mich und meinen Sohn befreien würdest“, entgegnete Tarena und bemerkte, wie schwer es ihr fiel, diplomatisch zu bleiben.
„Das ist ungerecht, meinst du nicht? Ich habe euch verändert, ja. Aber ihr seid immer noch frei“, behauptete Nollotsch, „ich bin lediglich ein Freund, den du um Hilfe bitten kannst, so wie du es gerade im Begriff bist zu tun, oder irre ich mich?“
„Nein, das tust du nicht“, gestand Tarena ein, „wir wollen dich wirklich um etwas bitten.“
„Und worum?“, fragte Nollotsch freundlich.
„Tja“, sagte Tarena, „vor deiner Nase tobt ein Krieg. Ein Angriff von Astrera auf das Efryum, falls du es noch nicht bemerkt hast. Diesen Krieg verlieren wir. Langsam aber sicher. Ich will dich bitten, uns zu helfen, wenn du kannst. Wärst du dazu bereit?“
„Selbstverständlich“, stimmte Nollotsch zu, „ich werde tun, was in meiner Macht steht.“
„Selbstverständlich?“, fragte Tarena verwundert, „einfach so? Du willst nichts dafür haben?“
„Nein“, sagte Nollotsch, „du bist mein Kind, Zungentochter. In gewisser Weise zumindest. Eltern fragen nicht nach Gegenleistungen. Sie helfen, wenn es nötig ist. Wenn überhaupt, dann wollen Sie Zuwendung und gelegentlich ein paar Gespräche für ihre Mühen. Nicht als Tauschgeschäft, sondern als natürliches, mit Freude gegebenes Geschenk.“
„Das ist alles, was du willst? Mit mir reden?“, hakte Tarena misstrauisch nach.
„So ist es, Zungentochter“, stimmte Nollotsch zu, „ich kann dich hier drin nicht erreichen und ich weiß natürlich, dass die Zahnradfrau dich nicht hergeben wird, bevor sie bekommen hat, was sie will. Aber du kannst sie bitten, einmal täglich einen Kanal zu öffnen. Für ein kurzes Gespräch wie dieses.“
Tarena stockte. Dieser Preis kam ihr zugleich lächerlich gering und unangenehm hoch vor. Sie hasste dieses Ding aus tiefster Seele. Es hatte ihr ihre Freiheit genommen, einen Teil ihrer Identität, beinah ihren Freund. Er hatte sie an eine unsichtbare Leine gelegt und war womöglich dabei, ihr langsam aber sicher ihren Sohn zu nehmen. Gleichzeitig war das hier vielleicht eine Chance. Vielleicht konnte sie Nollotsch Antworten entlocken, die Any ihr nicht geben wollte oder konnte. Womöglich konnte sie ihn sogar in ihrem Sinne manipulieren. In gewissem Maße zumindest. In jedem Fall blieb ihr kaum eine andere Möglichkeit, als sein Angebot zu akzeptieren. Es war besser, ein paar unangenehme Gespräche zu führen als in seinem eigenen Blut zu ersaufen.
„Einverstanden“, stimmte Tarena zu, „ich werde mich morgen wieder bei dir melden.“
„Ich freue mich darauf, Zungentochter“, sagte Nollotsch sanft, „und vergiss nicht, unsere Verbindung bedeutet nicht nur Verpflichtung. Sie bedeutet auch, niemals einsam sein zu müssen. Immer Unterstützung zu haben. Egal, was auch passiert.“
~o~
Die letzten Worte Nollotschs hallten noch immer in Tarena nach als die Verbindung zum Planetenkrebs abriss. Tarena war nicht dumm. Natürlich waren das Schmeicheleien. Wohl platzierte Versprechungen, die sie gefügig machen sollten. Ein Wesen, das man „Planetenkrebs“ nannte, konnte wohl kaum etwas Gutes im Schilde führen.
Aber dennoch hatten Nollotschs Worte etwas in ihr zum Klingen gebracht. Eine feine, kaum sichtbare Seite gezupft, die sie bislang auch vor sich selbst verborgen hatte. Es WAR schön, Teil einer Gemeinschaft zu sein. Teil einer unveränderlichen, ewigen, bedingungslosen Gemeinschaft. Ihr Stock hatte diesen Zustand hinter sich gelassen. Schon vor ihrer Geburt. Aber er war noch immer Teil von Tarenas DNA. Mehr noch, ein Teil ihres kollektiven Unterbewusstseins, sei es auch noch so schwach und unbedeutend geworden. Sie spürte diese Sehnsucht fast wie das Fernweh, das Adrian durchströmte. Eine eingespielte, perfekte Ordnung. Ein geborgener Schoß, der nicht zerbrechen würde. Von dem sie sich nicht entfremden konnte, wie von Andy und der sie nicht verraten konnte, wie Adrian. Diese Überlegungen fühlten sich fremd an, beängstigend sogar. Auf einer bestimmten Ebene aber ergaben sie Sinn.
„Was hat er von dir gewollt?“, fragte Any, als Tarena die Augen schließlich wieder aufschlug, um diese seltsamen, verlockenden Gedanken hinter sich zu lassen.
„Nichts“, sagte Tarena, noch immer etwas benebelt von ihrer gedanklichen Unterredung mit dem Planetenkrebs, die so ganz anders gewesen war, als sie erwartet hatte. Friedlicher. Gesitteter. Fast wie ein Gespräch zwischen Gleichrangigen und doch zugleich ungemein verstörend, „er hat lediglich verlangt, dass ich einmal am Tag mit ihm spreche. Dafür wird er seine ganze Macht einsetzen, um uns zu helfen.“
„Gut“, sagte Any erleichtert, „sei froh. So manche Planetenkrebse haben schon weit Schlimmeres für ihre Unterstützung verlangt. Dann bleibt uns nur zu hoffen, dass Nollotschs Macht ausreicht. So oder so muss dein Freund seine Geschichte fortsetzen.“
„Wie bitte?!“, fragte Tarena verwirrt, „das kannst du doch nicht ernst meinen. Da draußen herrscht Krieg. Wir haben sicher Besseres zu tun, als Adrian als Sprechpuppe zu missbrauchen. Du solltest ihn lieber wecken. Er kann kämpfen!“
„Seine Erinnerungen sind wichtiger als seine Muskeln“, insistierte Any, „von seinem Wissen hängt vielleicht unser Überleben ab, sollte Nollotsch versagen.“
„Aber wie denn, verdammt?!“, fragte Tarena empört, „wie sollen diese ewig langen Berichte uns weiterhelfen?!“
„Höre zu“, sagte Any milde lächelnd, „dann erfährst du es.“
~o~
Wo beginnt das Leben? Bei komplexen, chemischen Prozessen? Bei der Fähigkeit zur Fortpflanzung? Beim Fressen und gefressen werden? Bei der Zusammenballung einiger weniger Zellen, die ihren monolithischen Mikrokosmos aus Mitochondrien und Proteinen der Außenwelt öffnen? Die anfangen zu kommunizieren aus der unbewussten, dumpfen Einsicht heraus, dass sich nur so größeres erreichen lässt? Oder beginnt es bei einem körperlosen, göttlichen, schimmernden Funken, der geduldig darauf wartet, seinen Odem in die Welt zu hauchen und einen wunderbaren, höheren Plan zu erfüllen?
Zumindest was mich betrifft, kam letzteres der Wahrheit wohl am nächsten. Zumindest, wenn man alles Wunderbare abzieht. Obgleich praktisch körperlos, fühlte ich mich nicht wie ein Avatar göttlicher Bestimmung, sondern wie ein verzweifelter Bettler, ein Räuber, ein Parasit, der rasend, geifernd, schreiend nach etwas gierte, an das er sich klammern, dass er beseelen, bewegen und seinem Willen unterwerfen konnte.
Ich hatte Karmons Seelenwirbel nie erlebt und doch glaube ich, dass es dem Nahekam. Eine kosmische Reise nach Jerusalem, bei der alle guten Stühle längst besetzt waren. Aber das war nicht schlimm, nicht entscheidend. Wichtig war nur, irgendwo zu sitzen. Einen Platz zu ergattern, jenseits dieses winzigen, blinden, steinernen Gefängnisses. Einen Platz, an dem Leben möglich war und sei es nur als Zerrbild, als Schwundstufe, als bloßes, jämmerliches Nachglühen. Und so griff ich zu, griff mir das erste atmende, von Blut durchströmte, pulsierende etwas, das ich finden konnte und schlüpfte hinein, presste und floss wie Regen in ein ausgetrocknetes Flussbett.
Zum ersten Mal seit einer unbekannten Zeit sah ich etwas. Trüb, verschwommen zwar, doch ich sah. Mehr nicht. Nur ein Sinn und doch eine Offenbarung nach dem langen Dahindämmern in den eigenen Gedanken und blassen Erinnerungen. Neue Bilder strömten herein. Eine Flüssigkeit. Etwas milchig, aber fast klar. Glas, dick und stabil. Dahinter Maschinen, Computer und eine Frau. Kurze, rote Haare. Siebenfingrige Hände. Auf dem Kittel eine große Sonne. Dazwischen: Eine Spiegelung. Gewebe, Muskeln, Gefäße. Doch keine Haut. Ein Schädel. Unförmig, halb offen, zu groß für den winzigen Körper. Arme und Beine wie dünne Äste. Gebogen, verkrümmt. Trübe Augen, ein Mund wie ein verformter Schlitz. Abscheu. Abscheu und Selbstekel, wie ein unausweichliches Erbe der geborgten Hülle.
Plötzlich ein Gefühl von Klaustrophobie, von Raumangst, fast so groß wie die Agoraphobie, die ich kürzlich hier in Xakrischidaa erlebt habe, vermischt mit dem Gefühl, nein, mit der Gewissheit zu ertrinken. Die Panik setzte es in Bewegung, jenes Ding, an das ich mich geklammert hatte. Ich schwamm unbeholfen nach vorne. Dünne Arme schlugen, kratzten gegen das Glas. Zitternd, unkoordiniert und doch stark. Ich sah feine Kratzer im Glas. Sah, wie die Frau in dem Kittel sich alarmiert umdrehte. Sie war eine Gesunderin. Relativ jung. Anfang, vielleicht Mitte dreißig. Das erschrockene Gesicht voll Sommersprossen. Ihr Mund in Bewegung, wollte irgendetwas sagen, doch ich hörte sie nicht. Dieser Sinn fehlte mir völlig. Aber was sie wollte, war egal. Was ich wollte, zählte. Hier raus, einfach nur hier raus. Die Kerben vergrößern. Kratzen. Graben. Kratzen. Frische Luft. Frische, köstliche Luft.
Dann war die Frau heran. Ging zur Seite. Bewegte ihre breiten, dünnen Hände irgendwo außerhalb meines Sichtfelds. Tat irgendetwas mit meinem Tank, was ich nicht verstand. „Nein!“, wollte ich rufen, doch ich konnte so wenig sprechen, wie hören. Ich gab noch einmal alles, schlug meine Arme verzweifelt gegen das Glas. Ich sah Furchen. Tief, aber nicht tief genug. Dann plötzlich schwanden meine Kräfte. Ich wurde müde. Schwach. Etwas griff nach mir, zog mich hinab. Nicht zurück in den Stein, sondern in die Dunkelheit. Begraben. Vergessen. Hier im erstickenden Wasser.
~o~
Callans Augen hefteten sich auf die gläserne, mit grünem LED-Licht erleuchtete Anzeigetafel des Flughafens wie die Augen eines halb verhungerten Have-Nons auf die Menükarte eines Hochklasse-Restaurants.
Unpraktischerweise verstand er ähnlich wenig von dem Angebot, zumindest was die meisten der Flugziele betraf. Einige Orte immerhin kamen ihm durchaus bekannt vor. Kantrassa, Numal, Zurean, Nihmakan. Jene Satellitenwelten von Deovan in denen es noch schlimmer war als hier. Die schlammigen Abwasserbecken, die wimmelnden Schrottplätze der Lebensmärkte, gegen deren übleren Viertel selbst das Invisible Land einen beinah rustikalen Charme besaß. Von ein paar weiteren Welten hatte er zumindest gehört, auch wenn er nur wenig darüber wusste oder zumindest nichts, was ihn wirklich anzog.
Am meisten wusste Callan noch über Rihn. Den Sitz der Archive kannte man selbst in den ungebildeten Schichten Deovans, schon allein, weil die dortigen Bergbauerzeugnisse gerne nach Deovan exportiert und von Have-Nons und Gebern aufbereitet wurden. Manche sehr verzweifelten Deovani reisten auch als Minen-Lohnsklaven in großen Kolonnen in die Nadelwelten oder ergatterten mit ihren kümmerlichen Ersparnissen ein Flugticket, in der Hoffnung, Herr einer eigenen Mine werden zu können.
Viele von ihnen starben dort oder lebten als Steingeweihte ein noch erbärmlicheres Leben als zuvor. Möglich, dass auch Spectra eine solche Reise hinter sich gebracht hatte. Für reiche Touristen und Einwanderer war Rihn sicherlich attraktiver, gerade, wenn sie genug vom Sozialdarwinismus Deovans hatten. Die Administration von Rihn ließ zwar viele Gräuel in den von Deovani oder anderen Völkern geführten Minen zu und hielt sich hier mit Regulierungen zurück, aber im eigenen Herrschaftsgebiet verfuhr man egalitärer. Die Einwohner Rihns achteten für gewöhnlich aufeinander und auch wenn die Betreiber und Angestellten der Archive hohes Ansehen und Autorität genossen, wurden die weniger privilegierten Einwohner weder brutal unterdrückt, noch ihrem Schicksal überlassen.
Bedauerlicherweise war die Umwelt Rihns weniger gnädig. Nicht nur, dass überall die Steinkrankheit lauerte. Auch die scharfkantigen Kristallfelsen, die rutschigen Höhlen, die vielen Spalten und Löcher und ein paar aggressive und gefährliche Kreaturen sorgten für eine Todesrate wie man sie sonst nur in den schlimmsten deovanischen Konzernen fand. Nein, ein Paradies war Rihn nicht. Noch mehr galt das für Ollefor, eine halb wahnsinnige Theokratie unter der Führung der „Kinder des Niklat“, die sogar Fortpflanzung streng verboten hatte, um jede angebliche Unreinheit auszumerzen und deren Bevölkerung nur wegen ihrer Langlebigkeit noch existierte. Was dort nach dem Fall Uranors geschehen war, von dem Callan in seinen letzten Tagen bei seinem alten Arbeitgeber erfahren hatte, war unklar, aber er glaubte nicht, dass dort plötzlich Frieden, Freiheit und Harmonie ausgebrochen sein würden.
Die letzte Welt, die Callan nicht vollkommen unbekannt war, war Braviania. Dort herrschte ein strenges Kastenwesen und eine alte rigide Aristokratie, die aber zumindest kein finsteres Folterregime war. Zwar gab es hier viele ungemütliche Wüstenregionen, aber zumindest galten die Meisten der Bravianer als einigermaßen gutherzig und Fremden gegenüber aufgeschlossen. Zudem reisten die Bravianer viel und kamen ordentlich herum. Vielleicht konnte ihm einer von ihnen bei der Suche nach Cestralia, seinem erhofften Paradies helfen. Ja, von all seinen Optionen wäre dies wahrscheinlich die beste, wenn er nicht erneut ein Risiko eingehen und willkürlich an einen ihm völlig unbekannten Ort reisen wollte. Und von Risiken hatte Callan nach diesen letzten, grauenhaften Stunden nun wirklich genug.
Anderseits könnte er sich natürlich auch genauer über die ihm unbekannten Welten informieren. Sicher gab es hier einen entsprechenden Service mit gut gefüllten Datenbanken und nun, wo er endlich das nötige Geld hatte, um …
„Ganz schnell raus hier, Have-Non. Dieser Bereich ist nur für zahlungskräftige Kunden! Das ist Ihre einzige Warnung“, riss ihn eine strenge, unfreundliche Stimme aus seinen Überlegungen. Callan fuhr herum und erblickte eine junge, aber äußerst muskulöse Frau mit einem schwarzen, kurzen Zopf und in der Uniform der Angestellten von Right Flight. Einem dunkelblauen Overall mit orangefarbenen Seitenstreifen. Ihr Namensschild wies sie als „Kamita Geber“ aus. Die vielen feinen Falten um ihre Lippen kündeten davon, dass die Frau es gewohnt war, die meiste Zeit ihres Tages ein falsches Lächeln zu präsentieren. Gerade jedoch schien sie die Gelegenheit zu genießen, ihrem lange unterdrückten Zorn Ausdruck zu verleihen. In ihrer Hand hielt sie einen Metallstab mit einem breiten, kreisförmigen Ende. Ein Collector, wie Callan erkannte. Dieses Gerät grillte nicht nur alle Muskeln und das Gehirn, sondern saugte einem vorher auch alle Dominanten und eine Menge an Informationen aus dem Leib.
Diese Waffe war so mächtig, dass sie lediglich bei größeren Eigentumsdelikten, schwerem Vertragsbruch und bei Hausfriedensbruch zum Einsatz kommen durfte. Sie war über einen speziellen Sensor mit den Vertragswächtern verbunden und ihr Missbrauch gehörte zu den wenigen Delikten in Deovan, die wirklich konsequent verfolgt wurden.
Callans erster Impuls war es, wegzurennen. Immerhin hatte er sein ganzes Leben über nicht genügend Geld besessen. Dann jedoch besann er sich eines besseren und hielt der Frau seinen Identifier mit seiner neuen, beeindruckenden Vermögenssumme entgegen.
Für einen kurzen Augenblick zeigte sich ehrliche Bestürzung, ja regelrechtes Entsetzen auf ihrem Gesicht. Sie war es nicht gewohnt, dass einem Deovani sein Status nicht direkt anzusehen war und sie wusste zugleich, dass sie ihr Status als Angestellte nur hier drin vor dem Zorn eines gekränkten Nehmers schützte. In ihrem kurzen Feierabend jedoch sah die Sache anders aus. Dann, als hätte jemand einen Schalter an ihr betätigt, wich ihr mürrischer Gesichtsausdruck dem lange eingeübten Lächeln. Ein in die Ecke gedrängtes Tier, das auf seine antrainierten Verhaltensweisen zurückgriff.
„Es tut mir leid, Nehmer …“, begann sie verlegen.
„… Callan“, ergänzte Callan ruhig.
„Nehmer Callan, ja. Sehr angenehm“, fuhr sie fort, grinsend wie eine Karikatur ihrer selbst, „ich bin leider verpflichtet, rigoros vorzugehen, wenn meine Sichtkontrolle nahelegt, dass …“
Sie suchte nach Worten.
„Sie es mit Abschaum zu tun haben?“, fragte Callan und zog eine Augenbraue hoch.
Kurz brach das Lächeln der Frau in sich zusammen. Sie zitterte, bevor sie sich wieder einigermaßen unter Kontrolle bekam. „Nein … so meinte ich das nicht … Sie sind. Ich meine, Sie treten extravagant auf … was ihr gutes Recht ist … natürlich … ich meine nur … es ist … inspirierend. Unkonventionell. Das bin ich nicht gewohnt.“
Callan grinste innerlich darüber, dass ihm für seine schorfige Halbglatze und seine blutigen, zerrissenen Klamotten nun attestiert wurde ein Trendsetter zu sein. Am liebsten hätte er sich laut über die fast schon komödiantische Verlegenheit der Frau amüsiert. Dann aber rief er sich innerlich zur Ordnung. Er war noch keine halbe Stunde ein Nehmer und benahm sich schon fast genauso wie die anderen seiner Klasse. Ja, wäre er noch immer ein Have-Non gewesen, hätte Kamita ihn ohne zu zögern in gut gegartes Grillfleisch verwandelt, wenn er nicht gespurt hätte. Aber sie war trotzdem nicht böse. Sie machte das hier nicht zum Vergnügen, sondern um etwas zu Fressen im Bauch und halbwegs sauberes Wasser in der Kehle zu haben. Es gab keinen Grund, sie unnötig zu quälen.
„Schon in Ordnung“, sagte er milde lächelnd, „ich bin ein viel beschäftigter Mann und hatte noch keine Gelegenheit mich zu reinigen. Haben Sie vielleicht eine Reinigungs- und Umkleidestation im Gebäude? Dass ich die bezahlen kann, wissen Sie ja jetzt.“
„Natürlich, die haben wir“, sagte Kamita erleichtert und wohl vorsichtig hoffend, dass sie auf ihrem Heimweg doch nicht zusammengeschlagen oder entführt werden würde, „ich führe sie gerne dorthin.“
Callan nickte und folgte der Frau. Während sie durch die weitläufige, offenbar doch mit einer Reihe Geschäftsleuten gefüllte Halle liefen, glitt der Blick der Frau hinauf zu Callans schorfiger, blutiger Kopfhaut. „Eine medizinische Versorgungsstation haben wir hier aber leider nicht. Soll ich Ihnen vielleicht für achthundert Dominanten einen medizinischen Einsatzwagen unseres Kooperationspartners „New Day Inc.“ rufen?“, bot Kamita an.
„Nein, nicht nötig“, wiegelte Callan ab, „aber können Sie mir vielleicht eine Reiseberatung anbieten? Ich möchte mich ein wenig nach neuen Investitionsgelegenheiten umsehen. Gerne dort, wo bislang noch nicht viele Deovani aktiv sind, wenn Sie verstehen, was ich meine.“
„Ich verstehe“, sagte Kamita, „aber da bin ich bedauerlicherweise die falsche Ansprechpartnerin. Wir sind in erster Linie ein Flugunternehmen. Die Reiseberatung haben wir an „Endless Horizons“ ausgelagert. Die haben aber eine Service-Niederlassung hier im Gebäude. Auch dort kann ich Sie gerne hinführen, sobald sie sich gereinigt haben.“
Erneut nickte Callan und sah etwas abwesend durch den Raumhafen, dessen Kombination aus Weite, Gewusel und der Unzahl an Tunneln, Gängen und Rolltreppen, die zu den verschiedenen Schiffen führten, ihn fast an einen bizarren Insektenbau erinnerten. Die verstreuten Essensstände und Cafés, die Speisen mittlerer und höherer Qualität anboten, lockten mit würzigen, süßen und deftigen Düften und erinnerten Callan daran, wie hungrig er war. Allerdings würde das noch warten müssen. In seinem jetzigen Zustand zog er einfach zu viel Aufmerksamkeit auf sich und davon abgesehen fühlte er sich auch einfach zu unwohl und nervös, um auch nur einen einzigen Bissen runterzukriegen. Er würde sich später etwas einpacken lassen und erst essen, wenn er in irgendeinem Raumschiff saß und sich Deovan aus der Ferne anschauen konnte.
Immerhin verzichtete Kamita für den Rest ihres kurzen Weges darauf, ihn anzusprechen, was Callan nur recht war. Nicht nur, dass ihm diese gekünstelten Gespräche etwas peinlich waren, er hatte vor allem genug mit seinen eigenen Gedanken und Sorgen zu tun und damit, sich davon abzuhalten, immer wieder nervös über seine Schulter zu schauen, ob nicht doch jemand von Enrys Leuten, den Vertragswächtern oder gar dieser Adrian auftauchen würde. Immerhin hatte er in den letzten Stunden genügend Leuten ans Bein gepisst. Kamita, die mit Sicherheit darauf geschult war, jede potenzielle Bedrohung für ihren Konzern frühzeitig zu erkennen, schien sein Unbehagen nicht gänzlich zu entgehen. Immer wieder spürte er ihre Blicke auf sich ruhen und manchmal bemerkte er aus den Augenwinkeln, wie sie verstohlen zu einem ihrer Kollegen oder den überall verteilten, mit Schusswaffen bestückten Executioners herüberblickte.
War das nur Paranoia oder war sein baldiger Abflug doch nicht so sicher, wie er es sich erhoffte? Er war sich nicht sicher, aber immerhin verfügte er über den besten Schutz, den man in Deovan haben konnte: Geld. Solange niemand das Erbe, das er von Devell erhalten hatte, anzweifelte – wie etwa Rise oder der Kartellwächter – sollte er sicher sein.
Das zumindest versuchte er sich einzureden. Dennoch ermahnte er sich, keine Zeit zu vergeuden als sie die Tür mit der Aufschrift: „Recreation-Room“ erreichten, auf der sich eine kurze Werbeszene abspielte, in der eine unbekleidete Frau sich in einem üppig bepflanzten Paradies unter einem sanft hinabpläschernden Wasserfall räkelte. Callan hatte nie die Zeit oder die Ressourcen für eine längerfristige, gegenseitige Sexualvereinbarung besessen. Deshalb entsprachen Körper und Gesicht dieser Frau einer wilden Mischung aus verschiedenen Kolleginnen, die er als vage attraktiv empfunden, Vorgesetzten, zu denen er eine aus Angst und Hass geborene, verdrehte Anziehung verspürt hatte und den illusorischen Traumbildern diverser Werbeanzeigen und billigster Simulationen.
Dennoch verfehlte dieses Bild seine beabsichtigte Wirkung nicht und steigerte sein Bedürfnis den Raum zu betreten, selbst, wenn er wusste, dass ihn keine verlockende Schönheit dort drin erwarten würde und er – zumindest aus einer weniger triebhaften Perspektive – auch nicht darauf hoffte. Dafür, dass er in einer Welt lebte, in der jeder nur danach strebte, seine eigenen Bedürfnisse zu erfüllen, hatte Callan bislang erstaunlich wenig davon stillen können. Das rächte sich jetzt. Denn während ein „echter“ Nehmer in sexueller Hinsicht sicher vollkommen zufrieden gewesen wäre und diese Werbung mit einem Achselzucken hingenommen hätte, starrte er die Tür regelrecht an.
Erst nach einigen Sekunden riss er sich davon los und führte seinen Identifier über den dafür gedachten Scanner, woraufhin ihm dreihundert Dominanten abgebucht wurden und die Tür sich öffnete.
„Ich warte hier auf Sie“, versprach Kamita, in deren professioneller Stimme sich ein wenig Verunsicherung zeigte.
„Danke“, sagte Callan, „es wird nicht lang dauern.“
Er hoffte das wirklich. Denn ehrlich gesagt hatte er ein sehr schlechtes Gefühl dabei, die Frau aus den Augen zu lassen.
~o~
Im Inneren des Recreation Rooms erklangen sanfte Streicher- und Klaviermusik und ein zum Bild am Eingang passendes Wasserrauschen. Doch nicht nur das. Das gesamte Thema wurde aufgegriffen, sodass sich vor ihm ein zwar kein Wasserfall, aber doch immerhin ein von Bäumen und Farnen umgebener, glitzernder kleiner See auftat. Callan war klar, dass dies wahrscheinlich eine Illusion war. Trotzdem – oder gerade deswegen – stiegen unangenehme Erinnerungen an das House of Life in ihm auf. An fauliges Wasser über kalten Betonlabyrinthen und ein in letzter Sekunde verlassenes feuchtes Grab in einer unbekannten Flüssigkeit. Mochte ihn hier ähnliches erwarten?
Düstere Bilder schoben sich in sein Bewusstsein und wendeten seine Fantasie gegen ihn. Die Vorstellung, dass sich hinter diesem idyllischen See in Wahrheit eine nüchterne biochemische oder nano-mechanische Reinigungsvorrichtung verbarg, war dabei sicherlich noch realistisch. Der Gedanke, dass jemand diese Vorrichtung manipuliert hatte und ihn mit ätzenden Chemikalien oder auf Dekonstruktion programmierten Nanobots umbringen wollte, war hingegen wohl eher seinen überreizten Nerven und seinem Verfolgungswahn geschuldet. Zumindest hoffte er das.
Er zögerte trotzdem noch kurz, das Wasser zu betreten, aber ein flüchtiger Blick in den Spiegel überzeugte ihn. Er hatte keine offenen Wunden mehr und seine Haut hatte sich nachgebildet, aber die Krusten schien sein Körper nicht so schnell verschwinden lassen zu können. Und all der Schmutz und das Blut aus dem willkürlich Haarbüschel aufragten, machten aus ihm eine wirklich schauerliche Erscheinung. Er selbst hätte sich sicher auch nicht vertraut, wenn er sich zum ersten Mal getroffen hätte. Also entkleidete er sich, legte seinen Pinpointer neben das Becken und stieg in den See hinein. Nachdem er lediglich angenehm kühles, aber nicht zu kaltes Wasser an seinem Körper spürte, entspannte er sich ein wenig. Seine verhärteten Muskeln genossen es, sich einfach treiben zu lassen. Bunte, simulierte, harmlose Fische schwammen in kleinen Schulen an ihm vorbei. Er meinte warme Sonnenstrahlen in seinem Nacken zu spüren und für einige Sekunden erlaubte er sich, sich von den Geräuschen, dem sanften Licht und der Atmosphäre wegtragen zu lassen.
Erst jetzt erinnerte er sich, wie verdammt lange es her war, dass er sich wirkliche Erholung gegönnt hatte. Vor viereinhalb Jahren hatte er von seinen kümmerlichen Ersparnissen eine heruntergekommene VR-Bude am Rande der Invisible Lands aufgesucht. Die Bilder waren kantig gewesen, mit matschigen Texturen und hatten sich manchmal auch für einige Sekunden vollständig verabschiedet. Seine digitale Partnerin hatte sich in ihren Dialogen ständig wiederholt und als sie zur Sache gekommen waren, hatte ihn der Gestank des Etablissements noch mehr abgetörnt als die ungenügende Reizerfassung. Das hier war um Welten besser, auch wenn es lediglich um profane Reinigung ging.
Leider wusste er nur zu gut, dass er nicht die Zeit haben würde, das hier wirklich zu genießen. Er musste vorzeigbar und unauffällig werden. Das war alles. Wirkliches Glück würde er ohnehin nicht in Deovan oder simulierten Welten finden, sondern in Cestralia. Da war er sich sicher.
„Angebotsauswahl“, sagte er laut, den Hinweisen auf einer kleinen, von einem freundlich dreinblickenden Frosch bewachten Steintafel folgend, die nahedem Ufer aus dem Wasser hervorragte.
Eine holografische Eingabetafel mit verschiedenen Produkten und Dienstleistungen erschien vor Callan. Er wählte die „schnelle Ganzkörperreinigung“, eine Komplettrasur und eine Feuchtigkeitssalbe für seine geschundene Kopfhaut. Außerdem bestellte er einen weißen Anzug, samt weißer Hose, wie sie in Deovan aktuell am beliebtesten waren, jedoch mit einem teuren Schnitt und silbernem Saum, um seinen neuen Status zu unterstreichen.
Dann sandte er seine Bestellung ab und stellte fest, wie zehntausendeinhundertfünfzig Dominanten von seinem Konto entfernt wurden. Was für ihn früher als eine absurd hohe Summe erschienen wäre, löste jetzt kaum eine nennenswerte Bewegung auf seinem Konto aus. So schnell verschoben sich die Maßstäbe. Dennoch fühlte er sich nicht gut dabei, sondern noch immer so, als würde er den Reichtum eines anderen ausgeben. Und das stimmte ja in gewisser Weise auch, wobei dieser Reichtum nicht von Devell stammte, sondern wohl eher von all den Angestellten, die sie ausgebeutet und den Kunden, denen sie absurd hohe Preise abverlangt hatte.
Während Callan so darüber nachdachte, spürte er ein kühles, leicht kitzelndes Kribbeln an seiner Brust. Er sah an sich hinab und beobachtete, wie das Wasser an ihm hochkroch. Erst langsam, dann immer schneller. Zuerst dachte er, er würde sich das nur einbilden, aber als das Wasser seinen Hals erreichte und begann sich auf sein Kinn zuzubewegen verfiel er in Panik.
Ruckartig richtete er sich auf, doch die Flüssigkeit ließ sich nicht beirren, hüllte ihn ein und umgab nun auch sein Kinn wie eine zweite Haut. Verdammt? Was sollte er tun? Um Hilfe rufen? Wer auch immer hierfür verantwortlich war, würde Kamita Geber sicher geschmiert haben und jedem anderen wären seine Schreie ohnehin egal. Hektisch begab er sich zum Beckenrand, wollte hochklettern und … scheiterte an einem unsichtbaren Kraftfeld. Verzweifelt benutzte er seine Hände, versuchte das aufdringliche Wasser loszuwerden. Doch ohne Erfolg. „Hilfe! Hilfe, ich ersaufe hier!“, schrie er dann doch, in der verzweifelten Hoffnung, dass es sich lediglich um eine Fehlfunktion handelt. Dann hatte die Flüssigkeit seine Lippen erreicht und er schloss den Mund, sich erinnernd, dass er unter Wasser weit länger atmen konnte als früher. Vielleicht würde er doch einen Weg hier raus finden. Er kämpfte die Panik so gut es ging nieder und suchte das Kraftfeld systematisch nach einer Lücke ab, in denen er mit vom Wasser überspülten Händen panisch dagegen drückte.
„Die Hilfefunktion ist bis zur Beendigung des Reinigungsprozesses leider gesperrt“, antwortete eine freundliche Stimme etwas verspätet auf seine Rufe, „bitte warten Sie bis zur Vollendung ihres gewählten Services.“
„Fick dich!“, rief Callan wütend, wenn auch etwas verwirrt, während der Wasserspiegel seine Nasenlöcher erreichte und … sie umging. Spätestens jetzt dämmerte es Callan, dass seine Befürchtungen wohl übertrieben gewesen waren. Doch erst, als sich das Wasser zugleich sanft und schmerzhaft über seine Kopfhaut und seinen Rücken nach unten arbeitete und er wieder vollkommen frei davon war, war er sich sicher. Das Ganze war ein zwar rabiater, aber letztlich ungefährlicher Reinigungsprozess gewesen und kein Attentat auf sein Leben.
„Reinigung, Pflege und Rasur erfolgt!“, meldete die freundliche Computerstimme, „Ihre Kleidung wird in Kürze bereitgestellt. Haben Sie weitere Wünsche?“
„Nein“, knurrte Callan gleichermaßen angepisst und verlegen wegen seiner unnötigen Hysterie, „beende diese scheiß Simulation, gib mir meine Klamotten und einen Spiegel und dann nichts wie raus hier.“
„In Ordnung“, bestätigte das System und die Oase verschwand. Lediglich ein flaches, etwa Whirlpool-großes Becken mit diversen Düsen inmitten eines nüchternen, weiß-gefliesten Raums blieb zurück. Der Spiegel musste anscheinend nicht erst erzeugt werden, sondern befand sich bereits in Personengröße an der gegenüberliegenden Wand. Callan stieg aus dem Becken heraus und betrachtete sich in dem Spiegel, während ein warmer, fönartiger Luftzug die Feuchtigkeit an seinem Körper trocknete. Er wirkte tatsächlich wieder etwas vorzeigbarer, auch wenn seine eher dürre als muskulöser Statur an die jahrelange Mangelernährung erinnerte, die zwar nie lebensgefährlich gewesen war, aber seiner Gesundheit sicher dennoch geschadet hatte. Auch seine tiefen Augenringe wiesen noch auf seine Vergangenheit hin, ließ sich doch kein CEO seinen erholsamen Nachtschlaf und seinen entspannten Feierabend nehmen. Seine Haut jedoch war blitzsauber, vital und gepflegt und besaß kein einziges sichtbares Härchen mehr. Das aufdringliche Wasser musste sie regelrecht weggeflext haben. Dasselbe galt für seinen Schädel, der zwar noch ein paar feine Narben besaß, ansonsten aber anstelle der hässlichen Haarbüschel eine gepflegte, ordentliche Glatze zeigte.
Callan trat noch etwas näher, um sich genauer zu begutachten. Er fand sich nicht schön, noch immer nicht, sondern eher durchschnittlich attraktiv, aber das würde seiner Unauffälligkeit nur Zugutekommen. Er wollte sich gerade von seiner Reflexion abwenden als er etwas Merkwürdiges unter seiner rechten Brust entdeckte. Er trat noch näher an den Spiegel heran, um es besser erkennen zu können.
Es handelte sich um einen kleinen, kaum münzgroßen, grauen Fleck. Verwundert darüber, dass die intensive Reinigung ihn nicht entfernt hatte, wischte er mit der Hand darüber, konnte ihn jedoch nicht so einfach entfernen. Er betastete die Stelle mit den Fingern und erschauderte, als er weiches, gummi- oder eher teigartiges Gewebe spürte, welches er mit seinen Fingern flexibel bewegen konnte. Was zur Hölle war das? Er roch an seinem Fingern und nahm ein muffiges, leicht knoblauchartiges Aroma wahr. Mit einem Mal erhielt Callans Vorfreude auf sein neues Leben einen heftigen Dämpfer. Auch wenn er nicht den blassesten Schimmer hatte, was das hier war, so war er sich natürlich sicher, dass es nichts Gutes bedeuten konnte. Womöglich ein Zeichen einer Krankheit oder einer Vergiftung. Doch hätte sein Supernehmer-Organismus diese nicht bekämpfen müssen? Eigentlich müsste er das dringend untersuchen lassen, aber wenn er zu lange in Deovan blieb, stieg das Risiko, dass jemand ihn fand, der eine Rechnung mit ihm begleichen wollte.
In diesem Moment hörte er ein leises „Plopp“ als direkt vor ihm ein eingeschweißtes Paket mit Kleidung erschien. Fast hätte er damit gerechnet, dass man ihm die Kleidung direkt auf den Leib legen würde, aber so exklusiv schien dieser Raum auch wieder nicht zu sein. Während er sich anzog, beschloss er, den Fleck vorerst zu ignorieren. Wenn er erst in einer anderen Welt angekommen war, konnte er dort immer noch einen Arzt oder Heiler aufsuchen. Immerhin war es ja nur eine winzige Stelle und als das schicke Anzughemd und die dazugehörige Jacke sie vor seinem Blick verbargen, gelang es ihm tatsächlich diese Entdeckung zu verdrängen. Callan bückte sich nach seinem Pinpointer, rückte seinen Anzug zurecht und ging auf die Tür zu. Er hatte keine Zeit zu verlieren.
~o~
Als Callan den „Recration Room“ verließ, stand Kamita noch immer vor der Tür. Sie war nicht mehr allein. Allerdings war die Gestalt neben ihr kein Executioner oder Konzernsoldat, wie er zuerst befürchtet hatte, sondern lediglich eine junge Frau in einer verdreckten, blauen Hose, blau gefärbten, schulterlangen Haaren und einem ebenfalls blauen T-Shirt auf dem sich eine leicht echsenartige Frau auf einem gesattelten Flugtier in den Himmel erhob, eine Schusswaffe Waffe in den schuppigen Händen. Die Unbekannte hingegen besaß keine Schusswaffe. Nur eine Menge verschiedener Anhänger und Ringe. Ihr sanftes Gesicht wirkte traurig und verwirrt, ihre Augen blickten voller Unverständnis in die Welt und ihr freundlicher Mund zitterte unbeholfen.
„Ich verstehe nicht, warum ich nicht hier bleiben kann“, sagte die unbekannte, „draußen ist es kälter als in den Kavernen von Drunnor und ich habe solchen Hunger. Und Durst!“
„Scher dich weg, wertloser Blue Mind“, verlangte Kamita kalt und verwendete dabei jene Anrede, die man in Deovan meist nur gegenüber dem niedersten Abschaum oder mittellosen Ausländern verwendete, „oder ich beende dein Elend schmerzhafter als du es dir vorstellen kannst!“
„Warum bist du so gemein zu mir? Können wir nicht Freunde sein?“, fragte sie hoffnungsvoll, „und was zum Teufel ist ein Blue Mind? Ich heiße Clary. Das hab ich dir doch gesagt.“
„Raus. Sofort!“, verlangte Kamita und führte ihren Collector so nah an Clarys Kehlkopf, dass diese reflexartig den Kopf nach hinten beugte.
„Was ist hier los?“, fragte Callan. Er hatte von Blue Minds gehört, auch wenn er noch keinem begegnet war. Ihr Schicksal war fast noch grauenhafter als das seine und sofort erwuchs Mitleid in ihm, wie er es mit jedem empfand, den die Knochenmühle von Deovan mit Wucht auf die Straße spuckte.
„Gute Geschäfte, Nehmer Callan“, grüßte Kamita, deren harter Mund sich augenblicklich zu einem Lächeln umformte, „sie sehen hervorragend aus. Ich werde Sie sofort zur Reiseberatung bringen. Ich muss nur eben diesen Blue Mind entsorgen.“
„Sie entsorgen niemanden!“, sagte Callan entschieden.
„Wie meinen Sie das?“, fragte Kamita überrascht, da sie es wohl nicht gewöhnt war, dass sich ein Deovani für einen anderen einsetzte, „sie ist ein Eindringling und besitzt keine einzige Dominante. Ich muss sie entfernen. Ich war ohnehin schon viel zu geduldig mit ihr. Entweder sie verschwindet jetzt sofort oder ich muss meine Arbeit tun.“
„Finger weg von ihrer Kehle“, beharrte Callan nachdrücklich.
„Das sind die Vorschriften“, entgegnete Kamita verzweifelt, „ich habe keine Wahl. Kein Have-Non darf sich in diesem Gebäude aufhalten.“
Callan sah kurz zwischen Clary und Kamita hin und her und überlegte, was er tun könnte. Er könnte der Frau eintausend Dominanten schenken, womit sie offiziell kein Have-Non mehr wäre. Aber kein normaler Deovani würde so etwas tun und Kamita würde ihn sicherlich bei ihren Vorgesetzten melden. Vielleicht gäbe es aber eine andere Option.
„Ich kaufe sie“, bot er an, „mein Eigentum darf sich in diesem Gebäude aufhalten, oder nicht?“
„Schon. Aber wozu?“, fragte Kamita überrascht, „sie ist verbraucht. Sie hat jeglichen Wert verloren.“
„Verbraucht? Ich bin jünger als du!“, empörte Clary sich, doch weder Kamita noch Callan reagierte darauf.
„Ich glaube, es steht ihnen nicht zu, meine Motive zu hinterfragen und in meine Vertragsfreiheit einzugreifen“, erwiderte Callan streng, „oder irre ich mich da?“
„Nein, Nehmer Callan, natürlich nicht“, gab sich Kamita geschlagen und nahm den Collector von Clarys Hals, „wenn sie dem Vertrag zustimmt, darf sie bleiben.“
„Wunderbar“, sagte Callan und wandte sich an Clary, „wären Sie damit einverstanden? Wären sie bereit, mir für das kommende Jahr jeden Dienst zu leisten, den ich verlange, im Tausch für dreißigtausend Dominanten?“
Das war natürlich kein marktüblicher Preis für einen desillusionierten Have-Non, den man zum Teil schon für hundert Dominanten erwerben konnte. Aber Callan kam sich schäbig dabei vor, diese Frau so billig ihrer Freiheit zu berauben, selbst wenn er nicht vorhatte, auch nur irgendeinen Dienst von ihr zu fordern.
„Du willst mich kaufen?“, fragte Clary stirnrunzelnd und mehr als nur ein wenig empört, „ich bin ein freies Wesen. Niemand sollte mich oder irgendjemand anderen kaufen können. Das ist absurd.“
Kamita sah vielsagend zu Callan und streichelte mit dem Finger den Griff ihres Collectors, während sie aus den Augenwinkeln nach ihren Kollegen Ausschau hielt, von denen einige sich auch bereits für sie zu interessieren schienen. Callan war sich sicher, dass das hier noch unangenehm werden könnte. Für sie beide.
„Im Grunde wäre es mehr ein Angestelltenverhältnis“, versuchte es Callan mit schöneren Worten, „Sie wären praktisch meine persönliche Assistentin. Sehen Sie es als Chance für spannende Erlebnisse und außergewöhnliche Erfahrungen, ja in gewisser Weise für Abenteuer, wenn Sie so wollen. Und für Ihr leibliches Wohl wäre auch gesorgt.“
Seine leeren Werbeworthülsen garnierte er dabei mit einem raschen Zwinkern und einem stummen Flehen in Clarys Richtung, während er seine Hand einladend ausstreckte.
Und irgendwie schienen seine Signale die junge Frau zu erreichen, auch wenn er es fast nicht zu hoffen gewagt hatte. Sie streckte ihre zarte Hand aus und schlug ein.
„Geht klar“, sagte Clary auf deren zitterndem, verunsicherten Mund sich wieder ein warmes, hoffnungsloses Lächeln ausbreitete, „für Abenteuer bin ich immer zu haben. Ich habe genug davon gelesen, weißt du und regelrecht darauf gebrannt, sie zu erleben. Mein ganzes Leben lang. Doch als Mama mich einfach rausgeworfen hat, war das kein Abenteuer, sondern lediglich ein grauenhafter Albtraum. Wäre echt schön, wenn sich das endlich ändert.“
„Das wird es“, versprach Callan knapp und wandte sich dann an Kamita, „ist das hier nun geklärt?“
„Selbstverständlich, Nehmer Callan“, antwortete Kamita nickend, „soll ich Sie nun zur Beratungsstelle bringen?“
„Vorerst nicht“, erwiderte Callan, „ich komme vielleicht später auf Ihr freundliches Angebot zurück. Erstmal muss ich ein wenig mit meiner neuen Angestellten reden.“
„In Ordnung. Einen schönen Tag noch, Nehmer Callan“, antworte Kamita und wandte sich ab, wobei Callan fast glaubte, ihre Erleichterung körperlich spüren zu können. Wahrscheinlich war ihr der durchschnittliche Arschloch-Kunde lieber als so ein spleeniger Typ wie er, weil sie den wenigstens einschätzen konnte. Er hoffte nur, dass sie sich und ihm den Stress ersparen würde, sein ungewöhnliches Verhalten zu melden.
„Was nun, Meister?“, fragte Clary mit einem unschuldigen Sarkasmus, der so wenig Gehässigkeit in sich trug, wie er es nie für möglich gehalten hatte.
„Jetzt besorgen wir uns erst mal was zu essen“, sagte Callan lächelnd.
~o~
Fröhliches Vogelgezwitscher und das dezente Zirpen von Insekten drang an meine Ohren, während der Duft von heißen Steinen und grünen Gras sich wie ein schüchterner Kuss in meiner Nase ausbreitete, begleitet von dem Gefühl von warmer Sonne auf meiner Haut. Es hätte einiges gegeben, an das mich diese Szenerie hätte erinnern können. Etwa an eine der friedlicheren Welten, die ich mit der Portalmaschine bereist hatte, vielleicht auch an meinem Aufenthalt in der Stadt der Jyllen, an Cestralia oder die abgelegenen Dschungel, Gebirgsdörfer und Inseln, die ich damals auf der Erde mithilfe des Katalogs besucht hatte. Im Moment jedoch erinnerte sie mich an den Garten im Haus meiner Eltern.
Es war ein kleiner Garten gewesen. Nicht sonderlich gepflegt, aber mit hohem, würzig riechenden Gras und Wildblumen, umgeben von einigen kleinen Tannen. Ein perfekter Ort für Tagträume und Gedankenreisen, die vergebliche Suche nach einem Raumschiff im nächtlichen Meer der Sterne oder einfach der ideale Platz, um sich einen Cocktail reinzupfeifen, während man die Tatsache verdrängt, dass man eigentlich für die Schule lernen sollte.
Es war ein friedlicher Ort gewesen. Vielleicht selbst schon Teil einer anderen Welt, jenseits der beklemmenden Enge meines Zuhauses und dennoch immer unter dem unausgesprochenen Schutz meiner Eltern. Ein sicherer Ort, ein Ort, an dem keine Gefahren lauerten. Für den Ort, an dem ich mich befand, galt das nicht. Das spürte ich schon, bevor ich meine Augen öffnete. Er roch paradiesisch, schmeckte paradiesisch, hörte sich wundervoll an und würde sicher ebenso aussehen, aber dennoch atmete er das durchdringende, kalte, gleichgültige Aroma von Deovan. Der Welt, in der Geborgenheit ein Fremdwort war. „Es gibt kein richtiges Leben im Falschen“ ging mir ein Zitat durch den Kopf, welches ich einst im Politikunterricht gehört hatte, auch wenn ich gerade nicht sagen konnte, von wem es stammte. Wer auch immer es formuliert hatte, musste aber definitiv Deovan besucht haben. Und sei es nur in seinen Träumen.
Trotzdem war ich nicht unglücklich, als ich die Augen öffnete und diese von fremdartigen Pflanzen bewachsene Idylle erblickte. Das lag vor allem daran, dass ich Augen hatte, die ich öffnen konnte. Genau wie einen Körper, der nichts mit dem letzten Körper gemein hatte, an den ich mich erinnerte. Ein hässliches, runzliges, unförmiges Ding in einem Tank. Nein, es war wieder MEIN Körper. Eine exakte Kopie jenes Leibes, der als gefrorener Matsch in Uranor zurückgeblieben war, dank der Liebenswürdigkeit von Kollom Bastard Nehmer. Nun, zumindest so weit ich das beurteilen konnte, denn natürlich konnte ich mein Gesicht nicht sehen. Aber der Rest meines Körpers – den ich gut im Blick hatte, da ich vollkommen nackt war – kam mir erfreulich bekannt vor. Wie war das möglich? Hatte das etwas mit diesem Lavell zu tun? Hatte er mir einen neuen Körper gezüchtet und mein Bewusstsein aus dem Stein dort hinein transferiert? Aber wo war Lavell dann? Wo war seine Wissenschaftlerin? Warum verdammt nochmal war ich nackt und wo waren der Fehlstein, der Katalog und Marnok?
Da ich auf kaum eine dieser Fragen eine gute Antwort parat hatte, beschloss ich, meine Umgebung genauer zu betrachten. Ich befand mich nicht unter freiem Himmel, sondern unter einer großen, von weißen Streben durchzogenen Glaskuppel, durch die sich die ansonsten ungetrübten Strahlen der deovanischen Sonne an einem freien, blauen Himmel ihren Weg bahnten. Werbebotschaften oder störende Skylines gab es nicht, lediglich den trügerischen Anschein grenzenloser Freiheit. Darunter, diesseits der Kuppel wanden sich dicke und dünne, lianenartige Gewächse empor, die sich über und umeinander wanden und teilweise bis zur Decke ragten, so als wollten sie jene Hochhäuser ersetzen, die hier nicht zu sehen waren. Aus einigen, aber nicht aus allen von ihnen sprossen rote, gelbe, violette und blaue Blumen und auch Früchte unterschiedlichster Art und Form. Gewöhnliche Bäume gab es hier hingegen nicht.
Dafür war der Boden durchzogen von kleinen, trägen Bächen, die sich plätschernd durch den Raum wanden, sich partiell wie Adern verzweigten und mich dabei absurderweise ein wenig an die Lavaströme in den Seuchenhöhlen erinnerten. Natürlich war das Wasser hier nicht kochend heiß oder giftig und machte wahrscheinlich auch nicht krank. Dennoch wirkten diese Gewässer auf mich ähnlich wenig vertrauenerweckend und auch wenn es mich nur einen großen Schritt gekostet hätte, die meisten von ihnen zu durchqueren, wollte ich lieber darauf verzichten.
Direkt vor mir, auf einer von Bächen abgetrennten Halbinsel erblühte das Sonnen-Logo von New Day Inc. in Gestalt kurzer, ordentlich gestutzter, goldfarbener Gräser. Neben mir gab es einen Tisch und drei Stühle, wobei die Tischplatte und die Stuhllehnen ebenfalls diesem Logo nachempfunden worden waren.
Dass ich nicht auf einem dieser Stühle saß, verwunderte mich. Wann immer ich auf meinen Reisen das Bewusstsein verloren hatte, war ich auf irgendeiner Liege oder zumindest auf dem nackten Boden wieder aufgewacht. Ein Stuhl wäre da doch wohl das mindeste.
Stattdessen war ich einfach im Stehen zu mir gekommen. Wie ein Roboter, ein Laarmaschk oder ein Golem. War ich das? War ich eine Art Bioroboter unter der Kontrolle von New Day Inc.? Das war nicht auszuschließen, aber irgendwie weigerte sich etwas in mir daran zu glauben. Vielleicht war es Intuition, vielleicht aber auch pure Verdrängung. Dennoch trübte diese Theorie – ob nun zutreffend oder nicht – meine durchaus vorhandene Freude darüber, nicht länger ein Gefangener des Steins oder von Karmons – oder schlimmer noch, Marnoks – Körper zu sein. Allein das Gefühl, seine Zehen selbstständig in den weichen Boden zu graben, bewusst die Luft in die eigenen Lungen zu pumpen und sich den Schweiß in dem zwar nicht tropisch heißen, aber doch recht warmen und feuchten Raum von der Stirn wischen zu können, war wie ein Destillat konzentrierter Freiheit. Dennoch schmerzte diese Freiheit auch. Ich war allein. Karmon war fort. Für immer womöglich und selbst seine verdrehte Parasitenform war nicht hier. Zudem war mein Katalog fort, diesmal ohne, dass ich auch nur den blassesten Schimmer hatte, wo er sich befand.
„Das Sonnenlicht auf unserer Haut ist und bleibt das Beste auf dieser Welt und auf jeder anderen, nicht?“, meldete sich eine Stimme. Ich brauchte mich nicht umzudrehen, um zu wissen, dass sie Lavell gehörte. Dennoch tat ich es und erblickte jene freundlich lächelnde, blauäugige, blonde Imitation von Slenderman, die mich aus Enrys Zelle und Marnoks Brust befreit hatte. Lavell wirkte unglaublich gelöst. Eher als wäre er im Urlaub als bei der Arbeit. Und das, obwohl er einen silbernen Aktenkoffer mit einem goldfarbenen Sonnensymbol in der Hand hielt.
„Haben Sie mich deshalb splitternackt in Ihren Wintergarten gepflanzt?“, entgegnete ich etwas krächzend, da ich es nicht mehr gewohnt war, Stimmbänder zu benutzen.
„Interessante Wortwahl“, sagte Lavell lachend, „ja, im Grunde habe ich sie gepflanzt. Ich habe einen fruchtbaren Samen in einem Haufen Dung gefunden und ihn in einen neu geformten Körper gesteckt. Hier im Schoß der Natur und natürlich nackt, wie es sich für eine Neugeburt gehört.“
„Ich bin jetzt also Ihre Topfpflanze?“, fragte ich mürrisch, mich bewusst dagegen wehrend, dass ich den Kerl für einen Deovani nicht allzu unsympathisch fand.
„Sie sind nicht mein Eigentum, falls Sie das meinen“, sagte Lavell, „jedenfalls betrachte ich Sie nicht als solches. Dennoch können Sie diesen Ort nicht verlassen. Noch nicht. Erst muss ich Ihnen ein Geschäft vorschlagen. Falls Sie es ablehnen und mich dann noch immer verlassen wollen, können Sie es tun.“
„Werdet ihr Deovani es eigentlich nie Leid, Geschäfte zu machen? Ich habe jedenfalls nicht den Eindruck, dass euch das glücklich macht“, merkte ich an, während ich den Impuls verspürte meine Blöße mit den Händen zu verdecken. Allerdings hätte mich das noch lächerlicher aussehen lassen und wenn der Kerl mich frisch gezüchtet hatte, würde er sich alles Sehenswerte sicher schon zur Genüge angesehen haben.
„Sehe ich denn unglücklich aus?“, fragte Lavell grinsend.
„Nein“, gab ich zu, „aber das muss nichts heißen. Enry hat auch viel gegrinst und dann alles getan, um sich selbst in den Ruin zu treiben. Von seinem Etablissement ganz zu schweigen. Verdammt, der Pisser hat sogar ein Geschäft aus dem Unglück eurer Spezies gemacht. Eure Welt ist – mit Verlaub – ein Drecksloch.“
„Sie sind ein Fortgeschrittener“, stellte Lavell fest, „Sie werden also wissen, dass wir nicht das einzige Drecksloch dort draußen sind. Vielleicht nicht mal das Schlimmste. Und auch die Welt, aus der Sie stammen, ist weit davon entfernt, perfekt zu sein. Genau genommen dienten einige Ihrer Länder und Epochen uns sogar als Inspiration. Sie sollten sich also vielleicht nicht allzu weit aus dem Fenster lehnen, wenn es darum geht, unsere Lebensweise zu kritisieren. Dennoch will ich natürlich nicht leugnen, dass es in Deovan einige unschöne Auswüchse gibt. Das House of Life gehörte sicherlich dazu.“
„Unschöne Auswüchse?“, fragte ich verwundert, „Sie haben das House of Life gekauft!“
„Nur, um es einem neuen Zweck zuzuführen. Es soll ein Trainings- und Freizeitparcours für unsere Mitarbeiter werden. Keine Toten. Keine Zuschauer. Nur Vergnügen und Teambuilding“, entgegnete Lavell.
„Sie wolle mich doch verarschen, oder?“, fragte ich, da ich den Gedanken, dass diese perverse Todesmaschine zu einem harmlosen Freizeitvergnügen werden könnte, schlicht absurd fand.
„Hier bei New Day glauben wir daran, dass Profit allein nicht alles ist. Wir haben hier Standards, Geber Adrian. Und wir glauben – nein, wir wissen – dass glückliche Mitarbeiter mehr leisten können als unglückliche“, sagte Lavell wobei er ein wenig in den Tonfall eines Werbespots abrutsche, ohne dabei jedoch unaufrichtig zu klingen.
„Sie sind also die Guten?“, giftete ich höhnisch.
„Nun, so böse können wir jedenfalls nicht sein“, erwiderte Lavell verschmitzt, „wir haben Ihnen einen neuen Körper geschenkt und wollen nichts, ich wiederhole: nichts dafür haben.“
„Und was ist mit diesem Geschäft, das Sie mir vorschlagen wollen?“, fragte ich skeptisch.
„Das ist davon völlig unabhängig. Wobei … nicht ganz. Ich gebe zu, dass Geschäftsverhandlungen etwas leichter zu führen sind, wenn der Geschäftspartner nicht in einem Fehlstein in der Brust eines Kwang Ana steckt“, antwortete Lavell.
„Wo wir schon dabei sind. Wo sind Marnok, der Stein und meine Kataloge?“, fragte ich.
„Marnok wird in einem unserer Labors unter Kontrolle gehalten“, antwortete Lavell, „was den Rest betrifft …“
Der hochgewachsene Mann kam ein Stück näher, trat an den Tisch heran, legte seinen Koffer darauf ab und öffnete ihn. Darin war eine schwarze Anzugkombination mit einem aufgeprägten, weißen, nautischen Stern. Außerdem der Fehlstein, eine dunkelgraue, röhrenförmige, zum Lauf hin verdickte Waffe mit eingebautem Kompass und die beiden mitgenommenen Kataloge von Sandra und mir.
Sofort ging ich darauf zu, um mir die Sachen zu greifen. Allen voran natürlich die Kataloge.
Doch bevor mir das gelang, legte Lavell seine langen Hände schützend darauf, „Nein, nein. Das kann ich leider nicht erlauben. Ich wollte ihnen nur demonstrieren, dass wir gut auf ihren Besitz achten. Aber ein wenig absichern müssen wir uns natürlich schon. Den Rest der Sachen können sie sich aber gerne an sich nehmen.“
Für einen Moment erwog ich ernsthaft, es auf einen Kampf ankommen zu lassen und mir wenigstens einen der Kataloge wieder anzueignen. Die Verlockung, die sie verströmten und der Ruf des Fernwehs waren plötzlich wieder unfassbar stark und zusammen mit dieser Welt, die mich zunehmend ankotzte, waren das gute Argumente für ein wenig impulsives Handeln. Aber da war auch noch Kollom, der nicht ungestraft davon kommen sollte und vor allem Marnok, der in Karmons Körper hockte und bei dem ich mir noch immer nicht ganz sicher war, ob er nicht doch irgendwie zu retten wäre. Zudem würde sich meine Lage sicher nicht verbessern, wenn ich Lavell attackieren und dabei scheitern würde. Also beherrschte ich mich und griff mir lediglich den Stein, die Waffe und die Kleidung, schwor mir aber, den Rest so bald wie möglich in meinen Besitz zu bringen.
Ich zog mich an und ließ den verfluchten Stein in der Tasche meiner neuen Anzugjacke verschwinden. Denn betrachtete ich die Waffe genauer. Sie erinnerte mich grob an den Schattenstrahler, der einst meinen Arm geziert hatte. Und nicht nur das: Es gab auch eine Vertiefung mit einem speziellen Griff, in den man seinen Unterarm versenken konnte, sodass es beinah so aussah, als wäre diese Waffe ein Teil meines Arms.
„Er verschießt keine Schattenstrahlen“, erklärte Lavell mit etwas enttäuschtem Tonfall, „diese Technologie hüten die Bravianer eifersüchtig und es ist uns noch nicht gelungen, sie zu imitieren. Stattdessen feuert diese Kanone verstärkte, geschliffene Kompassnadeln. Ich dachte, das wäre passend für einen Fortgeschrittenen.“
Ich fand es eher albern, behielt das aber für mich, zumal es zugleich ein gutes Gefühl war, wieder wenigstens etwas Ähnliches wie den Schattenstrahler zu besitzen, selbst wenn es nur eine billige Imitation war.
„Halten Sie es wirklich für schlau, mir eine Waffe zu geben?“, sagte ich düster und etwas bedrohlich, während ich meinen Waffenarm nicht so ganz zufällig in Lavells Richtung ausstreckte.
Lavell zuckte mit den Schultern, „Ich bin ein Super-Nehmer, Geber Adrian“, meinte Lavell, „und sehr schwer zu töten. Sie könnten mir Hunderte von diesen Nadeln in die Brust schießen, ohne mein Leben ernsthaft zu gefährden. Bei normalen Gebern und auch geringeren Nehmern ist die Waffe hingegen durchaus effektiv.“
Kurz fragte ich mich, ob Lavell bluffte, aber irgendwie glaubte ich das nicht. Andernfalls hätte er mir dieses Geschenk sicher nicht gemacht.
„Was halten Sie davon, wenn wir uns setzen und kurz die Details meines Vorschlags erörtern?“, schlug Lavell vor.
„Einverstanden“, sagte ich, „aber eines will ich vorher wissen: Foltern sie Marnok?“
Lavell sah mich aufmerksam an, als wollte er die Motivation hinter meiner Frage analysieren.
„Nein“, sagte er schließlich, „wir machen ein paar harmlose Versuche mit ihm und halten ihn gut verwahrt. Aber Schmerzen muss er nicht befürchten, das kann ich Ihnen versichern. Warum interessiert Sie das? Meinen Sie, dass ihr alter Freund, der Kwang Dru, noch immer irgendwo in dieser Hülle wohnt?“
„Möglich“, gab ich zu, da ich keinen Sinn daran sah, das Offensichtliche zu verschweigen ,“liege ich damit denn falsch?“
„Nicht unbedingt“, sagte Lavell, platzierte seinen schlanken Körper auf dem rechten der beiden Stühle und faltete seine langen Hände wie zum Gebet, während er seine Ellenbogen auf dem Tisch abstützte, „auch deshalb dürfte sie interessieren, was ich zu sagen habe.“
Ein jähes Aufglühen von Hoffnung durchzuckte meine Brust und ich spürte, wie meine Hände etwas schwitzig wurden. Allein diese Andeutung zeigte mir, wie sehr ich meinen alten Freund bereits vermisste und wie versessen ich im Grunde darauf war, ihn zurückzubekommen.
Also setzte auch ich mich hin und legte meine Arme auf dem kleinen Tisch ab, wobei ich die Waffe weiter festhielt. Allein ihr Anblick gab mir ein wenig mehr Sicherheit, ob nun eingebildet oder nicht.
„Wie lautet nun ihr Angebot?“, fragte ich.
„Kollom Nehmer ist ihnen sicher ein Begriff“, vermutete Lavell.
„Bedauerlicherweise ja“, antwortete ich, „der Bastard hat versucht mich zu töten und war der Grund für meinen … Zustand.“
Lavell lächelte verstehend, „so etwas in der Art hatte ich mir schon gedacht. Es freut mich zu hören, dass Sie ihn genauso wenig leiden können, wie ich. Genau in diese Richtung weist mein Vorschlag. Ich möchte, dass Kollom und mit ihm sein gesamtes Unternehmen zerschlagen wird. Und Sie sollen mir dabei helfen. Im Gegenzug bekämen Sie Ihre Rache, die Kataloge und – wenn alles gut geht – Ihren Freund, den Kwang Dru, zurück. Wie klingt das für Sie?“
„Zu schön, um wahr zu sein“, erwiderte ich so aufrichtig wie skeptisch, während ich mich noch immer daran zu gewöhnen versuchte, wieder auf ganz gewöhnliche Weise sprechen zu können, „Sie geben mir ein wenig viel, meinen Sie nicht? Erst recht für deovanische Verhältnisse. Bisher habe ich keinen Deal erlebt, bei dem ein Geber nicht gnadenlos von einem Nehmer übervorteilt wurde. Deshalb frage ich Sie ganz offen: Was haben Sie davon, mit mir zusammenzuarbeiten? Was kann ich tun, was einer Ihrer Angestellten nicht kann?“
„Ich schätze Ihre Offenheit“, erwiderte Lavell anerkennend, „deshalb werde ich es genauso halten. Ich habe nicht gelogen als ich sagte, dass für uns bei New Day andere Standards gelten. Wir glauben an faire Verträge. Doch das ist natürlich nicht alles. MKH ist ein Krebsgeschwür, ein großes Ärgernis für ganz Deovan und nebenbei unser stärkster Konkurrent. Ich würde praktisch alles tun, um den Machtkomplex aus dem Weg zu räumen. Am liebsten durch einen Force-Take. Doch sie sind ein Waffenkonzern und somit ein harter Brocken. Gewöhnliche Konzernsoldaten allein bieten da keine Erfolgsgarantie, aber ein erfahrener Kämpfer wie Sie, noch dazu jemand, der Kollom Nehmer gut kennt, wäre eine große Hilfe.“
„Das ist Schwachsinn“, widersprach ich, „ich kann Ihnen versichern, dass mir Größenwahn nicht gerade fremd ist, aber das habe ich hinter mir gelassen. Früher, zur Hochzeit meiner Verbindung mit Karmon – dem Kwang Dru – konnte ich spielend ganze Armeen besiegen. Die Zeiten aber sind vorbei. Ich bin ein ganz normaler Mann. Noch dazu einer, der die letzte Zeit in einem Stein gelebt hat. Ich kann keine Schlachten entscheiden und das wissen Sie auch.“
„Da irren Sie sich“, entgegnete Lavell, „Sie sind kein gewöhnlicher Mensch. Sie sind ein Fortgeschrittener. All die Welten, die sie bereist, all die Gefahren, die sie überstanden haben, leben in ihrem Geist, bereichern ihn, machen ihn größer als den eines gewöhnlichen Mannes. Doch das ist nicht alles. Diese Hülle, über die Sie hier mit mir kommunizieren, ist nicht einfach nur eine bloße Rekonstruktion ihres alten Körpers, auch wenn wir dessen Struktur aus Ihren Erinnerungen gewonnen haben. Er ist mehr als das. Stärker, schneller, gesünder. Nicht unverwundbar, nein, aber fast so widerstandsfähig wie der meine. Wir haben lange an dieser Technologie geforscht, aber sie hat sich als Sackgasse entpuppt. Bis jetzt zumindest. Sie können Bewusstsein digitalisieren und in Maschinenkörper transferieren, ja. Aber Maschinen haben ihre Schwächen. Sie sind ineffizient, deutlich ineffizienter als optimierte biologische Körper und vor allem hat der Prozess Nebenwirkungen. Die Bewusstseins-Digitalisierung ist niemals verlustfrei möglich. Das liegt an der Unterschiedlichkeit der analogen und digitalen Welt. Etwas geht immer verloren. Fähigkeiten, Talente, Eigenschaften, Charaktermerkmale. Dinge, die wir gerne erhalten würden.“
Unwillkürlich musste ich an Sandra denken, die in Kolloms Koffer verschwunden ist. Hatte auch Sie etwas verloren? Hatte der Transfer einen Teil ihrer Seele abgetrennt? Unbemerkt und unwiederbringlich? Mir fröstelte bei dem Gedanken.
„Deshalb haben wir nicht nur an verbesserten Körpern, sondern auch an einem Programm zum biologischen Bewusstseinstransfer gearbeitet“, fuhr Lavell fort, „doch leider … hat das nie funktioniert. Bis jetzt. Wir leben in einem zweigeteilten Multiversum, Geber Adrian. Einem Multiversum, in dem Technologie und Magie koexistieren, einander erweitern – und sich gegenseitig Grenzen setzen. Um diese Grenzen zu überwinden, reicht Technologie allein nicht aus. Wir brauchten dafür etwas Mystisches. Etwas wirklich fundamentales, altes, das eng mit dem Geflecht und mit dem Kern einer Seele verbunden ist. Etwas wie Ihren Fehlstein. Sie sind – wenn Sie so wollen – das erste und bislang einzig mögliche Betriebssystem für unseren Prototypen.“
„Ihren Prototypen?“, sagte ich empört, „also bin ich praktisch ein Produkt Ihrer Firma?“
„Ihr Körper schon, ja“, stimmte Lavell zu, „aber das muss Sie nicht kümmern.“
„Und ob mich das kümmert“, antwortete ich, „Ihren Prototypen werden Sie mir wohl kaum einfach so überlassen. Und ich habe kein Interesse daran, ihr Eigentum zu sein oder in einem Körper zu wohnen, den ich am Ende zurückgeben muss, wie einen Leihwagen.“
„Sie müssen ihn nicht zurückgeben“, betonte Lavell, „es reicht uns zu wissen, dass unsere Technologie funktionieren kann, wenn die richtigen Voraussetzungen vorliegen. Das alles haben wir gut dokumentiert und analysiert. Wir brauchen diese Hülle nicht. Sie ist ohnehin auf Sie geprägt. Wenn Sie sich erkenntlich zeigen wollen, dann machen Sie guten Gebrauch von diesem Körper und helfen Sie uns Kollom Nehmers Ruin einzuleiten. Wären Sie dazu bereit oder nicht?“
Ich war weit davon entfernt, Lavell seine Story abzukaufen. Aber wenn ich ihn der Lüge bezichtigte, würde mich das kein Stück weiterbringen. Wenigstens hatten wir beide anscheinend dasselbe Ziel. „Ich werde ihnen helfen“, überwand ich mich zu sagen.
„Gut“, antwortete Lavell zufrieden, schob seinen Stuhl lautstark zurück und erhob sich, „dann werde ich Sie vorerst verlassen. Ich melde mich, sobald wir losschlagen können.“
„Schlagen wir denn noch nicht los?“, wunderte ich mich, „ich dachte, Sie könnten es kaum erwarten, Kollom Nehmer fertigzumachen.“
„Alleine hätte mein Konzern keine Chance. Auch nicht mit Ihrer Hilfe. Wir werden eine Allianz brauchen. Eine Allianz, die erst noch geschmiedet werden muss“, er hielt kurz inne, um mir direkt in die Augen zu sehen, „die Früchte sind essbar und auch das Wasser können Sie bedenkenlos trinken. Es ist ein Paradies, Geber Adrian. Genießen Sie es, bevor wir die Hölle entfesseln.“
Lavell lachte leise und amüsiert. Dann ging er mit großen Schritten auf den Rand der Glaskuppel und trat einfach hindurch als bestünde sie aus Luft.
Natürlich verspürte ich den drängenden Impuls, ihm nachzueilen, aber ich beherrschte mich. Nicht nur, dass es würdelos wäre, es lag auch auf der Hand, dass es mir nicht so einfach möglich sein würde, ihm zu folgen. Stattdessen sah ich Lavell eine ganze Weile nach, bevor ich aufstand und mir eine große, ovale, blaue Frucht von einer der Lianengewächse nahm. So viele Vorteile ein neuer Körper auch hatte, er musste genährt werden.
~o~
Mit einiger Kraftanstrengung und einem lauten, grässlichen Quietschen schob Rischah die dicken, automatischen Glastüren zusammen, die ihre Funktion längst eingestellt hatten und sperrte damit das Kampfgeschehen aus. Und zwar wortwörtlich. Nicht ein einziger Laut drang mehr in das Innere der ehemaligen Konzernzentrale von Nutrics Industries vor, obwohl die Kampfjets und Panzer noch immer zu sehen waren. Das Glas musste wirklich stabil sein. Das hatten auch die Androiden festgestellt, als sie entgegen Rischahs ausdrücklichen Wunsch gegen das Glas gedonnert waren, ohne auch nur einen Kratzer darin zu hinterlassen. Sie hatten es allein Rovenia zu verdanken, dass sie überhaupt hineingekommen waren. Die Verbindung zu Sandra war – hoffentlich nur vorübergehend – abgerissen, aber die Bravianerin hatte jenen kleinen, silbernen Hebel am unteren Ende der Doppeltür entdeckt, mit dem man die blockierte, automatische Schaltung überbrücken konnte.
So waren sie selbst, Rovenia, Kriwa, Hord und drei der klobigen Androiden ins Innere der Anlage gelangt. Den Rest der Roboter hatten sie zu ihrem Schutz hinausgeschickt, um die gegnerischen Truppen zu beschäftigen. Ehrlich gesagt war Rischah sehr froh gewesen, die Androiden verschwinden zu sehen. Sie traute ihnen nach wie vor nicht über den Weg, auch wenn sie ihrem Befehl wenigstens Folge geleistet hatten.
Sie fragte sich, ob sie das Glas auch vor dem Beschuss der offenbar bestens ausgerüsteten Angreifer bewahren würde. Sie war sich da nicht so sicher und wäre am liebsten sofort weiter gerannt. Aber wohin? Ohne Anweisungen von Sandra und den anderen waren sie vollkommen aufgeschmissen. Selbst mit der spärlichen Beleuchtung, die vom Schlachtfeld hineinsickerte, war es hier drin fast stockdunkel, aber sie wusste auch so, dass das Gebäude riesige Ausmaße haben musste. Ohne ein wenig Orientierung könnten sie sich hier leicht verlieren. Doch leider reagierte das Basisteam nicht mehr auf ihre Kommunikationsversuche.
„Hat jemand von euch eine Taschenlampe?“, fragte sie in die Runde und konnte nicht glauben, dass man sie im Vorfeld der Mission nicht mit so etwas Grundlegendem versorgt hatte.
„Ich“, nuschelte Kriwa leise, „in gewisser Weise.“
Kurz darauf breitete sich hinter ihm und zu seinen Seiten ein rötlich-gelbes Licht aus, das ihnen zumindest etwas mehr von ihrer Umgebung offenbarte. Ein Licht, welches jedoch nicht aus einer Taschenlampe oder einem anderen technischen Gerät, sondern direkt aus seinem gefiederten Hinterteil entsprang, das er sichtbar gemacht hatte, indem er ein Loch in seinen Anzug gerissen hatte.
„Dieser … Effekt dient eigentlich der … Balz“, gab Kriwa beschämt zu, „aber immerhin liefert er Licht.“
Hord gab ein kurzes, gehässiges, Lachen von sich, aber Rischah verzichtete auf jede Reaktion. Sie wusste es zu schätzen, dass Kriwa nicht nur seine Würde für das Wohl des Teams geopfert hatte, sondern sogar seinen Körper den toxischen Umwelteinflüssen geöffnet hatte. Auch Rovenia vermied es, den Vogelmann bloßzustellen. „Komm mal kurz her, Kriwa“, bat sie ihn stattdessen.
Der Kriwa folgte ihrer Aufforderung, während Rischah nervös durch die Scheibe beobachtete, wie sich die Roboter den Panzern entgegenstellten, die inzwischen nur noch ein paar dutzend Meter vom Gebäude entfernt standen. Bei den schlechten Lichtverhältnissen konnte sie es nicht genau erkennen, aber wie es aussah, beschäftigte sich der Feind wirklich mit den Androiden, anstatt ihre Gruppe weiter zu verfolgen. Fürs Erste zumindest.
Rischah zuckte zusammen als plötzlich ein lautes, ratterndes Geräusch unmittelbar über ihr erklang. Noch bevor sie jedoch in ihren Verteidigungsmodus wechselte, stellte sie erleichtert fest, dass es sich lediglich um ein metallenes Rollgitter handelte, welches sich knirschend vor dem Eingang hinabsenkte und die bedrohliche Außenwelt ausblendete. Als die massive Wand aus Metall-Lamellen donnernd auf dem Boden aufkam, verschwand die bedrohliche Kriegsszene vor ihren Augen und Rischah konnte sich zumindest einbilden, in Sicherheit zu sein. Auch wenn sie natürlich wusste, dass dieser Gedanke sie trotz der dicken Lage Metall in die Nähe eines Kindes rückte, welches sich aus Angst die Augen zuhielt.
„Danke, Rovenia“, verlieh Rischah ihrer – womöglich trügerischen – Erleichterung Ausdruck. Natürlich ahnte sie, wer der Auslöser für diese zusätzliche Schutzmaßnahme gewesen war.
„Gerne“, antwortete Rovenia, „aber ohne Kriwa hätte ich das nicht hinbekommen.“
Der niedergeschlagene Ton ihrer Antwort verriet, dass sie sich damit nicht allein auf die Dunkelheit bezog. Rischah drehte sich zu der Bravianerin um, die mit Kriwa, Hord und den verbliebenen Androiden, in die spärlich beleuchtete Weite der Eingangshalle starrte und verspürte aufrichtiges Mitleid. Es musste schrecklich sein, seine Hände oder irgendein anderes Körperteil zu verlieren.
„Wo müssen wir jetzt hin?“, fragte Kriwa und zeigte auf den Komplex, dessen Eingang sich wie der Schlund eines unbekannten Giganten vor ihnen ausbreitete. Zum ersten Mal nahm sich Rischah die Zeit, sich das Innere des Gebäudes genauer zu betrachten, soweit es die unkonventionelle Beleuchtung erlaubte. Es mochte einst sehr schön gewesen sein, hier zu arbeiten.
Von der Decke baumelte eine riesige, auf ein Stoffbanner gedruckte Fotografie von der gesamten ehemaligen Belegschaft, gekrönt vom Logo des Unternehmens. Jedoch posierten diese Leute nicht in Reih und Glied wie Soldaten. Vielmehr standen, saßen und lagen sie recht unordentlich nebeneinander. Manche hielten sich in den Armen, andere lehnten lässig aneinander, lagen gemütlich in einem Sessel oder hielten ein Glas oder irgendetwas Essbares in der Hand. Unter ihnen waren sowohl Personen mit runden Augen, wie sie Kollom oder Nanita trugen, als auch einige Bravianer und andere Völkerschaften. Das Lächeln, das die meisten, wenn auch nicht alle von ihnen präsentierten, wirkte dabei nicht aufgesetzt. Und als jemand, der in seiner Heimat schon genügend Rekrutierungs-Werbeplakate für die diversen Truppengattungen gesehen hatte, traute sie sich durchaus zu, das zu unterscheiden. Einige der Mitarbeiter schnitten sogar Grimassen oder blödelten auf andere Weise herum. Nein, dachte sie, so sahen keine Leute aus, die in Angst lebten. Weder vor dem Krieg, noch vor ihren Vorgesetzten. Aus irgendeinem Grund schienen diese Leute nicht mit einem Angriff gerechnet zu haben. Anders ließ sich ihre offensichtliche Gelassenheit kaum erklären.
Auch sonst versprühte das Gebäude keine nüchterne Bürotristesse. Es gab gepolsterte Bänke, auf denen Plüschtiere saßen, selbstgemalte Bilder an den Wänden, Tafeln mit Zeichnungen und spontan niedergeschriebenen Ideen und auf einer weißen Kommode standen zwei Spardosen. Eine in Form eines mit einem Pflaster versehenen Sandwiches mit der Aufschrift „Not-Reserve“ und eine zweite in Form zweier verschränkter Hände mit dem Schriftzug „Kollegen-Fond“. Beide verfügten jedoch nicht über Münzschlitze, sondern über eine Art Scanner.
Vervollständigt wurde die Szenerie durch ermunternde und ironische Sprüche, die in großer Schrift auf der Wand geschrieben standen. „Take your breaks“, etwa, „unsere kleine Festung“, „It’s you, not your money“ oder „Führung ist die Kunst, alles anderen zu überlassen.“
Interessant war auch das Bild eines ernst blickenden Mannes im teuren Anzug, dem jemand einen Schnurrbart und überlange Zähne gezeichnet hatte und ein Plakat, auf dem die Wörter „Geber“ und „Nehmer“ durchgestrichen und darunter das Wort „Have-Alls“ hingekritztelt worden war. Rischah hatte keine Ahnung, was all diese Botschaften genau bedeuten sollten, aber sie verströmten eine Aura von Gemeinschaft, Geborgenheit und Rebellion.
Oder besser: Sie hatten es wahrscheinlich einst getan. Inzwischen war diese Atmosphäre nämlich vollkommen zerstört. Die Einrichtung und die Plakate waren trüb und verschmutzt von gewöhnlichem Staub und den weißen und roten Partikeln, die auch hier in feinen, aber dichten Wolken durch die Luft schwebten. Auf einigen Schränken und Sesseln hatten diese Partikel sogar kleine, rötlich-weiße Häufchen gebildet, als handele sich um frisch gefallenen, mit Blut benetztem Schnee. Einige Bilder und Möbel zeigten frühe Anzeichen von Verfall und das gespenstische Dämmerlicht, welches Kriwa verströmte, tat sein Übriges, um diesen stillen, verlassenen Ort in etwas zu verwandeln, das irgendwo zwischen Museum und Grabkammer lag.
„Zeig uns bitte mehr“, bat Rischah und Kriwa trat ein Stück vor und drehte sich zur Seite, wodurch zwar der Eingang den lauernden Schatten zum Opfer fiel, jedoch ein größerer Teil von dem enthüllt wurde, was vor ihnen lag.
Dabei zeigte sich eine weitere, diesmal einflügelige Glastür, direkt vor ihnen, hinter der jedoch nichts als Dunkelheit auszumachen war. Links und rechts von ihnen führten hingegen offene Gänge in die unbekannten Eingeweide des Gebäudes, die jedoch auch nur im Ansatz zu erkennen waren.
„Wohin nun?“, fragte Rovenia, deren Blick ratlos zwischen den möglichen Wegen hin und herwanderte.
„Ins Jenseits, würde ich sagen“, antwortete Hord in zynischem Tonfall, „genau dort wollen Sandra und ihr Team uns schließlich hinführen. Sonst hätten sie uns wohl kaum in ein verseuchtes Kriegsgebiet gebracht und in diesen verrotteten Steinsarg gelockt, nur um uns im entscheidenden Moment im Stich zu lassen. Wisst ihr, mich erinnert das sehr an ein Qua-Druhl.“
„Was soll das sein?“, erkundigte sich Kriwa.
„Eine Form von der Diplomatie in meiner Heimat“, erklärte Hord mit bedrohlich gebleckten Zähnen, „Ein Stamm oder eine Allianz von Stämmen lädt den – meist schwächeren – Gegner zu Verhandlungen in seine Herrschaftshalle ein. Dort steht immer eine mit goldenem Geschirr gedeckte, prachtvolle Tafel. Sind die Teller und Schüsseln gefüllt, können die Gäste sich setzen, reden und speisen. Sind sie leer, gibt es keine Gespräche. Aber dennoch ein Abendessen.“
Hord grinste breit und leckte sich über die Lippen, bevor er fortfuhr, „Unsere Teller, liebe Freunde, sind leer. Das ist offensichtlich.“
„Offensichtlich ist nur, wie barbarisch eure Kultur ist“, erwiderte Rischah, „wir alle wussten, worauf wir uns einlassen als wir uns für diese Mission bereiterklärt haben. Zumindest ungefähr. Jeder von uns hätte einfach gehen können und keiner hat es getan. Auch du nicht.“
„Wohin hätte ich denn gehen sollen?“, antwortete Hord, „denkst du ernsthaft, sie hätten uns am Leben gelassen, wenn wir dieses Labor verlassen hätten? Bist du wirklich so naiv? Nein, Rischah, unsere Schlachtung war von Anfang an geplant. Ich will ihr lediglich so lange entgehen, wie möglich.“
„Du täuschst dich, Hord“, entgegnete Rischah, „nur weil du aus einer Welt voller Verrat und Grausamkeit kommst, heißt es nicht, dass sie überall lauern.
„Überall vielleicht nicht“, gab Hord zu, „doch mit Sicherheit hier. Warum sonst, würden unsere heldenhaften Wohltäter nicht auf unsere Kommunikationsversuche antworten?“
„Störsignale des Feindes“, brachte Rischah als Erklärung vor, „vielleicht auch die Anomalien, die durch den Bombenangriff entstanden sind.“
„Natürlich“, antwortete Hord lachend, „das Lamm deutet noch jedes Messer zur Bürste um.“
„Ich glaube, dass Rischah recht hat“, meldete sich Kriwa zu Wort.
„Und ich glaube, dass Geflügel vorzüglich schmeckt“, erwiderte Hord, während er Kriwa bedrohlich anstarrte.
Der Vogelmann ließ sich nicht einschüchtern. „Wenn du noch einmal so einen Schwachsinn durch deine Zahnstummel stotterst, werden wir sehen, wie gut dir meine Krallen schmecken“, fauchte er aus seinem scharfen Schnabel hervor, der tatsächlich auch schon Blut gekostet hatte.
„Wenn ihr euch genug gezankt habt, sollten wir uns endlich für einen Weg entscheiden“, sagte Rovenia, die sich während der Diskussion weiter vorgewagt und einen genaueren Blick auf die möglichen Alternativen geworfen hatte, „Vor diesem Gebäude tobt ein Krieg und niemand weiß, wie lang wir hier drin noch sicher sind.“
„Du hast recht, Rovenia“, pflichtete Rischah ihr bei, „welchen Weg schlägst du vor?“
„Nun“, sagte Rovenia, „aus meiner Sicht ist das ganz einfach. Der rechte Gang endet in einer Treppe. Einer Treppe, die nach oben führt. Also garantiert nicht dorthin, wo unsere Fahrgelegenheit wartet. Deshalb würde ich den linken Gang vorschlagen, auch wenn ich dessen Ende nicht sehen konnte.“
„Warum nehmen wir nicht die Tür?“, wollte Rischah wissen.
„Deswegen“, sagte Rovenia und zeigte auf den Boden direkt vor sich.
Erst wusste Rischah nicht, was die Bravianerin meinte, aber als sie etwas genauer hinsah, erblickte sie ein Netzwerk aus pulsierenden, weiß-rotgepunkteten Flaum, das sich wie ein Geflecht aus Kapillargefäßen durch die Fugen der cremefarbenen Bodenplatten zog, direkt auf die zentrale Tür zu.
„Denkst du, das ist ein ähnliches Zeug wie das, aus dem die Bombenopfer bestanden?“, fragte Rischah.
„Ich denke nicht“, erwiderte Rovenia kopfschüttelnd, „es erinnert mich eher an die Partikel, die hier überall herumschwirren. Das macht es aber leider kein Stück besser.“
„Da hast du wohl recht. Also der linke Gang“, entschied Rischah.
Niemand widersprach ihr.
~o~
„Wir müssen sie irgendwie erreichen“, verlangte Garwenia verzweifelt, während sie die Helmkameras des Außenteams betrachtete, das gerade das Gebäude betrat.
„Ich weiß“, sagte Sandra, „leider sind uns die Hände gebunden. Die Anomalien stören unsere Kommunikation zu stark.“
„Aber warum?“, fragte Garwenia skeptisch und blickte auf ihr Terminal, „Plektarität und Radioaktivität sind hier sehr hoch, ja. Aber nicht höher als draußen. Und die Mantianz ist sogar etwas geringer. Außerdem kommen die Bildsignale ganz normal rein. Das macht doch überhaupt keinen Sinn.“
„Es liegt am Gebäude“, schaltete sich Disruptor Yonis ein, „es besteht aus einer speziellen, abhörsicheren Legierung. Ich überlege mir dazu etwas, aber das wird leider ein wenig Zeit erfordern.“ Sogleich projizierte der Disruptor ein virtuelles Terminal in den Raum und begann darauf herumzuwischen.
„Ohne unsere Hilfe wissen sie doch gar nicht, wie sie zum Transporter gelangen können“, wandte Triff ein.
„Sie sind nicht dumm“, entgegnete Sandra, „sie werden schon einen Weg finden.“
„Einen Weg finden?“, wiederholte Garwenia empört, „Hast du den Verstand verloren? Das ist kein lustiger Abenteuerurlaub. Diese Leute sind in einem verdammten Albtraum gefangen. Und glaub mir, nach meiner Zeit in den Seuchenhöhlen, weiß ich, wovon ich spreche. Wer weiß, was für Abscheulichkeiten in diesem Gebäude lauern. Wenn wir sie nicht erreichen können, müssen wir sie da rausholen. Und zwar sofort!“
„Das tun wir doch bereits“, antwortete Sandra, „unser Transporter ist schon auf dem Weg zu ihnen!“
„Scheiß auf den verlausten Transporter!“, donnerte Garwenia zornig, wobei sie ihre Faust auf den Rand der Kontrolltafel schlug, „schickt eine verfluchte Armee dorthin – eine gut ausgerüstete, aus richtigen Soldaten, nicht aus Flüchtlingen. Lasst sie das Gebäude stürmen und unsere Leute nach Hause holen, so schnell es geht.“
„Wir könnten Soldaten dorthin schicken …“, erwiderte Sandra nach kurzem Nachdenken und alle anderen sahen sie überrascht an, am meisten Garwenia, „… und sie würden zu Tausenden sterben. Das Ganze war offensichtlich eine Falle, die der Feind für uns aufgestellt hat und die Lage dort ist – wie du ja selbst sagst – noch unüberschaubarer und gefährlicher als wir alle gedacht haben. Das wäre ein Selbstmordkommando. Sobald wir in voller Truppenstärke dort auflaufen, würden sie uns mit Sicherheit entdecken, wo ein kleiner Transporter vielleicht unbemerkt bleiben wird. Ich bin mir fast sicher, dass sie nur auf so eine Reaktion gewartet haben. Mir tun unsere Leute leid. Jeder einzelne von ihnen. Aber ich will keine weitere Frau und keinen weiteren Mann dort draußen sterben lassen. Doch wenn du es von mir verlangst, wenn du das mit deinem Gewissen vereinbaren kannst, werde ich es tun.“
Garwenia blickte Sandra direkt an. Man konnte sehen, wie zerrissen sie war, aber auch, dass sie Sandras Argumente nicht so einfach wegwischen konnte. Garwenia war niemand, der andere einfach gewissenlos über die Klinge springen ließ, niemand, der Leben leichtfertig wegwarf. Daran bestand für Sandra kein Zweifel. Und sie hatte recht damit.
„Wir bringen sie auf dem schnellsten Weg dort raus, sobald wir können. Versprich mir das!“, gab sich Garwenia seufzend geschlagen.
„Natürlich“, versprach Sandra und legte Garwenia tröstend eine Hand auf die Schulter. Sie fühlte sich warm an. Verschwitzt, aber angenehm warm und Sandra spürte, wie erneut ein Kribbeln durch ihren Körper ging.
„Die Heeresleitung will uns sprechen“, sagte Yonis plötzlich, „Sandra, Kollom, würdet ihr eben kurz mit mir mitkommen?“
~o~
Die Schritte des Außenteams hallten dumpf durch den leeren, dämmrigen Gang, der jene Art von beklemmender, liminaler Atmosphäre verströmte, wie sie nur leeren, verlassenen Büros zu eigen war, auch wenn gelegentlich Stühle, vertrocknete Topf-Pflanzen und kostenlose Getränke- und Snackautomaten die Tristesse durchbrachen.
„Mein Gott, stinkt das hier“, beschwerte sich Rischah, während sie versuchte den widerlichen, süßlichen Geruch aus ihrem Bewusstsein zu verbannen.
„Verrottendes Fleisch ist das nicht“, stellte Hord fest.
„Das glaube ich auch nicht“, sagte Rovenia, „es kommt von dort.“
Sie zeigte auf ein etwa ein Meter großes, kreisförmiges Loch in der linken Wand, welches vollkommen mit dem weiß-roten Flaum besetzt war.
„Was ist das?“, wunderte sich Kriwa, „sieht nicht gerade wie ein natürlicher Teil der Innenarchitektur aus.“
„Wird es auch nicht sein“, meinte Hord, der auf das Loch zuging und es genauer betrachtete, „da hat sich etwas durchgegraben oder gefressen. Etwas, dass sicher nicht nur Hunger auf Metall und Stein hat.“
„Wahrscheinlich diese Partikel“, meinte Rovenia mit einem sorgenvollen Zittern in der Stimme, „ich frage mich nur, warum sie noch nicht durch unsere Anzüge gedrungen sind.“
„Vielleicht sind sie einzeln zu schwach und brauchen bestimmte Bedingungen, um sich zu verbinden und solche Schäden anrichten zu können“, vermutete Kriwa.
„Und welche Bedingungen sollen das sein?“, fragte Rovenia skeptisch.
„Keine Ahnung“, gestand Kriwa ein, „war auch nur so eine Theorie.“
„Jedenfalls ist es wahrscheinlich in dieselbe Richtung gegangen, in die auch diese Glastür führte. Ich bin echt froh, dass wir uns für diesen Weg hier entschieden haben“, stellte Rischah erleichtert fest.
„Das heißt nicht, dass wir hier sicher oder auch nur richtig sind“, bremste Hord ihren Optimismus, „eine Treppe habe ich bislang auch noch nicht gesehen.“
„Die braucht es vielleicht auch nicht unbedingt“, meinte Kriwa euphorisch, „nicht, wenn wir das hier haben.“
Er zeigte auf einen Aufzug, der etwas vor ihnen in der rechten Wand eingelassen war.
„Das wäre natürlich noch viel besser“, sagte Rischah und genoss tatsächlich die Vorstellung, ihren Weg durch dieses unheimliche Gebäude abzukürzen.
Rischah drückte auf den Knopf, doch nichts tat sich.
„Leider tot“, sagte sie niedergeschlagen, „der Strom muss hier genauso ausgefallen sein, wie im Rest des Gebäudes.“
„Dann müssen wir wohl weitersuchen“, sagte Hord. Was er nicht sagte war, dass er gesehen hatte, wie sich dort drin, ganz am Ende des Lochs etwas bewegt hatte und dass es – ganz langsam – auf sie zukroch.
~o~
„Sie bewegen sich in die völlig falsche Richtung“, stellte Kollom fest, als sie das Labor verlassen und sich in Sandras Zimmer versammelt hatten.
„Wieso das?“, fragte Sandra, „ich habe die Pläne des Gebäudes gesehen, dieser Gang führt sie über das Treppenhaus direkt in die Tiefgarage, wo unser Transporter bereits auf sie wartet.“
„Das stimmt“, sagte Yonis, „aber das ist es nicht, was wir wollen. Noch nicht. Wir wollen, dass sie die Anomalie untersuchen und Proben davon nehmen und die befindet sich nun einmal im Zentrum des Komplexes. Das zeigen die Werte eindeutig.“
„Aber dort gibt es irgendeine Art von Befall“, wandte Sandra ein, „eine lebendige Verbindung dieser Partikel. Ich habe es eindeutig durch Rovenias Helmkamera beobachtet. Sie werden von diesem Weg nicht ohne Grund Abstand genommen haben. Doch selbst wenn wir sie dazu brächten, dorthin zu gehen, besteht das Risiko, dass wir die Proben verlieren. Wir wissen nicht, was sich dort entwickelt hat. Vielleicht ist es giftig, ätzend oder sogar intelligent.“
„Finden wir es heraus“, meinte Kollom schulterzuckend, „die Bleigeweihten sollten eigentlich mit den meisten Bedrohungen fertig werden. Bislang haben wir ihre Fähigkeiten noch nicht wirklich ausgereizt. Mit ihrem Schutz werden zumindest ein oder zwei Mitglieder des Teams überleben und uns die Proben bringen können.“
„Das ist noch nicht alles“, sagte Sandra, der die Vorstellung, diese Leute in ihr Verderben zu schicken, noch immer etwas Bauchschmerzen bereitete, „Die Strahlenbelastung im Kern der Anomalie ist etwa halb so hoch wie in einem nuklearen Reaktor. Ich bin keine Biologin und kenne mich nicht schon gar mit der Biologie nichtmenschlicher Völker aus, aber als Kind des Kalten Krieges weiß ich, dass ein Mensch mit dieser Strahlendosis binnen Minuten zu einer wandelnden Leiche werden würde. Mit diesen minderwertigen Anzügen vielleicht innerhalb einer Viertelstunde. Wenn wir sie dort reinschicken, sind sie innerhalb kürzester Zeit tot.“
„Das ist unwahrscheinlich“, urteilte Yonis kühl, „Bravianer sind von ihrer Konstitution her sehr zäh, Jander haben eine hohe Zellteilungsrate, was sicher Mutationen wahrscheinlich macht, aber keinen schnellen Tod. Lomäine sind gegen Strahlung relativ unempfindlich, auch wenn sie einen ziemlichen Hunger entwickeln könnten, wenn ihre Zooxanthellen absterben. Über die Kannibalen von Dank Qua weiß ich wenig, aber wer in solch einer Welt überleben kann, sollte wohl keinen allzu schwachen Organismus haben. Natürlich wissen wir nicht, wie sich die Geflechtenergie und die magischen Komponenten auswirken, aber ich würde hier nicht zu pessimistisch sein.“
„Trotzdem sind das eine Menge Unwägbarkeiten“, wandte Sandra ein, „Es wäre besser, wenn wir sie mit den bestehenden Proben möglichst schnell und sicher zu uns zurückholen.“
„Das wäre noch viel riskanter. Für uns“, meinte Kollom, „wenn diese Daten nicht ausreichen, um die anormalen Auswirkung der Bombe zu verstehen und auszumerzen, bekommen wir keine zweite Chance. Uns läuft die Zeit davon, Geberin Sandra. Der Aufsichtsrat will Ergebnisse sehen und ich werde unseren Erfolg nicht für die Sicherheit von ein paar wiedererweckten Flüchtlingen aufs Spiel setzen.“
Sandra wollte protestieren. Doch warum eigentlich? Sie wusste, dass weder Kollom noch Yonis einen Pfurz auf Ethik oder das Wohlergehen ihrer Angestellten gaben und sie selbst kümmerte es ehrlich gesagt auch nicht genug. Sie wollte diese Sache einfach nur hinter sich bringen. Dann – das hoffte sie zumindest – würde auch das miese Gefühl wieder verschwinden.
„In Ordnung“, sagte Sandra, „aber wie bringen wir sie dazu umzukehren? Sollen wir die Treppe sprengen?“
„Zu verdächtig und ressourcenintensiv“, wandte Kollom ein, „Wir müssen das subtiler lösen. Immerhin haben wir die Projektionseinheiten bereits vor Ort, also können wir sie auch nutzen. Machen wir ihnen lieber ein wenig Angst. So viel Angst, dass ihnen diese kontaminierte Glastür wie der Eingang zum Paradies erscheinen wird.“
„Aber was ist mit der Interferenz?“, fragte Sandra, „wie sollen wir Projektionen in das Gebäude schicken, wenn nicht einmal Funksignale durchdringen.“
„Es gab nie eine Interferenz“, eröffnete Yonis, „Die Funkkommunikation funktioniert einwandfrei. Ich wollte lediglich vermeiden, dass wir uns mit dem Geplapper des Einsatzteams auseinandersetzen müssen und dadurch dieser enervierenden Garwenia und dem restlichen Basisteam nicht noch zusätzlich Anlass geben, Fragen zu stellen. Aus demselben Grund habe ich auch dafür gesorgt, dass sie und die anderen geschönte Daten erhalten. Ich werde mich persönlich um die Steuerung und Gestaltung der Illusionen kümmern. Ich verfüge auf diesem Gebiet über recht viel Fantasie. Fürs Protokoll: ich bin nach wie vor alles andere als begeistert davon, dass wir so einen Eiertanz aufführen müssen, wo ein wenig Zwang viel besser funktionieren würde, aber nun werden wir das eben durchziehen. Und vielleicht … wird es ja lustig.“
Yonis grinste dämonisch und seine Seitengesichter stimmten mit ein.
~o~
„Und, wie gefällt Ihnen Ihr neues Einsatzgebiet bisher?“, fragte Nanita, während sie ihren Kopf zwischen Garwenia und Lörrung hindurchsteckte, wobei letzterer sie dafür mit einem ziemlich genervten Blick bedachte und seine tätowierte Stirn mürrisch in Falten legte.
„Wie man es nimmt“, antwortete Garwenia etwas abweisend, „ich finde es nicht sehr amüsant, dem Tod und den Qualen Unschuldiger beizuwohnen, wenn Sie mich so direkt fragen.“
Die Frau aus Luth Nomor hingegen sagte dazu nichts und blickte schweigend auf ihren Bildschirm. Auch die anderen Mitglieder des Teams antworteten nicht.
„Das kann ich verstehen“, sagte Nanita, „Krieg ist ein grausamer Dämon. Das sollten Sie als Flüchtlinge aus Uranor ja am besten wissen.“
„Zumindest von diesem Krieg habe ich nicht viel mitbekommen“, entgegnete Garwenia, „aber aus meiner Vergangenheit weiß ich durchaus, was Leid bedeutet. Das heißt aber nicht, dass ich mich daran gewöhnt hätte.“
„Umso schöner, etwas dagegen tun zu können“, meinte Nanita.
„Wenn wir denn etwas tun könnten“, erwiderte der Echsenmann Triff, „ich will nicht undankbar erscheinen. Ich bin wirklich froh, kein Träumender in den Klauen der Rilandi mehr zu sein. Aber im Grunde sitzen wir hier nur rum. Ohne Funkkommunikation sind uns die Hände gebunden und diese Werte ergeben überhaupt keinen Sinn.“
„Wie meinen Sie das?“, erkundigte sich Nanita.
„Nun. Eigentlich hätte ich damit gerechnet, dass die Strahlungs- und Plektaritätswerte nach dem Betreten des Gebäudes explodieren würden, aber sie sind praktisch nicht angestiegen“, erklärte Triff, „und auch die Vitalwerte von Hord sind erstaunlich gut. Ich hätte an seiner Stelle keinen so ruhigen Puls und schon gar keinen so geringen Adrenalinwert.“
„Ja, das ist wirklich eigenartig. Unlogisch sogar, soweit ich das beurteilen kann. Aber sicher gibt es dafür eine gute Erklärung“, meinte Nanita mit einem vielsagenden Lächeln, „Sandra ist eine sehr zuverlässige Kollegin. Da sind Fehler eigentlich ausgeschlossen.“
„Kollegin?“, wunderte sich Lörrung, „ich wusste nicht, dass dies hier eine Firma ist. Zumindest hat uns gegenüber niemand so etwas erwähnt. Ich dachte eigentlich, dies wäre eine militärische Organisation.“
„Wir verstehen uns hier alle mehr als Freunde, wahrscheinlich hat es deshalb keiner erwähnt“, meinte Nanita.
„Warum sollte eine Firma Krieg führen?“, wunderte sich Garwenia.
„Firmen befinden sich immer im Krieg“, antwortete Nanita, „und dabei ist ihnen jedes Mittel recht. Handel, Kampf und manchmal … sogar Täuschung.“
„Was wollen Sie uns damit sagen?“, fragte Garwenia skeptisch.
„Ach nichts“, meinte Nanita breit lächelnd, „manchmal denke ich einfach nur gerne laut. Das klärt die Gedanken.“
In diesem Moment öffnete sich die Tür und Sandra und Kollom traten ein.
~o~
„Endlich, dort ist die Treppe!“, verkündete Kriwa, „und sie führt nach unten.“
Jetzt sahen es auch die anderen. Was jedoch nicht allein an Kriwas Beleuchtung lag, sondern auch an den schwachen, aber ausreichenden, kristallblauen Notlichtern, die an den Wänden des Treppenhauses angebracht waren und die die Stufen in ein befremdliches Licht tauchten.
„Perfekt“, sagte Rischah erleichtert, „dann nichts wie runter und raus aus diesem Höllenloch!“
„Sollten wir nicht erstmal prüfen, ob die Treppe noch intakt ist?“, schlug Rovenia vor, „Das Gebäude war einem Bombenangriff ausgeliefert? Was hätten wir davon, wenn Stufen fehlen oder sie einfach unter dem Gewicht von uns und den Androiden einstürzt?“
„Das ist ein Argument“, stimmte Rischah zu, „aber wie wollen wir das überprüfen?“
„Indem einer von uns vorausgeht und das Gebiet erkundet“, sagte Rovenia, „ich könnte das übernehmen. Ich habe früher auch als Architektin gedient. Ich erkenne Schwachstellen wahrscheinlich besser als die meisten.“
„Du?“, fragte Hord verblüfft, „eine beschissene Krüppel-Braut? Das ist ein Witz, oder?“
Rischah funkelte Hord böse an, aber Rovenia nahm die Beleidigung klaglos und resigniert hin. Leider hatte der Kannibale in einem Punkt recht: Rovenia hätte alleine keine Chance.
„Wir könnten stattdessen die Androiden schicken“, überlegte Rischah.
„Das würde nichts bringen“, meinte Rovenia kopfschüttelnd, „sie sind zu schwer. Wenn die Treppe angeschlagen ist, werden sie ihr den Rest geben und selbst, wenn sie zurückkehren sollten, könnten sie nicht sprechen, um uns Bericht zu erstatten. Wir wüssten immer noch nicht, was uns da unten erwartet. Nein, das ist ein Job für eine richtige Person.“
Ein gehässiges leises Kichern machte klar, wen Hord für eine richtige Person hielt und wen nicht. Rovenia entging das nicht. Aber ihre Verstümmelung schien ihr jede Würde und Selbstachtung genommen zu haben, wenn auch nicht ihr Pflichtbewusstsein.
„Ich begleite Rovenia“, bot Kriwa an, „ich kann schweben. Falls die Treppe einstürzt oder sie stolpern sollte, kann ich helfen. Ich könnte aber auch allein gehen.“
Rischah wünschte sich, Kriwa hätte seinen sicher gut gemeinten letzten Satz nicht geäußert. Sie fürchtete, dass er Rovenia damit noch mehr vor Augen führte, wie eingeschränkt sie nun war. An Rovenias kurzem Zusammenzucken konnte sie erkennen, dass sie damit nicht allzu falsch lag.
„Nein, der Rest ist auf deinen funkelnden Arsch angewiesen, Piepmatz“, höhnte Hord, „ich werde Fräulein Stumpf begleiten.“
„Das ist nicht nötig“, meinte Rovenia, „niemand muss mich begleiten. Ich bin entbehrlich und wenn ich nicht zurückkehre, wisst ihr zumindest, dass dieser Weg nicht sicher ist und könnt einen anderen suchen.“
„Niemand ist entbehrlich“, widersprach Rischah energisch, „am ehesten noch Kerle, deren Mundwerk noch mehr nach Scheiße stinkt als nach verwesendem Fleisch.“
Sie sah zu Hord, der zur Antwort nur theatralisch die Zähne bleckte.
„Eines stimmt aber: Du brauchst Schutz. Wir wissen nicht, welche Gefahren da unten lauern. Einer allein wäre ihnen hilflos ausgeliefert, ganz egal, wer es ist. Also geht ihr zusammen oder gar nicht! Kriwa und ich halten hier mit den Androiden die Stellung und wenn euch irgendetwas verdächtig vorkommt, kehrt ihr sofort zu uns zurück.“
Rovenia warf einen misstrauischen Blick auf Hord, nickte dann aber. „In Ordnung. Wir beeilen uns“, sagte sie.
„Ich geh voraus“, verkündete Hord herrisch, „und pass gut auf, wo du hintrittst, Weichwelt-Mädchen. Das Geländer kannst du ja nicht mehr benutzen.“
Er kicherte höhnisch und Rischah begann plötzlich doch zu hoffen, dass die Treppe sich als nicht so stabil erweisen würde oder zumindest eine einzelne, schicksalhafte Stufe. „Wenn du allein zurückkehrst, mache ich dich kalt“, versprach Rischah laut, auch wenn Hord nicht erkennen ließ, ob er sie hörte.
Rovenia aber schritt lediglich schweigend hinter dem Mann aus Dank Qua her, den leeren Blick fest auf die Stufen gerichtet.
~o~
„Wo ist Yonis? Und was hatte die Heeresleitung zu berichten?“, fragte Garwenia.
„Yonis ist noch im Gespräch“, erwiderte Sandra, „Es ging um eine neue Offensive. Wir wollen Gebiete zurückerobern, in die der Feind vor einigen Wochen eingefallen ist und unsere Leute endlich aus der Tyrannei befreien. Sofern sie noch leben, heißt das.“
„Gebiete … oder eher Marktanteile?“, hakte Garwenia nach und Sandra konnte sich gerade noch verkneifen einen verdächtigen Blick mit Nanita oder Kollom zu wechseln. Es war keine gute Idee gewesen, Nanita mit dem Team allein zu lassen.
„Wie meinst du das?“, gab sich Sandra überrascht.
„Deine … Kollegin hat anklingen lassen, dass es sich bei euch um ein Unternehmen handelt und nicht etwa um ein Land, das sich gegen einen Aggressor verteidigen muss“, sagte Garwenia, „ist das wahr? Verfolgt ihr lediglich Profitabsichten?“
In diesem Moment verfluchte sich Sandra dafür, nicht den Delimiter genutzt und die perfekte Ausrede parat zu haben. Gerne hätte sie Nanita der Lüge bezichtigt, aber das würde nicht unbedingt einen besseren Eindruck machen. „Es stimmt“, gestand Sandra ein, während sie sich gedanklich eine Erklärung zurechtlegte, „Aber das ändert gar nichts. Wir waren ein Unternehmen. Ursprünglich. Der Erstschlag des Feindes hat die staatlichen Strukturen unseres Landes praktisch pulverisiert. Deshalb haben wir die Lücke gefüllt. Um unsere Bürger zu schützen und zu verhindern, dass wir alle vernichtet oder versklavt werden. Einst ging es uns um Profit, ja, aber jetzt nicht mehr. Jetzt wollen wir nur noch überleben und die schützen, die sich selbst nicht helfen können.“
Garwenias skeptischer Blick verriet, dass sie ihre Zweifel an diesem Statement hatte. Aber sie sagte nichts. Dafür hörte Sandra Nanita hinter sich ganz leise kichern und sie wünschte sich nicht zum ersten Mal ‚Schaufel‘ zurück.
„Wer ist dieser Feind überhaupt?“, fragte Lörrung frustriert, „wir haben bisher klaglos alles getan, was ihr von uns verlangt habt, aber so langsam wird es mal Zeit zu erfahren, gegen wen oder was wir eigentlich kämpfen, meint ihr nicht?“
„Wir werden euch alles erklären“, versprach Sandra, „aber zuerst müssen wir unserem Außenteam beistehen.“
„Wie denn?“, fragte Zuh, „ich dachte, es wäre keine Kommunikation möglich.“
„Das stimmt so nicht“, sagte Yonis, „Das Gebäude lässt keine Funksignale durch. Aber die Roboter funktionieren über eine andere Signaltechnik. Wenn wir das Signal verstärken, können wir Befehle an sie weiterleiten. Wir KÖNNEN Ihnen also helfen, wenn es nötig ist.“
„Ich glaube, es ist nötig“, verkündete Lörrung alarmiert, „und zwar genau jetzt. Eine große Biosignatur bewegt sich direkt auf sie zu.“
~o~
„Ich hasse diesen Kannibalen“, sagte Kriwa in zornigem Ton, während sie beide nervös in den zwielichtigen Gang starrten, die schweigenden Riesen wie stumme, metallene Säulen an ihrer Seiten.
„Er ist ein kaputter Mann aus einer kaputten Welt“, antwortete Rischah diplomatisch, „sein Leben in den Maschinengärten muss schrecklich gewesen sein.“
Kriwas Kopf ruckte verneinend hin und her. Seine krächzende Stimme wurde sanfter, melancholischer und ernster. „Meine Heimatwelt ist stürmisch, karg und von Kriegen zerrissen. Ich habe vier meiner Kinder verloren. Eines starb mit herausgerissenen Gedärm im Kampf, zwei als atmende Skelette am Hungerfieber, eines wurde von einem Orkan gegen einen Berggipfel gedrückt. Ich habe mehr Tränen geweint als ich Wasser getrunken habe. Es gab Nächte, in denen ich vor Hass kaum atmen konnte. Trotzdem weiß ich noch, was richtig und was falsch ist.“
„Nein, du hast wohl recht“, sagte Rischah und dachte an ihre eigene Welt, in der die Scyonen immer wieder Angriffe starteten und Gräueltaten verübten, „Ein Arschloch zu sein ist eine Entscheidung, keine Folge der Umstände.“
„Freut mich, dass wir da einer Meinung sind“, erwiderte Kriwa, „ich mache mir aber Sorgen um Rovenia. Was, wenn der Bastard ihr etwas antut?“
„Ich teile dieselbe Sorge“, sagte Rischah seufzend, „aber wir mussten jemanden dort runterschicken und letztlich war es ihre Entscheidung. Aber Hord weiß, was ich mit ihm anstelle, wenn er ohne sie zurückkommt. Ich glaube also nicht, dass er ihr weh tun würde – zumindest physisch nicht – auch wenn ich fürchte, dass ihr das nur recht wäre.“
„Ist das nicht bitter“, meinte Kriwa nachdenklich, „an den Besten perlt der Lebensmut ab, wie an Teflon und an den Psychopathen klebt er wie Scheiße.“
„Das ist kein echter Lebensmut“, antwortete Rischah, „eher ein Wahn, von dem sie nicht loslassen können.“
„Dennoch treibt er sie vorwärts. Ganz wie unsere Freunde hier“, Kriwa zeigte auf einen der Bleigeweihten und stockte, als er etwas bemerkte. „Ist dir eigentlich aufgefallen, dass ihre Gesichter sich voneinander unterscheiden. Nicht viel natürlich. Aber wenn man genauer hinsieht …“
„Stimmt“, sagte Rischah als sie sich zum ersten Mal traute, die grobschlächtigen ‚Androiden‘ eingehender zu betrachten. Bislang hatte sie das bewusst vermieden, „das ist seltsam. Eigentlich hätte ich erwartet, dass sie standardisiert wären.“
„Sind sie aber nicht“, sagte Kriwa, „und nicht nur das. Ich habe fast das Gefühl, sie schon einmal gesehen zu haben. Nicht bewusst, eher wie in einem Traum.“
Ein Traum … unwillkürlich musste Rischah an ihre Zeit im Turm der Rilandi denken. An die tausend Tode, die sie dort gestorben war – verbrannt, verraten, erwürgt, vergiftet, sogar ertrunken und aufgelöst in Strömen aus Süßwasser, nur um wieder und wieder ein freudloses Erwachen voller falscher Hoffnung zu erleben. Es war fast als griffen diese Erinnerungen nach ihr, als wollten sie diese Bilder in jene Zeit zurückholen. In die Zeit der Träume, die noch schlimmer waren als selbst diese Realität.
„Vielleicht nur die Aufregung. Dieser Ort kann die Sinne durchaus verwirren“, wiegelte Rischah ab, schon um ihre eigene Nervosität nicht noch weiter zu schüren.
„Da hast du recht“, stimmte Kriwa ihr zu, während seine Augen auszumachen versuchten, ob die Schatten vor ihnen wirklich nur bewegungslose Schatten waren oder ob sie flackerten, flimmerten und tanzten, „aber ich frage mich, ob unsere Sinne noch in anderer Weise verwirrt wurden. So unwahrscheinlich es klingt, aber hältst du es nicht für möglich, dass Hord nicht doch in einem Punkt recht hat? Immerhin wäre es doch möglich, dass man uns nur manipuliert. Wäre ja nicht das erste Mal in unser aller Leben und wir wissen ja wirklich kaum etwas über unsere neuen Verbündeten.“
„Vorhin warst du noch anderer Meinung“, wunderte sich Rischah.
„Weil ich Hord hasse und ihm aus Prinzip nicht recht geben will“, gestand Kriwa ein, hustete kurz und räusperte sich, „und weil es mir zuerst auch absurd erschien. Aber je mehr ich darüber nachdenke … erst diese beschissen heißen Anzüge, dann diese intelligente Substanz vor der uns niemand gewarnt hat, dann der Angriff und die Sprengung unseres Transporters und nun der Kommunikationsausfall. Das passt einfach viel zu gut zusammen. Vertraust du Sandra wirklich so sehr?“
„Ich halte sie für vertrauenswürdig, ja“, sagte Rischah nach kurzer Überlegung, „aber ich bin nicht dumm. Natürlich kann es sein, dass man uns täuschen will. Das Problem dabei ist nur, Kriwa, dass das theoretisch immer so sein kann. Bei jeder Person, die dir begegnet. Und mit so einer paranoiden Haltung ist das Leben eine Qual. Zudem wäre die Alternative viel zu schrecklich. Deshalb entscheide ich mich, ihr zu vertrauen, solange es nicht vollkommen naiv wäre. Alles andere würde mich wahnsinnig machen. Verstehst du das?“
Kriwa antwortete nicht auf die Frage. Er stand nur da und schien plötzlich ziemlich in sich versunken.
„Bah. Schmeckst du das auch?“, fragte er anstelle einer Antwort und riss sich den Helm vom Kopf, „ich hasse Pilze.“
Rischah sah ihn verwirrt an. Dann spuckte der Vogelmann unvermittelt einen großen, feuchten, rot-weiß-geäderten Klumpen auf den Boden. „Rischah ich …“, sagte er noch hustend. Dann zerriss ein riesiger, rötlicher Wurm seine Körper und sprengte ihn von innen.
Zum Glück konnte Rischah ihren Reflexen vertrauen. Schon als sie Kriwas eigenartiges Verhalten bemerkt hatte, hatte sie in ihren Verteidigungsmodus gewechselt. Ihre Zooxanthellen zogen sich zurück, jede Körperöffnung schloss sich vollständig und ihr Organismus beschränkte sich darauf, jene zuvor geschaffenen Sauerstoffdepots zu nutzen, die ihr Volk von Natur aus anlegen konnte. In diesem Zustand konnte sie nichts sehen oder riechen. Die Bilder vom platzenden Kriwa, waren das Letzte, was sie noch hatte visuell wahrnehmen können. Ihr Gehör funktionierte noch, wenn auch etwas eingeschränkt, da es jetzt nur noch über die bloße Interpretation von Vibrationen in nächster Nähe arbeitete. Dennoch hörte sie, wie Kriwas zersprengte Körperteile gegen die Androiden klatschten und diese begannen das Feuer auf den Angreifer zu eröffnen. Der Beschuss endete bereits nach kurzer Zeit. Nach so kurzer Zeit, dass Rischah nicht glaubte, dass der Wurm, der wohl auch das Loch in der Wand geschaffen hatte, besiegt sein konnte.
Nein, sie hatte eine ganz andere Theorie, warum die Roboter den Kampf eingestellt hatten: Gegen Staub konnte man nicht kämpfen. Die vielen kleinen Partikel (oder Sporen?), die sich zu dieser Kreatur verbunden hatten, um den armen Kriwa zu sprengen, mussten diese Form wieder aufgeben haben, um Verletzungen durch die wahrscheinlich nicht auf diese Weise zu bezwingenden Giganten zu vermeiden.
Sie hätte mit so etwas rechnen sollen. Zwar hatten die Partikel nie versucht ihre Anzüge zu durchdringen, aber sie hatte gewusst, dass sie ein eigenes Leben besaßen. Und auch die Ablagerungen zwischen den Bodenplatten und auf den Schränken und Sesseln, vor allem aber das seltsame Loch in der Wand, hätten sie warnen sollen. Wahrscheinlich hatten die Partikel nur auf den richtigen Moment gewartet und der war nun gekommen. Mit Kriwas zerstörtem Anzug hatten sie natürlich leichtes Spiel gehabt. Aber war sie wirklich von den Sporen verschont worden? Immerhin besaß der Anzug zwangsläufig eine Verbindung zur Außenwelt und ob die Partikeln die Filteranlage passieren konnten oder nicht, war ungewiss. Rischah musste mehr herausfinden. Also nahm sie Kontakt zu ihren Polypen auf. Die winzigen Symbionten waren nicht intelligent, wie Karmon, aber sie konnten Rischah dennoch ein grobes Bild davon vermitteln, was in ihr vorging. Nach wenigen Momenten wusste sie, dass es ein paar hundert Sporen in ihrem Organismus gab. Mehr als sie gehofft hatte, aber offenbar nicht genug, um sie zu zerreißen.
Zumindest hoffte sie das. Unwillkürlich schossen ihr Bilder durch den Kopf von zertrennten Arterien und mehrfach perforierten Organen, während sie still und regungslos in der ihr fast verschlossenen Außenwelt verharrte, umgeben von den blutverschmierten Resten von Kriwa und den stillen Kolossen, denen sie immer noch nicht traute, selbst wenn allein sie verhinderten, dass sich der Wurm offen manifestierte.
Im Außen war sie handlungsfähig. Aber in ihrem Inneren braute sich etwas zusammen. Und das wortwörtlich, denn die Körper der Lomäine waren in noch viel stärkerem Maße chemische Fabriken als sie es in jedem anderen Lebewesen waren. Und so begann Rischahs Körper bereits mit der Herstellung eines speziellen Fungizids, das nicht nur die innere, sondern womöglich auch die äußere Bedrohung beseitigen könnte. Die Frage war nur: Würde ihr das rechtzeitig gelingen?
~o~
Müde und resigniert stieg Rovenia die Stufen hinab, den muskulösen Körper des Kannibalen, der sich sogar durch seinen Anzug etwas abzeichnete, direkt vor Augen. In dem bläulichen Licht wirkten seine Bewegungen seltsam unnatürlich und sie musste wieder an die Geschichten von Kwang Ana und von Zemoren denken, die es liebten Unschuldige – ob Erwachsene oder Kinder – zu töten, zu verstümmeln und zu verspeisen.
Anders als die Kinder anderer Welten, hatte sie sich nicht damit trösten können, dass diese Wesen nur Fantasiegestalten waren. Sie waren real. Diese und andere Schrecken lauerten vielfach in den verworrenen Labyrinthen und weitläufigen Ruinen des uralten Braviania und manchmal fanden sie auch dort heraus. Dass Braviania nie Einzug in das Gruselkabinett des Reisekatalogs von Endless Horizons gefunden hatte, lag vor allem daran, dass diese Kreaturen jene Welt nicht beherrschten. Braviania war mächtig, seine Bewohner zahlreich und auch wenn das Kastenwesen in vielen Belangen unfrei und autoritär war, war es keine gleichgültige Schreckensherrschaft. Die meisten Adligen kümmerten sich um die Bürger niedrigeren Standes oder wenigstens um ihr nacktes Überleben. Die Chancen in einer dunklen Gasse oder im eigenen Bett gefressen zu werden, waren gering. Dennoch waren sie existent. Ähnlich wie ein Lottogewinn oder eine Atomkatastrophe auf der Erde nicht wahrscheinlich, aber möglich war. Wenn aber ein solches Ereignis eintraf, veränderte es alles.
In dieser Hinsicht hatte Rovenia Glück gehabt. Kein Kwang Ana hatte sie erwürgt, kein Zemore gefressen. Stattdessen hatte sie der Krieg geholt. Ein Krieg, in dem sie nicht hätte kämpfen sollen und das im doppelten Sinn. Zum einen hatte sie als Architektin nicht zur Kriegerkaste gehört und war nur eingezogen worden, um die regulären Soldaten zu unterstützen. Zum anderen hatte sie gegen kastenlose Rebellen kämpfen müssen, denen sie zwar nicht angehörte, deren Unmut sie aber doch verstanden hatte. Sie hatte nicht kämpfen wollen, doch eine Weigerung war nicht infrage gekommen. Nicht allein, weil sie eine Strafe wegen Fahnenflucht fürchte, sondern weil sie in dem Glauben aufgewachsen war, dass man Befehle befolgte, selbst dann, wenn sie einem nicht gefielen. Diese Meinung hatte sie erst im Moment ihres Todes revidiert. Und ihr Zorn hatte nicht dem Mann gegolten, der ihr im Schatten eines von ihr erdachten Hauses und in bloßer Notwehr seinen Speer ins Herz getrieben hatte, sondern allein ihren Anführern. Sie, so hatte sie gedacht, waren nicht viel besser als Zemoren und vielleicht – nur vielleicht – gab es ja auch einen verborgenen Kwang Ana unter ihnen, der sich an dieser Art von Massakern erfreute.
Durch die Rilandi und Sandra hatte sie – ironischerweise – eine neue Chance erhalten. Natürlich hatte auch dieses Leben sie wieder in den Krieg geführt, doch hatte sie bislang gehofft, dass es eine Zeit danach geben würde. Eine Zeit des Friedens, in der sie den Wiederaufbau voranbringen und neue Bauwerke würde erdenken können. Diese Träume waren nun Vergangenheit. Auch, aber nicht nur wegen ihrer Verstümmelung, von der sie nicht ernsthaft glaubte, dass jemand sie rückgängig machen würde. Rovenia spürte, dass sie ihr Weg erneut in den Tod führen würde und diesmal so tief, dass niemand sie von dort zurückholen konnte. Und ein Teil von ihr begrüßte das. Ein Teil von ihr wollte Abschied nehmen von dieser Welt des Verrats und des Leids. Ein genauso großer Teil hatte jedoch Angst. Angst vor der barbarischen Kreatur, die mit wenig grazilen Schritten vor ihr herstapfte.
Es hieß, dass ein Zemore einen in eine Form des Jenseits bringen konnte, die so düster, so unendlich krank war, dass Gelehrte den Verstand verloren haben sollen, bei dem bloßen Versuch, sie zu beschreiben. Zemoren kamen in vielerlei Gestalten daher. Geflügelte Bestien, Echsen mit Reißzähnen, wuchernde Pflanzen mit Augen und Händen … oder in Gestalt eines muskulösen Mannes mit scharfen Zähnen.
Rovenia war nicht ungebildet. Sie wusste von Dank Qua und davon, dass dort viele Stämme lebten, deren Mitglieder brutal, aber nicht überirdisch waren, doch hier unten, in einem verseuchten Gebäude inmitten eines verstrahlten Kriegsgebiets, fragte sie sich dennoch, ob Hord seinen ersten Atemzug tatsächlich unter der Metallsonne der Maschinengärten getan hatte – oder an einem noch viel dunkleren Ort.
„Was glotzt du mich so an, Weichmädchen?“, sagte Hord plötzlich, ohne sich umzudrehen, „Wenn ich dich vernaschen soll, kannst du gerne darum betteln, aber mein Fleisch gehört mir und nicht deinen Blicken.“
„Viel gibt’s da nicht zu sehen. Dein Fleisch befindet sich unter einem Anzug!“, sagte Rovenia, die sich entschieden hatte, nicht länger vor Hord zu kuschen, Zemore oder nicht.
„Natürlich. So bleibt es besser frisch“, antwortete Hord, „ich hasse vergammeltes Fleisch. Fast so sehr, wie ich es hasse, angestarrt zu werden.“
„Irgendwo muss ich meinen Blick hinrichten“, antwortete Rischah.
„Nicht, wenn ich deine Augen entferne“, erwiderte Hord ohne jeden Humor, „Zu viele Körperteile sind nicht immer ein Segen. Sie machen die Dinge kompliziert. Für manche auch zu kompliziert: Wo richte ich sie hin? Wie bewege ich sie? Was tue ich mit ihnen? So viele Körperteile. So viele Entscheidungen. Ich kann dir versichern, dass manche Leute sich besser fühlen, wenn sie einige davon verlieren. Ernsthaft. Ich meine, ich verachte diese Krüppel, aber sie schätzen die Erleichterung, oh ja.“
„Du hast kein Interesse an unserer Mission, oder?“, fragte Rovenia, schon um die Vorstellung zu verdrängen, dass sie vielleicht wirklich mit einem Zemoren unterwegs war.
„Ich habe Interesse an gar nichts, Fräulein Handlos“, sagte Hord, „außer daran, weiterzuatmen … und … hörst du das?“
Rovenia lauschte angestrengt und blickte auf die bislang erfreulich intakten und stabil angelegten Stufen, von denen sie sicher schon ein paar hundert hinter sich gebracht hatten, ohne dass sich ein Ende des Treppenhauses abzeichnete. Zuerst meinte sie, dass Hord sie lediglich auf den Arm nehmen wollte. Aber da war tatsächlich etwas. Ein regelmäßiges Rauschen und Rascheln wie von einer Maschine … oder von Lungen.
Und jetzt wo sie dies hörte, glaubte sie sogar die Lichter in eben jenem Rhythmus flackern zu sehen.
„Siehst du irgendwas?“, fragte sie Hord.
Der aber sagte nichts, sondern rannte unvermittelt die Treppe herunter, zwei Stufen auf einmal nehmend.
„Hey, spinnst du?“, fragte Rovenia und verspürte den Drang es Hord gleichzutun, erinnerte sich aber daran, dass sie ohne Hände nicht so schnell vorankommen konnte.
Dennoch ging sie so schnell, wie sie es sich eben zutraute und bemerkte dabei, dass sich die Beschaffenheit der Treppenstufen veränderte. Aus glattem, lediglich etwas staubigen Stein wurden überwucherte, organisch glänzende Stufen, in denen sich kleine schorfige Finger warnend und zuckend nach oben reckten und sie winzige, rot leuchtende Augen beobachteten.
Rovenia wiederum traute ihren Augen nicht. Sie hatte hier wirklich bizarre Sachen gesehen, aber das alles war noch irgendwie erklärbar gewesen in einem Multiversum, indem Magie und Dimensionsreisen zwar nicht alltäglich, aber doch vorhanden waren.
Das hier aber wirkte wie in einem Fiebertraum, wie in einer religiösen Überlieferung. Ja, wie der Eingang zu Arkronsa, der Unterwelt der bravianischen Mythologie, von der einige wenige sogar behaupteten, dass sie tatsächlich existierte. Arkronsa war – zumindest laut den Überlieferungen – kein Ort göttlicher Strafe und auch kein Wohnort übernatürlicher Schrecken. Es war ein Ort, an dem verbitterte Verstorbene und an den Hass Verlorene sich ihre eigene, selbstverwaltete Hölle errichteten, weil sie längst mich mehr an Gnade für sich selbst oder irgendjemand anderen glaubten und allein im Schmerz der Sinn aller Existenz vermuteten. Je nach ihren Fähigkeiten bedienten sie sich der dabei Magie oder profaner, handgemachter Grausamkeit, um einen der grauenhaftesten aller Orte zu erschaffen, so schlimm, dass selbst mancher Andrin vor Neid – und Furcht – erblassen würde.
Rovenia hatte das stets für einen Mythos gehalten und selbst wenn nicht, so hatte sie den Eingang zu jenem Ort sicherlich nicht in der Konzernzentrale von Nutrics Industries vermutet. Doch ihre Sinne und jeder ihrer von Ekel erfüllten Schritte sagten ihr etwas anderes.
Nach und nach wurde das Atmen lauter, während aus dem Treppenhaus eine aus Fleisch und Stein erschaffene, blau erleuchtete Höhle wurde, in deren Zentrum sie Hord entdeckte. Der Kannibale hatte seinen Anzug abgelegt und hatte sich auf die Knie herabgelassen, die Arme V-förmig nach oben gereckt und den muskulösen, vernarbten Rücken durchgedrückt.
Das war jedoch nicht das absurdeste, dass Rovenia hier zu Gesicht bekam. Überall an den bläulich glühenden Wänden des ehemaligen Treppenhauses ragten Körper heraus. Keine bloßen Körperteile, sondern richtige Personen, deren Gesichter ihr bekannt vorkamen. Und sie wusste auch, woher: von dem Mitarbeiterfoto am Eingang. Während sie dort jedoch glücklich und entspannt gewesen waren, boten sie hier ein Bild des Elends, mit vor Schmerz und Trauer verzerrten Gesichtern, wundschorfigen Köpfen, gräulicher, halbtoter Haut, verstümmelten Gliedmaßen und röchelnden, nicht-sprachlichen Lauten, die sie von sich gaben. Manche von ihnen waren damit beschäftigt, sich Zähne oder Ohren abzureißen oder sich Haut abzuziehen, die nur Augenblicke später genauso krank und hässlich nachwuchsen wie zuvor. Andere würgten immer wieder einen Brei aus Kotze, Spucke und blutigen Eingeweiden hervor, den sie dann wieder gierig und genüsslich hinunterschlangen. Und wieder andere taten nichts weiter als irre und ungesund zu grinsen, so unnatürlich breit, dass ihre Haut zerriss und ihre Knochen splitterten. In ihren Rücken, dort wo die Wirbelsäule sitzen sollte, steckten hellgrüne, ledrige Schläuche, die ihre gequälten Leiber entweder steuerten, aussaugten oder versorgten und vielleicht auch alles zugleich.
Rovenias Blick folgte den Schläuchen und erblickte am Ende der Höhle einen gewaltigen Ring aus grünlich-schwarzem Fleisch, dessen Stränge sich hypnotisch drehten und an dessen Außenseiten sich ein Netz aus knochenlosen Armen aufspannte, welches eng mit der Wand verflochten schien und an dem diese Schläuche befestigt waren, wie Zweige an dicken Ästen. Am höchsten Punkt, im inneren dieses Ringes hing ein Auge, nicht rund Oval, sondern unförmig, amorph, wie ein geschmolzener Sack aus dem beständig korrosive Tränenflüssigkeit zischend zu Boden tropfte und in dessen Zentrum eine verschwommene Pupille wie ein verlaufener Tintenklecks suchend umherzuckte. Am unteren Ende jedoch ragte ein Unmund auf. Ein flirrender, flackernder, saugender Wirbel, wie ein Hitzeflimmern in der Luft, umgeben von kleinen, blutigen Zähnen. Ein Wirbel, in dem sich immer wieder für Sekundenbruchteile schillernde, flüchtige Fragmente zeigten, wie Seifenblasen aus der Hölle, in denen sie trotz ihrer geringen Größe winzige Bilder von Wesen erkannte, die zermalmt, zerbrochen und verschlungen wurden. Rovenia besaß einiges an Fantasie, aber sie konnte sich keine Bombe vorstellen, die in der Lage war so etwas anzurichten. Das hier musste tatsächlich Akronsa sein.
„Xinurajj“, schrie Hord plötzlich verzückt, flehend und freudig weinend, „Junintan, arib, Darxoi! Kann es wirklich wahr sein? Ich habe so lange nach dir gesucht. Nach dem großen Verschlinger. Nach dem, der unser Volk zur Rache an den Gärtnern und den Pflanzern führen wird. Ich dachte, du wärst tot oder schlimmer noch, nur eine Fantasie, ein Trugbild, das starb mit dem Ende von Uranor. Aber so ist es nicht. So war es nie. Endlich habe ich dich gefunden, hier, am unwahrscheinlichsten aller Orte. So bitte, nimm mich als dein Werkzeug, den Erfüller deines Willens. Bediene dich an meinem Fleisch. Und meinem Geist. Gib mir deine Befehle!“
Das Sackauge vibrierte und plötzlich ging ein wildes Raunen durch den Raum und die hustenden, würgenden, weinenden und grinsenden Puppen begannen ihre Laute zu vereinen, zu synchronisieren, so das etwas wie eine Sprache entstand, auch wenn Rovenia weit davon entfernt war auch nur ein einziges Wort zu verstehen.
Hord aber verstand alles und als er sich zu Rovenia umdrehte, las sie Xinurajjs stummen Befehl in den Augen des Kannibalen.
Rovenia rannte.
~o~
Kaum da Navin Pornecks Reich betreten hatte, schlug ihm ein fleischig-süßlicher Geruch entgegen, der sich mit dem Aroma von Urin und Angstschweiß vermischte. Zumindest letztere Gerüche – so vermutete Navin – stammten wahrscheinlich von Pornecks Gästen. Dieses unappetitliche Miasma füllte nicht etwa eine Höhle, wie er halb erwartet hatte, sondern einen gemauerten Tunnel, ähnlich eines aufgegebenen U-Bahn-Tunnels. Obwohl es von außen so ausgehen hatte, als wäre es stockdüster, brannte von der Decke ein kränkliches, weißes Licht, das von einigen verschmutzten Neon-Röhren stammte. Die Stromleitungen, die sich zwischen diesen Röhren erstreckten, erinnerten ihn vage an Knochen und nach allem, was er wusste, mochten sie es auch sein.
Planetenkrebse, die lange an einem Ort lebten, neigten dazu sich mit ihm zu verbinden, sodass es fast unmöglich wurde zu unterscheiden, wo die gewöhnliche Bausubstanz endete und wo sie begannen. Wenn Navin mit seiner Vermutung recht hatte, hatte sich Porneck bis an die Grenzen seines Territoriums ausgebreitet. Wahrscheinlich hielt ihn allein die mit seinem lang verstorbenen Vorgänger geschlossene Übereinkunft davon ab, sich weiter auszubreiten, vielleicht war es aber auch reine Strategie. Eine Lauerjäger ließ seine Tarnung besser nicht auffliegen. Er wartete, bis seine Opfer zu ihm kamen. Navin machte sich jedoch keine Illusionen. Das, was in diesen Tunneln sichtbar war, war sicherlich nur ein Bruchteil von Pornecks tatsächlicher Ausbreitung. Ein Planetenkrebs trug diesen Namen nicht ohne Grund. Er begann sein Leben als „Spore“, kaum größer als ein Tier und kleiner als ein erwachsener Deovani. Doch binnen von Jahrzehnten und Jahrhunderten verzweigte er sich durch die Erdschichten, durchstieß den Mantel und verschlang schließlich sogar den Kern. Navin hielt nicht viel von solchen spirituellen Überlegungen, aber er wusste, dass manche glaubten, dass diese Wesen die Seele eines Planeten vergifteten, erstickten und fraßen. Manche von ihnen verharrten in diesem Stadium, ruhten in der toten Hülle wie in einem gestohlenen Haus, andere – besonders die alten und größenwahnsinnigen – breiteten sich weiter aus, verdrängten jede ursprüngliche Materie und WURDEN der Planet.
Navin glaubt nicht, dass Pornecks Wurzeln schon so weit reichten, so wenig wie er glaubte, dass er an diesem Punkt schon mit dem Planetenkrebs kommunizieren konnte. Trotzdem glaubte er, dass das knisternde Summen, dass er hörte, nicht nur Elektrizität war, sondern so etwas wie das stetige Vibrieren von Pornecks Lebenskraft oder auch ein wegweisendes Fanal an all jene, die sich tatsächlich dazu entschlossen hatten, ihr Leben hier zu beenden.
Und er hörte noch mehr als dieses Summen. Er hörte ein Lied. Leise, weit entfernt und mit Störgeräuschen belegt, wie eine alte Radioübertragung, aber wenn Navi genau lauschte, konnte er Worte verstehen. Worte in jener Erdensprache, bei der sich sein Volk gerne bediente.
„From the light we flee, from the „I“ to „we“. Strangers turn to friends, in the whispering trance.“
Mehr Text gab es nicht. Es war ein Mantra, eine Botschaft, ein Versprechen an alle, die dumm und verzweifelt genug waren, es zu glauben. Der letzte Werbeslogan, auf den ein Deovani hereinfallen konnte.
Navin fiel nicht darauf herein. Dennoch folgte er dem Gesang, schritt unter den flackernden Neonlampenaugen Pornecks tiefer in dessen Nest, auch wenn er das Gefühl hatte, mit jeder Wiederholung dieser Melodie ein wenig von seinem an sich scharfen Verstand zu verlieren. Doch er hatte keine Wahl, er musste den Sänger erreichen und ihm seine eigene Melodie beibringen.
~o~
Schließlich erreichte Navin eine große, steinerne Halle, in der sich vier stillstehende Rolltreppen wie die Kadaver toter Riesenwürmer in die Erde gruben. In dem ihm zugänglichen Teil der Archive hatte er gelesen, dass es früher tatsächlich eine U-Bahn in weiten Teilen von Deovan gegebenen hatte. Doch das war lange her. Diese wenig individuelle Form der Fortbewegung taugte kaum als persönliches Statussymbol und erlaubte es auch nicht, jemanden nach Herzenslust zu überfahren oder zu jagen.
Zudem wollte kein Nehmer, der etwas auf sich hielt, in einem Fortbewegungsmitteln mit dem Pöbel sitzen und auch die etwas wohlhabenderen Geber wollten ihren Status durch eigene Gefährte unterstreichen. Die ärmeren hingegen konnten sich die teuren Tickets schlicht nicht leiste. Deshalb stand die U-Bahn bald für immer still und die Stationen wurden aufgekauft und anderweitig genutzt. Porneck jedoch schien sich eine dieser Stationen gesichert und sie dem freien Markt entzogen zu haben.
Was Navin dabei noch mehr überraschte als dieses Relikt, waren die Geschäfte, deren Schaufenster hier noch immer wie verwitterte, aber intakte Grabsteine standen. Darunter gab es ein paar gewöhnliche Geschäfte für Mode, Drogerie oder Elektronik, aber auch ein Fitness-Studio und einige Freizeiteinrichtungen, die mit vergünstigtem oder kostenlosem Eintritt für Have-Nons warben, Lokalitäten, die ihre Speisereste verschenkten oder Frierenden ein warmes Plätzchen anboten und ein Café, dass sich offen als Begegnungsstätte für Deovani aller Schichten präsentierte. Dieser Anblick war so bizarr, so fremd, so undenkbar, dass Navin ein angenehm warmer Schauer durchlief, der gleichwohl auch etwas schuldhaftes, verbotenes an sich hatte, so wie bei einem Gläubigen, der unzüchtige Gedanken bei der Betrachtung eines freizügigen Dämonenbildnisses hegte. Wie dem auch sei: Entweder musste diese U-Bahn-Station sehr sehr alt sein oder Porneck hatte sie selbst erschaffen und dabei einen seltsamen Sinn für Humor bewiesen.
Doch auch, wenn diese Geschäfte eine Sicherheit versprachen, die an der Oberfläche unbekannt war, fühlte Navin sich an diesem Ort nicht wohl. Alles fühlte sich falsch an. Die düsteren, staubigen Schaufenster, der Geruch nach altem Urin, der hier noch viel intensiver war als am Eingang und ein Gefühl stumpfsinniger, blockierender Angst betasteten seine Sinne, seinen Kopf. Wie eine Bande von Räubern, die es allein auf sein geistiges und seelisches Eigentum abgesehen hatte. Vor allem jedoch war dies eine Sackgasse. Außer den Eingängen zu den verschiedenen Läden, gab es hier nur einen Rückweg, den er zwar gerne angetreten hätte, aber nicht antreten konnte, ohne mit seiner Mission zu scheitern.
Die Musik immerhin war verstummt, was eigenartig war, da er schon angefangen hatte zu glauben, dass diese Melodie am Anfang aller Zeiten erklungen war und auch nach ihrem Ende noch weiter erklingen würde.
Nun aber war es still und auch wenn er nicht unglücklich über das Ende dieses unheilvollen Lockrufs war, beunruhigte ihn die plötzliche Still fast noch mehr. War er falsch hier? Hatte er irgendeine Abzweigung verpasst?
„Mein Name ist Navin“, verkündete er vorsichtshalber, um nicht für einen Verzweifelten gehalten zu werden, der sein Leben hier unten beenden wollte, „ich bin der amtierende Kartellwächter und möchte mit Porneck verhandeln.“
„Komm herein“, wisperte eine sonore Stimme, die zum Glück nicht in seinem Kopf erklang, sondern auf gewöhnlichem Weg an seine Ohren drang. Navin war etwas erleichtert. Er hasste es, wenn seine Gedanken gelesen wurden und manch ein Planetenkrebs soll dazu auch ohne technische Hilfsmitteln in der Lage sein.
Dass Porneck gewöhnliche Weise mit ihm kommunizierte, war schon einmal ein gutes Zeichen. Dennoch brauchte Navin einen Moment, um die Stimme zu orten. Sie erklang aus einem Café, namens „The giving hand“, auf dessen Schaufenster die Silhouetten verschiedener Deovani gemalt waren, die gemeinsam an Tischen saßen, sich unterhielten und speisten.
Navin spürte, wie ihm der Schweiß ausbrach und die Aufregung ließ seine Zähne noch heftiger schmerzen als gewöhnlich. Mit klopfendem Herzen ging er auf das Schaufenster zu und legte seine Hand auf die altmodische Klinke, welche die Form einer ausgestreckten Hand hatte. Statt sie jedoch direkt hinunterzudrücken, hielt er noch einen Moment inne. Uralte Instinkte, noch weit grundlegender als sein gewöhnliches Unterbewusstsein, warnten ihn davor, sich in dieses Gebäude zu begeben, das womöglich nichts weiter war als ein Teil des Planetenkrebses.
Doch welche Wahl blieb ihm? Einfach wieder zu gehen und auf zwei gute Jahre als Kartellwächter zu verzichten? Da nahm er es lieber mit diesem Ungeheuer auf, zumal es für solche Gedanken ohnehin in dem Moment zu spät gewesen war, als er diesen Ort betreten hatte. Also drückte er die Klinke herunter, zog die Tür auf und trat ein.
Im Inneren erwartete ihn ein einstmals wahrscheinlich gemütliches Café im traditionellen Stil, mit einer Reihe von Tischen und Stühlen, wobei letztere ebenfalls wie Hände geformt waren. Unwillkürlich fragte Navin sich, ob der Machtkomplex der kalten Hand Porneck wegen der Verwendung dieser Symbolik verklagen würde, wenn er Kenntnis davon erhielte und musste ungeachtet seiner Angst kurz lächeln.
Sein Lächeln gefror ihm, auf den spröden Lippen als er hinter der Theke eine gesichtslose, humanoide Gestalt aus würzig-süßlich riechendem feuchten Fleisch erblickte, welche mit aggressiv wirkenden, schnellen Schritten auf ihn zusteuerte. Hatte Porneck ihn nicht verstanden, ihm nicht geglaubt oder war es ihm schlicht egal, dass er für Verhandlungen hierhergekommen war? Reflexartig wich Navin einen Schritt zurück und bedauerte, über keine Waffe zu verfügen.
„Ich will nur verhandeln“, wiederholte er, „es gab eine Vereinbarung mit meinem Vorgänger. Diese will ich erneuern.“
Das Ding reagierte nicht auf seine Absichtserklärung, aber Navin war nicht so dumm zu versuchen wegzurennen. Es würde ihm nichts bringen, außer, dass er das bisschen Würde verlieren würde, das er noch hatte. Genau aus demselben Grund versuchte er nicht, sich zu verteidigen. Er war schmächtig, dürr und untrainiert und er bezweifelte, dass selbst ein gut mit Implantaten ausgestatteter Konzernsoldat ein Kräftemessen mit dieser Kreatur für sich entscheiden hätte.
Immerhin wimmerte, flehte und zitterte Navin nicht und er widerstand auch seinem Würgereiz und der hochkommenden Panik als die Kreatur ihm ganz nah kam und seinen Arm ergriff.
Er verspürte einen so heftigen Ruck, dass er kurz befürchtete seinen Arm zu verlieren, aber der Druck ließ sofort wieder nach und er verstand, dass das Wesen ihm lediglich signalisieren wollte, mit ihm zu kommen. Navin gehorchte und folgte der Kreatur durch das Gewirr der verstaubten Tische. Dabei fiel Navin erst jetzt auf, woher dieser Staub stammte. Nicht an allen, jedoch an einigen Plätzen lagen – oder saßen – große Staubhaufen, von denen einige noch grob die Form eines Deovani erkennen ließen.
Nun begann er doch zu Zittern. Es gehörte nicht viel dazu, sich vorzustellen, was mit diesen Leuten passiert war und er hielt es nicht für ganz unwahrscheinlich, bald auch so einen Staubhaufen zu bilden. „Keine Panik“, flüsterte er leise zu sich selbst und versuchte sich damit zu trösten, dass sein Leben ohnehin kein erlesenes Vergnügen war. Leider half das nur bedingt.
Wie erwartet führte ihn das Wesen zu einem der Tische und ließ ihn dort los. Navin setzte sich auf einen freien Stuhl und das Wesen ließ sich gegenüber von ihm nieder.
Navin Speichel in den Mund schoss. Seine Hände begannen heftig zu schwitzen. Kaum dass sich das Wesen hingesetzt hatte, hörte er ein Geräusch und spürte einen leichten Druck an Beinen und an der Hüfte. Er brauchte nicht nach unten zu sehen, um zu wissen, dass die handförmige Sitzfläche sich um ihn geschlossen hatte. Natürlich tat er es dennoch und sah seine Annahme bestätigt.
Der Druck war immerhin nicht so stark, dass es schmerzhaft oder auch nur allzu unbequem wurde, aber Navin machte sich keine Illusionen darüber, was von ihm übrigbleiben würde, wenn er versuchen sollte zu fliehen. Resigniert legte er die schwitzigen Hände auf den staubigen Tisch. Sein Schweiß bildetet sofort kleine, lehmige Klumpen mit dem Staub, der von einem personenförmigen Haufen auf dem Stuhl zu seiner Linken stammte.
„Danke für die Einladung, Nehmer Porneck“, besann Navin sich auf jene diplomatischen Umgangsformen, die er sich im Laufe seiner Tätigkeit angeeignet hatte. Vor allem, um nicht zu heulen. Oder zu schreien, „können wir nun mit unseren Verhandlungen beginnen? Es geht um eine Angelegenheit, die auch für Sie von großer Wichtigkeit ist.“
Einige Momente geschah nichts in diesem zur Gruft mutierten Café. Dann bewegte sich der Kopf der gesichtslosen Kreatur. Eine Öffnung erschien darin. Eine Öffnung, die sich rasch vergrößerte, sich umstülpte und schließlich als übergroßer, mundartiger Auswuchs, direkt vor Navin auf den Tisch klatschte.
„So sprich, Kartellwächter“, sagte dieser Mund, wobei sich seine „Lippen“ wie zerknülltes Papier kräuselten, „sag mir, was du uns geben kannst und welche Form der Verzweiflung dich hierher treibt.“
Der Gestank, der aus dem improvisierten Mund zu ihm herüberdrang, war so intensiv, dass Navin sich nicht länger beherrschen konnte. Er begann zu würgen und erbrach sich direkt auf dem Tisch. Scham mischte sich in das Geflecht aus Angst und Ekel, das sein Denken beherrschte, doch Porneck ging nicht auf seinen Fauxpas ein. Er wartete weiter geduldig darauf, dass er – der Bittsteller – sein Ansinnen formulierte. Also streckte Navin den Rücken durch, wischte sich das Erbrochene vom Mund und begann mit seiner besten Diplomatenstimme:
„Ich weiß nicht, ob Sie es bereits bemerkt haben, Porneck, aber das Geflecht von Deovan stirbt und damit übertreibe ich nicht. Wir alle balancieren praktisch mit jedem Atemzug auf der Messerklinge und es kann jede Sekunde passieren, dass wir einfach aus der Existenz hinauskippen. Und damit meine ich nicht nur uns Deovani oder die anderen Bewohner dieser Welt, sondern auch den Planeten und damit Sie. Wir wissen jedoch um Ihre Macht und Größe. Und wir gehen fest davon, dass es in Ihrer Kompetenz liegt, das Geflecht zu stabilisieren. Deshalb unser Vorschlag: Tun Sie es, wenn Sie es können und wir werden etwas finden, um Sie für Ihre Mühen zu entschädigen. Anderenfalls ist unser aller Überleben in Gefahr.“
Als er diese Worte gesprochen hatte, kam sich Navin vor wie jemand, der unvorbereitet und unausgeschlafen in eine Präsentation gestolpert war. Jedes seiner Worte erschien ihm lächerlich. Sein Herz pochte so stark, dass er es selbst hören konnte und die Adern in seiner Stirn pulsierten im gleichen Takt, begleitet von dumpfen, pochenden Schmerzen. Jeden Sekundenbruchteil, die der Porneck-Auswuchs nicht antwortete, kam Navin sich kleiner, dümmer und hoffnungsloser vor.
„Ich verstehe“, sagte der stinkende Mund endlich, „und ich bin einverstanden.“
Für einen Augenblick keimte Hoffnung in Navin auf, doch ehe sie sich zu einem Feuer entwickeln konnte, fuhr Porneck mit sanfter Stimme fort, „es wird ein Überleben geben, Kartellwächter. Für uns alle. Dafür – so mein erstes und einziges Angebot – werde ich mich öffnen, weiter als je zuvor. Ich werde mich strecken und dehnen und euch ein Bunker werden. Ein Schutzwall. Eine Heimat, so wie ich sie schon für so viele Verzweifelte und Verlorene gewesen bin. Ich werde mich öffnen, Kartellwächter, und jenen Teil des Geflechts stabilisieren, in dem ich residiere. Es liegt also an dir und allen anderen Einwohnern dieser Welt, einzutreten und meine Gastfreundschaft in Anspruch zu nehmen … oder zu vergehen.“
Navin erbleichte. Und seine Hoffnung zerfiel zu Staub.