„Was ist das hier?“, fragte Callan den sinistren Giganten neben ihm, als sie den langen, hohen Gang betraten, in den der Fremde ihn gebracht hatte. Schon seit er ihn durch eine kleine Nische zwischen Sumpf und dichtem Schilfgras geführt hatte und sie einfach aus dem klagenden Moor verschwunden und auf einer beweglichen Rampe wieder aufgetaucht waren, war er aus dem Staunen nicht mehr herausgekommen.
Dieser grell erleuchtete Tunnel jedoch, an dessen Decke die Namen von Rage und Devell rot und durchgestrichen prangten und lediglich der seine noch im blassen Grün erstrahlte, irritierte ihn fast noch mehr. Ihm war natürlich klar gewesen, dass das House of Life über Hinterräume verfügen musste, schon allein, weil sich ein solcher Parcours nicht von allein managte. Aber allein den Ort zu betreten, an dem all die Grausamkeiten, die in diesem Etablissement geschahen, überwacht und geplant wurden und dessen Größe und Ausdehnung zu erleben, war auf besondere Weise niederschmetternd. Genauso wie das Wissen, dass der Ausweg aus der Todeszone die ganze Zeit über so nah gewesen war.
„Eine Abkürzung“, antwortete der Fremde düster und kurz angebunden und krallte seine klauenhaften Füße auf den geriffelten Metallboden, der sich kurz darauf langsam in Bewegung setzte. Langsam, aber noch immer so schnell, dass Callan sich beeilen musste, nicht den Anschluss zu verlieren. Mit einem beherzten Sprung schloss er zu dem Unbekannten auf.
„Wie hast du sie entdeckt?“, fragte Callan während ihn der Boden selbständig durch den Gang und seine vielen, mysteriösen Türen transportierte. Obwohl er diese Frage stellte, war er sich gleichzeitig sicher, dass es für das Geheimwissen des Fremden nur zwei Erklärungen geben konnte: Entweder er war der Handlanger eines anderen Konzerns und hatte den Grundriss des House of Life gründlich ausspioniert oder er gehörte zu dessen Personal und hatte irgendetwas besonders Perfides mit ihm vor. Plötzlich hielt es Callan gar nicht mehr für so eine gute Idee, dem Unbekannten gefolgt zu sein.
„Ist das wichtig?“, fragte der Fremde, ohne sich umzudrehen, auch wenn Callan das Gefühl hatte, dass die Haltung des Hühnen sich etwas versteifte.
„Für mich schon“, beharrte Callan tapfer.
„Das sehe ich anders“, erwiderte der Unbekannte und drehte sich nun doch zu Callan um. Seine Augen sahen ihn durchdringend an, fast als würde er Callan auf die gleiche Weise hypnotisieren wollen, wie zuvor die Onyx-Geweihte und Callan konnte nicht aufhören auf dieses bizarre unbewegliche Mundgitter zu starren, welches den unteren Teil seines Gesichtes beherrschte oder auf das klaffende Loch in seiner Brust, „für dich ist es wichtig, dein Leben zu bewahren. Genau das werde ich dir ermöglichen. Nicht mehr und nicht weniger. Wissen habe ich nicht zu verschenken.“
Nun, dachte Callan, wo auch immer dieses Wesen – dieser Mann herkam, er dachte zumindest wie ein Deovani.
„Willst du mir dann wenigstens deinen Namen verraten?“, überwand sich Callan zu fragen und kämpfte gegen den Drang an, einfach umzudrehen und das Fließband gegen seine Laufrichtung zu benutzen, nur um dem Fremden zu entfliehen.
Der Fremde schwieg einen Moment und seine Augen verdrehten sich etwas, so als müsste er für eine Antwort auf diese Frage erst in sich hineinschauen. War das ein Anzeichen für eine Lüge? Aber was sollte das bringen? Callan hätte der echte Name des Mannes kaum einen Vorteil gebracht und ein Agent sollte seinen Decknamen ohnehin jederzeit parat haben. Warum also dann dieses Zögern?
„Adrian“, sagte der Fremde und der Klang dieses Namens überraschte Callan. Er hatte in seiner letzten Tätigkeit eine Menge Namen gelesen und geschrieben und wusste sie zuzuordnen. Dieser war ganz sicher terranischen Ursprungs, obwohl der Mann ganz und gar nicht nach einem Menschen aussah. War das lediglich eine kulturelle Aneignung, ein seltsamer Zufall oder steckte dahinter eine interessante Geschichte?
„Angenehm“, sagte Callan, „mein Name lautet Callan Geber.“
„Das habe ich mir fast gedacht“, sagte Adrian und zeigte zur Decke, wo sein Name noch immer grün leuchtete. Callan konnte nicht verhindern, dass er errötete.
„Ja, natürlich, das liegt auf der Hand“, murmelte er und fühlte sich in Gegenwart dieses Ungetüms wie ein dummer Junge. Vielleicht war er das ja auch.
Der Fremde – Adrian – drehte sich wieder um und brummte „Geschwindigkeit zwei.“
Kurz darauf beschleunigte sich die Bewegung des Untergrunds noch ein wenig und die Türen, von denen die meisten keine Aufschrift trugen, bewegten sich noch rascher an ihnen vorbei. Dennoch reichte das Callan nicht. Ja, in diesem Moment lastete jede Sekunde, die er noch in diesem Haus verbringen musste, wie Blei auf seinen Schultern. Nicht einmal in dem Tunnelsystem mit der unbekannten Flüssigkeit, unterhalb des klagenden Moors hatte er sich so eingeengt gefühlt.
„Können wir nicht irgendwie schneller werden?“, fragte Callan.
„Ja“, sagte Adrian herablassend, ohne ihn anzusehen, „wenn wir entdeckt werden wollen.“
Trotz dieser unfreundlichen Erwiderung, fühlte Callan sich bei diesen Worten ein wenig beruhigt. Wenn der Fremde eine Entdeckung vermeiden wollte, konnte er nicht zum Personal des House of Life gehören. Dass das Geschöpf auch einfach lügen konnte, blendete er absichtlich aus.
„Okay“, sagte Callan beschwichtigend, „ich halte schon meinen Mund.“
„Gut“, erwiderte Adrian mit tiefer, brummiger Stimme, „Münder sollte man nie ohne Grund öffnen.“
Die Art, wie er das sagte, rief die Bilder viel zu naher Erinnerungen wach und ließ Callan frösteln. Mitzuerleben, wie der Fremde eines der gefährlichsten Wesen verzehrte, welches er je kennengelernt hatte, hatte ihn mehr verunsichert, als er zunächst gedacht hatte. Unwillkürlich fragte er sich, ob seine neuen Kräfte ihm im Fall der Fälle erlauben würden, sich gegen Adrian zu wehren, war sich dabei aber ganz und gar nicht sicher.
Andererseits hatte er trotz aller Widrigkeiten bis hierhin überlebt und wenn der Fremde ihm wirklich etwas Böses wollte, hätte er ihn auch der Steingeweihten überlassen oder ihn ausschalten können, solange er noch hypnotisiert war. Callan versuchte sich zu entspannen und sich auf das leise Surren des Fließbandes und das Wechselspiel der Türen zu konzentrieren, statt auf das nervöse Pochen seines Herzens und die durchgestrichenen Namen über seinem Kopf.
Dabei fiel ihm auf, dass sich die Farbe der Wände stetig änderte. Waren sie anfangs noch hellgrau gewesen, wurden sie nun erst dunkelgrau, dann weiß und nahmen schließlich einen dunkelroten Farbton an. Callan, der zwar gestresst und verängstigt, aber nicht dumm war, folgerte daraus sofort, dass damit die verschiedenen Bereiche des Parcours symbolisiert werden sollten. Was sich ihm allerdings weniger erschloss, waren die leisen Stimmen, die er gelegentlich zu hören glaubte. Anfangs dachte er, Adrian hätte zu ihm gesprochen, doch da er die Worte nicht verstand und sich nicht sicher war, ob sie überhaupt gesprochen worden waren, schwieg er und hoffte, dass es entweder fantasierte oder einfach nur die gedämpften Gespräche der Creeps und Mitarbeiter im House of Life vernahm.
„Ab hier können wir nicht weiter“, unterbrach der Koloss sein fruchtloses Grübeln, direkt, nachdem die Wandfarbe von weiß zu rot gewechselt hatte. Trotz der gegenteiligen Ansage des Fremden hatte Callan nicht den Eindruck, dass dies schon das Ende dieses Transporttunnels war. Im Gegenteil, er schien noch immer ein ganzes Stück weiterzugehen.
„Warum?“, traute sich Callan zu fragen, auch wenn er sich beeilte dem Fremden zu folgen, der seine gefährlich aussehenden Zehen bereits in den unbeweglichen, metallenen Boden, direkt vor einer schwarzen, unbeschrifteten Tür grub.
Einmal mehr wandte sich Adrian zu ihm um und da der unbewegliche Bereich des Ganges recht schmal war, war ihm sein tödliches Mundgitter unangenehm nah. „Der normale Ausgang öffnet sich nur, wenn Enry es autorisiert. Aber es gibt einen Notausgang, der sich manuell öffnen lässt, wenn man weiß, wie.“
„Wird man dort nicht auf uns warten?“, fragte Callan.
„Sicher“, stimmte Adrian zu, „aber ich gehe davon aus, dass Sie kämpfen können, oder nicht?“
„Doch“, sagte Callan und versuchte dabei nicht auf seinen erbärmlichen Pinpointer zu starren, „allerdings frage ich mich, warum uns bisher noch keiner angegriffen hat?“
„Wenn wir noch länger warten, könnte sich das ändern“, brummte Adrian ungeduldig, „kommen Sie mit mir?“
Callan nickte und setzte sich in Bewegung. Was sollte er auch sonst tun?
~o~
Als sich die Tür öffnete, sie die Rampe benutzten und sie schließlich die Hinterzimmer des House of Life verließen, hatte Callan große Mühe seinen kargen Mageninhalt bei sich zu behalten, der vor allem aus einer geschmacklosen, seit ein paar Wochen abgelaufenen Nährflüssigkeit bestanden hatte, die er sich billig auf den Endmärkten besorgt hatte.
Vor ihm erstreckte sich eine edle, altmodisch wirkende Lounge. Callan sah samtüberzogene, rote Stühle, schwarze Graphen-Tischen in Blütenform und einen hohen, an schwarzen Kunstrasen erinnernden Teppichboden. Ferner entdeckte er eine ganz aus Kunstglas gebaute, mit Erde gefüllte, bepflanzte Theke samt verschiedenster, bunter Getränke und hohen, dreibeinigen Hockern, sowie einer Reihe von gemütlichen, grünen Couchgarnituren, deren ausladende, blattförmige Sitzflächen eher an Betten denken ließen. Die Wände der Lounge waren verziert mit filigranen, floralen Schmuckornamenten. An der Decke aber, die im trübdunklen Blau eines spätnachmittäglichen Himmels gehalten war, thronte eine gemalte und dennoch leuchtende Sonne, die ein zutiefst sadistisches Lächeln zur Schau trug.
All dies jedoch war es nicht, was Callan Übelkeit bereitete. Dafür waren andere Beobachtungen ursächlich. Gläser, Tassen und sogar Aquarien, die mit ranzig riechendem Blut gefüllt waren und in denen Zähne, Augen, Haare, Schuppen und Hautstücke schwammen. Gäste, die in unbequemen Haltungen festgebunden auf den Hocker und Stühlen vor ihren halb konsumierten Getränken saßen und deren Gesichter zerschnitten, verstümmelt, regelrecht umgestülpt oder bis zur Unkenntlichkeit verätzt waren. Manchen der von verschiedenen Völkern stammenden Opfer fehlten Gliedmaßen, Haut, Federn oder Schuppen. Jene, die das Pech hatten auf den Couchgarnituren zu liegen, waren an diesen festgenäht – oder eher in sie eingenäht – worden und glotzten mit stumpfen Augen oder leeren Augenhöhlen an die Decke.
Ob sie tot, lebendig oder lediglich Attrappen waren, ließ sich nicht genau sagen. Jedenfalls waren sie nicht verrottet und einige der Sitzenden schienen ihre Körperspannung von selbst halten zu können, falls dafür nicht irgendwelche verborgenen „Hilfsmittel“ zum Einsatz gekommen waren. Zudem gab es diverse verstreute „Hochbeete“. Diese bestanden aus dickstieligen, roten Pflanzen, die in den geöffneten Brustkörben oder Bäuchen von Deovani und anderen Wesen wuchsen, welche ihre gemarterten Körper auf allen Vieren in die Höhe streckten, als wäre es das höchste Ziel in ihrem Dasein, diese Pflanzen bestmöglich zur Geltung zu bringen.
„Das … das ist kein Geheimgang“, sagte Callan würgend, „das ist nur ein weiteres Areal und ein widerliches noch dazu.“
„Es ist beides“, erklärte Adrian ungerührt, „ich hatte nie behauptet, dass wir den Parcours verlassen hätten. Das hier ist der Martergarten. Das Reich von Slura. Einer Andrin und Enry Nehmers rechter Hand.“
Callans Mund wurde trocken. Er hatte in seinem bisherigen Leben nicht viel Umgang mit Andrin gehabt, auch wenn er gehört hatte, dass sie von manchen Firmen gerne als Abteilungsleiter eingesetzt wurden. Dies geschah vor allem in Bereichen, wo hochspezialisiertes Personal eingesetzt werden musste und die Angestellten aufgrund der Knappheit am Arbeitsmarkt eine bessere Verhandlungsposition hatten. Nach allem, was man hörte, war dieses Volk wahrhaft meisterhaft darin, Widerstand zu brechen und andere mit subtilen, psychischen Grausamkeiten zu devoten, folgsamen Arbeitsdrohnen zu erziehen. Hier jedoch zeigte sich dieses besondere Talent ganz und gar nicht subtil und veranschaulichte Callan umso mehr, warum er diese Wesen noch mehr verabscheute als die meisten Deovani.
„Sind diese … Leute echt oder eine Illusion?“, fragte Callan den Fremden.
„Schmerz ist immer eine Illusion“, antwortete Adrian kryptisch, „bis man ihn selbst erlebt.“
Dann setzte sich die dunkelgraue Gestalt in Bewegung und Callan folgte ihr, während seine Augen sich doch nicht von den gequälten Körpern lösen konnten und der Geruch nach Blut, Erde und Leid seinen Super-Nehmer-Magen auf eine harte Probe stellte.
Während das schwarze Kunstgras seine Unterschenkel streichelte und er seinen Blick immer wieder durch die verwinkelte, von Raumtrennern, Schränken, Aquarien und „Hochbeeten“ durchzogene Bar schweifen ließ, dachte er erneut an seinen Traum. Dort war das Gras weich und fast sphärisch und auch wenn der Mond – anders als die hier aufgemalte Sonne – kein Gesicht hatte, schien auch er zu lächeln. Nicht gehässig jedoch, sondern aufrichtig. Und die Pflanzen waren einfach Pflanzen, keine obskuren Folterinstrumente.
Callan fragte sich sicher zum tausendsten Mal, ob das wirklich nur ein Traum war, nur eine Illusion, an die er sich klammerte, um sich nicht im Wahnsinn der Wirklichkeit zu verlieren. Womöglich war all das – und selbst sein bescheidenerer Wunsch nach Flucht – lediglich Selbsttäuschung und es gab nirgends im Multiversum einen Ort, an dem sich die Leute nicht nur der kompromisslosen Erfüllung ihrer niedersten Gelüste hingaben. Irgendwo tief in sich ahnte Callan noch immer, dass dem nicht so war, aber angesichts solcher Gräuel fiel es schwer, das zu glauben.
Adrian führte ihn durch eine schmale Gasse zwischen der Theke und einem besonders großen, hellrot gefärbten Aquarium, in dem einige längliche, mit fast handartig geformten Flossen ausgestattete Fische mit einem abgerissenen Finger spielten. Dabei warf er auch einen beiläufigen Blick auf die „Getränke“, die die Bar feilbot und die sich auf den zweiten Blick als eine Sammlung verschiedenster, vornehmlich ätzender Chemikalien erwiesen. Er wandte sich aber sofort wieder ab, bevor sein Kopf allzu deutliche Bilder aus dieser Erkenntnis konstruieren konnte.
Doch auch wenn Callan dieser Ort mit jeder Sekunde grauenhafter erschien, so wurden er und Adrian immerhin bislang noch in Ruhe gelassen. Dafür war er natürlich dankbar, auch wenn es zugleich auch sein Misstrauen schürte. Wie konnte es sein, dass Enrytainment diese Infiltration entgangen war? War der Fremde wirklich so geschickt vorgegangen? Hatte er für irgendeine Ablenkung gesorgt, die Enrys Leute beschäftigt hielt? Aber gerade, wenn die Belegschaft nichts ahnte, müsste doch hier ein Creep, müsste diese Slura auf ihre Opfer warten. Natürlich könnte es sein, dass Adrian sie und die anderen Angestellten bereits ausgeschaltet hatte, aber dann ergab diese Geheimnistuerei wenig Sinn.
Schließlich erreichten sie eine Wand, an der kein aufwendiges Zierwerk, sondern lediglich eine florale Tapete angebracht war. Adrian tippte mit seinen gefährlich aussehenden Fingern auf eine bestimmte Stelle und Callan sah zu, wie mitten in der Wand eine Tür erschien.
„Nein, verflucht!“, sagte Callan tonlos und alle Farbe wich aus seinem Gesicht als ihn die schlanke Silhouette einer schwarz gekleideten Frau mit einer blutigen Dornenpeitsche anlächelte.
~o~
Callan reagierte schnell, beinah übermenschlich schnell, aber die Reichweite von Sluras Peitsche blieb ungeschlagen. Gnadenlos wie die Zähne eines Raubtiers, bohrten sich die Widerhaken der Waffe in sein Fleisch und rissen tiefe Wunden, begleitet von Schmerzen, die ein gewöhnlicher Körper nicht mit Hormonen dämpfen konnte. Callan hatte keinen gewöhnlichen Körper, aber auch für ihn blieben diese Schmerzen mörderisch. Trotzdem ignorierte er sie, ignorierte, wie die Dornen durch Haut und Muskeln schnitten, während es ihm tatsächlich gelang, sich aus der fatalen Umarmung zu befreien. Getrieben von Adrenalin und glitschig von Blut stolperte er davon, in der Hoffnung, irgendwie zurück zum Eingang zu finden.
Ein Zischen an seinen Ohren verriet ihm, dass die Andrin erneut ausholte und obwohl die Peitsche seinen Bewegungen nachverfolgte und ihn gerade erreichte, als er auf Höhe des Aquariums war, schlitterte er mit letzter Kraft um das Hindernis herum. Die Peitsche krachte stattdessen in das Becken, ließ das Glas zersplittern und ein Schwall aus Fischen, blutrotem Wasser, Körperteilen und Wasserpflanzen ergoss sich auf den Boden.
Callan nutzte das Chaos, rannte weiter, obwohl seine Beine protestierten und entdeckte eine weitere, diesmal hölzerne Tür zwischen zwei der blütenförmigen Tische. Ohne zu wissen, wohin sie führen mochte, riss er sie auf und erstarrte, als er dahinter ein finsteres Raubtier erblickte. Es war jene Kreatur, der er und Devell im ersten Areal entgangen waren. Es war Autemga.
Callans erster Reflex war es, seinen Pinpointer abzufeuern, aber er besann sich eines besseren, wirbelte herum, um nach einem anderen Weg zu suchen und sah entsetzt zu, wie sich weitere Türen öffnen und sich zwei ausgehungerte Tronhiire, ein mutierter, entstellter Rorak, der verräterische Adrian und letztlich auch die Andrin zu ihm gesellten, die ihre grausame Peitsche noch immer festhielt, jedoch vorerst darauf verzichtete, ein weiteres Mal zuzuschlagen. Und dennoch: Callan war umzingelt.
„Das ist nicht vertragsgerecht“, sagte Callan, hob seine jämmerliche Waffe, zielte auf Slura und versuchte es gleichzeitig mit dem einzigen Schutz, auf den Unterlegene in Deovan hoffen konnten, „ich bin ein regulärer Life-Runner. Ich habe die Eintrittsgebühr bezahlt und den Parcours bis hierhin überwunden. Es entspricht nicht den Regeln, dass ich gegen Sie alle kämpfen muss. Nur gegen Geberin Slura.“
Slura fing an zu lachen. „Wie niedlich. Da hat jemand sein ganzes erbärmliches Leben in Deovan verbracht und doch weiß eine Fremde immer noch besser, wie es in seiner Heimat läuft. Deine Eintrittsgebühr hat Monument bezahlt, nicht du und was Verträge betrifft … die sind nur etwas für Ebenbürtige. Abseits davon dienen sie nur dazu, die Schwachen zu fesseln und den Vorteil der Starken zu zementieren. Verträge schützen dich so wenig, wie dich eine Kette um deinen Hals schützt und sie haben ungefähr genauso viel mit Freiheit zu tun. Enry schließt und bricht seine Verträge wie es ihm gefällt und das ist sein gutes Recht. Denn wer die Dominanten hat, hat die Dominanz.“
Mit diesen Worten schwang Slura ihre Peitsche, doch anders als vorhin, war Callan darauf vorbereitet. Fast, als würde er ihr Schlagmuster vorhersehen, duckte er sich weg, erreichte sie, noch bevor er den Biss der Peitsche spürte und feuerte den Pinpointer direkt in ihr Gesicht. Und so schlecht die Waffe auch war, eine Kugel direkt ins Auge, blieb eine Kugel.
Slura schrie gequält auf und hielt sich mit der linken Hand das perforierte Auge. Doch auch, wenn die kleine Kugel zweifellos ihr Gehirn getroffen haben musste, hielt sie sich auf den Beinen und ihre Peitsche wickelte sich einmal mehr gnadenlos und diesmal noch viel enger um Callans Körper. Die Schmerzen, die darauf folgten, waren fast atemberaubend, doch sie lähmten ihn nicht. Erfüllt von ungekanntem Zorn und seinen geerbten Kräften, spannte er seine Muskeln an und zog an seinem Gefängnis, wobei die Dornen noch tiefer in seinen Körper eindrangen. Haut platzte, Sehnen gaben nach, Muskeln wurden verletzt und schließlich riss etwas mit einem lauten Knall. Doch es war keiner von Callans Muskelsträngen. Es war die Peitsche. Sluras Peitsche, deren zerrissene Teile einfach auf den Boden fielen, direkt vor ihrer Herrin, die sich immer noch nicht von Callans Angriff erholt hatte.
Callan verlor keine Zeit. Trotz seiner Qualen nutzte er die entstandene Lücke, schob sich an der paralysierten Andrin vorbei und schaffte es sogar den zudringlichen Tronhiire und dem heranstürmenden Rorak auszuweichen. Dann aber traf ihn ein Schattenstrahler in den Rücken und er fiel. Hilflos und fast gelähmt schaffte er es gerade noch sich herumzudrehen und dem Fremden ins Gesicht zu sehen, dessen massive Beine ihn inzwischen erreicht hatten.
„Verräterischer Pisser!“, schleuderte er Adrian entgegen. Dann wich die letzte Kraft aus seinen Muskeln.
~o~
„Wir riechen es. Er trägt Licht in sich. Selbstlosigkeit. Seltenes Aroma. Kostbares Gut an diesem Ort. Müssen es ernten. Müssen!“, formten die Körper von Schlinger und Schlund, die hier ausnahmsweise gemeinsam auftraten, in ihrer unheimlichen Zeichensprache. Ihre Körper hatten sich Callan, der mit Sluras Peitschenresten auf einer der Blatt-Liegen festgeschnürt war, bis auf wenige Zentimeter genährt und man sah ihnen an, dass sie bald in ihre Hungergestalt wechseln würden.
„Ihr … müsst … machen … horchen!“, brüllte Slura, die wieder einigermaßen bei Bewusstsein war, herrisch. Callans Kugel hatte offenbar ihr Sprachzentrum getroffen und die daraus resultierenden Wortfindungsstörungen nahmen ihrem Befehl viel von seiner einschüchternden Wirkung. Wenn auch nicht so viel, wie ihre vollkommen zerstörte Peitsche.
„Nein!“, sagten Schlinger und Schlund gemeinsam, denen Sluras Schwäche nicht entgangen war. Ihre Münder begannen sich zu weiten. Sie stoppten ihre Verwandlung jedoch, als Slura einen kleinen, aber mächtigen Knopf in ihrer Hand betätigte.
Doch nicht nur Schlinger und Schlund waren betroffen. Auch der Bulle, Autemga und der Kwang Grong hielten inne.
„Habe … Kontrolle …“, sagte sie, „… ihr … folgen … alle folgen. Könnt fressen, könnt alles fressen und wegbringen, wenn … wenn ich … Rache“. Trotz ihrer kindlich klingenden Worte war der Hass in ihrer Stimme unüberhörbar.
Callan, der trotz des Angriffs und der Schmerzen nicht gänzlich das Bewusstsein verloren hatte, versuchte, sich nicht beeindrucken zu lassen. „Es gibt nichts Erbärmlicheres als eine Anführerin, die sich auf einen Act-Blocker verlassen muss!“, sagte er höhnisch. Das war nicht sehr diplomatisch, aber Callan wusste, dass er keine Chance hatte zu überleben, also wollte er einmal in seinem Leben nicht vor den Mächtigen kuschen. Er hatte Slura verstümmelt, hatte ihre Peitsche und ihr Gehirn beschädigt und sie hatte den Tronhiire nicht einmal das Versprechen abverlangt, ihre Ernte nach seinem Tot an Monument abzutreten. Diese Frau, deren Wesen schon von Natur aus düster und sadistisch war, kannte jetzt nur noch Rache, nur noch Hass und wenn er diesen Hass schürte, konnte er sein Leid vielleicht abkürzen. Zumindest hoffte er das.
Doch Slura war eine erfahrene Foltermeisterin und neigte nicht zu Kurzschlusshandlungen. Sie tötete Callan nicht. Stattdessen fuhr ihre rechte Hand in Callans Mund, noch bevor dieser zu Ende gesprochen hatte und riss ihm mit einem Ruck einen Schneidezahn heraus, den sie erst kurz betrachtete und dann beiläufig in eines der intakten Blutaquarien katapultierte, wo die Fische sofort mit ihm zu spielen begannen.
Slura wartete, bis Callans Schreie endeten und er aufhörte, sich in seinen Fesseln zu winden und dabei die Wunden in seinen Armen und Beinen wieder zu vergrößern, die sich gerade erst wieder so weit geschlossen hatten, wie es die Dornen zuließen. Erst dann sprach sie zu ihm und man merkte ihr an, dass sie sich Mühe gab, die richtigen Worte zu finden. „Wächst … nicht … nach, was?“
Sie grinste zufrieden und man merkte sofort, dass sie in ihrem Element war.
„Wer weiß“, presste Callan herausfordernd hervor, „mit meinem Organismus ist vieles möglich. Vielleicht wachsen mir ja auch Fangzähne. Dann kann ich Ihnen Ihre dreckige Kehle aufreißen.“
Slura holte mit ihrer Faust aus und bewies, dass sie auch ohne Peitsche gefährlich war. Callans Lippen platzten auf und man konnte hören, wie weitere seiner Zähne splitterten. „Du … leiden … länger als je … ich viele behandelt … will Grenzen ausloten.“
„Sie klingen wie jemand, der sein Gehirn in Industrieabwässern gebadet hat und nie die Dominanten hatte, um auch nur eine Schnellschule zu besuchen“, sagte Callan etwas undeutlich, aber noch immer weit artikulierter als Slura. Dass er schon jetzt spürte, wie sich zumindest die gebrochenen Zähne ganz langsam wieder aufbauten, beflügelte sein Selbstbewusstsein noch zusätzlich.
Slura spuckte ihn an und auch wenn sie keine Jyllen war, enthielt ihr Speichel genügend metaphorische Säure, um einen Rorak zu zersetzen. Dann ging sie zu dem Aquarium, in dem bereits Callans Vorderzahn schwamm und holte einen der Fische heraus, dessen kleine, gierige Hände sich sofort in Sluras Arm krallten.
„Danke, ich will kein Haustier“, sagte Callan, „ich hab eh nicht die Zeit mich darum zu kümmern.“
Slura setzte den zappelnden Fisch kommentarlos auf Callans Stirn ab und nicht nur ihm wurde flau im Magen, als er entdeckte, dass ihr das nur gelang, weil sie zuließ, dass der Fisch kleine Fetzen aus ihrer eigenen Haut riss. Die Foltermeisterin zuckte nicht einmal mit der Wimper.
„Flusssammler“, sagte Slura lediglich, als Callan spürte, wie die feuchten Hände sich in seiner Kopfhaut verkrallten „Großer … Spieltrieb … nehmen … sammeln … Gewebe. Haut. Knochen. Organe. Viel Spaß … beim Spielen.“
Callans trotziger Sarkasmus fiel augenblicklich von ihm ab. Dann spürte ihr, wie feuchte und feine, aber unglaublich starke Flossenhände ihm ein Büschel Haare samt Wurzeln und Kopfhaut ausrissen. Callan schrie.
~o~
„DU BIST EIN LUSTIGES DING“, sagte die Stimme in meinem Kopf. Nein, nicht wirklich in meinem Kopf, sondern in dem Fehlstein, der nun fast alles war, was mir noch blieb. Ich hatte damit gerechnet, jeden Moment die Kontrolle verlieren zu können, doch dass es so schnell geschehen würde, hätte ich dennoch nicht erwartet. Noch ehe ich meinen eigenen inneren Konflikt in Bezug auf Callan auch nur halbwegs geklärt hatte, war eine gewaltige Macht aus den Tiefen von Karmons Körper heraufgestiegen und hatte fast jede meiner Verbindungen zu Karmons Hülle getrennt. Ich hatte noch hören, sehen und riechen können, aber handeln konnte ich nicht mehr.
Als hilfloser Beobachter war ich dazu verdammt gewesen zu sehen, wie Karmon den Life-Runner unter Benutzung meines Namens in die Falle gelockt hatte, ohne ihn warnen zu können. Ich hatte sogar die leise Funk-Konversation mitgehört, die Karmon – oder was auch immer aus ihm geworden war – mit Slura geführt hatte und so hatte ich schon weit im Voraus geahnt, was Callan widerfahren würde. Doch mit mir gesprochen hatte niemand. Bis jetzt.
„Bist du es, Karmon?“, fragte ich, schon allein da ich mich wunderte, dass mein Kwang Grong so seltsam mit mir sprach. Ob nun Böse oder nicht.
„WARUM KANNST DU SPRECHEN? ICH SPÜRE KEIN WIRTSBEWUSSTSEIN MEHR IN DIESEM KÖRPER“, wunderte sich die Stimme, die offensichtlich doch nicht Karmon gehörte.
„Du bist ein Kwang Ana, nicht wahr?“, sprach ich meine Befürchtungen aus. Bisher hatte ich immer noch gehofft, dass etwas von Karmon überleben würde, wenn er die Schwelle zum Kwang Ana überschreiten würde. Dass seine – unsere – Erinnerungen überdauerten, selbst wenn er nichts mehr für mich empfinden würde, außer Hass und Hunger. Aber wenn meine Vermutung zutraf, hatte ich mich gründlich geirrt. Karmon, mein Bruder, mein Seelenpartner, war fort. Die Wucht dieser Erkenntnis traf wie ein Vorschlaghammer in mein Bewusstsein und ließ mich für einen Moment vor lauter Trauer selbst meine Furcht vergessen.
„JA“, sagte der Kwang Ana, „MEIN NAME IST MARNOK UND ICH BEANSPRUCHE DIE ALLEINIGE HERRSCHAFT ÜBER DIESEN WIRT. GEH FORT, SOLANGE DU NOCH KANNST, ODER BEREUE ES BITTER!“
Diese fremde Stimme zu hören, die fast dieselben Worte sprach, wie Karmon, als er zum letzten Mal mit mir geredet hatte, machte mir Angst, große Angst. Und doch, begriff ich, dass der Kwang Ana offenbar nicht wusste, dass ich in seinem Körper steckte und er mich mit einer einfachen Bewegung aus sich herausholen konnte. Wahrscheinlich wusste er nicht einmal von den Katalogen. Das erleichterte mich ein wenig, wenn auch nicht allzu sehr. Immerhin musste das nicht so bleiben. Zumindest hatte das Wesen genug in meinen – oder unseren – Erinnerungen kramen können, um seine Lage zu verstehen und den Plan zu fassen, Callan in eine mit Slura abgesprochene Falle zu locken.
„Du hast keine Ahnung, wer ich bin“, sprach ich meine Vermutung offen aus.
„JA UND NEIN“, antwortete Marnok ein wenig nachdenklich, “ICH KENNE DEINEN NAMEN, ADRIAN. ABER LEIDER FEHLEN VIELE ERINNERUNGEN, DIE EIGENTLICH DA SEIN SOLLTEN. IRGENDETWAS STIMMT NICHT. SIE SIND BLOCKIERT, UNERREICHBAR, DABEI SOLLTEN SIE MIR GEHÖREN. ALLES HIER, SOLLTE MIR GEHÖREN. SAG MIR, WAS DU WEISST, ALBERNES DING. SAG MIR, WAS MEIN VORGÄNGER WUSSTE, ODER ICH WERDE DICH FINDEN UND VERSCHLINGEN.“
„Und wenn ich es dir sage, was habe ich dann davon?“, fragte ich ruhig, wissend, dass ich mit diesem Monster nicht wirklich würde verhandeln können.
„ES GIBT SANFTE WEGE INS VERGESSEN UND WENIGER SANFTE“, deutete Marnok mysteriös an, „TRIFF DEINE WAHL!“
„Ich werde bleiben“, konterte ich entschlossen, „und ich werde dir kein einziges Wort verraten.“
„DAS WIRD DIR NOCH LEID TUN, ADRIAN!“, versprach Marnok, „FRÜHER ODER SPÄTER WERDE ICH MICH AUCH OHNE DEINE HILFE AN ALLES ERINNERN UND ICH WERDE DICH FINDEN. UNTERSCHÄTZE MICH NICHT. ICH BIN KEIN VERWEICHLICHTER KWANG DRU. ICH BIN EIN VERSCHLINGER, EIN VERZEHRER, EIN TYRANN ÜBER DIE SCHWACHEN.“
„Und ich bin ein Fortgeschrittener“, erwiderte ich standhaft und stolz, „ich beuge mich nur dem Fernweh, keinen Tyrannen und Parasiten.“
Schon als ich diese Worte ausgesprochen hatte, bereute ich meinen Hochmut und meine Dummheit. Leider war es zu spät.
„EIN FORTGESCHRITTENER, JA?“, erwiderte Marnok so interessiert und nachdenklich, als würde er den Geschmack eines Schluck Weins in seinem Mund prüfen, „DAS IST GUT. DAS RUFT EIN ECHO WACH. FERN UND SCHWACH, ABER ES IST EINE SPUR. VIELLEICHT EIN SCHLÜSSEL. ICH WERDE DARÜBER NACHDENKEN. WIR HÖREN UNS WIEDER, ADRIAN. WIR HÖREN UNS WIEDER, FORTGESCHRITTENER.“
Dann verstummte er und ließ mich mit meinem Ärger allein. Warum nur, musste ich ihm auch noch dabei helfen, sich zu erinnern? Erst jetzt war mir klar geworden, dass es sogar sehr gut wäre, wenn Marnok nicht an Karmons Erinnerungen gelangen würde, ungeachtet meiner sentimentalen Vorstellungen.
Sein Wissen wäre eine mächtige Waffe und eine große Gefahr. Für mich, aber auch für Pingo, Sandra, Garwenia, Korf, Scavinee und für alle anderen, die Karmon je kennengelernt hatte. Vielleicht hatte mein Grong-Shin deswegen seine Erinnerungen verschlossen. Vielleicht war das ein letztes Geschenk an seine Freunde und Wertgefährten gewesen, um uns alle vor dem zu schützen, was nach ihm kommen würde. Und ich Idiot hatte nichts Besseres zu tun, als diesen Schutz, den Karmon aufgebaut hatte, mit dem Hintern wieder einzureißen.
Doch bevor ich mich allzu sehr in meinen Selbstvorwürfen verlieren konnte, holten mich Callans Schreie zurück in die Außenwelt. Wieder würde ein Unschuldiger leiden und sterben, realisierte ich, während der seltsame Fisch damit begann, Callans Kopf zu zerfetzen, und wieder würde ich nur dabei zusehen.
Doch was sollte ich auch tun? Ich war nun hilfloser, als ich es je war, aber obwohl mir das bewusst war, linderte dieses Wissen meinen Selbsthass nicht. Nein, ganz im Gegenteil, es vergrößerte ihn. Ich hatte mich lang genug hinter Schwäche versteckt, hinter Ängsten, hinter meinem Überlebenstrieb und tausend anderen wohlfeilen Ausreden. Ich war ein Heuchler, ein Blender und ein Arschloch. Noch immer. Selbst nach all dem, was ich erlebt, gesehen und getan hatte.
Und jetzt, wo ich das einmal mehr erkannte, hielt ich es einfach nicht mehr aus. Also begann ich zu kämpfen, versuchte, die Kontrolle über Karmons – nein, Marnoks – Körper zurückzuerlangen. Wenigstens für eine Weile. Wenigstens lange genug, um Callan helfen zu können. Doch nichts geschah. Kein Finger regte sich, kein Fuß bewegte sich und auch der Schattenstrahler blieb mir verschlossen. Aber ich gab nicht auf, konzentrierte mich, versuchte es wieder und wieder und wieder, wie ein trotziges, dummes Kleinkind, das versuchte, einen Würfel in eine runde Öffnung zu pressen.
„Wille ohne Macht ist zwecklos“, vernahm ich eine bekannte Stimme in meinen Gedanken, die jedoch weder von Marnok, noch von Karmon stammte, „und dennoch bewundernswert.“
„Autemga?“, fragte ich verwundert, vor allem deshalb, weil die Stimme der in Uranor geborenen Bestie nicht mehr ganz so unfreundlich klang, wie bei unserer letzten Unterredung.
„Ja“, sagte die Kreatur, „und ich werde dir helfen. Dieses eine Mal. Du hattest recht. Dieses Geschöpf, das meinen Vater verdrängt hat, ist würdelos. Eine Abnormität. Das spüre ich. Ich werde es zurückdrängen, es beherrschen. Fürs Erste zumindest. Damit du tun kannst, was du so sehr willst. Damit dein Wille Gestalt annimmt.“
„Das kannst du?“, fragte ich überrascht über diesen Sinneswandel.
„Ja“, sagte Autemga, „Karmon war ein Teil von mir. Unsere Gedanken schwangen auf einer Ebene und dieser Körper ist noch immer durch ihn geprägt. Warte auf mein Zeichen und halte dich bereit. Es kann sein, dass Marnok sich wehrt. Sobald du die Kontrolle hast, schlagen wir zu.“
„Wolltest du nicht hierbleiben und wachsen?“, wunderte ich mich.
„Das wollte ich“, stimmte Autemga zu, „aber dieser Ort langweilt mich inzwischen. Zu viele Regeln, zu wenig Sinn. Alles hier ist künstlich, falsch, leer. Und dieser Ort zerfällt, Adrian. Slura, Enry, sie alle sind Geschöpfe des Verfalls und der Verfall bietet keine Chance zur Entwicklung. Ich werde dir helfen. Und verschwinden.“
„Danke“, sagte ich, „das tust du aber nicht für mich, stimmt’s?“
„So ist es“, antwortete Autemga, „es ist die Einlösung eines Versprechens, eine letzte Würdigung. Mehr nicht. Danach werde ich fliehen und deine Wege sollen mich nicht kümmern, solange sie nicht die meinen kreuzen.“
~o~
Callan weinte. Nicht äußerlich – dank seines Super-Nehmer-Organismus, gelang es ihm, die Tränen zurückzuhalten und Slura diese Genugtuung zu verwehren, – aber innerlich. Er war so müde, so unendlich müde von dieser Welt, die nichts als Ausbeutung, Enttäuschung und Qualen für ihn bereithielt. Ja, er erfand sogar mehr Traurigkeit als Schmerz, während der Fisch ein blutiges Haarbüschel nach dem anderen aus seiner zerfetzten Kopfhaut riss und ihn all diese brutalen Gesichter mit freudigem Sadismus oder kalter Gleichgültigkeit betrachteten. Der hässliche Rorak, die gierigen Tronhiire, die halbblinde, hirngeschädigte Sadistin Slura, die seinen Pinpointer wie eine Trophäe an ihrem Gürtel führte, das Monster aus dem Soldatengrab und ganz besonders der verräterische Fremde, dieses niederträchtige, finstere Wesen namens Adrian.
Das alles war so abgefuckt, so falsch, so unglaublich verdreht. Callan wollte fort. Er wollte einfach nur noch fort. Egal auf welchem Weg. Doch ein Entkommen gab es nicht. Selbst, wenn er sich von der Liege würde losreißen können, würden ihn diese Monster spielend leicht überwältigen und er wusste ja nicht einmal, wie er würde entkommen können.
Ein weiterer Ruck, ein weiterer, sengender Schmerz und noch mehr blutige, feuchte Kopfhaut löste sich samt Haaren von seinem Schädel, während dieser Teufelsfisch seine Beute einfach achtlos auf den Boden warf.
Callan wurde schlecht. Und schwindlig. Er spürte, wie sein Körper versuchte, die entstandenen Schäden zu reparieren. Aber der Fisch war schneller. Bald würde er auf Knochen treffen und dann …
Callan erstarrte. Am Rande seines gesenkten Blicks nahm er eine Bewegung wahr und seine tristen Gedanken verloren sich im Nichts, als ein dunkler Blitz auf seine Stirn zuraste.
~o~
Ich hatte einen langen, epischen Kampf erwartet. Ein erbittertes Ringen um die Vorherrschaft, doch kaum, da ich Autemgas Präsenz in mir spürte, bemerkte ich, wie ich augenblicklich die Kontrolle über Karmons ehemaligen Leib zurückgewann. Ich hörte Marnok in mir toben, glaubte seine leise, zornige Stimme zu vernehmen und wusste, dass er noch da war. Dass er zurückkommen würde, noch endgültiger und vernichtender als zuvor. Dass er mich finden, brechen und loswerden würde, sobald er einen Weg fand. Doch fürs Erste stand meine Tür zu Karmons Körper weit offen und Autemga war der breite, mächtige Keil, der verhinderte, dass der lauernde Sturm sie wieder zudrückte.
Also sprang ich hindurch und erfüllte meinen Willen.
~o~
Aus Callans Überraschung wurde erst Unglauben und dann vorsichtige Erleichterung, als er begriff, dass der Energie-Blitz aus Adrians Brust nicht sein Gesicht traf, sondern direkt auf den Flusssammler zielte. Plötzlich roch es nach gebratenem Fisch und der ständige Schmerz in Callans Kopf hörte endlich damit auf, sich weiter zu steigern.
Noch immer etwas benommen verfolgte Callan verblüfft, wie sich der Verräter nicht auf ihn, sondern auf die nicht minder überraschte Slura stürzte.
~o~
Wie Pfeile aus Metall schossen Karmons scharfe Finger auf Sluras Gesicht zu, während der sadistische Fisch auf Callans Kopf durch meinen Schattenstrahler verbrannte. Ich wusste, dass ich die Schlampe schnell ausschalten musste. Doch leider hatte ich die Wendigkeit der Andrin unterschätzt. Mit einer schlangenhaften Bewegung, die einem Menschen völlig unmöglich gewesen wäre, duckte sie sich unter meinem Schlag weg und krümmte ihr Rückgrat fast um neunzig Grad.
Wütend wollte ich nachsetzen, aber dann krümmte sie ihre linke Hand und ein Sturm aus elektrischer Energie fegte durch meinen Körper und lähmte meine Muskeln.
„Bulle“, bellte Slura, sich an meiner Hilflosigkeit weidend, „räum diesen Müll weg. Vielleicht kannst du … Platz einnehmen.“
Der Rorak, dem ich erst vor Kurzem das Leben gerettet hatte. Setzte sich etwas zögernd, aber schließlich doch bereitwillig in Bewegung und schritt auf mich zu, die kräftigen Hände weit ausgestreckt.
„Tut mir Leid, Kumpel“, sagte er mit erstaunlich aufrichtigem Bedauern in der Stimme, „aber ich brauch den Job.“ Dann griff er sich Karmons Kopf und begann zu drehen.
Zunächst geschah gar nichts, dann jedoch bemerkte ich einen unangenehmen Druck auf den vom Act-Blocker gelähmten Halsmuskeln und hörte von innen heraus ein unangenehmes Knirschen. Eine heftige Panik stieg in mir auf, die nicht allein meine eigene war. Marnok fürchtete genauso um seinen neuen Wirtskörper wie ich.
„Autemga!“, schrie ich gedanklich, „du wolltest mir doch helfen. Warum tust du nichts?“
Ein paar schreckliche Sekunden lang hörte ich nichts. Dann endlich erklang Autemgas Antwort.
„Ich kann nicht“, sagte er ächzend, „der Act-Blocker lähmt auch mich. Vielleicht könnte ich ihn irgendwie abschütteln, aber dieser Kwang Ana erfordert meine ganze Konzentration. Er ist nicht weniger mächtig als Karmon. Vielleicht sogar stärker. Du musst das alleine schaffen.“
Am liebsten hätte ich aus purer Hilflosigkeit aufgelacht. Dann hörte ich einen Wirbel knacken.
~o~
Callan dachte nicht darüber nach, ob es vernünftig wäre, diesem Adrian noch ein weiteres Mal zur Hilfe zu kommen. Seine Wut auf Slura überstieg in jenem Moment alles. Es war nicht einfach nur diese Frau. Nein, sie war ein Symbol für all die Scheiße, die Callan in seinem Leben widerfahren war. Für all die Willkür, die ihm widerfahren war. Für all die unfairen, unsichtbaren und unbeeinflussbaren Grenzen, gegen die er permanent gestoßen war.
Als seine Muskeln sich anspannten, er aufsprang und die zurückgelassenen Fäden durch sein Fleisch schnitten, merkte er es kaum. Entschlossen schüttelte er sich den Kadaver des Flusssammlers ab, holte die weitgehend unversehrte Rückengräte aus der glitschigen Asche des Fisches und rannte los.
„Vorsicht!“, warnten die Tronhiire nonverbal, doch Slura, die voll auf meine Hinrichtung konzentriert war, registrierte es nicht.
~o~
Ein weiteres Knirschen. Ein unangenehmes, krankhaftes Brummen wuchs in meinen Ohren. Meine Sicht verschwamm, Schwindel befiel mich und mein Nacken schien in Flammen zu stehen.
„Mein Gott, bist du stark“, keuchte der Bulle, dessen drahtige Muskeln in Schweiß schwammen, „normalerweise dauert das nicht so lange.“
„Beeil dich … Schwächling“, sagte Slura, „sonst mache ich … selbst. Kein … neuer Job.“
In diesem Moment sah ich aus dem Augenwinkel etwas auf Slura zuhuschen.
Callan, dachte ich überrascht. Dann sprang der gerade noch ans Bett gefesselte Mann flink wie eine Katze auf die Andrin zu und hob irgendeinen schmutzigen, scharfen Gegenstand in seiner Hand. Der Andrin gelang es gerade noch ihre Hände bis zum Hals hochzureißen, dann versenkte Callan seine improvisierte Waffe tief in Sluras Schädel.
~o~
Kaum da ich Callans Angriff beobachtete, versuchte ich mich erneut zu bewegen. Es gelang mir. Ansatzlos rammte ich dem vollkommen überrumpelten Bullen meine spitzen Klauen in schneller Folge in seine drei Kehlen und deckte ihn gleichzeitig mit einigen Schüssen aus dem Schattenstrahler ein.
Seinem verkohlten Herzen gelang es noch, ein paar Schübe Blut aus seinen zerrissenen Hälsen sprudeln zu lassen, bevor es für immer seinen Dienst einstellte und sein Besitzer lautstark auf dem schwarzen Teppichboden zusammensackte.
So erlangte ich einen unverstellten Blick auf Slura, deren zynische, herrische Augen geistlos in die Gegend starrten. Ihr gehässiges Lächeln, welches das der Sonne an der Decke beinah gespiegelt hatte, war genauso verschwunden, wie ihre kampfbereite Körperspannung.
Gleichzeitig beobachtete ich, wie Callan, der die Flusssammlergräte, mit der er seinen Angriff ausgeführt hatte, bereits wieder aus ihrer Stirn zog, erneut zustechen wollte.
„Die Mühe können Sie sich sparen“, sagte ich zu ihm, „Sie haben ihr Artian-Re zerstört. Sie wird sich nicht mehr wehren und Ihnen auch nichts tun.“
„Ihr was?“, fragte Callan, der tatsächlich innehielt.
„Ihr Artian-Re“, wiederholte ich, „bei den Andrin im Grunde der Sitz der Seele. Sie können Ihren Kopf in Matsch verwandeln, aber damit würden Sie ihr einen Gefallen tun. Der Zustand, in dem sie sich jetzt befindet, ist schlimmer als der Tod.“
„Wieso sollte ich Ihnen glauben?“, fragte Callan und sah mich misstrauisch an, was ich gut verstehen konnte.
„Das müssen Sie nicht“, sagte ich, „ich wollte es Ihnen nur sagen.“
In diesem Moment erklang ein hohes, schrilles Geräusch. Autemga, Callan und ich fuhren gleichzeitig herum und blickten auf die Tronhiire, die ihre abscheuliche, gigantische Hungergestalt angenommen hatten und mit gierigem Blick auf Callan zusteuerten. Ein schreckliches, gespenstisch, schier unaufhaltbar scheinendes Geschwisterwesen, das nun, wo Slura nicht mehr über es befahl, seinen ureigensten Instinkten nachgeben wollte.
Doch noch bevor Autemga oder ich eingreifen konnten, krümmte Callan die Finger in seine linke Handfläche. Ein fast mechanisches Kreischen ertönte, der riesige Mund begann zu zittern und Schlinger und Schlund verwandelten sich wieder in ihre gewöhnliche Gestalt.
„Sluras Act-Blocker?“, schlussfolgerte ich.
„Genau“, antwortete Callan, „für Sie und das Monster dort hab ich auch ein paar Stromstöße übrig, wenn einer von Ihnen auch nur einen Finger rührt.“
„Das ist nicht nötig“, erwiderte ich mit einem kurzen Blick zu Autemga. „Ihm können Sie vertrauen – zumindest dieses Mal – und auch ich bin nicht länger derjenige, der Sie verraten hat.“
Callan sah mich zweifelnd an. „Wem ich vertraue, entscheide allein ich“, sagte er bestimmt. Dann wandte er sich den Tronhiire zu, die wegen des Act-Blockers nicht einmal ihre Zeichensprache verwenden konnten.
„Ich habe euch unter Kontrolle“, sagte er zu Schlinger und Schlund bei denen er auf jede Förmlichkeit verzichtete, „bevor ihr euch meine Seele holt, trete ich euch in den Arsch. Also lasst es drauf ankommen oder verpisst euch, klar?“
Callan starrte die Tronhiire herausfordernd und geradezu bewundernswert mutig an. Dann löste er ihre Starre. Die gefährlichen Kreaturen sahen ihn noch immer hungrig an, schnupperten, zuckten nervös mit ihren Mündern. Dann aber wandten sie sich tatsächlich um und verließen den Martergarten durch eine verborgene Tür, die sich einmal mehr mitten in der Wand auftat. Für einen Moment sah Callan dunklen Asphalt und hörte die Geräusche der Straße. Dann schloss die Tür sich wieder.
„Sehr beeindruckend“, lobte ich.
„Danke“, sagte Callan, „auch wenn Sie das einen Scheiß angeht.“
„Sie wissen, dass sie Ihnen draußen auflauern werden, oder?“, bemerkte ich, „sie sind ausgehungert und ziemlich angepisst.“
„Und wenn schon“, sagte Callan schulterzuckend, „ich habe den Act-Blocker. Und gute Reflexe.“
„Ich hoffe sehr für Sie, dass das reicht“, sagte ich.
„Was kümmert Sie schon mein Schicksal. Sie haben mich erst in diese Lage gebracht“, sagte Callan und strich sich über die schorfige, malträtierte Kopfhaut, in der nur noch wenige verlorene Haarbüschel steckten.
„Wie gesagt, ich bin nicht mehr derselbe“, versuchte ich zu erklären, „und damit meine ich keinen plötzlichen, spirituellen Sinneswandel, sondern, dass jemand anders bis vor wenigen Minuten diesen Körper benutzt hat. Jemand Böses.“
„Und das soll ich Ihnen ernsthaft glauben?“, fragte Callan skeptisch.
„Zumindest, wenn Sie Verbündete gebrauchen können“, antwortete ich, da ich eine gute Gelegenheit erkannte. Callan war ein vergleichsweise anständiger Kerl, er war stark und er mochte Enry wahrscheinlich auch nicht sonderlich. Vielleicht konnte er mir helfen, aus dieser Falle zu entfliehen, zu der mir Karmons Körper nun endgültig geworden war. Vielleicht konnte er mich mit sich nehmen. Selbst wenn ich dann keine Möglichkeit haben sollte, mit ihm zu kommunizieren wie mit Karmon, so gäbe es vielleicht eine winzige Chance auf Rettung, wenn ich ihn zuvor über mein Schicksal aufklärte. Dafür aber musste er mir erst vertrauen.
„Sie meinen sich und dieses … Tier?“, fragte Callan abfällig und doch erkannte ich, dass er zumindest über meinen Vorschlag nachdachte.
„Ich bin kein Tier“, knurrte Autemga, „ich bin Autemga. Ein Geschöpf des Willens und des Wachstums. Du kennst mich, Callan. Du weißt, wozu ich fähig bin. Also reize mich nicht. Oder nähre mein Wachstum.“
„Oh ja, ich kenne dich“, sagte Callan verbittert, die unhöfliche Anrede erwidernd, „du hast Rage bestialisch auseinandergenommen und mich und Devell fast getötet. Auf solche Gesellschaft verzichte ich gerne.“
„Es war Autemgas Job Sie zu jagen. Und er hat Sie beide verschont“, warf ich ein, „das sollten Sie nicht vergessen.“
„Woher wissen Sie das, wenn Sie kein Verräter sind?“, fragte Callan eisig und etwas in seinem Blick verriet mir, dass ich meine letzten Worte besser nicht hätte äußern sollen.
„Ich habe nur …“, versuchte ich mich an einer Erklärung, doch Callan hörte mir nicht mehr zu, sondern drückte auf seinen Act-Blocker, wodurch wir nicht nur gelähmt, sondern auch ein weiteres Mal von elektrischer Energie gegrillt wurden.
„Ich lasse Sie beide zurück“, entschied Callan, während er alles aufsammelte, was ihm nützlich schien, unter anderem auch seine winzige Waffe, die er von Sluras Gürtel pflückte „Früher oder später wird Enry Sie sicher finden. Dann soll er machen, was auch immer er für richtig hält.“
„Verstehen Sie nicht?“, sagte ich und versuchte das verzweifelte Flehen, das ich innerlich fühlte, aus meiner Stimme zu verbannen, „Zusammen hätten wir viel bessere Chancen zu entkommen. Wenn Sie Autemga nicht vertrauen, sollten Sie zumindest mich mitnehmen. Ich kenne viele Geheimnisse, habe Wissen und Fähigkeiten, die Ihnen noch nützlich sein können.“
Callan sah mich nur kurz abschätzig an und spuckte aus. Dann nahm er seine Waffe – seinen Pinpointer – und gab eine Reihe von Schüssen direkt in Sluras Kopf ab. Die Andrin zuckte kurz, brach zusammen und lag still.
Callan verstaute seine Waffe an seinem eigenen Gürtel, strich unbewusst über den seltsamen Hochhaus-Anhänger an seinem Hals und ging auf die Stelle in der Wand zu, an der sich die Tür für die Tronhiire geöffnet hatte.
„Wo gehen Sie hin, wenn ich fragen darf?“, versuchte ich noch einmal das Wort an ihn zu richten. Dabei verschlug mir die Angst fast die Stimme. Angst vor der totalen, restlosen Einsamkeit mit meinen Gedanken. Jene abscheuliche Gewissheit, dass ich jeden verloren hatte, der je nett zu mir gewesen war – meine Eltern, meine alten Dorfkumpels, Garwenia, Scavinee, Korf, Sandra, Pingo und nun auch noch Karmon – und dass ich gerade im Begriff war, meinen letzten Rettungsanker zu verlieren.
„Ins Land des ewigen Mondlichts, wo blaue Bäume wachsen“, erwiderte Callan sarkastisch.
„Cestralia?“, fragte ich aus einer bloßen Assoziation heraus.
Callans Pupillen erweiterten sich und seine Gesichtszüge entgleisten vor Verblüffung. Offenbar hatte meine trockene, ohne ernsthaften Hintergedanken geäußerte Bemerkung irgendetwas in ihm ausgelöst. Eine solche Sehnsucht hatte ich bisher nur bei mir selbst erlebt. Ganz am Anfang, als ich den Katalog für mich entdeckt hatte und der Wunsch neue Horizonte zu erkunden fast zu intensiv gewesen war, um ihn zu ertragen.
„Cestralia, was ist das?“, fragte Callan mit plötzlichem Interesse und seine Augen bekamen etwas Fiebriges, als er das Wort aussprach.
„Eine andere Welt. Ein so wunderschönes wie naives Paradies. Blaue Bäume, klare Seen, freundliche Einwohner, schillernde Städte unter einem ewigen Mond. Genau wie Sie es beschreiben“, erklärte ich ihm. Dass ich ebendieses Paradies beschmutzt und entweiht hatte, verschwieg ich lieber.
„Woher weiß ein Monster wie Sie von einem solchen Ort? Und wie kommt man dort hin?“, wollte Callan wissen.
„Ich bin ….“ Kein Monster wollte ich sagen, aber diese Lüge brachte ich nicht über die Lippen.
„… nicht der, der Sie verraten hat“, fuhr ich stattdessen fort, „zum tausendsten Mal! Er hat meinen Namen lediglich benutzt. Ich bin … es ist kompliziert. Sagen wir, ich habe eine längere Geschichte, in der ich viel herumkam. Leider kann man Cestralia nicht so einfach betreten. Es gibt nur einen Weg, der mir bekannt ist und der lässt sich nicht dauerhaft beschreiten.“
„Welcher Weg?!“, herrschte mich Callan an, „reden Sie, verdammt!“
„Die Portalmaschine“, kam ich seiner Aufforderung nach, in der Hoffnung, so vielleicht doch noch eine Vereinbarung mit ihm zu erzielen, „eine uralte Vorrichtung, um Welten zu bereisen. Doch das funktioniert nur für genau eine Stunde. Nicht länger. Danach wird man einfach zurückgeschickt. Und die Maschine liegt im Untergrund von Hyronanin. Einer verseuchten, gefährlichen Welt ewiger Krankheit“, erklärte ich weiter.
„Können Sie mich dorthin bringen?“, wollte Callan wissen, ganz so als hätte er meine Einwände gar nicht gehört.
Beinah alles in mir verlangte danach, mit „Ja“ zu antworten. Ihn anzulügen und so meine vielleicht letzte Chance auf Flucht zu nutzen. Doch ich war anscheinend doch nicht mehr derselbe wie damals in Hyronanin. Trotz allem.
„Nein“, sagte ich schweren Herzens, „aber ich kann Ihnen helfen, nach diesem Ort zu suchen.“
In diesem Moment bewegte sich der Boden. Im Teppichboden zeigte sich ein Netz von rechteckigen, gleichmäßigen Lücken, die sich langsam vertieften.
„Die Vertragswächter“, sagte Callan nervös, „ich muss gehen!“
„Nein, Warten Sie! WARTEN SIE BITTE!“, rief ich ihm hinterher, doch da hatte Callan bereits die Tür gefunden und stürmte hinaus.
„Charmant, dass du mich zurücklassen wolltest“, hörte ich Autemga in mir rufen, „ich denke, ich werde diesen Gefallen erwidern.“
„Nein!“, rief ich, „es tut mir leid, ich wollte nicht …“
Doch da waren die Vertragswächter bereits aus dem Boden aufgetaucht.
„Have-Non Karmon und Have-Non Crave“, begann der Anführer der Einheit die Anklage zu verlesen, „Sie sind hiermit der Verletzung der vertraglichen Bestimmungen Ihres Angestelltenverhältnisses überführt. Unter anderem wird Ihnen eine schwere Verletzung Ihrer Sorgfalts- und Gehorsamspflichten, die Beschädigung von Konzerneigentum und Personal und ferner …“
Ehe der Mann seine Anklage ganz verlesen hatte, sprang Autemga auf, machte einen heftigen Satz und biss dem Vertragswächter einfach den Kopf ab. Noch während eine Blutfontäne aus dessen Hals sprudelte, eröffneten die anderen Vertragswächter das Feuer auf Autemga. Doch ihre Netze, denen er entweder auswich oder die er mit seinem kraftvollen Kiefer zerbiss, erwiesen sich als genauso wenig effektiv, wie zuvor der Act-Blocker, dessen Einfluss Autemga einfach hatte abschütteln können, nun wo er sich nicht mehr auf Marnok konzentrierte. Die Bestie aus Uranor tötete noch drei weitere Vertragswächter, dann brach Autemga kurzerhand an der Stelle durch die Wand, durch die zuvor schon Schlinger und Schlund und Callan geflohen waren. Bruchstücke und Staub wirbelten umher und verdeckten fast seine massige Gestalt.
Ein Teil der Vertragswächter setzte ihm nach, während der Rest mich umzingelte, obwohl ich ohnehin nicht in der Lage war mich zu wehren oder zu bewegen. Doch das war nicht meine größte Sorge. Kaum, da Autemga fort war, spürte ich eine noch viel größere Einsamkeit als zuvor und dann ein heftiges, dunkles Grollen, tief aus meinem Inneren. Ein Grollen, das anschwoll und wuchs wie eine Lawine, nur dass sie nicht hinab, sondern immer weiter hinaufrollte.
„Hallo Adrian“, sagte eine Stimme. Marnoks Stimme.
Dann brandete eine Welle gestaltloser, finsterer Energie über mich und den Fehlstein hinweg und riss mich in den Abgrund.
~o~
„Gute Geschäfte, Geber Karmon“, sagte Enry Nehmer, als ich wieder erwachte. Natürlich erneut in einer Zelle. Dass ich überhaupt zu Bewusstsein kam, war sicher ein genauso großes Wunder, wie die Tatsache, dass ich den CEO von Enrytainment sehen und hören konnte. Offenbar war es Marnok noch nicht gelungen, mich loszuwerden oder meine Verbindung zu seinem Herzen gänzlich zu kappen. Dennoch stand dieser Körper wieder unter Marnoks Kontrolle, was ich an meiner Unfähigkeit, Enry irgendwelche Fragen zu stellen, unzweifelhaft bemerkte.
Marnok aber schwieg und fixierte Enry, der seinen Regenschirm locker in der Hand hielt, lediglich äußerst aufmerksam. Enrys Gesicht wirkte gleichermaßen irre, wie entspannt. Aber das war bei dem CEO des House of Life wohl so etwas wie der Normalzustand.
„Seltsam“, sagte Enry und schnalzte auf seine unnachahmliche Art mit der Zunge, „ich hatte Sie etwas mitteilsamer in Erinnerung. Ja, ich ging sogar davon aus, dass sie eine ganze Palette von guten Erklärungen und Entschuldigungen parat haben würden, nachdem Sie fast meine gesamte Belegschaft getötet und zwanzig Vertragswächter umgenietet haben. Beides war für mich ziemlich kostspielig. Wie Sie wissen, habe ich eine Mordversicherung, jedoch zahlt diese nicht durch Schäden, die durch meine Mitarbeiter und Angestellten verursacht werden und auch meine anderen Versicherungen zahlen leider nicht für diese Fälle. Hinzu kommen die vertraglichen Vereinbarungen mit dem Konglomerat von Rise und mit Monument, die ich nicht erfüllen kann, da Sie es nicht geschafft haben, Nehmerin Devell lebend aus dem House of Life zu bringen, während Sie Callan haben entkommen lassen. Mit anderen Worten: Sie, Geber Karmon, haben mich ruiniert!“
Die Richtung, in die das hier lief, gefiel mir gar nicht. Doch was sollte ich tun? Marnok darauf aufmerksam machen, dass ich immer noch wie ein Parasit in seinem Körper hockte? Und selbst, wenn ein Wunder geschah und der Kwang Ana mich sprechen ließ: Würde es mir gelingen, Enrys Zorn auch nur ein wenig zu dämpfen? Andererseits würde Marnok unsere Lage wahrscheinlich mit jedem einzelnen Wort noch verschlimmern, also entschied ich mich doch, das Wagnis einzugehen. „Lass mich reden“, sagte ich innerlich zu Marnok. Doch statt auf meine Bitte zu reagieren, entschied sich Marnok leider Gottes selbst zu sprechen.
„Was soll mich das kümmern?“, knurrte Marnok, dessen Sprechstimme schriller, kälter und schneidender war als bei Karmon, dessen Worte immer eher von einem warmen, tiefen Brummen begleitet gewesen waren.
„Oh“, sagte Enry, zog eine Grimasse, klappte seinen Schirm auf und drehte ihn nach alter Gewohnheit ein wenig in der Hand, „eigentlich sollte Sie das sehr wohl kümmern. Es betrifft nämlich ihre … nun, wie soll ich sagen … ihre berufliche und private Zukunft. Ja, genauso kann man es wohl ausdrücken. Sie erinnern sich vielleicht an meine Unterredung mit Geber Rusthead? An meine sehr kreative Herangehensweise an seine biologischen Ressourcen? Nun, ich habe lange darüber nachgedacht, ob ich sie einem gleichwertigen, etwas modifizierten Verfahren unterziehen oder sie einfach nur auf den Endmärkten verramschen soll. Wissen Sie, welche Entscheidung ich getroffen habe?“
Fuck, dachte ich, das hier konnte nicht gut enden. Aber vielleicht hatte ich ja das Glück, Marnoks Schmerzempfinden nicht zu teilen. Immerhin war meine Verbindung zu ihm schwächer als die zu Karmon. Trotzdem wäre ich sicherlich spätestens dann geliefert, wenn sie seine Leiche untersuchten und den Fehlstein und die Kataloge in ihm entdeckten.
„Mich freizulassen und ihren nichtswürdigen Arsch in Sicherheit zu bringen, bevor ich ihn zerfetze?“, erwiderte Marnok wenig diplomatisch, trat gegen die Gitterstäbe und ließ eine ganze Folge von Schattenblitzen auf Enry los. Die Gitterstäbe jedoch hielten seiner Wut stand und auch die Blitze wurden von diesem speziellen Gefängnis mühelos absorbiert. Als der Kwang Ana jedoch versuchte, Enrys Körpersäfte abzusaugen, drang er zwar durch das Gitter, scheiterte jedoch an Enrys wie beiläufig in Stellung gebrachtem Schirm.
„Nein, nicht ganz“, antwortete Enry trocken und kam sogar etwas näher, wobei er wie eine neugierige Katze am Rand seines Schirms vorbeilugte. „Wissen Sie, eigentlich haben Sie mir einen Gefallen getan. Wie sie sich vielleicht seit unserem letzten Gespräch denken können, habe ich schon lange mit dem Gedanken gespielt, aus dem Business auszusteigen, gerne auch mit einem großen Knall. Ich hatte nie den Mut gefunden, es auch konsequent durchzuziehen, aber einem Teil von mir ließ es keine Ruhe. Vielleicht hatte ich deshalb auch meinen Wagen manipuliert und womöglich war es auch dieser unterbewusste, selbstzerstörerische Drang, der mich dazu brachte, Sie zu engagieren und auch der Einstellung von Crave zuzustimmen.
Eigentlich ahnte ich, dass das zu meinem Untergang führen musste. Dennoch habe ich es gemacht und – was soll ich sagen – es HAT zu meinem Untergang geführt. Ich stehe nicht vor meinem Ruin, sondern mittendrin. Im Grunde bietet mir diese Situation jetzt die perfekte Gelegenheit noch einmal ein wenig feines, andrinisches Handwerk zu praktizieren, wie es die bedauernswerte Slura so meisterhaft beherrscht hatte. Denn was bitte sollte ein Have-Non wie ich mit ein paar Brotkrumen von den Endmärkten anfangen, die mir meine Gläubiger ohnehin bald unter der Nase wegpfänden würden?“
„Ja“, sagte Enry genießerisch, „mich an einem Wesen wie ihnen auszutoben, das wäre wirklich was geworden, an das ich mich meine letzten tristen Stunden hätte berauschen können, bevor ich in den tiefen Gassen verschwunden wäre. Doch leider – oder glücklicherweise – je nach Blickwinkel, hat sich eine andere Option ergeben.“
„Welche Option?“, fragte Marnok, der anscheinend lernfähig genug war, um auf weitere, rohe Gewalt zu verzichten.
Gleichzeitig atmete ich erleichtert auf, auch wenn ich natürlich nicht wusste, ob diese dritte Option wirklich besser für mich wäre als die anderen beiden.
„Sagen wir, es gibt einen Interessenten für Ihre Person, der aus irgendeinem Grund bereit war, eine geradezu groteske Summe an Dominanten für Sie zu bezahlen. Unter anderen Umständen hätte mich ein solches Angebot natürlich stutzig gemacht und ich hätte wahrscheinlich das doppelte verlangt, aber für derlei Verhandlungsgeplänkel ließ mir meine momentane Lage leider keinen Raum. Wichtig war mir, dass valide Dominanten fließen und das war hier der Fall. Auch so reicht der Erlös für die Begleichung meiner Verbindlichkeiten und für eine neue Perspektive. Ich werde meinen Lebensabend als hervorragend ausgestatteter Avatar in der virtuellen Realität von New Day Inc. verbringen. Und Sie, werden fortan in den Besitz jenes Interessenten übergehen“, erklärte Enry.
„Ich gehöre niemandem“, betonte Marnok und Enry Nehmer lachte laut auf.
„Oh, damit wären sie in Deovan wirklich ein Unikat“, meinte Enry, „wie schade, dass diese Form der Freiheit nur in ihrem Kopf existiert. Nehmer Lavell!“
Plötzlich trat ein großgewachsener, extrem dünner Mann in einem klassischen weißen Anzug aus dem Schatten, der das Konzernlogo von New Day Inc, trug – eine stilisierte Sonne, an deren untere Strahlen die Buchstaben des Firmenschriftzugs in kleinen Kreisen hingen. Großgewachsen war dabei noch untertrieben, denn Lavell Nehmer sah eher so aus wie eine Kreuzung zwischen einem magersüchtigen und einem Riesen mit seinen schätzungsweise zwei Meter vierzig. Auch hatte er relativ große Hände mit langen Fingern, deren Länge jedoch noch nicht ins Absurde abdrifteten. Sein blondgelocktes Gesicht war durchaus als hübsch zu bezeichnen, auch wenn sich ein drittes Auge auf seiner Stirn befand, welches seine Attraktivität ein wenig schmälerte. Interessanterweise verfügte sowohl dieses als auch sein gewöhnliches Auge über Augenlider, auch wenn sie die typische, deovanische Rundung aufwiesen.
„Lassen Sie uns allein, Enry“, sagte Nehmer Lavell mit einer freundlichen, samtigen Stimme, die gerade noch genügend Maskulinität besaß, um nicht als androgyn zu gelten.
„Natürlich“, sagte Enry Nehmer, zwinkerte Marnok und mir kurz zu, drehte zum Abschied noch einmal demonstrativ seinen Schirm und klappte ihn dann ein, bevor er den Raum verließ.
„Du bildest dir doch nicht wirklich ein, Macht über mich zu besitzen, oder?“, zischte Marnok den großgewachsenen Deovani an und presste seinen Kopf dabei so nah wie möglich an die Gitterstäbe.
„Halt dein Maul, Seelenfresser!“, sagte Lavell kühl, streckte seine Hand aus und griff direkt in Marnoks Brust herein. Der Schattenblitz, den dieser dabei auf ihn abfeuerte, glitt einfach an seiner Hand ab, ohne sie zu verletzen. Doch er ließ das Herz des Kwang Ana unangetastet. Stattdessen holte er die beiden Kataloge aus seiner Brust heraus.
„Nein!“, wollte ich schreien, während ich mit Entsetzen beobachtete, wie der Mann meinen und Sandras Katalog in einer weißen Umhängetasche verstaute, doch mein Schrei drang nicht in die Außenwelt.
„Nehmt den Kwang Grong mit. Ich nehme den anderen“, hörte ich Lavell sagen. Dann traten vier bewaffnete Frauen und Männer aus dem Schatten, Lavells Finger griffen nach meinem Fehlstein und die Welt verschwand.
~o~
„Nur hier, wo man die Freundschaft kennt,
bin ich in meinem Element
Auf gold’nen Schwingen treib ich weit
In neue Tage, schöne Zeit
Des Lebens Hauch mir Auftrieb gibt
Wenn seine Wärme mich durchzieht
Und alle Tränen trocknen schnell
Hier in den Türmen hoch und hell
Auf leichten Füßen tanzt mein Geist
Wenn eure Liebe mich umkreist
Euch guten Leuten sei gedankt
Für Treu und Schutz, der niemals schwankt.“
Torvilla Nehmer gab sich alle Mühe, sich ihre Abscheu nicht anmerken zu lassen, während der junge, blauäugige Mann mit den feinen, glatten Gesichtszügen seinen seichten Gesang zum Besten gab. Begleitet wurde sein Gesang von einem Core-Modulizer, einem im Bauch integrierten, elektronischen Tasteninstrument, welches den Körper des Musikanten als Klangkörper nutzte. Der Sänger war ein Blue-Mind, ein speziell geschulter Naivling, der von Kindesbeinen an von der rauen deovanischen Realität abgeschirmt und stattdessen mit fröhlichen Geschichten, Poesie und anderem albernen Kram gefüttert wurde, die er nun zu Unterhaltungszwecken reproduzierte. In anderen Zeiten und Welten hätte man ihn vielleicht mit einem Hofnarren vergleichen können. Auch wenn die anderen, im Kartell-Wachhaus anwesenden Konzernvertreter, dieser kostenlosen Darbietung durchaus interessiert lauschten, konnte sie diesem albernen Spektakel wenig abgewinnen. Dennoch wusste Torvilla sich zu beherrschen. Wenn man einem Blue-Mind einen Blick auf die gnadenlose, finstere Wirklichkeit erlaubte, konnte man ihn ruinieren und das wäre ihr die Dominanten nicht wert.
„Vielen Dank, Rimon. Das war beeindruckend“, sagte Have-Non Navin, der Kartellwächter und umarmte den gerade einmal zwanzigjährigen Jungen ,“ich bin wirklich stolz auf dich!“. Rimon erwiderte seine Umarmung freudig strahlend, mit geröteten Wangen und einem breiten, offenen, ehrlichen Lächeln. Dieses Lächeln würde ihm in wenigen Jahren vergehen. Selten zog man einen Blue-Mind, wie ihn sich auch einige CEOs zum Zeitvertrieb hielten, länger als vierundzwanzig Jahre auf. Wenn sie zu alt wurden, wurden sie ihren Haltern entweder zu langweilig oder begannen die Unstimmigkeiten in ihrer Umwelt zu bemerken. Dann wurden sie einfach ohne auch nur eine Dominante vor die Tür gesetzt und stellten schnell fest, dass das Leben nicht nur Umarmungen, Wunder und kostenloses Essen für sie bereithielt.
„Danke mein Freund und Vater“, gluckste der Junge, „ich bin so froh dich zu haben.“
Dann endlich verließ die naive Abscheulichkeit den Raum und der Kartellwächter stellte sich auf das Podest, um ihre kleine Versammlung zu eröffnen. Im Grunde waren Navin und sein Schoßhund nicht so verschieden. Sie beide waren nur einen Schritt von der totalen Mittellosigkeit entfernt. Der Unterschied war nur, dass Navin wusste, was ihn dort draußen erwartete. Für den Posten des Kartellwächters wurde alle fünf Jahre ein neuer Have-Non aus der Gosse gefischt. Zumeist einer, dessen Körper und Geist noch weitgehend intakt waren und der vor seinem tiefen Fall einmal eine höhere Position eingenommen hatte. Die Auserwählten nahmen diesen Posten für gewöhnlich freudig an, auch wenn sie dabei keine einzige Dominante verdienten und lediglich Wasser und Nahrung gestellt bekamen, bis ihre Amtszeit endete und sie in ihr Elend zurückkehren mussten. Es war trotzdem weit besser als diese fünf Jahre im Invisible Land zu verbringen, zumal sie in dieser Zeit sogar ein wenig Macht besaßen, auch wenn diese durch ihren Mangel an Ressourcen und ihre niedrige Stellung auf ein für die CEOs erträgliches Maß begrenzt wurde.
„Sehr geehrte Nehmerinnen, sehr geehrte Nehmer. Ihnen allen gute Geschäfte. Wir haben uns heute hier versammelt, um zwei drängende Fragen zu besprechen“, eröffnete Navin seine Rede. Er trug einen hervorragend geschnittenen, aber schmutzigen, löchrigen und abgetragenen grünen Anzug. Sein hellbraunes Haar war ungekämmt und staubig, genau wie der fransige Bart, der sich über seine etwas faltigen, aber noch immer leicht jugendlichen Gesichtszüge ausgebreitet hatte und über dem seine markante Adlernase sich wie ein trotziges Zeichen vergangener Würde erhob. Seine fauligen, schwarzen Zähne verbreiteten bei jedem seiner Worte einen üblen Dunst, weswegen Torvilla froh war, ganz rechts außen im Halbkreis der neun anwesenden Vertreter der umsatzstärksten Konzerne Deovans zu sitzen. Und nicht etwa direkt in der Mitte, wie Hunita Nehmer, die zierliche, weißhaarige stellvertretende CEO von New Day Inc., die ihr grell geschminktes, junges Gesicht mit ihrer dürren Hand abschirmte und wahrscheinlich die kleinen Duftspender in ihren Nasenflügeln aktiviert hatte, die an dieser Herausforderung nur scheitern konnten.
„Zum ersten wäre da der Vorschlag zu diskutieren, den mir der geschätzte Nehmer Zevil, von ReCrate Industries hat zukommen lassen. Es geht um die Privatisierung des atmosphärischen Gasgemisches, welches wir alle hier gerade konsumieren und die dazugehörigen Patentrechte. Wie Sie wissen, befindet sich dieses Gut bislang im Besitz der Allgemeinheit. Vielleicht möchten Sie, Nehmer Zevil, Ihren Vorschlag kurz der Versammlung darlegen“, forderte Navin den CEO auf.
Zevil, ein etwas dicklicher, rotgesichtiger, glatzköpfiger Mann mit Frack, Monokel, schwarzem Anzug und Zylinder, der diese überzeichnete stereotype Erscheinung ganz bewusst pflegte, da er eine Schwäche für den frühen, terranischen Kapitalismus hatte, folgte dieser Aufforderung nur zu gerne, wissend, dass alle Blicke der Anwesenden auf ihn gerichtet waren.
„Vielen Dank, Have-Non Navin“, sagte er, wobei er die wenig prestigeträchtige Anrede genüsslich betonte, um seinem mangelnden Respekt vor dem Kartellwächter auszudrücken, „verehrte Anwesende. Wie Sie wissen, beruht unsere gesamte Nation auf der Idee, natürliche Ressourcen zu nutzen und sie mit eigenen innovativen Konzepten und Ideen zu veredeln. Genau das schwebt mir – schwebt meinem Konzern – in dieser Angelegenheit vor. Für uns alle ist es ganz normal, dass das Wasser, jener Lebenssaft für unsere Industrie und unsere Körper dem Kampf um die besten Ideen unterliegt und Nehmerin Zydra wird mir sicher darin zustimmen, dass ihr Konzern hier Großartiges geleistet hat und nicht ohne Grund Marktführer ist. Aber bislang haben wir ein noch viel offensichtlicheres, noch viel grundlegenderes Gut sträflich ignoriert. Das will ich ändern. Stellen Sie sich vor, wie wir die Luft verbessern könnten, mit der entsprechenden Forschung. Wie vitalisierend, wohlriechend, gesundheitsfördernd und leistungssteigernd sie für jene gemacht werden könnte, die sich einen solchen Luxus durch ihre Leistung und Risikobereitschaft verdient haben? Ja, ich denke, wir bleiben im Moment weit hinter unseren Möglichkeiten zurück und es ist an der Zeit, diesen Schritt in die Zukunft zu gehen.“
Als Zevils Plädoyer endete, wurde es sowohl mit Kopfschütteln, als auch mit Nicken aufgenommen. Torvilla stand dem Vorschlag eher neutral bis ablehnend gegenüber. Sie fand es grundsätzlich gut jeden Bereich der Gesellschaft den Lebensmärkten zu öffnen, aber in der vulnerablen Lage von MKH war jede Veränderung grundsätzlich Gift.
„Sie sprachen sehr treffend vom Kampf um die beste Idee“, meldete sich die angesprochene Nehmerin Zydra ein, die ebenfalls skeptisch auf Navins Vorstoß reagiert hatte. Die augenscheinlich im mittleren Alter angekommene Nehmerin zeichnete sich optisch vor allem dadurch aus, dass ihr blaues, wässrig schimmerndes Haar nahtlos in ein Kleid überging, welches aus eben jenen Haaren bestand, „allerdings frage ich mich, wie der gewährleistet sein soll, wenn Sie sich die alleinigen Rechte an der deovanischen Atemluft sichern. Ja, Aquation ist Marktführer im Wassersegment, aber diesen Status haben wir uns hart gegenüber der Konkurrenz erkämpft. Kartellwächter, Navin. Ich verstehe ehrlich gesagt nicht, wie sie einen solchen Vorschlag überhaupt zur Diskussion bringen können, wo doch offensichtlich ist, dass hierdurch ein Monopol entstehen würde.“
„Das ist mir bewusst, Nehmerin Zydra“, sagte Navin mit einer Sachlichkeit und Würde, die Torvilla durchaus lobenswert fand. Einst war Navin selber ein CEO gewesen – namentlich der Leiter des Modekonzerns Lookernity – und trotz seines Absturzes merkte man ihm noch immer einen Hauch seines früheren Selbstbewusstseins an, „ich wollte Ihnen jedoch Gelegenheit geben, Nehmer Zevils Anliegen anzuhören, mit dem ich selbst noch ganz andere Problem habe, als die ohnehin problematische Monopolisierung. Als Kartellwächter gehört es nicht nur zu meinen Aufgaben zu große Machtkonzentrationen zu verhindern, sondern auch, die Funktionsfähigkeit unseres Marktes zu gewährleisten und dessen notwendige Rahmenbedingungen zu sichern. Gerade deshalb kann ich diesen Vorschlag nicht unterstützen. Wie sie wissen, bilden die niedrigen Einkommensklassen die Basis für einen Großteil unserer Wertschöpfung und selbst die Have-Nons erfüllen ihren Zweck als Drohkulisse und mahnendes Beispiel für die Geber, sowie … für diverse andere Zwecke. Wenn diesen Gruppen, die alle nicht über die Mittel verfügen werden, ein entsprechendes Luft-Abonnement abzuschließen, auf diese Weise sprichwörtlich die Lebensgrundlage entziehen, könnte unsere Wirtschaft zusammenbrechen und auch ein wie auch immer gearteter sozialer Aufstieg wäre nicht länger möglich. Es hat schon seine Gründe, dass wir auch den Have-Nons etwa eine basale Wasserversorgung zur Verfügung stellen. Deshalb würde ich auch entschieden dafür plädieren, diesen Vorschlag abzulehnen.“
„Es ist natürlich klar, dass Sie so denken“, sagte Zevil überheblich grinsend, „immerhin kommen Sie aus genau dieser Gosse und wenn Sie sie – in knapp zwei Jahren, wenn ich richtig gerechnet habe – wieder betreten, wollen Sie sich natürlich ins gemachte Nest setzen.
Aber ich denke nicht so engstirnig wie Sie. Es mag sein, dass wir aktuell in manchen Sparten noch auf die niedrig qualifizierten Arbeitskräfte angewiesen sind, doch das muss nicht so bleiben. Es gibt – auch in meinem Konzern – vielversprechende Forschungen im Bereich der künstlichen Intelligenz. Technologien, die immer günstiger werden. So günstig, dass sie die Zahlung selbst niedrigster Löhne obsolet und sogar Sklavenarbeit als vergleichsweise teuer dastehen lassen. Mit anderen Worten: wir brauchen diese erfolglosen Subjekte nicht länger. Lediglich die höchstqualifizierten Arbeitskräfte erwerben sich ein Recht auf die Weiterexistenz und wer nicht arbeiten kann, nun, der soll auch nicht atmen.
Für die Transformationsphase werden wir natürlich weiterhin Luft von niedriger Qualität für die ärmeren Geberquartiere bereitstellen. Für das Invisible Land könnten wir vielleicht ein begrenztes Kontingent für etwa einen Monat pro Person zur Verfügung stellen. Das dürfte für den Übergang reichen. Ich denke, das dürfte genügend Zeit für diese Personen sein, sich selbst aus ihrer Lage zu befreien. Wer es bis dahin nicht geschafft hat, schafft es nie. Ein Kubikmeterkontingent wäre natürlich auch denkbar. Das würde disziplinierten Individuen einen Vorteil verschaffen, die unnötige Aktivität vermeiden. Im Falle eines Gruppenkontingents könnten wir auch die natürliche Auslese und den Wettbewerb zwischen den Have-Nons fördern. Die Überlebenden hätten dann deutlich mehr Luft. Sie sehen, es gibt viele Möglichkeiten.“
Navin behielt seine Fassung erstaunlich gut bei, aber jeder konnte sehen, wie diese Diskussion an ihm zehrte.
„Doch eigentlich sind diese Fragen zweitrangig“, fuhr Zevil fort, „wirklich von Bedeutung ist der Einwand von Nehmerin Zydra. Hier hätte ich mich präziser ausdrücken sollen. Ich strebe natürlich kein vollkommenes Monopol an. Ich will als Innovator lediglich die Vorkaufsrechte für einundfünfzig Prozent der atmosphärischen Ressourcen unserer Hauptstadt. Der Rest der Stadt und auch die Luft in den Außenbezirken und den Satellitenwelten soll allein dem freien Wettbewerb unterliegen. Für Sie alle steckt da also noch genügend Profit drin.“
„Interessanter Gedanke“, sagte Ninwata Nehmer, stellvertretende CEO des Konglomerats von Rise, mit einer eher muskulösen Erscheinung, mit dunkelgrünem T-Shirt und schwarzen Jeans und mit einem blonden Kurzhaarschnitt mit grünen Haarspitzen, der ihre harten, zynischen Gesichtszüge gut unterstrich, „aber wie wollen sie all das messen und sicherstellen, dass sich niemand eine solche Leistung erschleicht? Wie wollen sie verhindern, dass sich die schlechte Luft mit der höherwertigen vermischt? Und was ist mit Nehmer*innen, die im Invisible Land zu Besuch sind?“
„Technische Fragen“, winkte Zevil ab, „für die wir eine Lösung finden werden. Nehmer könnten sich ihre eigene Luft in Atemgeräten mitbringen, Luftzonen lassen sich durch Kraftfelder und Schleusen abteilen. Und Atemdiebstahl lässt sich durch entsprechende Implantate verhindern.“
„Was ist mit Aufständen?“, fragte Hunita Nehmer, „die Have-Nons und sogar einige Geber würden sicher um ihr Leben kämpfen, wenn diese Regelung in Kraft treten sollte. Wären nicht hohe Sach- und Personenschäden zu erwarten? Und brauchen wir die einfachen Leute nicht als Konsumenten?“
Zevil schüttelte den Kopf so heftig, dass er seinen Zylinder festhalten musste, um zu verhindern, dass er herunterfiel, „Dieser Abschaum kann gar nichts ausrichten. Wir haben die besseren Waffen, das Geld und die Technologien, um jeden ihrer Pläne im Voraus zu erfahren. Sollen Sie sich ruhig in das Mündungsfeuer unserer Verteidigungssysteme stürzen. Um so schneller sind wir die Unbrauchbaren los. Konsumenten haben wir genügend. Sie vergessen, dass wir einige qualifizierte Geber behalten würden und die Binnennachfrage wird ohnehin überschätzt. Wichtiger ist das Exportgeschäft und wenn auch das nicht ausreichen sollte, konstruieren wir einfach Konsumroboter, die unsere Produkte nachfragen und verbrauchen.“
„Sind Sie nun vollkommen wahnsinnig geworden?“, fragte Hunita Nehmer.
„Nein“, sagte Zevil ruhig, „ich denke nur konsequent und zukunftsorientiert. Es wäre ein perfektes, abgeschlossenes System, ohne Störungen in den Arbeitsabläufen.“
Nun kehrte erst einmal Stille ein und Navin nutzte die Gelegenheit, die Diskussion abzukürzen.
„Ich denke, es wird Zeit dafür, über Nehmer Zevils Vorschlag abzustimmen“, sagte Navin und blendete eine Anzeigetafel auf der Wand hinter sich ein, die jeweils ein Tortendiagramm für die Ja- und Nein-Stimmen und eines für die jeweiligen Unternehmensumsätze einblendete. Letztere würden entscheidend sein. „Meine Ablehnung habe ich ja bereits deutlich gemacht“, erinnerte Navin, „doch wie Sie wissen, liegt die Entscheidung vor allen bei Ihnen, da es sich nicht um eine klassische Monopolfrage handelt. Wie also lautet ihre Meinung?“
Einige Momente zögerten die Anwesenden noch, aber dann begannen die ersten damit, Eingaben auf ihren Identifiern zu tätigen und die Diagramme begannen sich zu verändern. Auch Torvilla traf ihre Wahl. Sie entschied sich für „Nein“. Damit war sie klar in der Minderheit, wie das erste Diagramm zeigte. Sechs von neun der anwesenden Konzernführer hatten für die Luftprivatisierung gestimmt. Jedoch zeigte das zweite Diagramm ein anderes Bild. Denn die Gegenstimmen stammen von den Abgesandten der drei momentan finanzstärksten Unternehmen in Deovan. MKH, New Day Inc. und dem Reiseunternehmen Darkwire Corp., welches wohl vor allem um die negativen Auswirkungen auf den Touristiksektor fürchtete. Insgesamt überwogen sie die Finanzkraft der Ja-Stimmen denkbar knapp um 23.534 Dominanten.
„Damit ist der Vorschlag abgelehnt“, sagte Navin und konnte sich ein erleichtertes Aufatmen nicht verkneifen, während Zevil frustriert schnaubte und irgendetwas vor sich hinmurmelte. Torvilla war sich fast sicher, dass er sein Vorhaben nicht aufgeben würde. Wahrscheinlich würde er in den nächsten Wochen und Monaten Klinken putzen gehen und dann einen erneuten Anlauf für diese Initiative starten. Ihr kam das durchaus recht. Vielleicht würde sie bei ihm den ein oder anderen Vorteil für MKH herausschlagen können. Doch fürs Erste hatte sie ein wenig Aufschub und konnte erstmal ihre internen Angelegenheiten klären, bevor es hässlich wurde. Auch sie ging von Aufständen aus. Die Unterschicht von Deovan war duldsam, aber der nackte Überlebenstrieb könnte sich angesichts einer solchen Zwangslage als stärker entpuppen, als der Glaube irgendwann zu den Nehmern zu gehören. Die Armen mochten nicht gewinnen können. Aber kämpfen würden sie und es würde teuer werden.
„Kommen wir zum zweiten Tagesordnungspunkt“, sagte Navin, „ein Thema von wahrscheinlich noch viel größerer Bedeutung. Wie ihnen vielleicht aufgefallen ist, kam es kürzlich zu einigen ungewöhnlichen Schwankungen im Raum-Zeit-Gefüge. Die Messdaten, welche die Systeme der Kartellwache erhoben haben, weisen darauf hin, dass diese mit einer massiven Instabilität des Geflechts zu tun haben.“
Torvilla erbleichte. Sie hatte diese Fluktuationen natürlich bemerkt, aber hatte sie für eine bloße Energiespitze oder vielleicht für Ermüdungserscheinungen im Stromnetz gehalten. Das jedoch klang ziemlich ernst.
„Was bedeutet das?“, fragte Rinnat Nehmer, ein äußerst junger, neureicher Entwickler von potenten Rauschmitteln und in dieser Eigenschaft CEO von Hookline Chemicals, dessen lange pinke Haare zu einem so komplizierten Knoten verflochten waren, dass einem allein beim Ansehen schwindelig wurde.
„Das bedeutet, dass unsere ganze Party hier nur einen winzigen Schritt vor dem Abgrund steht. Wenn das Geflecht zerreißt, wird uns das allesamt aus unserer Existenz befördern“, erklärte Navin, „mehr noch, wir würden nie existiert haben. Als Kartellwächter ist es natürlich meine Pflicht genau das zu verhindern, denn ohne Zeit, Raum und Leben gibt es auch keine Lebensmärkte. Zu diesem Zweck müssen wir ein dringendes Verbot der Nutzung von Geflechtenergie erlassen und durchsetzen. Zumindest, bis wir einen Weg gefunden haben, die Schäden zu reparieren. Zur effektiven Durchsetzung dieser Richtlinie werden wir jedoch nicht nur die Reihen der Vertragswächter vergrößern und das Budget aufstocken müssen, sondern auch die Unterstützung ihrer Konzerntruppen benötigen.“
„Das ist eine Ungeheuerlichkeit!“, empörte sich Zevil, „Das ist Kollektivismus pur, das ist Tyrannei, das ist staatliche Willkür! Sie werden ihre nichtsnutzigen Hampelmänner nicht mit unseren Dominanten füttern und wir werden keine Beschränkung unserer Freiheit akzeptieren!“
„Nehmer Zevil hat recht“, sprang ihm Ninwata Nehmer bei, „haben Sie überhaupt eine Ahnung, was für enorme Verluste der Verzicht auf Geflechtenergie bedeuten würde? All die Technologien, Produktionsanlagen, Raumschiffe und Fahrzeuge, die plötzlich unbenutzbar werden würden. Allein die Umrüstung würde Billiarden von Dominanten verschlingen. Das würde uns ruinieren. Uns alle!“
„Sie haben recht, es wird teuer werden“, meldete sich Hunita Nehmer zu Wort, „allerdings sollte man auch die Alternative bedenken. Immerhin geht es hier um existenzielle Fragen. Ich für meinen Teil würde die Früchte meiner Arbeit gerne weiterhin genießen.“
„Wer sind Sie schon? Eine bessere Sekretärin, die ihr CEO vorgeschickt hat, weil er gerade Besseres zu tun hat. Es ist mir egal, was wir sagen. Lieber höre ich auf zu existieren, als auch nur eine meiner sauer verdienten Dominanten abzugeben!“, beharrte Zevil.
„Sie missverstehen mich“, sagte Navin streng und für einen Moment konnte man wirklich vergessen, dass er kaum mehr war als ein Have-Non, „das hier ist weder eine Bitte, noch eine Abstimmung. Es ist lediglich eine Information an Sie alle. Die Institution des Kartellwächters wurde genau für den Zweck geschaffen, das Funktionieren der Lebensmärkte und die Fortführung des Handels zu garantieren. Und genau das gedenke ich auch zu tun. Hier geht es nicht um bloße Rahmenbedingungen. Hier geht es um Existenzfragen. Sie werden Ihren Beitrag hierfür leisten und Sie werden kooperieren!“
„Und was, wenn nicht?“, fragte Zevil herausfordernd.
„Für solche Fälle wurde Vorsorge getroffen“, sagte Navin, „Sie sind vielleicht nicht darüber informiert, aber vor etwa hundertfünfzig Jahren hatte schon einmal ein Konzern – namentlich Zorneva Corp. – versucht, die letzten, grundlegenden Spielregeln zu seinen Gunsten abzuräumen. Zwei Wochen später waren alle Führungskräfte, Mitarbeiter, Niederlassungen und Aktivposten restlos neutralisiert worden. Das könnte wieder geschehen. In diesem Gebäude gibt es mächtige Whe-Ann-Technologie. Sie ist alt. Uralt sogar. Aber sie funktioniert immer noch.“
„Das sind doch nichts als Märchen“, erwiderte Zevil, „Sie haben Ihrem Blue-Mind wohl so lange alberne Geschichten vorgelesen, dass Sie sie nun selbst glauben.“
„Wollen Sie es wirklich drauf ankommen lassen?“, fragte Navin lächelnd.
„Was soll denn die Alternative sein?“, wollte Rinnat wissen, „Kohle? Erdgas? Atom? Windkraft? Wollen wir zurück in die Steinzeit?“
„Nein“, widersprach Hunita Nehmer , „mein Konzern kennt eine bessere Alternative. Die Gagitsch-Transformation. Hiermit können wir gigantische Mengen an Energie freisetzen.“
„Und Sie gigantischen Profit“, knurrte Zevil.
„Sie sagen das, als ob das was Schlechtes wäre“, erwiderte Hunita zwinkernd, „außerdem springt für sie alle genügend dabei raus. Wir benötigen Futtermittel für unsere Larven und natürlich Zulieferer und Anwerber für die Sonnenkerne. Hierbei könnten sich das Invisible Land und die Endmärkte als nützlich erweisen. Aber ich will Ihnen natürlich nichts vorschreiben. Seien sie einfach kreativ. Ihnen wird schon etwas einfallen und mit ein wenig Mut zur Innovation haben wir bald schon eine geflechtunabhängige Energieversorgung und das Spiel kann ungestört weitergehen.“
„Hervorragend“, sagte Navin, wobei man ihm anmerken konnte, dass er die Begeisterung, die diese Wortwahl vermuten ließ, nicht wirklich spürte, „damit hätten wir das geklärt. Das Verbot der Geflechtenergie tritt ab morgen in Kraft und wird noch heute an alle übrigen deovanischen Konzerne übermittelt. Ihre jeweilige Steuerforderung werde ich Ihnen in Kürze zukommen lassen.“
„Wenn es sein muss“, sagte Zevil mürrisch, „können wir dann endlich gehen? Dieser Ort macht mich krank.“
„Noch nicht“, antwortete Navin, „einen Punkt gäbe es noch.“
„Welchen denn?“, fragte Rinnat, „Sie hatten doch von zwei Tagesordnungspunkten gesprochen. Zählen ist wohl nicht ihre Stärke, oder? Sollte einen bei einem Have-Non aber wohl auch nicht wundern.“
Fast alle lachten.
„Es geht nicht um einen neuen Tagesordnungspunkt“, erwiderte Navin kühl, „es geht noch immer um die Geflechtfrage. Diese Instabilitäten sind auch, aber nicht allein auf unseren Energieverbrauch zurückzuführen. Dafür ist ihr Voranschreiten zu extrem. Es musste kürzlich ein singuläres, für die Geflechtstruktur verheerendes Ereignis stattgefunden haben. Und ein solches Ereignis kann unter keinen Umständen natürlich auftreten. Es muss sich also entweder um die Nebenwirkung, oder die beabsichtigte Wirkung einer neu entwickelten Technologie handeln. Einer sehr kostspieligen Technologie, wie sie nur von einem der umsatzstärksten Unternehmen im deovanischen Kernland angewendet worden sein kann.“
„Worauf wollen Sie hinaus?“, fragte Hunita Nehmer.
„Ich will darauf hinaus, dass wir den Urheber dieses Phänomens ausmachen, eine erhebliche, finanzielle Wiedergutmachung verlangen und vor allem die erneute Anwendung dieser Technologie um jeden Preis verhindern müssen“, erläuterte Navin, „zu diesem Zweck bitte ich Sie, einer Untersuchung in Ihren Hauptniederlassungen zuzustimmen. Für etwaige Umsatzeinbußen, die dadurch entstehen, wird natürlich der Schuldige haftbar gemacht werden.“
„Sie verlauster, anmaßender Have-Non!“, zischte Zevil, „sie halten sich wohl für allmächtig, was? Aber ich kann ihnen versichern, wenn sie oder ihre Truppen auch nur einen beiläufigen Blick auf die Zentrale oder ein anderes Gebäude von ReCrate Industries werfen, werden Sie sich daran erinnern, dass Sie einfach nur ein Nichts sind. Ihre Steuerfantasien sind eine Sache, aber die Verletzung unserer territorialen Integrität werde ich als offene Kriegserklärung auffassen und entsprechend beantworten. Ganz egal, was für Märchendrachen Sie in Ihren Kellern zu verstecken behaupten.“
Auch die Reaktionen der anderen CEOs und Stellvertreter waren alles andere als erfreut. Aufgeregte und teils empörte Zwischenrufe erhoben sich.
„Bei allem Verständnis“, sagte sogar Hunita Nehmer, die sich bislang relativ offen für Navins Ansichten gezeigt hatte, „aber Sie können nicht ernsthaft glauben, dass wir Ihnen unsere Geschäftsgeheimnisse offenbaren und Sie uns ausspionieren lassen.“
Torvilla hielt sich aus der Diskussion heraus. Unabhängig davon, wie sich diese Sache entwickelte, konnte es nicht schaden, wenn sie den Eindruck erweckte, dass MKH keine Untersuchung fürchtete. Gleichzeitig würde Sie diese Untersuchung natürlich selbst vornehmen und wenn Kollom oder Disruptor Yonis irgendetwas damit zu hatten, dann Gnade ihnen das Glück.
„Sie verstehen es nicht, oder?“, versuchte es Navin noch einmal verzweifelt, „wenn der Urheber dieses Phänomens noch einmal zur Tat schreitet, wird Deovan nicht länger existieren. Einen solchen Schlag kann das hiesige Geflecht nicht mehr verkraften. Uns alle, ihre tollen Unternehmen und Profite, wird es dann nicht mehr geben. Ja, nie gegeben haben. Das kann Ihnen doch nicht egal sein!“
„Geschäftsrisiko“, sagte Rinnat Nehmer kühl, „das ist Teil unseres Lebens. Wir machen Profit oder gehen unter. Und nur, wer sich nicht vor dem Schlimmsten fürchtet, kann das Beste gewinnen.“
Einige der Anwesenden nickten zustimmend. Auch Torvilla. Um das Ende der Welt machte sie sich weit weniger Sorgen als darum, was passieren würde, wenn MKH doch irgendwie in die Schusslinie geriet.
„Es gibt noch einen anderen Weg“, sagte Ninwata Nehmer, „wir könnten auch Kontakt zu Porneck aufnehmen.“
„Der Planetenkrebs Porneck?“, fragte Hunita Nehmer überrascht.
„Genau der“, stimmte Ninwata zu, „er ist genauso ein Teil von Deovan wie wir. Ihm muss daran gelegen sein, die Existenz des hiesigen Geflechts aufrechtzuerhalten. Und vielleicht ist er auch dazu in der Lage, es zu stabilisieren. Über Planetenkrebse erzählt man sich eine Menge wundersames.“
„Vor allem erzählt man sich grauenhaftes“, bemerkte Navin, „haben Sie nicht vom dem gehört, was mit Itsch Zingtzschar passiert ist?“
„Hören Sie auf, mit Ihrem Geschichtswissen anzugeben“, sagte Rinnat verächtlich, „wir wissen alle, dass Sie es nur ihrer temporären Teilschnittstelle zu den Archiven zu verdanken haben. Historische Anekdoten interessieren uns nicht. Uns interessiert allein, was mit Deovan passiert.“
„Ich kann Ihnen sagen, was mit Deovan passieren wird, wenn wir mit Porneck verhandeln“, sagte Navin, dessen Gesicht zu einer blassen Maske erstarrt war, „es wird zu seinem uneingeschränkten Besitz. Und wir tauschen ein schreckliches Schicksal gegen ein noch schrecklicheres.“
„Dann verhandeln Sie lieber gut“, entgegnete Zevil Nehmer mit einem Krokodillächeln, „oder Ihre Amtszeit endet schneller als es Ihnen lieb ist.“
Keiner der Anwesenden widersprach ihm und Navins Selbstbewusstsein erreichte einen neuen Tiefpunkt. Tausend Erwiderungen gingen ihm durch den Kopf, doch er fand nicht mehr den Mut, auch nur eine davon auszusprechen.
~o~
„Was ist hier los?“, hallte die Stimme von Kollom Nehmer durch das Labor, als er dieses zusammen mit Disruptor Yonis betrat.
Seine Stimme erklang so schneidend, erzürnt und selbstbewusst, dass Sandra vor Schreck der Delimiter, den sie beinah eingesetzt hätte, zurück in ihre Tasche glitt.
„Unsere Mission ist dabei zu scheitern“, sagte Nanita Geber süffisant, „das ist hier los.“
„Es gab unerwartete Komplikationen“, fügte Garwenia hinzu, „Tote und Verletzte und … widerliche Anomalien.“
„Sehr bedauerlich“, sagte Kollom und der Blick, den er ihr dabei zuwarf, sagte Sandra nicht nur, dass er seinen Verstand zurückerlangt hatte, sondern auch, dass er alles andere als begeistert von ihrer Performance war.
Sandra jedoch ließ sich davon nicht verunsichern. Gerade war ihr – ganz ohne den Delimiter – ein spontaner Gedanke gekommen, ein Einfall, der diese ganze Situation retten könnte.
„Garwenia“, sagte Sandra ruhig, „gib dem Team die Erlaubnis, die Mission abzubrechen.“
Daraufhin sahen sie alle im Raum ziemlich verdutzt an. Aber Sandra gab ihnen keine Gelegenheit für hämische Kommentare. „Aber ich will keine kopflose Flucht, sondern einen geordneten Rückzug. Alles andere wäre in diesem Gebiet ohnehin Selbstmord. Sag ihnen, dass sie hinter den Robotern bleiben sollen. Sie werden sie sicher zum Transporter zurück geleiten. Und Rischah soll besonders gut auf die Probe achtgeben. Ich werde den Herren kurz die Lage erläutern. Solange liegt das Leben des Teams in deinen Händen.“
„Alles klar, Sandra“, sagte Garwenia und wirkte dabei ziemlich erleichtert.
Dann ging Sandra direkt auf Kollom und Yonis zu.
„Ihnen ist bewusst, dass sie nur eine schlechte Erklärung von Ihrem Verkauf auf den Endmärkten entfernt sind?“, sagte Yonis lächelnd, während seine anderen Gesichter eine aggressive, knurrende Fratze zeigten.
„Eigentlich sollte ich eher nahe an einer Beförderung sein“, blockte Sandra die Drohung selbstbewusst ab, nach wie vor in der festen Überzeugung, dass man gegenüber Wesen wie Disruptor Yonis keine Schwäche zeigen durfte, „ich habe diesen zusammengewürfelten Haufen bis tief in das Detonationsgebiet geführt. Nur leider ist das Außenteam angegriffen worden. Von Mitarbeitern eines zerstörten Unternehmens – Nurtrics Industries – welches die geniale Idee gehabt hatte, sich genau diesen Standort auszusuchen. Die Mitarbeiter waren kaum mehr als Skulpturen aus Asche gewesen, aber sie sind einfach so zum Leben erwacht.“
„Nutrics Industries“, überlegte Kollom, der sich sichtlich daran erfreute, dass seine Erinnerungen wieder zuverlässig funktionierten, „ja, da klingelt was. Das war ein Unternehmen, dessen CEO an einer Lebensmittelvergiftung verstorben ist. Sein Tod war recht grausam und unzweifelhaft mit seinen eigenen Produkten verknüpft gewesen. Das sprach sich herum, weswegen es zunächst keinen Kaufinteressenten gab. Deswegen und wegen des zwar billigen, aber unattraktiven Standorts. Die Mitarbeiter kamen deshalb auf die Idee, das Unternehmen auf eigene Faust weiterzuführen, die Produktstandards zu verbessern und ein eigener Faktor auf dem Lebensmittelmarkt zu werden. Das lief erstaunlich gut. Zu gut. Vor allem die direkten Konkurrenten, aber auch viele andere CEOs hatten Angst, dass sich ihre Belegschaft daran ein Beispiel nehmen könnte. Deshalb haben sie auch wenig dagegen einzuwenden gehabt, das Areal als Bombentestgebiet zu nutzen. Wahrscheinlich hat man ganz zufällig vergessen, die Mitarbeiter von Nutrics über diesen Vorgang zu informieren.“
Für einen Moment entglitt Sandra ihre professionelle Maske und man konnte ihre Abscheu über diese Neuigkeit erkennen. Deovanische Geschichte war anscheinend in der Lage, selbst die Abgebrühtesten zu überraschen.
„Wir haben keine Zeit für die Vergangenheit“, drängte Yonis, „lassen Sie Sandra zum Punkt kommen.“
„Natürlich“, sagte Sandra, „Die Körper der Angestellten von Nutrics Industries waren, wie gesagt, augenscheinlich nicht mehr intakt, sondern wirkten … verbrannt, weswegen wir auch nicht mit einem Angriff gerechnet hatten. Jedenfalls haben wir eine Probe von einem der Bombenopfer nehmen können und bei der Substanz, die uns attackierte, handelt es sich wohl um ein lebendiges, vielleicht sogar intelligentes Material. Es ist nicht lehmartig, sondern schwarz und ölig, aber es erinnert mich trotzdem ein wenig an …“
„…Amorphium“, vervollständigte Kollom ihren Gedanken.
„Exakt“, pflichtete ihm Sandra bei.
„Vermuten Sie etwa einen Zusammenhang mit Uranor oder den Laarmaschk?“, erkundigte sich Kollom, wobei sein Blick in die Vergangenheit gerichtet schien.
„Vielleicht“, überlegte Sandra, „immerhin sind die Laarmaschk Geschöpfe des Geflechts und die Plectarität, dieser … dieser Wert für Geflechtenergie war in jenem Bereich sehr hoch. Denkbar, dass die Bombe eine dem Amorphium verwandte Substanz erschaffen hat, von der sie Besitz ergriffen haben. In jedem Fall muss es einen gewissen Zusammenhang mit dem Geflecht geben. Welchen genau, können wir vielleicht herausfinden, sobald wir die Probe hier vor Ort haben. Womöglich liefert uns das auch den Schlüssel, um die unerwünschten Nachwirkungen der Bombe abschalten zu können.“
„Denkbar, vielleicht, womöglich“, echote Yonis giftig, „wenn Sie glauben, dass wir Sie für wilde Spekulationen angestellt haben, dann täuschen Sie sich gewaltig. Was wir brauchen sind Gewissheiten und die gewinnen wir nicht, wenn Sie zulassen, dass sich Ihre Untergebenen einfach davonmachen, wenn es ihnen etwas unangenehm wird. Ich schlage vor, wir beenden diese Scharade sofort und setzen die Bleigeweihten ein, um das Außenteam zur Räson zu bringen. Mit Streicheln und gutem Zureden erlangt man keine Erfolge.“
„Nein“, beharrte Sandra, „das wäre dumm. Damit riskieren wir einen Aufstand. Nicht nur beim Außenteam, sondern auch beim Basisteam. Außerdem würden wir dann die Proben verlieren. Sie würden uns sie dann niemals freiwillig anvertrauen, sondern sie einfach fallen lassen und versuchen wegzulaufen.“
„Die Bleigeweihten könnten die Proben mitnehmen“, beharrte Yonis.
„Dann kämen wir auch nicht tiefer in das Areal hinein“, entgegnete Sandra, „die Bleigeweihten sind dumm wie Brot. Wir können sie vielleicht steuern, aber niemand sagt uns, dass das im Zentrum der Anomalie noch funktioniert. Wir brauchen intelligente Leute vor Ort. Leute, denen wir vertrauen können.“
„Und wie wollen Sie das anstellen?“, fragte Kollom gleichermaßen skeptisch wie neugierig.
„Nun“, sagte Sandra, „wir sind offiziell im Krieg. Wäre doch zu schade, wenn der Feind eine neue Offensive starten und dabei den Transporter zerstören würde. Noch dazu direkt vor den Augen des Teams. Und wäre es nicht geradezu tragisch, wenn die einzige Hoffnung auf Rettung im Hauptsitz von Nutrics Industries liegen würde?“
„Ja, wirklich sehr tragisch“, entgegnete Kollom mit einem anerkennenden Lächeln, „aber das würde teuer werden.“
„Günstiger als der Verzicht auf das wichtigste Produkt von MKH“, antwortete Sandra.
Kollom nickte und sogar Yonis wirkte ein wenig besänftigt, was man an den neutralen Gesichtsausdrücken ablesen konnte, die seine Seitengesichter annahmen.
„Wie lange dauert es, so einen Angriff zu inszenieren?“, fragte Sandra.
„Etwa zwanzig Minuten“, vermutete Yonis, „bis dahin müssen Sie sie hinhalten. Ansonsten werden wir es auf die harte Tour versuchen müssen.“
„Das kriegen wir hin“, versprach Sandra und glaubte es ein wenig auch selbst.
~o~
Nanita war entsetzt. Sie konnte nicht behaupten, dass es bislang sonderlich gut für sie gelaufen wäre, aber jetzt wurde es wirklich unangenehm. Nicht nur, dass sie noch keinen brauchbaren Beweis gegen Kollom in der Hand hatte und Sandras sogenannte Kooperation nicht vorhanden war. Nein, nun musste sie auch noch feststellen, dass aus dem unsicheren, fahrigen Idioten Kollom wieder der alte, selbstbewusste, hoch konzentrierte Tyrann geworden war. So würde sie niemals irgendwas finden, das seinen Rauswurf rechtfertigte. Und als wäre all das nicht genug, zeigte ihr ein leichtes Vibrieren in ihrem Arm jetzt auch noch an, dass sie einen Anruf erhielt. Torvilla Nehmer vom Aufsichtsrat, wie ihr Identifier verriet. So eine verfluchte Scheiße.
Sie warf einen Blick zu den anderen und stellte fest, dass Sandra noch immer dabei war, Kollom und Yonis ihren Fehlschlag zu erklären, während das Basisteam konzentriert auf die Monitore starrte. Lediglich Ara stand mit ihrer Waffe nahe der Tür und behielt sie aufmerksam im Auge. Genau dort musste sie hin.
„Wohin soll’s gehen?“, fragte die Rorak, als Nanita auf die Tür zuhielt.
„Zur Toilette“, erwiderte Nanita, „wollen Sie mitkommen?“
„Vielleicht sollte ich das“, antwortete Ara grinsend, „kann ja sein, dass Sie Hilfe brauchen.“
„Ich glaube, Ihre Talente werden hier dringender benötigt“, sagte Nanita kühl und ging durch die Tür hinaus. Ara hielt sie nicht auf.
~o~
Als Nanita die Toilette erreichte, hatte das Vibrieren an ihrem Arm aufgehört. Torvilla würde angesichts der Natur ihrer Vereinbarung sicherlich verstehen, dass sie nicht jederzeit abrufbar war. Aber natürlich würde sie zurückrufen müssen. Bevor sie das jedoch tat, fragte sie sich, was sie überhaupt vorzuweisen hatte. Nun, immerhin kam die Erforschung der Waffe nicht so voran, wie Kollom sich das erhofft hatte. Das war zwar nicht wirklich ihr Verdienst, aber womöglich könnte sie diese Tatsache trotzdem nutzen, um in einem etwas besseren Licht zu erscheinen.
Sie atmete noch einmal schwer durch, dann aktivierte sie die Rückruf-Funktion ihres Identifiers.
„Nanita“, meldete sich Torvilla wie erwartet. Ihre Stimme erklang direkt in Nanitas Innenohr, wodurch sie für die Außenwelt zwar fast, aber doch nicht gänzlich unhörbar war, „ich dachte schon, sie wollten sich vor diesem Anruf drücken.“
Nanita fand es unheimlich, wie nah sie der Wahrheit damit kam. „Ich konnte gerade nicht sprechen“, verteidigte sie sich, „und ich habe auch jetzt nicht viel Zeit. Sie erwarten mich jeden Moment im Labor zurück.“
„Ich verstehe“, sagte Torvilla gefährlich ruhig, „ich will auch nicht zu viel von Ihrer kostbaren Zeit beanspruchen. Sie müssen mir lediglich eine Frage beantworten: haben Sie etwas herausgefunden, mit dem wir Kollom Nehmer belasten können?“
„Noch … noch nicht“, erwiderte Nanita nervös.
„Interessant“, antwortete Torvilla, „kann es vielleicht sein, dass Sie nicht gründlich genug gesucht haben? Immerhin ist Kollom zurzeit ein halber Schwachsinniger, um es direkt auszudrücken.“
„Leider stimmt das nicht … nicht mehr“, antwortete Nanita, „ich weiß selbst nicht, warum, aber er befindet sich in erstaunlich guter Verfassung. Es ist fast, als wäre er ausgetauscht worden.“
Die Stille am anderen Ende der Leitung beunruhigte Nanita mehr als jede Zurechtweisung es gekonnt hätte. „Das ist schlecht, sehr schlecht“, erwiderte Torvilla, „vor allem für Sie. Für uns hingegen hat es auch sein Gutes. Ich komme gerade von einem Termin, bei dem sich herausgestellt hat, dass die Gagitsch-Transformation die Energiequelle der Zukunft ist. Insofern sind wir für jeden neuen Sonnenkern, den wir anfüttern können, dankbar.“
Nanita wurde heiß und kalt. Fast meinte sie, der Boden unter ihr würde sich auflösen und sie dem Sturz ins absolute Dunkel überantworten. „Sie haben mir eine Woche versprochen“, erinnerte Nanita so gefasst wie möglich und merkte doch selbst, dass sie weinerlich klang.
„Schon“, sagte Torvilla, „allerdings unter anderen Ausgangsbedingungen. Wenn Kollom wieder bei Verstand ist, können Sie ihn auch nicht der Unfähigkeit überführen. Es ist nicht ihre Schuld, aber bedauerlicherweise beraubt es sie der Gelegenheit ihre ältere, enorm große Schuld zu begleichen. Bleiben Sie ruhig vor Ort. Ein Team wird sie in Kürze abholen und in die Gagitsch-Kammer bringen.“
„Nein“, entgegnete Nanita ängstlich, „ich bin noch immer nützlich. Ich … ich habe das Projekt bereits verzögert und kann es weiterhin tun. Sie sind bereits kurz davor, ihr Einsatzteam zu verlieren. Das wird sie um Tage zurückwerfen. Und wenn die Waffe nicht fertiggestellt wird, sind Sie Kollom Nehmer ebenfalls los. Zwar nicht so schnell wie erhofft, aber feuern könnten Sie ihn trotzdem.“
Wieder schlug Nanita eisiges Schweigen entgegen und sie hatte das beklemmende Gefühl, dass die Wände des silbrig schimmernden Badezimmers sich enger und enger um sie schlossen.
„In Ordnung“, akzeptierte Torvilla schließlich, „wenn ihnen zumindest das gelingt, werden wir sie zwar nicht mehr befördern, aber dennoch auf eine Wiedergutmachung verzichten. Allerdings will ich in drei Tagen konkrete Fortschritte sehen und sie sollten gut darauf achten, dem Projekt keinen zu nachhaltigen Schaden zuzufügen. Wir wollen Projekt Gargona schnellstmöglich fertigstellen. Wir wollen nur nicht, dass Kollom Nehmer diesen Erfolg für sich verbuchen kann.“
Nanita atmete auf. Das wäre immer noch besser als nichts. „Einverstanden, ich werde Sie nicht enttäuschen“, versprach sie.
„Nein, das werden Sie nicht“, stimmte Torvilla zu, „entweder Sie schaffen uns ein Ärgernis vom Hals, oder Sie erstrahlen in Kürze als helle, gewinnbringende Sonne. In jedem Fall kann ich mit Ihnen nur gewinnen.“
Mit diesen Worten beendete sie das Gespräch ohne weitere Verabschiedung. Nanita war zumindest etwas erleichtert und beeilte sich, zu den anderen zurückzukehren. Sie hatte noch eine Menge zu tun.
~o~
Torvilla war sicher ebenso froh, dieses Gespräch beendet zu haben, wie Nanita. Sie hasste ihr bettelndes, kriecherisches Gehabe. Man merkte dieser Frau an, dass sie über viele Jahre kaum mehr als Kolloms Leibsklavin gewesen war. Von der ehemaligen CEO war kaum noch etwas übrig. Es war ohnehin ein Fehler gewesen, sich auf Nanita Geber zu verlassen. Lieber hätte sie Kollom auf die ganz altmodische Art überwachen sollen, doch der Gedanke, dass sein Schoßhündchen ihn ans Messer liefern würde, war einfach zu verführerisch gewesen.
Eigentlich rechnete sie auch nicht wirklich damit, dass Nanita in der Lage sein würde, die Entwicklung von Gargona zu stoppen. Sollte Kollom tatsächlich wieder der Alte sein, wäre er nicht so dumm das zuzulassen und auch Yonis hatte mehr in seinem Kopf als nur ein paar hässliche Gesichter. Nein, wenn Sie Kollom zuverlässig loswerden wollten, musste sie einen anderen Weg finden und den hatte ihr Navil vielleicht aufgezeigt. Natürlich konnte sie sich nicht sicher sein, dass die Anomalie von ihrem Unternehmen ausgegangen war, aber sie hatte da so ein Gefühl, welches das Gespräch mit Nanita nur noch bestärkt hatte. Immerhin musste Kolloms wundersame Heilung ja irgendwo herkommen. Sie war zwar in medizinischen Dingen nicht allzu bewandert, aber Hirndefekte gehörten zu den wenigen Dingen, die sich selbst mit vielen Dominanten nicht immer heilen ließen. Außer natürlich, man verwendete irgendeine experimentelle Technologie. Doch wie sollte sie das nachweisen? Einfach alles durchkämmen lassen und riskieren, dass Kollom es bemerkt, oder …
„Gute Geschäfte, Nehmerin Torvilla“, sagte eine Stimme in ihrem Kopf. Für einen Moment glaubte Torvilla über all den Stress der letzten Wochen verrückt geworden zu sein. Dann jedoch erkannte sie Arnins Stimme und begriff sofort, dass sie nicht in ihrem Kopf, sondern in ihrem Innenohr erklang. Der Whe-Ann hatte ihren Identifier besetzt.
„Was machen Sie außerhalb von Kolloms Koffer?“, fragte Torvilla barsch, jedoch mit dem kaum hörbaren Flüstern, welches nötig war, um auf diese Weise zu kommunizieren.
„Nehmer Kollom und ich haben eine Vereinbarung getroffen, die mir etwas mehr Bewegungsfreiheit einräumt“, antwortete Arnin „und diese Freiheit will ich nutzen, um Ihnen zu helfen.“. Während er sprach, glaubte Torvilla, irgendwelche Bass- und Schlagzeugklänge im Hintergrund zu hören und fragte sich nicht zum ersten Mal, wie sich Arnin bei diesem Lärm konzentrieren konnte.
„Um mir zu helfen?“, fragte Torvilla verwundert, „wobei?“
„Ich weiß, was Nehmer Kollom und Disruptor Yonis getan haben“, sagte Arnin, „und ich kann Ihnen die Videoaufzeichnungen dazu liefern.“
Torvillas Entsetzen darüber, dass dieser … nun … Mann, scheinbar ihre Gedanken gehört hatte – auch wenn es wohl nur eine Mischung aus Menschenkenntnis und Spionage war – wurde schnell durch Euphorie abgelöst. Wenn er die Wahrheit sprach, könnte sie sich eine Menge Mühe sparen.
„Was wollen Sie dafür?“, beeilte sie sich, die natürlichste Frage Deovans zu stellen.
„Ich will volle Bewegungsfreiheit außerhalb des MKH-Komplexes. In allen nicht hochsicherheitsgeschützten Systemen des deovanischen Kernlands, um genau zu sein“, sagte Arnin geradeheraus.
„Das ist nicht so einfach und das wissen Sie auch“, antwortete Torvilla seufzend, „davon wären Hunderte von kleinen und großen Konzernen betroffen. Wir müssten mit jedem davon Vereinbarungen treffen, eventuell müssten wir sogar den Kartellwächter informieren. Das wäre enorm teuer, riskant und hätte keine Erfolgsgarantie. Genauso gut könnten sie von mir verlangen, Ihnen die Leitung von MKH zu übertragen.“
„Ich bin nicht dumm“, sagte Arnin, während der rockige Rhythmus im Hintergrund zu etwas jazzigem wechselte, „ich weiß, dass Sie keinen direkten Einfluss auf die anderen Konzerne haben. Doch das soll nicht Ihre Sorge sein. Alles, was ich möchte, ist, dass Sie mich die interne Firewall passieren lassen.“
„Auch das wird schwierig genug. Es gibt strenge Sicherheitsbestimmungen, die ich nicht allein außer Kraft setzen kann. Außerdem sind Sie Eigentum von Kollom Nehmer. Und ich kann mich nicht einfach über seine Eigentumsrechte hinwegsetzen“, wandte Torvilla ein.
„Sie werden einen Weg finden, diese Probleme zu lösen“, entgegnete Arnin, „zumindest, wenn Sie das Beweismaterial haben wollen.“
„Ich könnte Ihnen einfach befehlen, es mir zu sagen“, meinte Torvilla streng.
„Das können Sie nicht“, lachte Arnin nun zu einem beschwingten Reggae-Rhythmus, „Ich bin kein direkter Teil von MKH und wenn Sie Kollom darum bitten wollen, mir die Freigabe des Materials zu befehlen … nun, dann tun Sie sich keinen Zwang an.“
„Es wird vielleicht ein paar Tage dauern“, gab sich Torvilla geschlagen, „ich muss erst eine geheime Aufsichtsratssitzung einberufen und im Vorfeld ein paar Leute überzeugen.“
„Ich kann warten“, sagte Arnin, „das habe ich bereits viele Jahre getan. Aber das heißt nicht, dass ich gerne warte. Beeilen Sie sich! Wir alle können besser schlafen, wenn Kollom Nehmer nicht länger über unser Leben bestimmt.“
„Wie kann ich Sie erreichen, wenn ich die Zusage habe?“, fragte Torvilla. Doch Arnin antwortete nicht mehr. Er hatte alles gesagt, was er zu sagen gehabt hatte.
~o~
„Wir sind nun fast beim Transporter“, sagte Rischah erleichtert, während sie den Stasis-Container mit der Probe eng an sich drückte, die sich in manchen, seltenen Momenten noch immer beunruhigend bewegte, „es tut uns wirklich leid, dass wir abbrechen mussten. Wir wissen, wie wichtig es für euch war, mehr über den Angriff herauszufinden, aber das hier ist einfach eine Nummer zu groß für uns.“
„Alles gut“, erklang Sandras freundliche Stimme in ihrem Helm, „Hauptsache ihr kommt heil nach Hause. Ihr habt schon mehr geleistet – und geopfert – als man verlangen konnte.“
Rischah sah bedrückt zu Rovenia, die ihrerseits immer wieder verstohlen zu ihren Armstümpfen blickte und nickte, „oh ja, das haben wir. Vielleicht hilft euch die Probe ja weiter. Dann war das alles immerhin nicht umsonst gewesen.“
„Ganz bestimmt“, sagte Sandra sanft, „freut euch schon mal auf ein wenig Schlaf und was Gutes zu essen. Dann sehen wir weiter.“
Rischah begann, diese Frau zu mögen. Sie war hart, so hart wie einen der Krieg wahrscheinlich zwangsläufig machte, aber sie wusste anscheinend auch, wann man mit Härte nicht weiterkam und dass man manche Dinge mit Druck einfach nur zerstören konnte. Teamgeist zum Beispiel.
Dennoch wäre Rischah wirklich froh, hier wegzukommen. Diese lebendigen Partikel waren ihr immer noch nicht geheuer und diese Roboter noch viel weniger. Dass sie ihnen das Leben gerettet hatten, machte es dabei nicht besser. Im Gegenteil: Bei dieser Aktion hatte ihre Angst vor der Macht und Gewalt dieser Maschinen erst so richtig ihren Anfang genommen. Aber wenigstens würde sie sich schon bald nicht länger mit den Androiden auseinandersetzen müssen. Sicher gab es noch eine andere Möglichkeit, wie sie ihrem neuen Heimatland würde helfen können. Sie hatte auch zivile Talente. Sie war eine gute Ingenieurin, eine annehmbare Biologin und auch mit ihrer Fähigkeit in salzigen Gewässern tief tauchen und atmen zu können, ließ sich sicher etwas anfangen. Ob sie dabei weiter mit Rovenia, Kriwa und Hord zu tun haben würde, wäre fraglich, aber das bedauerte sie auch nicht. Sie hatte zu keinem von ihnen eine ernsthafte, emotionale Verbindung aufgebaut, auch wenn ihr allein der Kannibale unsympathisch war.
So oder so lag eine neue Zukunft vor ihr und der gepanzerte Transporter, der sich langsam aus der diesigen Luft herausschälte, wirkte da wie ein stählernes Versprechen.
„Was ist das für ein Geräusch?“, hörte sie Kriwa rufen. Der Vogelmann zeigte nach oben und schwebte dabei ein paar Meter über dem Boden, wahrscheinlich um besagtes Geräusch besser hören zu können.
Rischah lauschte und meinte es auch hören zu können. Ein leises, sehr hohes Pfeifen, das jedoch rasch näherkam.
„Bringt euch in Sicherheit!“, schrie Sandra plötzlich so laut in Rischahs Helm, dass ihre Ohren klingelten, „ihr werdet angegriffen!“
Nicht erst im Krieg gegen die Scyonen hatte Rischah gelernt, solche Warnungen ernstzunehmen.
Sie rannte nicht weg, sondern blieb stehen, zog ihre Polypen zurück und stülpte ihr Kalkskelett nach außen, so wie es bei ihrem Volk üblich war, wenn Gefahr drohte. Die Panzerung würde sie nicht vor allem schützen, aber bei allem, was ihn durchdringen konnte, würde ihr auch Weglaufen nicht helfen. Hord und Rovenia hingegen rannten und Kriwa erhob sich flatternd in die Lüfte, denn auch wenn er keine sonderlich großen Höhen erreichen konnte, war er auf diese Weise schneller.
Wenige Sekunden später brachen eine Reihe von glänzenden Flugkörpern durch die Wolkendecke. Die meisten landeten recht weit von ihnen entfernt, doch einer schlug direkt in den Transporter ein.
Trümmerstücke wurden umhergeschleudert und die Druckwelle donnerte hart gegen den Anzug und Rischahs darunterliegendes Kalkskelett. Sie hörte ein Knacken und Reißen und hatte den Eindruck, dass ihre Organe schmerzhaft durchgeschüttelt wurde. Doch sie blieb standhaft, behielt die Nerven und schließlich war es vorbei.
Stille breitete sich aus. Sie sah sich nach den anderen um. Kriwa war gelandet. Einer seiner Flügel war verletzt, aber er schien immerhin zu leben. Auch Hord und Rovenia rappelten sich auf und schlossen bereits zu Rischah auf, die jetzt vorsichtig wieder in ihre gewöhnliche Gestalt wechselte.
Sie alle blickten erst auf die rauchenden Trümmer und dann misstrauisch in den Himmel, wo sich nun dutzende von flachen, dreieckigen Flugobjekten mit vier drehbaren, quadratischen Gefechtsstationen aus der Wolkendecke schoben und das Feuer auf sie eröffneten.
„Lauft!“, rief Rischah und verließ sich diesmal nicht auf ihre Panzerung. Auch Kriwa verzichtete darauf, seine angeschlagenen Flugkünste zum Einsatz zu bringen. Sie alle rannten, schlugen Haken und versuchten den konzentrierten, rot flimmernden Energiegeschossen auszuweichen, die mit einem ohrenbetäubenden Donnern immer näher bei ihnen einschlugen.
„Was ist hier los?“, schrie Rischah panisch in ihr Helmmikrofon, während in den Roboter neben ihr ein Energieblitz einschlug, der ihn kurz innehalten ließ, sich dann jedoch knisternd und Funken schlagend in seinem metallenen Körper verlor.
„Der Feind muss von eurer Anwesenheit Wind bekommen haben“, antwortete Sandra, „sie wollen nicht, dass wir die Auswirkungen der Waffe erforschen können.“
„Hättet ihr uns nicht warnen können, verflucht?“, empörte sich Rischah.
„Es tut mir leid“, sagte Sandra bedauernd, „das Radar hat die Angreifer nicht angezeigt. Es muss sich um eine neuartige Technologie handeln. Aber wir lassen euch nicht im Stich. Abfangjäger sind bereits unterwegs und wir schicken auch einen Transporter. Allerdings können wir den nicht mitten auf dem Schlachtfeld absetzen. Das würde er wahrscheinlich nicht überstehen. Stattdessen versuchen wir es unterirdisch. Es da gibt einen Tunnel, der direkt in das Gebäude von Nutrics Industries führt. Genauer gesagt in die firmeneigene Tiefgarage. Dort holen wir euch ab und bringen euch in Sicherheit.“
„Wir sollen da rein?“, fragte Rischah fassungslos, „in das Nest dieses schwarzen Schleims?“
„Ich kann verstehen, dass euch das nicht gefällt“, entgegnete Sandra, „aber wenn ihr hier draußen bleibt, geht ihr drauf. Außerdem wissen wir gar nicht, ob es einen Befall im Inneren gibt. Die Gebäudestruktur blieb nicht ohne Grund weitgehend intakt. Die Fabrik wurde gebaut wie ein Bunker. Es ist deshalb sogar wahrscheinlicher, dass diese Leute nur so schrecklich verändert wurden, weil sie sich außerhalb des Gebäudes befanden.“
Erneut unterbrach ein lautes Donnern die Übertragung, als gleich mehrere Energiestrahlen knapp neben Rischah einschlugen, ohne sie jedoch zu verletzen.
„Warum zielen die eigentlich so schlecht?“, schaltete sich Rovenias atemlose Stimme in die Unterhaltung ein, „nicht, dass ich mich beschweren will, aber eigentlich sollten wir längst tot sein.“
„Eure Anzüge senden Störfelder aus, die das Zielen erschweren“, improvisierte Sandra, „zudem könnten die hohen Strahlenwerte und diese Partikel eine Rolle spielen. Aber ich würde mein Glück an eurer Stelle nicht herausfordern. Bringt euch in Sicherheit, so schnell ihr könnt! Wie gesagt, bei dem Gebäude handelt es sich um eine speziell verstärkte Konstruktion. Sie dürfte selbst massivem Beschuss eine Weile standhalten.“
„Hoffentlich hast du recht“, knurrte Hord angespannt, „wenn nicht, fresse ich euch alle aus dem Grab heraus.“
„Wenn du zu diesem schwarzen Zeug wirst, könnte das sogar stimmen“, sagte Kriwa düster.
„Wir bringen euch heil da raus“, versprach Sandra, „dann könnt ihr norrinisches Trangfilet genießen. Das ist viel besser als unser zähes Fleisch. Nun aber los. Ich melde mich, sobald wir vor Ort sind!“
Sandra brach die Verbindung ab und starrte auf das Einsatzteam, welches vor den an den Himmel projizierten Maschinen floh. Eine faszinierende Technologie. Bald wurde es Zeit, die Abfangjäger einzublenden. Doch erstmal sollten ihre kleinen Soldaten brav weiter rennen.
Genau dorthin, wo sie sie brauchte.
~o~
Callan blickte staunend zu dem mächtigen, ovalen Schiff auf, welches sich aus dem Dach des Raumhafens erhob. Das Schiff, welches den Namen „Rising Profit“ trug, war ein typisches Gefährt der deovanischen Oberklasse, mit Büroräumen, Wellnessbereich und sogar einer kleinen Fabrikanlage an Board. Ein verschwenderisches Luxusgefährt, welches wahrscheinlich nur einen einzelnen CEO und sein Team beherbergte, die auf irgendeiner überflüssigen Geschäftsreise waren. Angesichts der monumentalen Größe des Gebäudes, welches es verließ, wirkte die Rising Profit aber nur wie ein winziger Blutstropfen, der sich widerwillig von dem Körper trennte, in dem er geboren worden war.
Aber nicht nur das Staunen und die Sehnsucht, die der startende Koloss bei ihm auslöste, hatten ihn dazu gebracht anzuhalten. Vor allem war er völlig außer Atem. Das war kein Wunder, nachdem er die gesamten dreizehn Kilometer vom House of Life, bis zum Raumhafen des Marktführers „Right Flight Company“ im Rekordtempo zurückgelegt hatte. Ohne seinen verbesserten Organismus hätte er sicher nicht einmal ein Viertel dieser Strecke in solch kurzer Zeit geschafft, ohne dabei zu kollabieren. Warum genau es ihn hierhin verschlagen hatte, wusste er nicht. Natürlich, er wünschte sich nichts sehnlicher als dieses Gefängnis endlich zu verlassen, aber das Geld dafür hatte sich leider nicht durch Zauberhand auf seinem Identifier materialisiert.
Trotzdem hatte seine Flucht ihren Zweck erfüllt. Weder die Vertragswächter, noch Enry und seine Leute, noch dieser unheimliche, schmierige Adrian waren ihm gefolgt. Er war wieder so frei, wie man es in Deovan ohne Reichtum sein konnte. Zumindest für den Moment. Dass das nicht so bleiben musste, war ihm klar. Dennoch brauchte auch sein verbesserter Körper irgendwann Ruhepausen und ganz nebenbei hatte er auch ziemlichen Hunger und Durst, selbst, wenn ihm bedauerlicherweise die Ressourcen fehlten, um sich um diese Probleme zu kümmern. Sein Identifier zeigte ihm, dass er nun, wo er das House of Life irregulärerweise verlassen hatte, genau null Dominanten besaß. Er war jetzt offiziell ein Have-Non. Der wahrscheinlich privilegierteste Have-Non aller Zeiten.
Er blickte auf die Uhr seines Identifiers. Es war jetzt 23:13 Uhr. Bis 23:20 Uhr würde er sich Zeit lassen, um zu Atem zu kommen. Dann würde er weitergehen. Vielleicht bis zu den invisible Lands. Mit seinen neuen Fähigkeiten konnte er sich vielleicht bei einem der dort angesiedelten, heruntergekommenen Ausbeuterbetriebe vorstellen. Für gewöhnlich schickten sie die meisten Have-Nons wieder weg, aber in seinem Fall würden sie vielleicht eine Ausnahme machen. Jemand mit solchen Kräften wäre sicherlich nützlich.
Seine Erschöpfung verlangte von Callan, sich hinzusetzen, aber hätte er das getan, wäre ihm das sicher nicht gut bekommen. Die gepolsterten Bänke, die auf dem Vorplatz des Flughafens aufgestellt worden waren, waren allein solventen Kunden der Company vorbehalten. Jedem anderen versprachen entsprechende Warnschilder eine tödliche Injektion und Callan wollte es nicht darauf ankommen lassen.
Also blieb er stehen – was immerhin erlaubt war – und nahm einmal mehr seinen Anhänger in die Hand. Das einzige, was ihn – neben seiner Physis – zumindest technisch gesehen von einem Have-Non unterschied.
Je länger er sein kostbares Kleinod betrachtete, desto mehr kam er zu der Überzeugung, dass es wohl keine schlechte Idee wäre, die verbleibenden Türen zu öffnen. Er sah sich noch einmal nervös um, stellte jedoch fest, dass keiner der Passanten, die mal in klassischen weißen, grauen oder schwarzen Anzügen und mal in farbenfroher, extravaganter Aufmachung zu ihren Flügen eilten, ein großes Interesse an ihm zeigte. Eigentlich sollte ihn das auch nicht wundern. Die meisten Deovani interessierten sich nur dann für ihre Mitbürger, wenn Sie meinten, von ihnen profitieren zu können und was ihn betraf, so glaubte er nicht, dass eine abgerissene, schmutzige Gestalt mit blutiger Halbglatze irgendjemandem als ein lohnendes Ziel erschien. Zudem wurde Diebstahl auf dem Gelände des Konzerns hart bestraft, was zwar nicht immer, aber meistens Wirkung zeigte. Die Company betrachtete das Geld ihrer potenziellen Kunden immerhin schon halb als ihr Eigentum.
Natürlich war Kollom bewusst, dass die Augen der Sicherheitsleute und Überwachungskameras umso mehr auf ihn gerichtet sein würden, aber solange er keine Gefahr für Right Flight darstellte, würden sie nicht eingreifen, egal, was er sonst verbrochen haben mochte.
Vorsichtig legte er seinen Zeigefinger auf die zweite Miniatur-Eingangstür und rechnete erneut mit einem Stich. Der aber kam nicht. Stattdessen wurde seine Fingerkuppe lediglich etwas warm und die winzigen Fenster leuchteten in einem dunklen Blau auf, bevor sein Identifier zu vibrieren anfing. Er blickte auf die Anzeige und erstarrte. Aus den Null Dominanten waren mit einem Schlag rund 3,2 Billiarden geworden.
Callan spürte, wie ihm schwindelig wurde. Und selbst nachdem er die Zahl viermal gelesen hatte, konnte er es nicht wirklich glauben. 3.198.780.230.582. Diese Ziffern veränderten sein ganzes Leben und doch wollte sich die Freude noch nicht so recht einstellen. Konnte es ein Fehler sein? Ein Scherz? Aber nein, mit Geld würde kein Deovani je Scherze treiben. Nicht mal dann, wenn er sich mit einem Narrenstein infiziert hätte. „Devell, Sie Wahnsinnige“, flüsterte Callan ungläubig, nun, wo er langsam bereit war, diesen Geldsegen als Tatsache zu akzeptieren. Diese Frau hatte ihm weit mehr geschenkt als einen Kuss und ein gutes Immunsystem. Sie hatte ihm Freiheit geschenkt. Er blickte noch einmal hoch zur „Rising Profit“, die schon fast in den Wolken verschwunden war. Er könnte sich jetzt nicht nur ein Ticket für einen der günstigeren Massentransporter leisten, nein, er könnte dieses Schiff kaufen oder sich gleich eine Flotte davon bauen lassen und damit hinfliegen, wo auch immer er hinwollte. Er hatte endlich den goldenen Schlüssel zu der Mauer in der Hand, die ihn sein ganzes Leben über eingekerkert hatte. Seiner Suche nach dem Paradies stand nichts mehr im Wege und doch blieb ein schales, unheimliches, schmutziges Gefühl in ihm zurück. Es war nicht so, dass er glaubte, das Geld nicht verdient zu haben. Denn das hatte kaum einer in Deovan, ganz besonders nicht die Reichen. Nein, es war etwas anderes. Eher eine dunkle, unbewusste Ahnung, die ihn den Haken in diesem riesenhaften Köder suchen ließ. Dummerweise ahnte er auch bereits, wo dieser Haken zu finden sein würde.
Mit zitternden Fingern näherte er sich der letzten, noch verschlossenen Tür des Anhängers. Als er diese endlich berührte, spürte er knisternde, elektrische Energie in seinen Finger einfahren. Noch einmal vibrierte sein Identifier. Callan schluckte schwer und hielt den Atem an, bevor er es wagte, erneut auf die Anzeige zu blicken. Kurz befürchtete er, dass ihm all das Geld wieder genommen worden wäre. Doch, was er dort zu lesen bekam, war weit schlimmer. Es waren keine Zahlen, sondern Buchstaben. Ja, ein ganzer Brief.
„Gute Geschäfte, Super-Nehmer Callan.
Hiermit übertrage ich Ihnen offiziell und testamentarisch meine Funktion als CEO des Konglomerats von Rise und ferner die auf zehn Jahre unverkäuflichen Mehrheitsanteile am Konzern. Ich weiß, dass Sie der Richtige für den Job sind und ich denke, nach einem Leben voller Entbehrungen und ohne ernsthafte Aussicht auf irgendeinen Aufstieg haben Sie vielleicht die nötige Lebenserfahrung und das rechte Augenmaß, um den Konzern besser zu führen, als ich. Erschaffen Sie einfach das Unternehmen, in dem auch Sie gerne arbeiten würden. Die Mittel dazu haben Sie ja jetzt buchstäblich an der Hand. Wenn Sie diese Nachricht lesen, würde ich Ihnen empfehlen, sich schnellstmöglich zum Aufsichtsrat zu begeben und Ihre Antrittsrede zu halten. Die Damen und Herren warten nicht gern. Und wie Sie bald feststellen werden, ist es eine wirklich erlesene Ansammlung vollendeter Drecksäcke. Ja, im Grunde bin ich froh sie für alle Zeiten los zu sein, aber ich denke, sie werden schon mit ihnen fertig werden. Der Sumpf und das Soldatengrab sollten Sie ausreichend auf unangenehmes Ungeziefer vorbereitet haben.
In diesem Sinne wünsche ich Ihnen allen Erfolg und verabschiede mich in meinen ewigen Ruhestand.
Respektvoll, Live-Non Devell :-)“
Callan spürte, wie ihm sein Magen bis zu den Knien rutschte. Alle Euphorie, die der unverhoffte Geldsegen bei ihm ausgelöst hatte, war verflogen. Stattdessen hatte er das Gefühl, dass sich gerade, als er zu den Gefängnistoren herausstürmte, eine Stahlkette um seine Beine geschlungen hätte und ihn nun gnadenlos in den Hochsicherheitstrakt zurückzog. Eine Stelle als CEO von Rise wäre so ziemlich das Schlimmste, was er sich nur vorstellen konnte. Täglich umgeben zu sein von unsympathischen Leuten, die ihn stürzen wollten und gleichzeitig zu wissen, dass er mit jedem Atemzug, den er tat, mehr und mehr Schuld ansammelte.
Wie konnte Devell nur so naiv sein zu glauben, dass er in diesem Unternehmen irgendwas würde zum Besseren wenden können? Sie kannte doch dieses System genauso gut wie er oder hatte es zumindest gekannt. Wenn er auch nur einen Finger rührte, um das Leid der Angestellten abzumildern, würden ihn erst die Aufsichtsratsmitglieder und dann die Konkurrenz bei lebendigem Leib fressen.
Dennoch stand es hier schwarz auf weiß: Er war der neue CEO des Konglomerats von Rise und er würde es für zehn Jahre bleiben, ob er es wollte oder nicht.
Andererseits war er hier am besten Ort, um vor dieser unliebsamen Verantwortung zu fliehen. Nirgendwo stand geschrieben, dass das Geld an die Wahrnehmung seiner Pflichten gekoppelt wäre und es gab sicher Welten, in die die Arme des deovanischen Kapitals nicht reichten. Ja, dachte Callan trotzig, Devell konnte ihr vergiftetes Geschenk gern mit ins Grab nehmen und Rise müssten eben ein paar Jahre ohne CEO auskommen. Nach Ablauf dieser Frist würde er seine Anteile verkaufen – notfalls über Mittelsmänner – und wäre diese letzte Verbindung zu seiner verhassten Heimat endlich los.
Noch immer etwas beunruhigt, aber schon ein wenig gelöster, machte Callan sich auf den Weg ins Innere des Flughafens und mit jedem Schritt verwandelten sich die harten Steinplatten des Geländes ein wenig mehr in den weichen, würzigen Boden, verträumt schimmernder Wälder.
~o~
Navins Schritte halten dumpf über den schmutzigen Steinboden. Es war gefühlte Äonen her, seit er die stinkende – aber immerhin weiterhin kostenlose – Luft des Invisible Land zuletzt geatmet hatte. Er gab sich Mühe, nicht in die verzweifelten, desillusionierten Gesichter zu sehen, die ihn hier überall umgaben wie alte Statuen, die nicht mehr darauf warteten, bewundert, sondern entweder angeschissen oder niedergerissen zu werden.
Er war einer von ihnen gewesen und würde es bald wieder werden und gerade dieses Wissen ließ ihn maximale Distanz zu jenen Have-Nons einnehmen. Wenn er doch mal ein Gesicht erblickte, erkannte er es zum Glück nicht wieder. Die meisten Have-Nons blieben nicht lange im Land, da sie entweder schnell verreckten oder von irgendwem für irgendwelche finsteren Experimente verschleppt oder für einen Hungerlohn abgeworben wurden. Bei ihm war es im Grunde nicht anders gewesen. Auch seine Amtszeit als Kartellwächter war ein Experiment, das für ihn alles andere als gut ausgehen würde. Bisher jedoch hatte er noch die Hoffnung gehabt, dass ihm bis zu seinem tragischen, bitteren Ende noch zwei bessere Jahre vergönnt sein würden. Offenbar hatte er sich getäuscht.
Es war nicht allein, die Angst davor, Porneck zu begegnen, die ihm auf die Stimmung drückte, auch wenn er nicht von vielen gehört hatte, die eine solche Begegnung überlebt hatten. Vielmehr war es das Wissen um das, was Deovan und auch ihm selbst bald bevorstehen würde. All seine kleinen Schlachten, all seine Ängste, Rückschläge, Intrigen und Enttäuschungen würden noch viel egaler sein, wenn sie schlicht nie passiert wären.
Ja, diese Form der Bedeutungslosigkeit, der totalen Erniedrigung würde er noch viel weniger ertragen können als das Wissen, zurück in die Gosse geschickt zu werden. Und all das nur, weil diese bornierten Idioten zu kurzsichtig waren, um diesem Problem, das sie alle auf eine höchst egoistische Weise betraf, entschieden entgegenzutreten. Da verballerten sie Milliarden von Dominanten für riskante Geschäftsideen, waren aber nicht bereit in ihre eigene Fortexistenz zu investieren.
Navin machte das wütend. Unfassbar wütend. Ja sogar so wütend, dass er seine eigenen Kompetenzen ein wenig gebeugt und sich an den Rücklagen der Kartellwache bedient hatte. Trotzdem hielt er das Geld für gut investiert. Er hatte die Dominanten einer freischaffenden Hackerin gegeben, der ihm tatsächlich einen anonymen Zugang zu den Systemen vom Machtkomplex der kalten Hand verschafft hatte, jenem Unternehmen, aus dessen Sitz die Anomalie mutmaßlich hervorgegangen war. Zwar hatte die Frau ihm keine Kontrolle über die wirklich wichtigen Dateien und Überwachungssysteme geben können – nicht ohne seine Identität offenzulegen jedenfalls –, aber das war glücklicherweise nicht nötig gewesen, da ihm ausnahmsweise der Zufall in die Hände gespielt hatte. Kaum, da er sich ein wenig im Eingangsbereich und den Besuchsprotokollen des Konzerns umgesehen hatte, hatte ihn eine digitale Präsenz kontaktiert. Zuerst hatte Navin befürchtet, entdeckt worden zu sein, doch die vermeintliche Bedrohung entpuppte sich schnell als außergewöhnliche Chance. Der Mann, der ihm aufgespürt hatte, war ein Whe-Ann namens Arnin gewesen. Seines Zeichens ein enger Vertrauter des CEOs, Kollom Nehmer. Und er hatte ihn nicht gemeldet, sondern sich ganz im Gegenteil bereiterklärt, ihm zu helfen, wenn Navin ihm seinerseits einen Gefallen erwies. Der Gefallen, den er gefordert hatte, war nicht gerade klein gewesen, aber Navin hatte dennoch zugestimmt. Denn was hatte er noch zu verlieren, außer seinen Erinnerungen?
Sollte er die Begegnung mit Proneck überleben und wieder Erwartens zu einer halbwegs akzeptablen Übereinkunft mit dem Planetenkrebs gelangen, würden Kollom, Torvilla und die restliche Belegschaft von MKH eine böse Überraschung erleben. Diese Aussicht ließ ihn lächeln und wenn er ehrlich war, bereitete ihm die Vorstellung, zumindest einigen dieser überheblichen Wichser den Boden unter ihren Füßen wegzuziehen, fast so viel Genugtuung wie das Wissen, damit etwas für den Erhalt des Geflechts zu tun.
Diese Vorfreude hatte er auch bitter nötig, um sich zu zwingen, in die verkrümmten, engen Häuserschluchten der tiefen Gassen einzutauchen. Die Gefühle von Einsamkeit und Angst waren hier derart übermächtig, dass Navin sogar den Schmerz in einem seiner rechten Backenzähne als Ablenkung begrüßte, der das Absterben einer weiteren Wurzel ankündigte.
Schließlich, nach einigen schweren, halb im Delirium zurückgelegten Schritten, stand er vor jener schicksalhaften, stets leicht geöffneten Tür, die das Ende der tiefen Gassen markierte und in dem bereits tausende von Deovani ihr Ende gesucht und gefunden haben, wie die finsteren Sinnsprüche und Graffitis bewiesen.
Porneck hatte sie sicherlich verschlungen, verzehrt, integriert. Was auch immer Planetenkrebse genau mit ihren Opfern taten und sie hatten es begrüßt. Auf eine traurige, verzweifelte und letztlich doch unfreiwillige Weise.
Auch Navin hörte die lockenden Stimmen hinter dem schattenhaften Spalt. Würde auch er verloren gehen? Er hoffte es nicht und ein wenig Grund für diese Hoffnung gab es auch. Porneck war intelligent. Er wusste sicher, wer ihm allein durch sein Opfer und wer ihm auch auf andere Weise dienen konnte. Schon Have-Non Zunil, einer von Navins vielen Vorgängern, hatte mit Porneck verhandelt und war heil zurückgekehrt. Damals hatte man die Anwesenheit des jungen Krebses gerade erst bemerkt und hatte mit ihm einen ersten Deal ausgehandelt. Porneck bekam die Lebensmüden und hielt sich dafür weitestmöglich aus Deovans Angelegenheiten raus. Es schien damals ein schlauer Handel zu sein, denn obwohl Porneck zu dieser Zeit noch jung gewesen war, wäre es sehr teuer geworden, ihn restlos und vollständig zu entfernen.
Seitdem würde er sicher gewachsen sein an Leibesfülle, wie an Selbstbewusstsein und Intelligenz.
Doch es half alles nichts. Navin würde ihm gegenübertreten müssen. Dem einzigen Wesen, welches noch weniger sympathisch und vertrauenswürdig war, als Zevil.
Noch einmal leckte Navin sich über seinen dumpf schmerzenden, braunen Zahn, dann schob er eine Hand in die Spalte und öffnete die Tür.
~o~
„Ahhh!“, schrie Tarena und blickte an sich hinab. Der plötzliche Schmerz in ihrer rechten Brust kam nicht von ungefähr. Er kam von Andy, der die scharfen Mandibeln seines Wasserkopfes in ihr Fleisch geschlagen hatte und begann genüsslich darauf herumzukauen. Scharfe Wellen von Schmerz durchzuckten sie. „Bist du wahnsinnig, Andy. Hör sofort damit auf!“
Doch der Junge reagierte nicht auf sie, sondern setzte seine Mahlzeit fort. Panisch versuchte Sandra ihn wegzustoßen und seinen Kiefer zu lösen, doch seine Mandibeln hielten unbarmherzig fest. In ihrem Schmerz und ihrer Verzweiflung, wollte sie schon versuchen, die Beißwerkzeuge mit Gewalt aus ihrer Brust zu entfernen, die trotz ihres noch immer teilinsektoiden Körpers viel schmerzempfindlicher war als zu früheren Zeiten.
Dann jedoch sah sie eine Hand in ihrem Blickfeld auftauchen. Eine Hand, die ein Pendel hielt, welches leicht vor den Augen des Jungen hin- und herschwang. Endlich ließ Andy los und kaum da seine Mandibeln sich aus ihr gelöst hatten, spürte sie das Blut aus ihrer lädierten Brust rinnen.
„Das wird von selbst heilen. Nollotsch sorgt für seine Dienerin“, stellte Any nüchtern fest, „aber der Hunger deines Jungen wird nicht von selbst verschwunden.“
Hunger, dachte Tarena und fühlte sich wie die schlechteste Mutter der Welt. Natürlich. Andy musste etwas essen. Doch was?
Tarena stellte diese Frage laut. „Hast du irgendetwas zu essen hier?“
„Nein“, sagte Any, „das ist nicht nötig. Das Efryum versorgt jeden, der sich darin befindet, mit Energie. Es ist wie eine Art biochemische Induktion. Doch dein Sohn braucht anscheinend etwas Handfesteres. Aber vielleicht kann ich ihm da weiterhelfen.“
„Ich dachte, du hättest nichts zu essen hier“, wunderte sich Tarena und blickte auf ihren ruhiggestellten, hypnotisierten Jungen.
„Hier nicht“, sagte Any lächelnd und schwang ihr Pendel in einem komplizierten Zick-Zack-Muster. Kurz darauf erklang ein saugendes Geräusch, gefolgt von einer Reihe von klackenden und schleifenden Lauten. Schließlich öffnete sich eine Luke an der Kuppelwand und spuckte die Leiche einer muskulösen Frau aus. Ihre Hände waren dermaßen perforiert, dass sie eher Sieben ähnelten und ihre kräftigen Beine waren zermatscht, doch ihr grobes Gesicht war weitestgehend intakt. Genau wie die dunkelgrüne Uniform, auf der ein Symbol mit fünf bunten, verschieden großen Sternen mit unterschiedlicher Zacken-Anzahl und Länge prangte, das Tarena bereits aus Adrians Erzählungen bekannt war, genau wie die Abstammung der Toten.
„Das ist eine Rorak, oder?“, folgerte Tarena, „in einer Uniform von … Astrera?“
„Genau“, bestätigte Any, „ihr Freiwilligenverband. Das erkennst du an den weißen Ringen an ihren Ärmeln. Die meisten Rorak kämpfen eigentlich nicht für sie. Aber Ausnahmen gibt es immer. Leider. Wie ich sie hasse!“
Bei diesen letzten Worten war Anys Gesicht wutverzerrt.
„Dann kämpfen die Rorak auf eurer Seite?“, fragte Tarena überrascht.
„In den meisten Zeitlinien schon“, sagte Any und setzte an, Andy auf den Arm zu nehmen, „darf ich?“
Tarena nickte. Trotz ihrer Muttergefühle war sie gerade froh, den Jungen nicht in ihrer Nähe zu wissen, „aber die Rorak sind finstere Schlächter, nach allem, was ich weiß.“
„Sie sind recht blutrünstig, ja“, gestand Any zu und setzte Andy direkt neben der toten Rorak ab, „ein Wesenszug, der nur schwer zu bändigen ist, selbst unter günstigen Umständen. Aber sie sind vor allem geborene Soldaten. Und sie wissen, was Disziplin bedeutet. Darauf kommt es an.“
„Disziplin ist keine Tugend an sich“, meinte Tarena skeptisch und wusste, dass auch Adrian diesen Satz sofort unterschrieben hätte.
„Du kommst aus einem ruhigen, verschlafenen Paradies hier am Mutterschoß der Balance. Deswegen kannst du es nicht wissen“, meinte Any in gütig belehrendem Ton, während sie vor Andys Augen mit dem Finger schnippte, der gleich darauf begann seine Beißwerkzeuge in das erkaltete Gesicht der Kriegerin zu graben.
„Aber das Multiversum brennt“, sagte Any über die schmatzenden und reißenden Fressgeräusche hinweg, „und Disziplin, meine Liebe, ist das Einzige, was die Flammen noch löschen kann.“