Meine Käferscherbe stoppt den kratzenden Flug über die Katalogseiten erst, als die sie führende Hand von einer behutsam, aber entschlossen zupackenden Klaue festgehalten wird. Etwas in mir wird sofort wütend, sträubt sich dagegen, diese einmal begonnene und wichtige Aufgabe zu unterbrechen und für einen Moment kämpfe ich energisch gegen die übermenschliche Kraft von Tarenas Arm an, versuche mich loszureißen und die logische Folge der kleinen, unglaublich ordentlich niedergeschriebenen Buchstaben fortzuführen. Dann jedoch erkenne ich, dass dies sinnlos ist und meine pflichtbewusste Wut löst sich augenblicklich in Nichts auf.
„Was ist?“, frage ich mit einem freundlichen Lächeln, das mir ungewohnt leicht fällt, da sich meine Muskeln runderneuert und geschmeidig anfühlen. Selbst meine Stimme klingt in meinen Ohren weicher und frischer als vor meiner Wiedergeburt.
„Weiter!“, krächzt Tarena rau.
„Warum?“, frage ich verwundert, „hier ist es sicher. Hier können wir bleiben.“
„Hunger“, sagt Tarena und deutet auf unsere schwindenden Vorräte an Käferfleisch und Wasser.
„Ich verspüre keinen“, entgegne ich und das entspricht auch der Wahrheit. Ich habe seit dem Verlassen der Glocke kein Verlangen mehr, etwas in mich aufzunehmen. Mehr noch, ich verabscheue den Gedanken, nur für ein flüchtiges Vergnügen mühsam erschaffene Komplexität zu zerstören und wertvolle Strukturen aufzulösen. Doch auch wenn das für mich absolut Sinn ergibt, fühle ich Tarenas verständnislosen Blick auf mir ruhen. Als Andy dann auch noch einen leisen, klagenden Schrei von sich gibt, greift Tarena nach der Käferscherbe in meiner Hand, die ich jedoch instinktiv von ihr wegziehe, bevor sie sie erreichen kann. Nicht, weil ich ihr diesen Splitter eines ohnehin von ihr erlegten, toten Insekts nicht gönnen würde, sondern weil niemand das Recht hat, diese wichtigen historischen Aufzeichnungen durch profane Kommunikationsversuche zu entweihen. Tarenas Duftstoffe drücken Enttäuschung und Zorn aus, denen ich jedoch sofort mit Deeskalation begegne.
„Das hier ist nur für meine Erinnerungen“, erkläre ich milde lächelnd, „du brauchst aber nicht mit mir zu diskutieren. Offensichtlich ist es euer beider Wunsch, dass wir weitergehen. Dem werde ich mich anschließen. Ich finde später bestimmt noch genügend Gelegenheit, meine Notizen zu ergänzen.“
Ich klappe meine Aufzeichnungen zu, verstaute alles sorgsam in meinem Rucksack und mache mich daran, meine Reise fortzusetzen und einen wohl platzierten Schritt nach dem anderen auf den gelenkschonenden, wunderbar gearbeiteten Stufen zu tun. Tarena folgt mir mit Andy auf dem Arm. Sie wirkt traurig, was ich nicht verstehe. Hier, im Schutz des Pendels, hat die seltsame Trauer doch keine Macht.
Während wir laufen, blicke ich weiterhin konzentriert auf die Stufen, folge den Linien, lasse mir von ihnen wortlose Geschichten über geometrische Abenteuer mit lange festgeschriebenem Ausgang erzählen und fühle mich unwahrscheinlich sicher und geborgen. Am Geräusch ihrer Schritte erkenne ich, dass Tarena mir weiterhin folgt.
Irgendwann enden die Linien und münden in einen großen, goldenen, in den Boden eingelassenen Kreis, in dem sich beständig ein mattes, funkelndes Glitzern bewegt, wie ein Eisläufer, der seine regelmäßigen Bahnen zieht. Etwas verunsichert, wie eine Straßenbahn, die nach ihrer Endhaltestelle ohne Schienen weiterfahren muss, hebe ich den Kopf und sehe eine große, verwitterte Holzkonstruktion, in der beständig offene Aufzüge von Oben nach unten fahren, um irgendwann wieder an ihrem Ausgangspunkt anzukommen. Ein Paternoster, hole ich das altertümlich klingende Wort aus einer meiner vielen Gedächtnisschubladen und lasse es über meine Lippen entweichen.
„Ich will hier nicht rein“, sage ich, „was dort unten wartet ist nicht mehr gut. Nicht mehr sicher. Das weiß ich“, sage ich ängstlich, doch statt sich meiner Argumentation zu ergeben oder zu diskutieren geht Tarena trotzig an mir vorbei und steigt zusammen mit Andy in einen der vorbeifahrenden Aufzüge.
„Folg!“, krächzt sie noch mühevoll, „oder bleib allein!“
Dann ist sie verschwunden und die Einsamkeit des Raumes schlägt wie eine Welle über mir zusammen. Verhöhnt mich. Entkernt mich. Ohne wirklich darüber nachzudenken, folge ich den beiden und springe mit einem miserablen Gefühl in der Brust in den nächsten Aufzug.
~o~
Als ich schließlich unten ankomme, treibt mich allein die Angst vor der Einsamkeit aus meiner Kabine, denn vor mir liegt die Hölle selbst. So jedenfalls fühlt es sich an.
Der Aufzug endet nicht in einem weiteren Tunnel, nicht in einer weiteren Halle, sondern in Freiheit. In absoluter, gnadenloser Freiheit, die sich ungezähmt von Horizont zu Horizont erstreckt. Über mir ist ein Himmel, der zwar dunkel, aber doch von einigen blassen, fremden Sternen erleuchtet ist, die wie ferne, aber starke Magneten an mir zu ziehen scheinen. Die mich emporheben wollen, hinaufsaugen werden in die luftleeren Weiten des Alls, bis ich erfriere, ersticke und dekomprimiere. Ich blicke nach links und rechts wo die Horizontlinie gleich einer unendlichen Straße vor meinen Augen flüchtet und spüre, wie unsichtbare Hände mich dorthin zerren. Lediglich vor mir sehe ich vage Strukturen, Gebäude, die meinen Sinnen Halt geben, doch sie sind weit weg. So weit weg. Das Gewicht meines Körpers spüre ich nicht länger. Es ist irrelevant, nicht ausreichend, um mir Sicherheit zu geben. Ich bin ein gasgefüllter Luftballon, eine Pappfigur im Sturm.
„Ich fliege davon!“, höre ich mich selbst schreien, „Ich fliege auseinander!“, „Ich löse mich auf!“
Tränen rinnen über mein Gesicht. Ich schließe meine Augen, kralle meine Finger in den staubigen, trockenen Boden und warte darauf hinfort getragen zu werden. Doch das passiert nicht. Stattdessen spüre ich einmal mehr eine Klaue, die meinen Arm packt. Die mir Halt schenkt. Zumindest ein wenig.
„Öffne“, krächzt Tarena und ich weiß, dass sie meine Augen meint.
„Es geht nicht“, sage ich, „alles ist zu groß, zu weit, zu fern. Ich bin dafür nicht gemacht.“
Da lässt sie mich wieder los und sofort kehrt die Hilflosigkeit zurück, die ohnehin nie aufgehört hat mich zu belauern. Ich weiß, dass ich noch nicht fliege, dass ich noch am Boden bin, aber ich bin mir absolut sicher jeden Moment erst empor- und dann auseinandergerissen zu werden.
Ich denke an meinen Katalog. Die letzte Seite. Vielleicht kann diese Welt mich retten, vielleicht gibt es dort keinen grausamen Himmel, keinen verschlingenden Horizont, sondern eine sichere, Geborgenheit spendenden Höhle, wie einst in Tarenas Bau oder wie in Hyronanin. Doch um dorthin zu gelangen, muss ich die Augen öffnen. Zumindest kurz. Und was noch schlimmer ist: Ich muss meine Hände lösen. Aber ich bin mutig. Allein, verlassen, aber mutig und schaffe es tatsächlich meine linke Hand vom Boden zu lösen und meinen Rucksack zu durchsuchen. Ich öffne den Reißverschluss und ertastete die Seiten und den abgegriffenen Einband, doch bevor ich den Katalog hervorholen kann, wird er mir aus der Hand gerissen.
„Nein!“, jammere ich und greife hilflos in die Luft. Ich spüre, wie Tarena mir etwas über den Kopf stülpt, spüre hartes Chitin an meiner Haut.
„Öffne!“, krächzt Tarena erneut befehlend und verleiht diesem Wort mit aggressiven Duftstoffen Nachdruck, die so intensiv sind, dass sie meinen Widerstand hinwegfegen.
So öffne ich meine Augen und erwarte wieder von der schrecklichen Weite verschluckt zu werden, aber alles, was ich sehe, ist ein zwar unregelmäßiger, aber erfreulich kleiner Ausschnitt der Welt vor mir. Ich bemerke, wie mein Herz aufhört zu rasen und werde sogar noch ruhiger, als ich die klaren, scharfen Bruchkanten der nur scheinbar unregelmäßigen Struktur vor meinen Augen erkenne. Es sind Käferscherben. Käferscherben, die einen schützenden Schild um meine Augen bilden.
Scheuklappen, begreife ich. Tarena hat mir Scheuklappen angelegt, als wäre ich ein Pferd. Ich hätte das beschämend finden können. Entwürdigend. Aber ich tue es nicht. Stattdessen bin ich dankbar. Die Welt besteht wieder aus Tunneln. Aus kleinen, handhabbaren Sinneinheiten, die ich analysieren und fassen kann. Ich atme tief aus, während Tarena meinen Kopf mit sanfter Gewalt auf die Botschaft richtet, die sie in den trockenen Boden geritzt hat.
„Sicht verkleinern. Hilft gegen Weitenangst“, hat sie dort geschrieben, „Auch mein Volk kennt viele Krankheiten und Mittel dagegen. Doch diese hattest du nie. Warum jetzt?“
Das stimmt, denke ich. Früher war es anders. Noch vor kurzem. Habe ich „Weitenangst?“, Platzangst oder Agoraphobie, wie man sie auch nennt? Oder ist es mehr als das?
„Ich weiß es nicht“, antworte ich ehrlich, „aber danke dir. Das hilft.“
„Ich helfe dir, weil ich dich mag“, schreibt Tarena, „auch wenn ich nicht mehr weiß, wer du bist.“
Ich spüre, dass ihre Worte schmerzen und will etwas erwidern. Aber mir fällt nichts ein. Ich reihe gedanklich Wörter aneinander, aber mir scheint die Fähigkeit zu fehlen, zu erkennen, ob sie passen. Hilflos will ich Tarena umarmen, aber sie weicht zurück.
„Wir müssen weiter“, schreibt sie, „kannst du das?“
„Ja“, sage ich müde und erhebe mich, wobei ich meinen Blick auf die fernen Gebäude richte.
„Dorthin?“, frage ich und sehe Tarena nicken.
Dann setzen wir unseren Weg fort.
~o~
Wie ein Schiffbrüchiger, der nach Land Ausschau hält, klammert sich mein Blick an den Strukturen fest. Nach und nach werden ihre Konturen deutlicher und je deutlicher sie werden, umso mehr nimmt der tröstende Effekt ihrer Architektur für mich ab. Die Gebäude, die in einer staubigen, beinah vulkanisch anmutenden Steppenlandschaft mit aschgrauem Boden stehen, passen nicht zueinander. Es sind Versatzstücke unzähliger Kulturen, von denen selbst ich, der so viele Reisen unternommen hat, noch nicht alle kenne. Trotzdem erkenne ich genug und so sehe ich rorakische Kasernen, die in cestralische Ätherbauten übergehen, dunkelgraue, Jin-draggagische Labyrinthfragmente, die sich in deovanischen Bürotürmen verlieren, üppige Loth Nomorische Totenfestungen, die in Quin-Watschische Pilzschwammhütten münden oder Fetzen uranorscher Wolkenstraßen, die zu dornigen, rihnischen Kristallhallen führen. Doch wie auch zuvor in den Kisten auf den Dachböden, herrscht hier seltsamerweise eine sehr irdische Architektur vor, die jedoch ebenfalls keinem stimmigen Muster folgt.
Anachronistische Gaslaternen stehen vor den Fassaden von Diskotheken. Bushaltestellen schmiegen sich nahtlos an Zoos ohne Tiere oder Gäste und eine riesige Kathedrale mit an ein Casino erinnernde Leuchtreklame, gesprungen Stufen und rissigen Wänden reckt ihre spitzen Türme wie gezückte Messer in das dunkle Fleisch des Himmels.
All dieses Chaos macht mir Kopfschmerzen, stört meine Konzentration und lässt sich mehrmals die Orientierung verlieren und es ist allein Tarena zu verdanken, die gnadenlos meine Hand festhält, dass ich durch diesen Flickenteppich aus Welten hindurchgelangen kann. Völlig unmöglich ist es mir dabei, eine eigene Richtung, ein eigenes Ziel zu definieren oder gar zu verfolgen und so verspüre ich zwar ein kurzes Aufflammen von Neugier, wann immer wir die Türen oder Fenstern eines der deplatzierten Gebäude passieren, aber letztlich folge ich Tarena wie ein Frachtwagon einer Lok.
Anders als ich scheint sie genau zu wissen, wo sie hinwill und so führt sie uns zu den Treppenstufen eines U-Bahn-Schachtes, der sich ganz am Ende dieses Architekturfriedhofs in die Erde gegraben hat. Die Stufen sind so glitschig, dass ich ein paar Mal nur deshalb nicht hinabrutsche, weil Tarena mich unerbittlich festhält, während ich Andy auf ihren Schultern zirpen und schreien höre.
Doch als wir in die feuchte Umgebung hinabsteigen, erfüllt mich die Begrenzung des Horizonts mit großer Erleichterung. Die Scheuklappen haben mir zwar meine unmittelbaren Ängste nehmen können, aber ich hatte nicht vergessen, welche grauenhafte Weite hinter den dünnen Käferschalen lag.
Meine Erleichterung währt aber nur kurz. Bereits nach wenigen Schritten flutet helles, grelles Licht in den bisher dämmrigen Schacht und nach einigen weiteren Metern mündet dieser Schacht in einer eigenartigen Mischung aus Shopping-Mall, Galerie und Innenhof. Links und rechts von uns befinden sich überdachte Ladenfronten von Gemischtwarenläden, Schuhgeschäften und Supermärkten, denen Säulen gegenüberstehen, die mich kurz an Uranor denken lassen. Jenseits der Säulen befindet sich jedoch etwas, dass es hier überhaupt nicht geben sollte. Eine sandige Dünenlandschaft mit einer riesenhaften, abgerundeten Pyramide, an deren Längsseiten kleine, goldene Kugeln aufgereiht sind, die bis hinauf zur Spitze führen. Auf dieser Spitze wiederum steckt eine größere, silberne Kugel mit kleinen gläsernen Fenstern, die das Licht einer grellen, weißlichen Sonne in schier unmöglichen Richtungen und Farben reflektiert. Einer Sonne, die an einem taghellen Himmel thront. Und das alles mitten in der Nacht, über einer Pyramide, die ohnehin schon fünfmal so hoch ist, wie die Treppe, die uns hier hinuntergeführt hat. In die Pyramide führt ein offenes Tor, welches zunächst groß genug scheint, um selbst einen Gärtner aus Dank Qua hindurchzulassen, bei längerer Betrachtung jedoch auf die Größe einer gewöhnlichen Haustür schrumpft, nur um dann beim nächsten Blinzeln wieder zu wachsen.
Diese Missachtung, Beugung, ja Zerstörung der Naturgesetze erschüttert mich so sehr, dass ich mich mit aller Kraft gegen die Versuche Tarenas stemme, mich weiterzuziehen.
„Ich will dort nicht hinein. Auf keinen Fall!“, schreie ich so laut wie ein Unschuldiger, den man in eine Folterkammer führt.
„Komm!“, zischt Tarena, die sich davon nicht beeindrucken lässt und noch stärker an mir zerrt. On-Grarins-Peitsche, überlege ich. Vielleicht kann ich sie erreichen und Tarena zwingen mich loszulassen. Doch was dann? Dann wäre sie wütend und würde fortgehen und dann wäre ich allein. Vollkommen allein.
Der Vorsehung sei dank, habe ich einen anderen Einfall.
„Du hast doch Hunger“, schlage ich vor und zeige auf einen der Supermärkte, „vielleicht finden wir dort etwas.“
Dieser Vorschlag scheint ihr Interesse zu wecken. Sie lässt mich los, kniet sich nieder und schreibt etwas auf den sandigen Boden.
„Wieso denkst du das?“, fragt sie.
„In diesen Gebäuden kann man in meiner Heimat Nahrung kaufen“, erkläre ich, „ich weiß nicht, ob sie hier welche haben und ob sie genießbar ist, aber wir müssen es wenigstens versuchen.“
Tarena sieht mich nachdenklich an und blickt abwechselnd zu dem Supermarkt und zu der Pyramide, deren grundlegende Architektur ich inzwischen als bravianisch identifiziere.
„Einverstanden“, schreibt sie schließlich und ich atme erleichtert auf. Natürlich ist mir klar, dass dies lediglich einen Aufschub bedeutet, doch jede Sekunde, in der ich diese Pyramide nicht betreten muss, ist ein Segen und vielleicht fällt mir ja noch etwas anderes ein.
Wir wenden den Blick also von der schrecklichen Pyramide ab und begeben uns zum Supermarkt mit dem Namen „Glückskauf“, in dessen Inneren kein Licht brennt. Immerhin aber gibt es Aushänge mit Angeboten, deren Preise in Euro angegeben sind. Diese preisen vor allem gewöhnliche Produkte wie Brot, Bier, Soft-Drinks, Schokolade, Nudeln oder Kaffee an. Jedoch entdecke ich dort auch Bezeichnungen wie „Ritan-Saft“. „Wahkschan-Milch“ oder „Lihn-Eier“, von denen ich noch nie zuvor gehört habe. Davon zunächst ein wenig irritiert, erinnere ich mich schnell daran, dass ich in einem Multiversum lebe, wo es nicht nur viele unterschiedliche Welten, sondern auch unzählige voneinander abweichende Zeitlinien und alternative Realitäten gibt, die sich in mehr oder weniger großen Details voneinander unterscheiden. Wo ich Scharfwasser aus Konor und Früchte aus Xakraschidaa überlebt habe, wird mich ein wenig Ritan-Saft aus einer unbekannten Version der Erde wahrscheinlich nicht umbringen. Ganz davon abgesehen, dass ich mich gerade ja ohnehin nicht mit dem Gedanken anfreunden kann, irgendetwas zu essen.
Also wende ich mich der Tür zu, ziehe erst an ihr, drücke dann dagegen und stelle enttäuscht fest, dass sie verschlossen ist. Bevor ich jedoch in die Verlegenheit komme, dass Tarena mitzuteilen, entdecke ich, dass praktischerweise der Schlüssel, samt eines gut gefüllten Schlüsselbundes im Schloss steckt, drehe ihn um und öffne die Tür.
Ein abgestandener, aber nicht wirklich unangenehmer Geruch schlägt mir entgegen. Es riecht nicht nach Schimmel oder verdorbenem Essen, sondern dezent nach Holz, Lacken, Plastik und Karton. Das grelle, unnatürliche Tageslicht erleuchtet einen sauberen Kassenbereich mit Kassenbändern, einen Eingangsbereich mit mehreren Stapeln von Einkaufskörben und Reihen von sorgsam ineinandergeschobenen Einkaufswägen. Dahinter zeichnen sich erste Regale ab, die auf mich wie die Insassen einer Kältekammer wirken, die man eben erst aus ihrem tausendjährigen Schlaf geweckt hat.
Ich ziehe den Schlüssel ab und schiebe die Tür weiter auf, damit Tarena hindurchgehen kann.
„Nach dir“, sage ich zu Tarena, die mit Andy auf der Schulter eintritt. Ich aktiviere meine Taschenlampe, um ihnen den weiteren Weg zu beleuchten und ziehe die Tür hinter mir zu. Ich will den beiden folgen, dann jedoch kommt mir eine andere Idee. So leise und verstohlen wie möglich stecke ich den Schlüssel wieder ins Schloss und drehe ihn um, sodass die Tür sicher verschlossen ist, bevor ich den Schlüsselbund sorgsam in meiner Tasche verstaue.
Danach beeile ich mich zu Tarena aufzuschließen, die sich bereits mit einer Packung Cornflakes beschäftigt, auf der mich ein gezeichnetes, lächelndes, dunkelgrünes Tier mit fünf überlangen Eutern, dünnen Gliedmaßen, schmalen Augen und einer kurzen, breiten Schnauze mit dicken, abgerundeten Zähnen debil anlächelt und sich einen Löffel lachsfarbener Milch mit gewöhnlichen Cornflakes und quadratischen grauen Klumpen in den Mund schiebt. Ob das wohl ein Wahkschan ist?
„Essen?“, fragt Tarena krächzend.
„Ja“, erwidere ich und sehe ihr betrübt dabei zu, wie sie die fast perfekte, rechteckige Packung aufreißt und sich die unbekannten, trockenen Cerealien knirschend einverleibt. Ich höre meinen leeren Magen laut knurren, aber allein dieser Prozess des Kauens und Zerstörens widert mich an und so sehe ich weg, während Tarena all das gierig verschlingt, an dem unser ebenfalls hungriger Sohn kein Interesse zeigt. Tarena reißt eine weitere Packung auf und will sie mir reichen, aber ich lehne kopfschüttelnd ab und so verstaut sie sie stattdessen in ihrem Gepäck.
Während wir uns weiter durch das vollkommen leere Geschäft bewegen, tut sie dies auch mit diversen Dosen, Snacks, Süßigkeiten und Brotpackungen und Colaflaschen, probiert eine große scheibenförmige, stachelige Frucht, deren Geruch schon fast unangenehm süß ist und füttert Andy erst mit einem Schokoriegel und dann mit einem kirschroten, von grünlichen Fettsträngen durchzogenem, herb riechendem Stück Fleisch aus der einwandfrei funktionierenden Kühltheke. Blut und geschmolzene Schokolade laufen den Beiden in unordentlichen Bahnen aus dem Mund und es fällt mir immer schwerer mich ihnen noch zugehörig zu fühlen.
Währenddessen lässt Tarena die aufgerissenen Packungen einfach auf dem Boden liegen, die ich allesamt aufhebe und ordentlich zusammengefaltet in meinem Rucksack verstaue, was Tarena irritiert beobachtet, jedoch nicht kommentiert.
Nachdem ihr Gepäck und zuletzt auch mein Rucksack bis zum Anschlag mit Proviant gefüllt ist, lässt sie sich mit einem Stück des unbekannten Fleisches in der Klaue auf dem sauberen, leicht nach Putzmitteln duftenden Boden nieder und hält mir ihre Beute hin. Als ich erneut ablehne, tunkt sie ihre Klaue in das aus dem Gewebe tropfende Blut und schreibt damit auf den blank geputzten Boden, wobei sich alles in mir zusammenzieht.
„Du musst essen, Adrian“, verlangt sie, „ich weiß nicht, was mit dir nicht stimmt, aber ich will dich nicht verlieren. Wenn du das hier nicht magst, nimm dir irgendetwas anderes. Aber iss!“
Ich registriere ihre verbesserte Grammatik und Ausdrucksweise wohlwollend, doch ihrem Wunsch kann ich nicht entsprechen. Stattdessen blicke ich verlegen zur Decke hinauf, wo eine bemerkenswert tief hängende und leider nicht funktionsfähige Lampe an einem langen Kabel hinabhängt. Ich bewundere ihre perfekte, runde Struktur und folge dem Verlauf des Kabels bis zur holzvertäfelten Decke, wobei ich mir fast wünsche, selbst dort eingehen zu können.
„Antworte“, krächzt Tarena Barsch, woraufhin ich zusammenzucke und wieder zu den beiden Käfermenschen blicke, die mir mit einem Mal unglaublich fremd vorkommen. Eine Welle der Traurigkeit schiebt sich in Form von Pheromonen in meine Nase und erzeugt nur ein schwaches, fernes Echo in mir.
„Sei ehrlich zu mir“, schreibt die Käferfrau, „bist du Adrian? Hast du noch irgendetwas von ihm in dir?“
Hab ich das? Frage ich mich und suche in den gut sortierten Schubladen meines Kopfes nach einer Antwort. Bevor ich sie jedoch finden kann, höre ich ein lautes Platschen, gefolgt von einem schrillen Zirpen und Kreischen, als sich die vermeintliche Lampe wie eine glitschige, hellgraue, lebendige Decke auf Tarenas und Andy senkt.
Doch die Frau aus Xakraschidaa ist zwar überrascht, aber nicht wehrlos. Noch bevor es der organischen Membran gelungen ist, sich vollständig über ihren Körper zu stülpen, reißt sie sich los, dreht sich in einer fließenden Bewegung um und schlägt ihre Klauen in das Gewebe des Angreifers, was sogar der kleine Andy seiner Mutter gleichtut.
Die „Deckenlampe“ zieht sich zurück. Ein hoher, kaum vernehmbarer Schrei erklingt und eine Art winziges Erdbeben geht durch das gesamte Gebäude und lässt zugleich den Boden, die Decke und die Wände in rhythmischen Wellenbewegungen erzittern.
Doch schon kurz darauf schießt eine weitere „Lampe“ nach unten, der Tarena nur knapp ausweichen kann und die klebrige Abdrücke auf dem Boden hinterlässt.
„Hilf!“, verlangt Tarena und ich weiß, dass sie sich wünscht, dass ich zu On-Grarins-Peitsche greife und ihr beistehe. Und das will ich auch. Ganz ehrlich. Selbst, wenn mir diese beiden Kreaturen nun seltsam und fremd erscheinen, will ich ihnen beistehen. Aber ich schaffe es nicht, mich dazu zu bewegen die Peitsche hervorzuholen, ertrage den Gedanken nicht, diesen finsteren, tückischen, unberechenbaren Gegenstand zu berühren.
Also treffe ich eine andere Entscheidung. Schon während Tarenas Befreiungsschlag den Supermarkt zum Erzittern gebracht hatte, waren mir zwei Dinge aufgefallen: Zum einen hatte sich die Wand zu meiner Rechten als einzige nicht bewegt und zum anderen gibt es dort eine weitere Tür, die vermutlich entweder zu einem Personalbereich oder einem Lagerraum führen muss. Dort – das weiß ich – muss ich hin.
„Kommt mit!“, rufe ich Tarena halbherzig zu, während ich auf die Tür zurenne, die mir weitaus näher ist, als die Eingangstür.
Tarena versucht tatsächlich mir zu folgen. Doch in diesem Moment senken sich gleich acht der „Deckenlampen“, die mich nun von ihrer Form eher an außerirdische Rochen erinnern, von der Decke hinab, um nach uns zu greifen. Noch einmal gelingt es Tarena knapp, dem hinterhältigen Angriff zu entgehen, aber dafür muss sie sich weiter von dem von mir ausgemachten Fluchtweg entfernen.
Auch mich versuchen die Deckengreifer zu treffen, doch es gelingt mir, ihre Bewegungen so mühelos und präzise vorherzusehen, als wären sie auf dem Boden vorgezeichnet. Nicht einer von ihnen gelangt auch nur in meine Nähe.
Tarena liegt derweil auf dem Boden und stemmt sich wieder hoch. Andy hält sie dabei fest in ihren Armen. Sie wird ganz sicher auf die Eingangstür zustreben. Auf die Tür, die ich verschlossen habe. Ich erwäge kurz, ihr den Schlüssel zuzuwerfen, doch die Schlüssel sind allesamt untrennbar mit dem Schlüsselbund verbunden und den brauche ich unbedingt selbst.
Noch einmal sehe ich zu den beiden hinüber. Tarena macht eine auffordernde Geste, will, dass ich mich ihr anschließe, doch stattdessen weiche ich mit einem beiläufigen Seitwärtsschritt einer weiteren Attacke eines der Lampenwesen aus, strebe auf die Tür zu und lasse meine Gefährten – meine Familie – in ihr Verderben rennen.
Ein Blick auf das Türschloss und ein weiterer auf den Schlüsselbund genügt, um zu erkennen, welcher der passende Schlüssel ist. Ich wähle ihn aus, stecke ihn ins Schloss, öffne mühelos die Tür und schlüpfe hinein. Das Licht der Taschenlampe enthüllt tatsächlich einen Lagerraum. Er ist muffig, alt, leer und staubig und so trocken wie die Wüste mit leeren, aber rostfreien Metallregalen und einigen genauso leeren Holzkisten. Nichts in diesem Raum erinnert auch nur im Entferntesten an die Hochglanz-Supermarktfalle dort draußen. Denn ja, das hier ist eine Falle, die irgendetwas aufgestellt hat, das auf unachtsame Wanderer aus war. Wer oder was es ist, weiß ich nicht. Aber ich ahne, dass es diesen ganz realen und massiven Lagerraum ausgewählt hat, um daran anzudocken. Um sich um ihn herum häuslich einzurichten, wie eine Koralle, die einen Stein überwächst. Doch was immer dies für ein Geschöpf ist, es kann oder will nicht hier hinein.
Von Draußen höre ich Tarena wütend zirpen und kreischen, die nun ganz sicher bemerkt hat, dass ich die Tür abgeschlossen habe. Gut möglich, dass auch der Schlüssel nicht in der Lage wäre sie zu öffnen. Im Grunde hat es ja nie eine solche Tür gegeben, genauso wenig wie die Dinge, die Tarena und Andy gegessen haben, wirkliche Nahrung gewesen waren. Vielleicht hätte der Schlüssel sie aber doch retten können. Immerhin scheint die Kreatur, die diese Falle gestellt hat, gewissen Gesetzten und Beschränkungen zu unterliegen. Andernfalls hätte sie uns nicht nur von der Decke aus angegriffen.
Ich höre, wie Tarenas Schritte wieder näherkommen. Sie versucht nun doch zu dieser Tür zu gelangen. Ich überlege, ob ich ihr öffnen soll, falls sie es schaffen und hier klopfen sollte. Ja, entscheide ich. Dann bin ich nicht mehr so schrecklich allein. Langsam erhebe ich mich und gehe ein paar Schritte auf die Tür zu.
Dann jedoch halte ich inne. Ich höre eine andere Art von Schrei. Nicht wütend, sondern entsetzt und verzweifelt. Erst ein lauter, großer, dann ein höherer, spitzerer. Selbst in diesem scheinbar sicheren und gut abgedichteten Raum glaube ich die passenden Pheromone riechen zu können: Schwer, düster, stechend, erstickend.
Ich spüre, wie mir die Tränen kommen. Wie sie mein Innerstes aufwühlen und in Unordnung bringen. Wie sie die Schubladen herausreißen und zersplittern, Regale einstürzen lassen und Karteikarten verbrennen. Dann erklingt ein dröhnendes, schlürfende Schmatzen gefolgt von endgültig anmutender Stille. Ich fühle mich schrecklich. Widerlich. Hilflos. Schwach. Ich beginne meinen Körper zu bewegen. Vor und zurück. Vor und zurück. Wie ein Pendel. Wie ein Pendel. Wie ein Pendel.
Der kleine Raum wirkt plötzlich riesengroß. Trotz der Scheuklappen. Trotz seiner eigentlich geringen Ausmaße. Er ist so leer. So leer wie dieser gesamte Ort. So leer wie das Multiversum. So leer wie meine Brust. Etwas fehlt. Etwas fehlt. Etwas Wichtiges fehlt.
Ich blicke zur Tür. Ich weiß, ich sollte sie öffnen. Doch sie ist mein Damm gegen die Flut und kein Schiffbrüchiger würde die Wassermassen in sein Rettungsboot hineinlassen.
Stattdessen nehme ich den Katalog heraus, wobei ich in einen schmierigen Haufen weiß-grauen Staubs greifen muss, der sich noch vor kurzem als Supermarktnahrung getarnt hatte. Mein Katalog ist so dreckig. So zerknittert und mitgenommen. So zerwühlt und vollgekritzelt, ich kann ihn kaum ansehen. Das hier, realisiere ich, ist mein Leben. Mein verfluchtes, fleckiges, aufgeschwemmtes Leben. Alles zerlebt, alles verpfuscht. Und am Ende noch eine Seite. Schwarz und jungfräulich wie die Nacht. Doch ich tauche nicht hinein.
„Wohin du auch gehst, du nimmst dich selbst mit“, höre ich mich selbst sagen, „und dann lässt du etwas zurück. Lässt noch etwas zurück. Immer wieder und wieder. Bis nichts mehr übrig ist.“
Nein, denke ich, ich reise nicht. Ich schreibe. Schreibe alles auf. Reihe Buchstaben aneinander und errichte damit eine Blutmauer gegen die Stille, bevor sie meine Ohren und mein Herz zerfrisst.
~o~
Zumindest die Strecke, die Karmon zu Fuß zurücklegen musste war nicht lang. Dennoch war sie lang genug, um uns zu zeigen, woher die schlechte Luft kam, die das Invisible Land verpestete. Wir beschritten die hellere, mit Werbebotschaften erleuchtete Gasse, deren Glanz sich jedoch als trügerisch und oberflächlich erwies. Zwar gab es dort diverse Läden, die offenbar Essen, technische und biologische Implantate, Drogen und Waffen anboten. Sowie medizinische Dienstleistungen wie die von Nida erwähnten Extraktionen. Jedoch waren schon diese Läden oft in keinem sehr vertrauenerweckenden Zustand und was auf diese kleine Ladenzeile folgte, deren wenige Besucher uns zumeist so gut wie möglich aus dem Weg gingen, war noch übler.
Man hätte es als Müllkippe bezeichnen können, aber es war eigentlich eher ein vier Meter hoch aufgetürmtes Meer aus Müll, welches notdürftig von stabilen, aber luftdurchlässigen Zäunen geteilt wurde, damit man es überhaupt durchqueren konnte. Die Zäune und die Bodenplatten wiesen zudem praktisch bei jedem Schritt darauf hin, wem man diese gnädige Passage zu verdanken hatte, nämlich der Firma „Last Step Consumption“.
Diese schien die gewaltigen Müllmengen jedoch nicht nur zu lagern, sondern auch anderweitig zu nutzen. Alle paar Meter nämlich waren Tore in den Zaun der Müllkippe eingelassen, die die Möglichkeit anpriesen für nur zehn Dominanten eine Viertelstunde auf der Müllkippe nach „Schätzen“ zu fischen. Da wir über uns gelegentlich verschmutzte, gebückte Gestalten sehen konnten, die in dem Unrat herumstocherten, schien das Angebot für die Anwohner verlockender zu sein, als ich es für möglich gehalten hätte.
„Warum wird der Müll nicht verbrannt oder recycelt?“, fragte Karmon Enry, der gelegentlich seinen Schirm drehte und damit die üblen Düfte zielsicher von sich weg und in Karmons Gesicht hinein beförderte, „wäre das nicht sauberer und effizienter?“
„Oh, mit dem besseren Müll geschieht das“, sagte Enry, „in Deovan verschwenden wir keine Ressourcen, solange sich die Aufbereitung lohnt. Aber was hier liegt ist so nutzlos und minderwertig, dass die Verarbeitungskosten weit höher wären, als der Gewinn. Den Abfall einfach hier liegenzulassen ist günstiger und dient auch noch einem sinnvollen Zweck: Die Have-Nons, die sich noch nicht ganz aufgegeben haben, können den Müll nutzen, um an ihrem Traum von einem besseren Leben zu bauen und der Rest verrottet auf natürliche Weise.“
Es ließ sich unmöglich sagen, ob sich der letzte Teil des Satzes auf den Müll oder die Menschen bezog. Falls seine Aussage sarkastisch gemeint war, besaß der Geber jedenfalls den trockensten Humor, den ich je erlebt habe.
„Sie können froh sein, dass ich bei Ihnen bin“, fügte Enry hinzu, „die Nutzung dieses Weges ist nur für Kunden von LSC kostenlos. Passanten zahlen für die Passage einen kleinen, sekündlichen Betrag, der gerade konstant von meinem Konto abgebucht wird. Ohne Dominanten hätten Sie das Invisible Land also ohnehin nicht verlassen können. Sie können mir also wirklich äußerst dankbar sein“, sagte Enry.
„Ein wahrer Wohltäter dein neuer Chef, was?“, stichelte ich gegenüber Karmon, der jedoch nicht darauf antwortete.
Wir folgten der Müllschneise, die mich ein wenig an die tiefen Gassen erinnerte, nur dass ihr jegliche Mystik fehlte, noch eine Weile, bevor wir auf einen riesigen Parkplatz kamen, auf dem verschiedene Fahrzeuge und Fluggeräte auf mit Ziffern gekennzeichneten und von mit knisternder Elektrizität eingezäunten Flächen standen. Die Vielfalt war unglaublich. Manche der Fahrzeuge ähnelten den Autos aus meiner Welt, auch wenn sie teils futuristischer, teils aber auch altmodischer und klobiger wirkten und neben Rädern oft auch Ketten, Beine, Luftkissen, Energiefelder und andere Vorrichtungen zur Fortbewegung besaßen.
Die meisten dieser Fahrzeuge waren in schlichtem weiß, schwarz, grau oder dunkelblau gehalten. Andere Gefährte jedoch erweckten den Eindruck, als hätten ihre Designer sich zugleich von Mad Max, Steampunk und Disneyland inspirieren lassen. Auf manchen waren Klingen, Ketten, Schusswaffen, Bohrer und Dornen anmontiert worden, andere besaßen geöffnete Raubtiermäuler, Reifen von schätzungsweise zwei Metern Höhe, sowie schräge oder spiralförmige Karosserien. Auch mit glänzendem Metall, Edelsteinen, spiegelnden Oberflächen, Schriftzügen und Slogans wurde nicht gegeizt. Die meisten Fluggeräte machten dabei einen nicht weniger bizarren Eindruck. Jeder TÜV-Mitarbeiter aus meiner Welt hätte bei diesem Anblick einen Nervenzusammenbruch erlebt. So etwas wie Verkehrsregeln schien es in Deovan einfach nicht zu geben.
Der Parkplatz war größtenteils verlassen, abgesehen von einem männlichen, etwas desorientiert wirkenden Deovani mit wild abstehenden, strohblonden Haaren, der zielstrebig auf uns zukam.
Als er uns erreicht und seine großen, entzündet wirkenden Augen uns wie Suchscheinwerfer erfasst hatten, begann er zu sprechen.
„Urimba Durboots sind widerstandsfähiger als alle anderen Schuhe. Damit laufen Sie problemlos über Feuer, Nägel, kochenden Stahl, Säure und Glassplitter. Dabei sind sie ungemein kleidsam und machen gegenüber jedem Geschlechts- und Geschäftspartner eine hervorragende Figur. Gehen Sie noch heute zu unserer neuen Filiale in den Mittelmärkten und sichern sie sich den unglaublichen Eröffnungsrabatt von zehn Prozent.“
Trotz seiner profanen Botschaft, weinte er bei diesen Worten fast, ob vor Freude oder aus Verzweiflung, ließ sich nicht eindeutig sagen.
„Was stimmt mit diesem Mann nicht?“, fragte Karmon.
„Ein Werbeträger“, erklärte Enry, „manche von ihnen bieten nur ihre Träume und Gedanken als Werbefläche an. Das bringt aber nicht viel Geld, das es ja nur ihr persönliches Kaufverhalten beeinflusst. Dieser hier ist hingegen All-In gegangen. Die Anzeigen nutzen seine Motorik und sein limbisches System. Die Meisten sind nach der Erfüllung einer solchen Vereinbarung völlig ausgebrannt, aber haben wenigstens ein paar mehr Dominanten auf dem Konto.“
Der Mann kam noch ein Stück näher. Seine schmutzigen, nackten, zerschnittenen Füße bewiesen, dass er das von ihm angepriesene Produkt wohl am nötigsten gehabt hätte, aber der Identifier auf seinem Arm bewies, dass er sich das niemals würde leisten können.
Der Werbeträger ergriff Karmons Arm. „Kaufen Sie, edler Mann“, verlangte er mit einem Tonfall, der irgendwo zwischen Flehen und Befehl angesiedelt war, „kaufen Sie noch heute und geben Sie Ihren Füßen, den Schutz, den sie verdienen.“
„Nein, Danke!“, sagte Karmon und blickte unwillkürlich auf seine stahlähnlichen Fußkrallen.
Der Mann wandte sich weinerlich vor sich hin murmelnd ab und ging stattdessen auf Enry zu. „Gute Geschäfte, edler Nehmer. Sie sehen wie ein Mann aus, der exzellentes Schuhwerk zu schätzen weiß und …“
Enry klappte in einer fließenden Bewegung seinen Schirm zu, zückte eine kleine, weiße Waffe und schoss dem Mann wie beiläufig in den Kopf. Dieser fiel sofort auf den Asphalt und seine Botschaft verstummte.
„Keine Sorge“, sagte Enry als er Karmons erstaunten Blick bemerkte, „das bringt uns nicht in Schwierigkeiten. Ich habe eine Mordversicherung abgeschlossen. Sie kostet mich jeden Monat eine Stange Geld, aber sie ersetzt dafür automatisch alle Kosten, die durch das von mir verursachte Ableben einer anderen Person anfallen. So muss ich mir keine Gedanken mehr darüber machen, wen ich töte. Das ist ungemein entspannend.“
Mit diesen Worten stieg er über den Leichnam des Mannes hinweg und ging zielstrebig weiter.
„Wir dürfen uns diesem Typen nicht unterwerfen“, flehte ich Karmon an, „so einen kalten, skrupellosen Wichser habe ich lange nicht mehr gesehen. Der schmeißt uns einfach weg, wenn er uns nicht mehr braucht.“
„Er braucht mich“, entgegnete Karmon ruhig, wobei er das letzte Wort besonders betonte, „ansonsten hätte er mich nicht verpflichtet. Alles andere wird sich zeigen.“
„Was ist nur aus dir geworden mein Freund?“, fragte ich verzweifelt.
„Ein eigenständiges Wesen“, antwortete Karmon hart, jedoch glaubte ich ein kurzes Zögern in seinen Gedanken zu hören, so als wäre ein Teil von ihm ebenfalls entsetzt über seine Entwicklung.
Inzwischen war Enry vor einem Gefährt stehen geblieben, welches eindeutig eher zur bizarren, als zur eleganten Fraktion gehörte. Es war eine Art Cabrio, wobei die Karosserie an einen geöffneten Schädel erinnerte. Passend zu diesem Thema besaßen die vier Sitze, wie auch die Armaturen eine hirnartige, glänzende Textur. Die vier Reifen des Wagens waren zwar nur etwa einen Meter hoch und einen halben Meter breit, aber aus ihren Felgen ragte jeweils eine umgestülpte Version von Enrys Schirm mit scharfen Klingen und Spitzen an den Enden. Während die Räder jeweils am vorderen und hinteren Ende des etwa acht Meter langen und vier Meter breiten Gefährts angebracht waren, gab es dazwischen auf jeder Seite zwei Aussparungen, in denen Deovani befestigt waren, die sich von ihren Artgenossen dadurch unterschieden, dass sie keine Hände und dafür vier Füße besaßen. Außerdem schien ihre Haut mit dem Metall der Karosserie verwachsen zu sein, während in ihre Münder breite, transparente Schläuche hineinragten, die zu einer purpurfarbenen, pulsierenden Kugel führten, welche sich am Heck des Fahrzeugs befand.
An den Seiten und am vorderen Teil des Wagens war der Schriftzug „Enrytainment“ angebracht, zusammen mit einem Logo, welches den lächelnden Kopf eines Deovani zeigte, in dessen Augen Nadeln steckten.
Als sich Enry dem Fahrzeug näherte, öffneten sich die seitlich angebrachten Türen automatisch und ließen zwei kurze Treppen hinab.
„Willkommen im Enrymobil“, jauchzte Enry vergnügt.
„Wie fährt dieses Fahrzeug?“, fragte Karmon und zeigte auf die abenteuerliche Antriebskonstruktion.
„Eigentlich sollte ich dir deine vielen Fragen berechnen“, meinte Enry, „aber da du mir eh schon gehörst, würde das wahrscheinlich nicht viel Sinn ergeben.“
Enry schnalzte laut mit der Zunge und streichelte mit seiner Hand über die bleiche, hautfarbene Karosserie, „das Fahrzeug wird natürlich von meinen Angestellten betrieben, die Sie hier sehen können. Dank einiger Verbesserungen können sie wirklich sehr schnell laufen und ihr Energiebedarf wird über Geflechtenergie gedeckt, die direkt in ihren Organismus fließt.“
Es ekelte mich an, aber wunderte mich nicht mehr, dass der Deovani seine Fortbewegung auf dem Rücken anderer sicherstellte. Aber dass die Deovani in der Lage waren Energie von jener seltsamen Ebene zu nutzen, von der ich erstmals in Uranor erfahren hatte, überraschte mich. Irgendwie war es schwer mit der kalten, technokratisch anmutenden Art seines Volkes in Einklang zu bringen. Andererseits gab es hier ja auch Orte wie die tiefen Gassen, die nicht minder magisch und mysteriös waren.
„Das scheint mir sehr ineffizient“, meinte Karmon, „warum leiten Sie diese Energie nicht direkt in die Räder? Was soll dieser Umweg?“
„Effizienz ist nur ein leeres Wort, ohne ein Ziel. Und dieses Ziel, ist mein eigenes Vergnügen“, erklärte Enry grinsend, während er die Treppe auf der Fahrerseite hinaufstieg und Platz nahm. Dann jedoch verschwand sein Lächeln. „Doch dieser Ort bereitet mir kein Vergnügen und deshalb wird es Zeit zu verschwinden. Leute, die rumstehen, bringen mir kein Geld ein.“
Plötzlich ging ein Ruck durch Karmons Körper, die Armbänder leuchteten auf und der Kwang Grong bewegte sich wie von selbst auf den Beifahrersitz, wo er wie eine Puppe hineingepresst wurde.
„Fühlt sich so ein eigenständiges Wesen?“, fragte ich Karmon sarkastisch, während sich das absurde Gefährt in Bewegung setzte.
Der Kwang Grong antwortete mit Stille. Doch sein unbändiger Zorn, der ausnahmsweise nicht mir galt, war mir Antwort genug.
~o~
„Und diese hier scheint mir am besten geeignet für den Einsatz als Typ-3-Kraft“, sagte Disruptor Yonis und zeigte dabei auf Garwenia, die etwas vor sich hinmurmelte, da der Wissenschaftler die Starre der unfreiwilligen Angestellten gelöst hatte, um ihren psychischen Zustand besser beurteilen zu können. „Die Räder des Morgens ziehen uns in ihren Bann. Der ewige Himmel saugt an uns, oh mein Dra-Daun, ist es nicht Zeit sich zu ergeben?“
„Ihr Verstand ist schwer zerrüttet, aber selbst für eine Bravianerin hat sie eine außergewöhnliche Konstitution und Widerstandsfähigkeit, von der sie als Bleigeweihte ganz sicher profitieren wird.“
Sandra blickte der Frau direkt in die vom Wahn umwölkten Augen. Yonis hatte recht. Selbst in dem hier versammelten Haufen zeichnete sich Garwenias Wahnsinn durch eine besondere Realitätsverleugnung aus. Und doch sperrte sich etwas in ihr dagegen sich seinem Urteil anzuschließen. Sie hatte ungerührt dabei zugesehen, wie Yonis die anderen neunzehn Träumenden aus Uranor mit kalter Analytik eingeschätzt, einsortiert und Sandra entsprechende Vorschläge unterbreitet hatte. Sandra war jedem davon gefolgt. Das Schicksal dieser Personen als Ganzes war ihr zwar nicht völlig gleichgültig, aber sie bedeuteten ihr nicht genug, um sich deshalb offen gegen Kollom aufzulehnen und ihr eigenes Leben dabei zu riskieren. Alles andere war lediglich ein Nullsummenspiel, bei dem sie nur eine Ungerechtigkeit gegen die andere eintauschen konnte. Bei Garwenia jedoch lagen die Dinge anders. Sie kannte diese Frau nicht. Aber sie kannte ihre Geschichte. Sie wusste, was sie durchgemacht hatte und das Adrian, zu dem sie inzwischen eine Art kühle Hassliebe hegte, darin keine kleine Rolle gespielt hatte. Auf gewisse Weise machte sie das zu Schwestern, was natürlich nüchtern betrachtet Schwachsinn war, sich aber nun mal genau so anfühlte.
„Nein!“, widersprach Sandra so selbstbewusst wie sie konnte, „sie wird eine Typ-1-Mitarbeiterin.“
Yonis sah sie an, als hätte man ihm vor die Schuhe gekotzt. Offenbar war er es nicht gewohnt, dass man sein Urteil infrage stellt. So viel also zum Thema „Leiterin der Wissenschaftsabteilung.“
„Entschuldigung?“, sagte Yonis überheblich. Seine Münder – alle drei – lächelten ungerührt weiter, aber seine großen, lidlosen Augen blickten sie herausfordernd an. Sandra blinzelte zwar – in dieser Hinsicht ließ ihr ihre Biologie keine Wahl – aber sie hielt seinem Blick stand.
In ihrem Rücken spürte sie außerdem die Blicke der Söldnerin, die es anscheinend genoss, hier etwas Interessantes geboten zu bekommen.
„Sie haben mich richtig verstanden!“, antwortete Sandra energisch, die ihr Selbstbewusstsein nun nicht mehr schauspielern musste. Sie hatte es noch nie gut ertragen können so behandelt zu werden. Jedenfalls nicht, wenn ihr eine Wahl blieb.
„Mit welcher Begründung stellen Sie mein Urteil infrage?“, wollte Yonis in lauerndem Tonfall wissen, wobei er leise und bedächtig sprach, fast wie ein flüsternder Wahnsinniger.
Sandra ließ sich nicht einschüchtern. „Ich weiß zufällig, dass sie ursprünglich eine sehr hohe Intelligenz besessen hat. Das können sie auch ihren Worten entnehmen. Das ist kein verstümmeltes Gestammel wie bei den Anderen. Sie entspringen vielmehr einer verborgenen Genialität. Mag sein, dass der Aufwand sie wieder mit der Realität zu verbinden, etwas höher ist als bei den anderen, aber es wäre eine Investition, die sich lohnt.“
„Eher nicht“, sagte Yonis mit einem ekelhaft milden Lächeln, welches nur sein Hauptgesicht erreichte, während die anderen beiden eine sehr grimmige Mine zeigten, „der Aufwand wäre sogar bedeutend höher und das mit ungewissen Erfolgsaussichten. Wenn ich es mir erlauben dürfte, würde ich darauf bestehen, dass …“
„Dass dürfen Sie nicht“, widersprach Sandra schneidend, „ich bin Ihre Chefin und wie Sie bereits selbst gesagt haben, ist es mein Job, Entscheidungen zu treffen. Das hier ist eine davon!“
Für einen Augenblick sah Yonis Sandra nur schweigend an und alle seine Gesichter schlossen die Augen, so als müssten sie nachdenken. „Ara?“, sagte der Disruptor schließlich vollkommen ruhig, „währen Sie so freundlich uns kurz alleine zu lassen.“
Sandra blickte kurz zur Söldnerin herüber, die ein wissendes Lächeln sehen ließ und dann auf die Tür zuging, durch die auch Kollom verschwunden war.
„Bleiben Sie hier!“, verlangte Sandra, aber Ara ging ungerührt weiter und verließ den Raum.
„Sie gehört zum Sicherheitsdienst“, sagte Yonis, „der untersteht Ihnen nicht.“
„Ach ja?“, antwortete Sandra, „aber Ihnen etwa?“
„Nein“, antwortete Yonis, „das war lediglich eine Bitte von mir an an Geber Ara. Aber Ara kennt mich schon länger. Sie weiß, dass es besser ist meinen Bitten nachzukommen.“
Als er diese letzten Worte sprach, wurde seine Stimme dunkler und Sandra hatte den Eindruck, dass dies auch für die Beleuchtung des Labors galt und für die drei Gesichter, die Yonis trug und die allesamt einen verärgerten Ausdruck angenommen hatten. Seine Augenbrauen verengten sich und seine Mundwinkel wanderten so weit nach unten, dass es beinah grotesk wirkte. Doch das war nicht das einzige, was ihr seltsam vorkam. Sie war sich auch fast sicher, dass die beiden seitlichen Gesichter des Disruptors ihr Aussehen gewechselt hatten.
„Sie können mich nicht einschüchtern“, sagte Sandra tapfer und schnürte die Angst, die der Anblick des Wissenschaftlers in ihr auslöste, in einer kleinen, gut verborgenen Kapsel ab, die sie tief in ihrer Seele versteckte, so wie sie es in Konor gelernt hatte, „egal was für Grimassen Sie schneiden.“
Für einige Sekunden blieb die wohlbeleibte Gestalt des Disruptors wie eingefroren stehen. Dann löste sie sich explosionsartig auf wie bei einem zu eng geschnürten Paket. Sein dicker Hals teilte sich in drei Teile und seine flachen Gesichter lösten sich mit einem schmatzenden Geräusch von seinem Kopf. Stattdessen ragten sie nun an dünnen, hautfarbenen, grau geäderten Fleischschläuchen empor, wie die Maskerade eines Schauspielers, während in seinem Restkopf nun große, feuchtglänzende Lücken klafften, in denen sich drei Reihen von dünnen scharfen Zähnen bewegten wie der Wellengang in einem Aufklappbuch für Kinder. Aus seinem vermeintlich dicken Bauch schoben sich unter seinem Kittel dutzende von fahlen, dreifingrigen Händen gekrönte, mehrgelenkige Arme, die zwar dürr, aber an den Gelenken unnatürlich verdickt waren und die sich überall im gesamten Labor verteilten. Einige dieser Hände kamen Sandra sehr nah, ohne sie jedoch direkt zu berühren. Andere stießen gegen die Wände und die Decken und rissen diese auf.
Das zumindest dachte Sandra zunächst. Dann jedoch erkannte sie, dass sie nicht das Material selbst zerrissen, sondern lediglich kleinere und größere Öffnungen in der Luft davor schufen, die einen Blick auf lechzende, gierige Fratzen aus weißen Schatten und scharfen Linien eröffneten. Und auf verzerrte, aufgeblähte Versionen ihres Vaters, ihrer Mutter und sogar von Elyvenne, die ihr allesamt obszöne, widerliche Angebote mit ihren deformierten, klumpigen Körpern machten und sie dazu einluden sich mit ihnen zu vereinigen. Trotz ihrer lasziven Gesten und Bewegungen, trotz der lüstern präsentierten Brüste und Geschlechtsteile waren ihre Gesichter erfüllt von Grauen, Resignation und Schmerz. Natürlich nahm Sandra an, dass es sich dabei um Trugbilder handelte, doch trotz ihrer Hässlichkeit waren die Gesichter der drei so detailliert, so glaubwürdig nachgebildet, dass ein Teil von ihr fürchtete, dass genau so das wahre Jenseits aussah. Eine ewige, freudlose Orgie der Traurigkeit und Leere, von der auch sie nun ein Teil werden sollte, wenn es nach dem Willen ihrer Erzeuger und ihrer ehemaligen Geliebten ging. Das alles geschah binnen weniger Sekunden, bevor der Kopf des Disruptors vorschoss und sich ihrem Gesicht bis auf fünf Zentimeter näherte. Seine triefenden, großen Augen erfüllten ihr Blickfeld wie saugende Spiegel und der fleischige, würzige Geruch, den Yonis verströmte, folterte ihre Nase.
„Ich treffe hier die Entscheidungen, Mensch!“, drohte er, „ich bin älter, als die Hälfte von allem, was existiert und es ist mir völlig egal, was für einen unreifen Schlüpfling mir Kollom vor die Nase setzt. Ich bin der Herr in diesem Labor.“
Disruptor Yonis war es gewohnt, dass schwächere und jüngere Lebewesen vor seinem wahren Anblick entsetzt waren, ja in manchen Fällen sogar den Verstand verloren. Auch Sandra hatte Angst vor ihm. Entsetzliche Angst. Aber eines konnte Yonis noch nicht wissen: Sandra war eine Fortgeschrittene. Sie hatte die verpesteten Küsten Itsch Zingtschars gesehen, Andradon bereist, die Maschinengärten durchschritten, war im gnadenlosen Konor bis an die Spitze aufgestiegen und hatte sich den Laarmaschk, dem Geistspiegel, dem Allrichter und den Rilandi in den Weg gestellt. Macht – selbst im uralten, kosmischen Maßstab – war ihr vertraut. Sandra hatte Angst. Aber diese Angst beherrschte nicht ihr Wesen. Nicht hier, jenseits des unüberwindbaren Codegefängnisses von Kolloms Manifestor. Keine Schwäche zeigen, sagte sie gedanklich zu sich selbst und verbot ihren Muskeln, die nichtsdestotrotz einen Rückzug vorbereiten wollten, sich zu bewegen.
„Du magst ein Monster sein, Yonis“, sagte Sandra vollkommen ruhig, „doch wir sind beide immer noch Lohnsklaven von Kollom Nehmer und in dieser Hierarchie stehe ich über dir. Also pack deine Gliedmaßen wieder ein und befolge gefälligst die Anweisungen, die ich dir gab.“
„Was fällt dir ein?“, grollte Yonis, „ich könnte deine Seele fressen, Mensch. Alles in dir zerreißen und vernichten.“
Die Wut, die seinen Kiefer wie eine Schnappfalle öffnete, entblößte ein Gebiss, welches zeigte, dass er nicht alleine ihre Seele würde zerreißen können.
„In mir ist nicht mehr viel, was du vernichten könntest, Yonis“, erwiderte Sandra abgeklärt, „außer meiner Selbstachtung. Und die wirst du mir nicht nehmen. Töte mich, wenn du willst, aber wenn du mächtig genug wärst, um das folgenlos zu tun, würdest du nicht für einen Deovani arbeiten und wie ein gruseliger Schoßhund in seinem Labor hocken. So langsam reicht es mir mit diesem Theater. Wir haben Arbeit zu verrichten.“
In Yonis Augen glühte Hass. Tiefer, brodelnder Hass aus einer Quelle, die so tief lag, dass die meisten sie niemals erreichten. Für einen kurzen Moment glaubte Sandra, dass Yonis sie einfach auf der Stelle verschlingen würde. Dann jedoch zog er seine Gliedmaßen und Gesichter wieder zurück und vereinigte sich in der Gestalt jenes dicklichen Wissenschaftlers, als den sie ihn kennengelernt hatte. Und die Trugbilder – oder Wahrheiten – die er hervorgerufen hatte, verschwanden ebenfalls. „Kollom hat gut gewählt“, sagte Yonis lachend, „du hast wirklich Mut“.
Seine Worte wirkten entspannt und fast freundlich dahin gesagt, aber Sandra war nicht so dumm zu glauben, dass sie gewonnen hatte. Er mochte seine eigene Machtlosigkeit hinter einem Lachen verbergen, um sich keine Blöße zu geben, aber sollte sie sich je außerhalb dieses Bürogebäudes bewegen, würde sie sich in jeder dunklen Gasse gut umblicken müssen.
„Werden Sie also meine Entscheidung anerkennen?“, fragte Sandra in dem Versuch das Gespräch wieder auf eine förmlichere Ebene zu ziehen.
„Ja“, sagte Yonis knapp, „ich hoffe wirklich für Sie, dass sie zum Erfolg führen wird. Kollom ist nicht sehr gnädig mit Versagern.“
Sandra dachte an Schaufel und wusste, dass er damit wahrscheinlich recht hatte.
„Das muss nicht Ihre Sorge sein“, entgegnete Sandra forsch.
„Vielleicht nicht“, sagte Yonis, der ihr, nun, da sie seine wahre Gestalt kannte, nicht sympathischer geworden war, „Aber Sie haben noch für etwas zu sorgen. Nämlich für einen Ersatz für die Bravianerin. Wer hat an ihrer Stelle die Ehre, den Rest seines Lebens als Bleigeweihter zu verbringen?“
Diese nüchterne Feststellung setzte Sandra mehr zu, als die Horrorshow, die Yonis gerade eben abgezogen hatte. Ihr Blick glitt über die Gesichter der Flüchtlinge aus Uranor und sie bemerkte, dass aus diesen fremden, namenlosen Körpern mit jeder Sekunde mehr und mehr Individuen zu werden begannen, von denen kein einziger eine solche Existenz verdiente. Doch bevor diese Erkenntnis Sandras zwar hartes, aber noch nicht versteinertes Herz zersprengen konnte, wandte sie ihren Blick ab, atmete tief durch und rief sich zur Ordnung. Das hier war nur ein Job, sagte sie sich. Und sie musste ihn erledigen, ob sie wollte oder nicht. Sie konnte sie nicht alle retten und ohnehin war es hier am wichtigsten sich selbst zu retten. Als sie den Kopf wieder hob, war ihr Blick rein analytisch geworden. Ihr Kopf ging die Fakten und Einschätzungen durch, die Yonis ihr zu jedem der Flüchtlinge gegeben hatte, machte Kosten- / Nutzenrechnungen auf und versuchte zu ermitteln, welche Entscheidung für sie das geringste Risiko bedeuten würde. Mit anderen Worten: Sie dachte vollkommen deovanisch.
„Karvin“, sagte sie. Karvin war ein sehr zarter, aber auch äußerst flinker Pflanzenmann, der neben Garwenia der einzige war, dessen Namen sie kannte, weil er ihn immer wieder gerne wiederholte, wenn man ihn ließ, „seine Geschwindigkeit wird den Mobilitätsverlust durch seine Umwandlung kompensieren.“
„Das könnte sogar funktionieren“, gab Yonis zu, „ich werde die Kammer vorbereiten.“
~o~
Als Kollom den Konferenzraum betrat, fühlte er sich plötzlich gar nicht mehr so kriegerisch und verwegen, wie noch auf dem Gang. Und das war kein Wunder. Alles hier war darauf ausgelegt jeden Neuankömmling einzuschüchtern.
Der Raum war leicht abschüssig angelegt, so dass Torvilla, die als zweitgrößte Teilhaberin mit einem Aktienanteil von 21,45 % am Kopf des runden Konferenztisches stand, Kollom um ein ganzes Stück überragte. Dass sie stand war kein Zufall. Das taten alle anwesenden Aufsichtsratsmitglieder, das dies im Unternehmen lange Tradition hatte. Und wie bei alle Traditionen, die es geschafft hatten Einzug in ein deovanisches Unternehmen zu finden, gab es gute Gründe dafür. Auf diese Weise sollte sichergestellt werden, dass der Aufsichtsrat zu schnellen und effizienten Entscheidungen gelangte und es sich niemand zu bequem machte und den Raum zur Selbstdarstellung nutzte. Natürlich funktionierte das in einem Raum, der bis zur Decke mit monströsen Egos vollgestopft war nur bis zu einem gewissen Punkt. Der andere Grund hierfür war jedenfalls die bereits erwähnte Einschüchterung.
Deshalb war sein Platz auch am niedrigsten Punkt des Tisches. Dadurch sollte eine Art Ausgleich zwischen ihm und den Minderheitseignern geschaffen werden. Quasi die deovanische Version von flachen Hierarchien. Auch dieser Effekt glitt an normalen Tagen recht wirkungslos an Kollom ab, doch heute war kein normaler Tag. Heute war der Tag, an dem er mit tiefen Wunden in ein Haifischbecken sprang.
„Gute Geschäfte, Nehmer Kollom“, begrüßte ihn Nural Nehmer. Der blasse Mann, dessen Kopf so überdimensioniert groß wirkte wie sein streichholzdünner Leib zerbrechlich, war die Nummer drei in der Rangfolge der Aufsichtsratsmitglieder, 13,04 % schwer und so ziemlich das genaue Gegenteil von Torvilla. Kollom hatte selten einen so ernsten und langweiligen Mann erlebt. Nural war ein Bürokrat und verkniffener Asket, den man nach einem religiösen Crashkurs problemlos zum Hirten- oder Suchermeister in Uranor hätte ernennen können. Er war ein Exot im hedonistischen Paradies der deovanischen Oberklasse. Und er war auf dem absteigenden Ast, was Kollom angesichts seiner mangelnden geistigen Flexibilität nicht weiter verwunderte. Es wäre zwar albern gewesen zu behaupten, dass erlangter Reichtum einen nicht vor den Unwägbarkeiten der Lebensmärkte schützte. Im Gegenteil: Vermögen neigten hier durchaus dazu sich zu konzentrieren, aber zu sicher durfte man sich eben auch nicht sein. Nural hingegen war zu sicher geworden. Er hatte schon viele Anteile verloren – die meisten davon an Torvilla – und auch seine sonstigen Geschäfte liefen nicht allzu gut, nach allem, was man so hörte. Doch fürs Erste war er immer noch ein Faktor, den es zu beachten galt.
Dann gab es da noch Travenia Sigral, die ihren Unternehmensanteil von 7,39 % zuverlässig vermehrte. Travenia war keine Deovani, sondern eine Bravianerin aus der Uhinga-Kaste und als solche schon in ihrer Heimatwelt mit geschäftlichen Dingen betraut, wenn auch eher aus einer dynastischen Perspektive. Travenia trug keinen Anzug, sondern ein üppiges goldenes, bravianisches Zeremoniengewand mit silbernen Stickereien und einem steifen, metallenen Kragen, der bis zur Stirn ihres von schwarzen Haaren eingerahmten, langen Kopfes ragte. Sie bestand auf dem traditionellen Nachnamen ihrer Familie und bezeichnete sich folglich nicht als Nehmerin, hatte jedoch irgendwann bemerkt, dass ihre Liebe zum Geld größer war, als die zu ihrer Familie und sich entschieden in Deovan ihr Glück zu machen, was ihr bislang auch wunderbar gelungen war.
Alling Nehmer, der 4,52 % hielt, war nicht anwesend und leistete sich den Luxus krank zu sein. Eine Lebensmittelvergiftung, soweit Kollom wusste, die er sich bei einen seiner vielen kulinarischen Abenteuer zugezogen hatte. Alling liebte das Risiko und hatte deshalb auch auf das widerstandsfähige Nehmer-Immunsystem verzichtet, welches ihm eigentlich zugestanden hätte.
Unter den restlichen Aufsichtsratsmitgliedern, die kümmerliche 2,6 % auf sich vereinigten, war höchstens noch Lun Nehmer erwähnenswert. Der betagte, hundertneunundneunzigjährige war der Gründer von MKH gewesen, hielt inzwischen aber nur noch 0,2% der Anteile. Lun war eine eine erbärmliche Figur. In seinen früheren Tagen war er ein Raubtier mit bemerkenswertem Geschäftssinn gewesen. Inzwischen aber kümmerte er sich nur noch darum seinen Körper zu verjüngen und zu konservieren. Ein Ziel, für das er bereits fast sein gesamtes Vermögen investiert hatte, das er jedoch nur teilweise erreicht hatte.
Sein Körper glich zwar äußerlich dem eines fünfundzwanzigjährigen, mit glatter, makelloser Haut, aber seine Stimme war zittrig und gebrechlich, sein Atem roch schlecht und jede seiner Bewegungen war langsam und von Schmerzen begleitet. Mit genügend Geld war es in Deovan kein Problem ein langes Leben zu genießen, obwohl die natürliche Lebensspanne eines reichen Deovani nur bei etwa siebzig Jahren lag. Aber für alles gab es Grenzen, zumindest wenn man die Lebensmärkte nicht verlassen wollte. Das Klima hier zehrte einen aus, denn es gab durch die unregulierte Produktion und das Fehlen jeglicher Umweltschutzbestimmungen viele Gifte in der Atmosphäre, die zwar langsam wirkten, die jedoch nicht einmal die besten Filter aus der Luft saugen konnten und deren Langzeitfolgen auch teure Top-Mediziner nicht unbedingt in den Griff bekamen.
Die einzige Möglichkeit für ein wirklich langes Leben war das Auswandern auf einen anderen Planeten, aber das hatte Lun Nehmer nie ernsthaft erwogen. Deovan war so tief in diesem Mann verwurzelt, dass er wohl eher sein Leben im Invisible Land beschließen würde, als den Lebensmärkten für einen längeren Zeitraum den Rücken zu kehren. Doch wie gesagt, Lun war nicht sein Hauptproblem. Er war ein Relikt ohne wesentliche Macht. Anders als Torvilla oder eben Nural.
„Gute Geschäfte, Nehmer Nural“, antwortete Kollom und sah Nural Nehmer fest in die großen, grünen, freudlosen Augen, „Darf ich aus Ihrer Begrüßung schließen, dass Sie diese Sitzung eröffnen wollen? Wollen Sie damit beginnen die Tagesordnung zu verlesen?“
Den feinen zynischen Unterton in Kolloms Frage hätte jeder erfahrene Deovani entschlüsseln können. Jeder, außer Nural, der die Tagesordnung tatsächlich liebte.
„Sie missverstehen den Anlass dieser Besprechung“, antwortete Tarvenia an seiner Stelle barsch, wobei sich ihre Augen verächtlich verengten, „dies ist keine förmliche Veranstaltung, sondern eine Krisensitzung. Ein Tribunal, wenn Sie so wollen. Wir haben Fragen, Kollom, und Sie werden sie uns beantworten.“
Kollom war klar, die sie seinen eigenen Titel nicht versehentlich weggelassen hatte. Bravianischer Standesdünkel, Geldgier und Erfolg waren eine explosive Mischung.
„Natürlich“, sagte Kollom und spürte, wie sein Kopf wieder unangenehm zu pochen begann, „dann fragen Sie.“
„Ist es wahr, dass sie kürzlich die Welt Uranor besucht haben?“, wollte Tarvenia wissen.
„Schuldig im Sinne der Anklage“, antwortete Kollom lächelnd. Ein ernsthafter Ton und eine winzige Prise Demut wären wahrscheinlich taktisch klüger gewesen, aber gerade war er nicht dazu in der Lage. Diese ganze Situation setzte ihm zu. Er fühlte sich unruhig und fahrig und wäre am liebsten schreiend im Kreis gelaufen.
„Dann sind sie also für den Umbruch der religiösen Infrastruktur im gesamten Multiversum verantwortlich?“, fragte Nural.
„Verantwortlich wäre wohl etwas zu viel der Ehre. Das ist vielen Faktoren zu verdanken, aber es mag sein, dass ich einen gewissen Anteil daran hatte“, gestand Kollom ein, da ihm dieses Geständnis nicht allzu heikel erschien. Religion im klassischen Sinne spielte in Deovan nur eine untergeordnete Rolle und auch die eigentlich nur bei Einwanderern.
„Sie hätten Anteil daran haben sollen es zu verhindern“, polterte Torvilla Nehmer los, „wissen Sie überhaupt, wie das unsere Handlungsbeziehungen ins Chaos gestürzt hat? Wissen Sie, was dort draußen los ist?“
„Chaos ist nur ein anderes Wort für Investitionschancen“, brachte Kollom Nehmer vor, der das durchaus wusste. Ja, es sich sogar von Herzen gewünscht hatte.
„Kommen Sie mir nicht damit“, entgegnete Torvilla, „wir unterhalten Handelsverträge mit vielen der größten Kulte und Staatsreligionen unzähliger Planeten. Hochwertige Baumaterialien für Tempel, Reliquiennachbildungen und Heiligenstatuen, Gebetssoftware, Spendenapplikationen, Hinrichtungssysteme, Gedankenüberwachungstechnik, chemische, elektrische und mechanische Vorrichtungen zur Keuschheitsüberwachung und Selbstkasteiung, Waffentechnologien. Da stecken Billiarden von Dominanten drin, Trilliarden sogar. Das sind keine Investitionschancen, das ist eine ausgewachsene Katastrophe.“
„Es werden neue Kulte entstehen“, entgegnete Kollom gelassen, auch wenn die Wut von Torvilla und den anderen nicht spurlos an ihm vorüberging. Das hier war tatsächlich ein Tribunal, „unzählige Kulte. Und sie werden wahrscheinlich noch blutiger und restriktiver werden, als die alten, da es keine Regeln mehr für sie gibt und niemanden, der sie im Gleichgewicht hält. Sie werden mehr Waffen brauchen, mehr Überwachungstechnik und garantiert mehr Folterwerkzeuge. Neue Gelegenheiten werden sich bieten.“
„Vielleicht“, meldete sich die kratzige, tattrige Stimme von Lun Nehmer zu Wort, „vielleicht aber auch nicht. Und selbst wenn, wird es Jahre dauern, bis sich neue Strukturen gebildet haben. Bis dahin verlieren wir Unsummen.“
„Manchmal muss man eben ins Risiko gehen“, sagte Kollom, „wir alle sitzen nicht hier, weil wir immer nur auf Nummer sicher gegangen sind.“
„Es gibt einen großen Unterschied zwischen Risiko und wirtschaftlichem Selbstmord“, schaltete sich Nural Nehmer ein, „zweiunddreißig Prozent unseres Umsatzes basieren auf diesen Handelsverträgen, allein dreizehn Prozent davon auf Vereinbarungen mit der Kirche der gesplitterten Sonne und den Kindern des Niklat. Dieses Unternehmen steht und fällt mit diesen Verträgen. Haben Sie das vergessen?“
Das Kollom tatsächlich, wie ihm nun schmerzlich bewusst wurde. Natürlich wird er es gewusst haben, als er sich auf den Weg nach Uranor gemacht hat und bereit gewesen sein, dieses Risiko für den Dienst an der größeren Sache einzugehen. Wahrscheinlich hatte er aber Strategien zur Schadensbegrenzung gehabt. Argumente und Alternativen, die ihm nun einfach nicht mehr einfallen wollten. Nervös begann er Finger seiner linken Hand mit der Rechten zu massieren. Eine Angewohnheit, die sich nur in extremen Stresssituationen bahn brach. Kollom überlegte, was er antworten sollte, aber ihm wollte nichts einfallen. Sein Mund war wie blockiert.
„Haben Sie ihn verstanden, Kollom oder haben sie gerade einen Schlaganfall?“, fragte Torvilla, ohne auch nur den Hauch von Anteilnahme in der Stimme.
Kollom spürte wie er errötete und fühlte tatsächlich ein lähmendes Kribbeln in seinem Gesicht. Hatte sein Hirn noch drastischeren Schaden genommen als angenommen oder war das einfach nur die Nervosität? Er versuchte sich zu beruhigen, langsamer zu atmen, sich auf die Umgebung zu fokussieren und sein Denken bewusst zu steuern wie einen zitternden, ungehorsamen Muskel.
“Ich habe ihn verstanden“, brachte er schließlich hervor, „und ich verstehe auch, dass das größte und wichtigste Standbein unseres Unternehmens Waffentechnologie ist. Waffen, die wir nicht nur an religiöse Fanatiker, sondern auch an alle möglichen anderen Abnehmer verkaufen können. Waffen, die auf Innovationen angewiesen sind. Und genau für diese Innovationen war meine Mission von unschätzbarem Wert. Ich habe eine Menge nützlicher, kostengünstiger Mitarbeiter für die Forschungsarbeit rekrutiert, unter anderem eine fähige Führungskraft aus Konor mit terranischem Hintergrund und ich habe verschiedenste Waffen und andere seltene Technologien akquiriert, auf denen wir aufbauen können. Nicht nur, aber vor allem um Projekt Wartona zu realisieren.“
„Sie meinen Projekt ‚Gargona‘, oder?“, korrigierte ihn Travenia mit einem überheblichen Glucksen, „so jedenfalls nennt sich das Projekt, fü,r das Sie und Disruptor Yonis seit vielen Monaten Geld verbrennen. Oder haben sie noch ein Milliardengrab von dem wir wissen sollten?“
„Gargona, natürlich“, erwiderte Kollom, der spürte, dass sein weißer Anzug inzwischen ziemlich durchgeschwitzt war, „und Sie wissen, dass wir dort kein Geld verbrennen. Ganz im Gegenteil: Das Projekt hat seine Schlagkraft bereits mehrfach unter Beweis gestellt.“
„Oh, an seiner Schlagkraft hegt niemand einen Zweifel“, bemerkte Torvilla, „eher an seiner taktischen Nützlichkeit. Der Markt für Waffen, die das beschossene Gebiet dauerhaft unnutzbar machen ist nicht mehr allzu groß, wie sie wissen. Die meisten Kriegsparteien denken heute langfristiger. Sie wollen ihren Machtbereich ausweiten, nicht ihre Planeten zerstören. Und dieses Bedürfnis müssen wir befriedigen. Jedes Produkt, dass dies nicht leisten kann ist nutzlos. Ganz egal, wie viel Wumms es hat.“
„Ich brauche nur noch etwas Zeit, dann werden sie sehen, dass wir diese Bedürfnisse nicht nur erfüllen, sondern die Kunden in Begeisterung versetzen werden“, versprach Kollom.
„Zeit ist Geld“, entgegnete Nural Nehmer, „und beides läuft uns davon. Die Verträge mit den Kulten sind eine Sache. Ihre überteuerten Forschungsprojekte eine andere. Vor allem aber, haben sie vielversprechende Prototypen beschädigt oder zerstört, aus denen wir schnell marktreife Produkte hätten machen können …“
„… dafür bin ich nicht verantwortlich!“, verteidigte sich Kollom.
„Ach nicht?“, fragte Travenia mit hochgezogener Augenbraue, „und ich dachte, sie wären unser CEO“.
„Ich war für eine gewisse Zeit nicht handlungsfähig“, erklärte Kollom, „in dieser Zeit hat sich Geberin Nanita um die Leitung der Mission gekümmert.“
„Nanita Geber?“, fragte Travenia ungläubig, „eine Angestellte der Basisklasse?“
„Sie war immerhin einst Nehmer Kolloms Vorgängerin“, erinnerte Lun Nehmer.
„Stimmt, ich erinnere mich“, sagte Nural, „im Anschluss an diese Anhörung werden wir auch mit ihr reden müssen. Es dürfte interessant sein, was sie uns über ihre eigene Rolle in dieser Angelegenheit und vor allem über die von Nehmer Kollom zu berichten hat.“
In diesem Moment wünschte sich Kollom nichts sehnlicher, als Nanita auf den Endmärkten entsorgt zu haben, als er die Gelegenheit dazu gehabt hatte. Hätte er damals der Versuchung widerstanden, sie persönlich zu demütigen, hätte er nun ein Problem weniger gehabt.
„Das alles kann noch warten“, sagte Torvilla, „Tatsache ist jedenfalls, dass unser Standing durch all diese Verluste sehr geschwächt ist. Allia Enterprises hat beunruhigend viel Kapital akkumuliert und sich bereits eine Menge kleinerer und auch größerer Konkurrenten einverleibt. Es ist nur eine Frage der Zeit, bis sie sich uns zuwenden und wir alle hier unsere Posten verlieren und unsere Anteile unter erheblichen Verlusten verkaufen müssen.“
„Die Kartellwächter werden das nicht zulassen“, entgegnete Kollom.
„Die Kartellwächter sind ein noch größerer Witz als die Vertragswächter und das wissen Sie“, entgegnete Lun Nehmer mit einer altväterlichen Autorität, die darauf hindeutete, dass es trotz der schwierigen Lage genoss, sich noch einmal wichtig fühlen zu dürfen, “so lange Deovan noch aus mehr als einem einzigen Megakonzern besteht und sie von den größten Raubtieren mit milden Gaben abgespeist werden, sind sie zufrieden. Ich glaube sogar, dass Allia einen Forcetake versuchen könnte.“
„Das ist lächerlich. Niemand würde versuchen sich unseren Besitz mit Gewalt anzueignen. Wir sind ein verdammter Waffenproduzent!“, erwiderte Kollom.
„Ein geschwächter Waffenproduzent“, erwiderte Torvilla, „und die stillose Ausdrucksweise, die Sie sich offenbar auf Ihren Reisen angeeignet haben, ändert daran nichts. Als CEO sind Sie verpflichtet stets das Wohl des Unternehmens an erste Stelle zu setzen und genau das haben Sie ganz eindeutig nicht getan, deshalb …“
„Das stimmt ganz und gar nicht“, versuchte Kollom aufzubegehren, „ich …“
„Ich war noch nicht fertig, Nehmer Kollom“, donnerte Torvilla, „und an Ihrer Stelle würde ich gut auf das hören, was ich, was wir zu sagen haben.“
Torvillas Blick glitt durch die Runde und erntete dabei ausnahmslos wortlose Zustimmung, selbst von den vier verbleibenden unscheinbaren Nehmerinnnen in ihren weißen Anzügen, die sich bislang wortwörtlich als stille Teilhaberinnen geriert haben.
„Der Aufsichtsrat ist bereits vor ihrem traurigen Plädoyer zu folgender Entscheidung gekommen, an denen Ihre Argumente nichts geändert haben. Wir sprechen hiermit einen „Count-Out“ aus und geben Ihnen noch zwei Wochen, um Projekt Gargona zur Marktreife zu bringen und mindestens einen großen Kunden für das Produkt zu finden. Nutzen Sie diese Zeit gut. Andernfalls werden wir von unserem Minority-Recht Gebrauch machen. Sie sind nicht unersetzbar, Nehmer Kollom. Wenn Zweifel an Ihren Fähigkeiten bestehen und unter Ihrer Führung die Profitrate zu sehr sinkt, haben wir jederzeit die Möglichkeit Sie abzuberufen. Dass wir dies nicht hier und heute tun, ist lediglich eine Wette darauf, dass sie in ihre alte, durchaus bewundernswerte Form zurückfinden. Wir Deovani mögen gerne Risiken eingehen, wie Sie zutreffend betont haben, aber was Sie betrifft, wird dies das letzte Risiko sein, welches wir eingehen. Das wäre dann alles.“
Kollom platze innerlich fast vor Wut. Sein angeschlagener Kopf produzierte Bilder, in denen er Torvilla köpfte und ihren Toten Körper schändete, in denen er Lun jeden seiner brüchigen Knochen brach, Travenias langen Schädel so lange mit einer Karbonstange bearbeitete, bis er wie der Kopf eines Rorak aussah und … mit seinen eigenen, stinkenden Eingeweiden fütterte, während er die inoffizielle deovanische Hymne „Dominance by Ideas“ trällerte. Allein dieser Gedanke brachte seine Genitalien in Wallung, aber musste sich beherrschen, musste all seine wunderbaren Triebe weiter beherrschen, während sich das einzige Mittel, welches er dafür hatte – sein Gehirn – in immer schnellerer Auflösung befand.
Doch trotzdem gelang es ihm noch einmal die Beherrschung zu bewahren, was vor allem daran lag, dass ein weiterer finsterer Fakt sich in sein Bewusstsein zurückdrängte. Er war kein normaler Teilhaber. Wenn er seinen Posten verlor – sei es durch ein Minderheitsvotum oder eine feindliche Übernahme – würde er mehr als nur etwas Geld verlieren. Er würde alles verlieren.
Er hatte sich über einen Risk-Take die Mehrheitsanteile von MKH erkauft, mit Geld, welches er teils selber erwirtschaftet und teils von Astrera bekommen hatte. Ein Risk-Take ermöglichte die Übernahme von Anteilen zu einem Bruchteil des Preises von einem gewöhnlichen Kauf. Allerdings hatte er einen bedeutenden Haken: Der Käufer behielt seine Anteile nur, solange ihm das Unternehmen auch gehörte und diesem als Geschäftsführer vorstand. Wurde es verkauft oder anderweitig übernommen, ging er vollkommen leer aus und wenn er durch ein Minderheitsvotum gestürzt wurde, erhielt er keine Abfindung oder Entschädigung. Zwar hatte eine Risk-Take-Investor jederzeit die Möglichkeit auszusteigen und einen Nachfolger zu suchen, solange das Unternehmen noch profitabel war, aber sobald ein „Count-Out“ ausgesprochen wurde, fiel auch diese Möglichkeit weg.
Kollom hasste dieses Verfahren. Er hasste diese ganzen Regeln, diese engen Strukturen, die sich in Deovan hartnäckig hielten, obwohl es keinen nennenswerten Staat gab und er hasste ganz besonders diese Leute hier. Aber er hatte keine Handhabe gegen Sie. Alles, was er tun konnte, war schnellstmöglich an einer Lösung zu arbeiten. Er schluckte also seinen Zorn herunter und wandte sich zum Gehen. Doch Torvilla hielt ihn auf.
„Bevor Sie uns verlassen und sich hoffentlich an die Arbeit machen, lassen Sie bitte Ihren Manifestor hier und entsichern Sie ihn. Wir würden gerne noch ihre Mitarbeiter*innen befragen.“
Kollom drehte sich um, blickte die überhebliche Frau, in deren Augen er für einen schrecklichen Moment einen Blick auf sein eigenes Schicksal zu erhaschen glaubte, emotionslos an, betätigte einen Knopf an seinem Manifestor und verschwand.
Als er gegangen war, herrschte einen Moment lang Stille in dem Konferenzraum. Dann jedoch setzte sich Travenia in Bewegung, wobei ihr traditionelles Uhinga-Gewand beim Gehen leise raschelte, hob den Manifestor auf und stellte ihn auf den Tisch. Dann nickte sie Torvilla Nehmer zu, mit der sie zwar keine Freundschaft, aber doch eine Art von professionellem Respekt verband und diese erwiderte die Geste, bevor sie die Stille brach.
„Nanita Geber“, sagte sie nur und alle Blicke richteten sich auf den Manifestor.
~o~
Karvin sah Sandra mit wachen Augen durch das nun wieder vollkommen transparente Glas der Kammer an. Yonis hatte ihm irgendetwas gespritzt und bereits nach wenigen Minuten hatte der Pflanzenmann damit aufgehört wie eine kaputte Maschine seinen Namen zu wiederholen und war sich schlagartig wieder seiner Umgebung bewusst geworden. Disruptor Yonis hatte Sandra erklärt, dass die Verwandlung in einen Bleigeweihten bei vollem Bewusstsein stattfinden musste. Andernfalls könnte die Intelligenz des Infizierten so weit sinken, dass er nicht mehr in der Lage wäre seine Befehle auszuführen. Sandra hatte damit gerechnet, dass Yonis irgendwelche psychologischen Tricks würde anwenden müssen, aber offenbar gab es in Deovan für alles auch schnellere Wege.
„Wo bin ich? Wo haben Sie mich hingebracht?“, hatte Karvin nach seiner Heilung gefragt, wobei er eine sehr ruhige, höfliche und intelligent klingenden Stimme offenbarte, die gut zu seinen feinen, grünlichen Gesichtszügen passte, die sich in einem grasartigen, krausen Haarschopf verloren. Schon bevor Sandra hatte antworten können, hatte Karvin sich einen Teil seiner Frage selbst beantwortet: „Ich bin nicht mehr in Uranor, oder?“, hatte er vermutet.
„Nein“, hatte Sandra gesagt, „Sie sind nun in Deovan und außerdem ein Angestellter des Machtkomplexes der kalten Hand.“
„Deovan … was? Ein Angestellter? Aber ich habe nie einen Vertrag unterschrieben“, protestierte Karvin verblüfft und sah sich nervös in dem Raum um, in dem sich neben Sandra auch der professionell lächelnde Yonis und die Sicherheitsfrau Ara befanden. Letztere hatte Sandra nach ihrer Rückkehr mit einer anerkennenden Geste bedacht. Offenbar hatte sie nicht damit gerechnet, dass eine einfache Menschenfrau ihren Willen gegen den monströsen Arzt würde durchsetzen können, wo das nicht einmal ihr gelungen war.
„Nicht direkt“, hatte Sandra zugestimmt, „es ist ein wenig kompliziert. Aber ich habe dabei geholfen Sie aus Uranor zu befreien und dank dieser Leute hier, sind Sie nicht im Krieg, sondern in Sicherheit und haben außerdem ihre geistige Gesundheit zurück.“
Die Lüge hatte bitter geschmeckt auf Sandras Zunge. Doch was dann folgte, war noch schlimmer gewesen.
„Ich denke für diese Rettung ist ein wenig Arbeit als Gegenleistung doch halb so wild, oder?“, hatte Sandra hinzugefügt.
„Ich erinnere mich an Sie“, hatte Karvin gesagt, „es ist alles ein wenig verschwommen, aber ich weiß, dass Sie und Ihre Freunde mich tatsächlich gerettet haben. Doch das hier ist kein Büro, sondern ein Labor. Ich weiß nicht, was Sie hier mit mir vorhaben, aber es kann nichts Gutes sein. Ich will hier raus!“
Mit diesen Worten hatte Karvin sich langsam von dem Untersuchungstisch erhoben, auf den man ihn gelegt hatte.
„Sie verstehen das falsch“, hatte Sandra gelogen, „wir wollen lediglich Ihren Gesundheitszustand überprüfen, wir sind um ihr Wohlergehen besorgt, und …“
Doch Karvin ließ sich nicht blenden. Ihm schien das leichte Beben in Sandras Stimme genauso wenig entgangen zu sein, wie der Fakt, dass ihr Blick immer wieder unwillkürlich von ihm weggeglitten.
Aus dem langsamen Aufstehen war ein hastiges Manöver geworden und schließlich hatte Karvin begonnen, halb panisch auf die geschlossene Tür zu zustürmen. Als Ara ihn mit einem blitzschnell ausgeführten Griff, der jeder Ringerin Ehre gemacht hatte, von dieser offensichtlich sinnlosen Aktion hatte abhalten wollen, hatte der Pflanzenmann urplötzlich seine Form geändert und sich von einem Humanoiden in ein dorniges Rankengeflecht verwandelt, welches Ara problemlos entgehen konnte. Sofort darauf war Karvin wie eine flinke Spinne über den Boden gekrabbelt, auf die Tür zugesprungen und hatte damit begonnen nach winzigen Lücken Ausschau zu halten, in die er sich hineingraben konnte. Wahrscheinlich in der Hoffnung, so das Hindernis schließlich hinwegsprengen zu können, wie Unkraut es mit Pflastersteinen tat. Nur eben tausendmal schneller.
„Halten Sie ihn auf!“, Hatte Yonis verlangt, „aber töten Sie ihn nicht!“
Ara hatte keine Sekunde gezögerte und einen Schuss aus ihrer Waffe abgefeuert, wobei sich das Geschoss sofort geteilt hatte und als knisterndes Gewitter in die Ranken eingeschlagen waren, die vor kurzem noch Karvin gewesen waren. Sofort waren die Ranken erstarrt und Karvin hatte sich augenblicklich zurückverwandelt, woraufhin Ara den fast bewusstlosen Karvin über ihre breiten Schultern geworfen und in den Umwandlungsraum geschleppt hatte.
„Eine erstaunliche Fähigkeit“, hatte Yonis etwas bedauernd geurteilt, „ich hatte zuvor noch nie mit dieser Spezies zu tun gehabt, aber sie erscheint mir sehr interessant. Es ist wirklich eine Schande, dass er diese Talente für immer verlieren wird.“
Dabei hatte er tadelnd zu Sandra gesehen, die sich ein schuldbewusstes Zusammenzucken nur mit Mühe hatte verkneifen können. Es gab keine wirklich effektive Verteidigung gegen die Wahrheit.
Nun jedenfalls war Karvin an seinem Bestimmungsort, in Position gehalten von stählernen Fesseln an Hals und Gliedmaßen, sah Sandra enttäuscht und vorwurfsvoll an und bewegte dabei immer wieder den zarten Mund. Sandra war froh, dass sie die sicher finsteren, verbitterten und allesamt berechtigten Beleidigungen durch das schalldichte Material nicht hören konnte.
„Nun wird es Zeit den Kristall einzubringen“, sagte Yonis und offenbarte dabei ein unverhohlenes Vergnügen, „halten Sie Ihre Glückwunschkarten bereit. Wir erleben eine Geburt.“
Disruptor Yonis tippte etwas in sein holografisches Terminal, woraufhin sich ein Roboterarm aus der Wand schob, der eine Halterung mit einem etwa faustgroßen Stück Blei an seinem Ende trug. Abgesehen davon, dass dieses Bleistück drei lange, hornartige Spitzen besaß, sah es aus wie ganz gewöhnliches Metall. Ein zwar giftiges, aber bei bloßer Berührung nicht fatales Element. Ein Stoff, welchen Sandra selbst an manchem Silvesterabend dazu genutzt hatte, um im Kreise ihrer Saufkumpanen die Zukunft aus unförmigen Klumpen zu deuten, die zumeist eher ausgesehen hatten wie verunglückte Spermien, als wie das, was auf der Interpretationshilfe abgedruckt war. Die Zukunft dieses Mannes war aber auch ohne solchen Hokuspokus mehr als deutlich vorgezeichnet und das war niemandem deutlicher bewusst, als ihm selbst. Denn als die Bleinadeln sich unnötig langsam auf seinen fixierten Körper zubewegten, tat er sein Bestes um Zurückzuweichen oder sein Kunststück von vorhin zu wiederholen. Doch weder das eine, noch das andere gelang ihm. Aras Waffe schien ihm die Fähigkeit zur Verwandlung zumindest vorübergehend genommen zu haben.
Und so nahm das Unvermeidliche seinen Lauf. Sandra wollte wegsehen, wollte ihre Seele nicht durch eine weitere Gräuel belasten, aber zum einen wäre das feige gewesen und hätte sie ihren gerade erst gewonnen Respekt bei Ara gekostet und zum anderen wäre es respektlos gegenüber Karvin gewesen. Sie war es, die ihm dieses Schicksal eingebrockt hatte, also musste sie ihn nicht noch dadurch entwürdigen, dass sie bei der Hinrichtung seines Geistes beschämt wegsah.
Und so verfolgte sie genau, wie der Kristall schließlich auf Brusthöhe durch das Gemisch aus Fleisch und Pflanzenfasern drang und sich dann sofort wieder daraus zurückzog.
Zunächst geschah nichts. Dann zeigte sich ein winziger, an Quecksilber erinnernder Metalltropfen an der Einstichstelle, der erst die Größe einer Murmel annahm, dann die eines Tennisballs, bevor er sich schließlich spiralförmig verformte und aderartig verästelte, während er Karvins Körper rücksichtslos in Besitz nahm. Die Augen des Mannes wurden stumpf und verfärbten sich kurz darauf silbrig. Dann geschah dasselbe mit dem Rest seines schlanken Körpers, bevor dieser sich beinah explosionsartig ausdehnte und aus dem grazilen Pflanzenmann ein dickliches, stämmiges Wesen mit plumpen Händen und Beinen wurde, dessen Kopf nur noch aus einer fast perfekten Kugel mit zwei schmalen Augenlöchern und einem kleinen, fast gezeichnet wirkenden Mund bestand. Seine neue Gestalt erinnerte Sandra an die Bilder von den ersten, frühen Taucherausrüstungen, nur dass es sich bei diesem speziellen „Taucher“ um einen Verwandten des T-1000 aus den Film „Terminator 2“ hätte handeln können, den sie beiläufig und halb-betrunken mit einem jener Typen gesehen hatte, deren Namen sie schon lange vergessen hatte.
Doch dieser Vergleich schmälerte das Grauen, dass dieser Anblick in Sandra erweckte nicht im Geringsten. Das hier war kein Film, nicht das Ergebnis eines Drehbuchs, welches irgendein abgehobener, zugekokster Drehbuchautor im Fieberwahn niedergeschrieben hatte, sondern das Ergebnis ihrer eigenen Entscheidungen.
Die Veränderung von Karvin war dabei deutlich schneller, vollständiger, sichtbarer und vor allem abstoßender, als bei ihrem alten Bekannten Pingo.
Das hässliche Wesen stemmte sich gegen die Fesseln, die das unnatürliche Wachstum seines Körpers flexibel nachvollzogen hatten, doch nun an ihre Grenzen stießen. Kurz bevor er die Roboterarme mit seiner enormen Kraft zerbrechen konnte, zogen sie sich zurück und ließen unförmigen Bleigeweihten ins Leere laufen, sodass er ins Stolpern geriet. Dieses Stolpern nutzte ein weiterer Arm, der aus der Decke hervorraste, um ihm eine Art Haube aufzusetzen, die sich binnen Sekundenbruchteilen als dicker, weißer Anzug lückenlos um seinen gesamten Körper ausbreitete. Lediglich ein kleines Sichtfenster erlaubte noch einen Blick auf seinen grobschlächtigen Schädel. Das, was einmal Karvin gewesen war, rappelte sich auf und hämmerte und trat mit der Kraft eines wütenden Stiers gegen seine Zelle. Dabei erreichte er etwas, was nicht einmal Yonis geschafft hatte: Sandra hatte Angst.
„Keine Sorge“, sagte Yonis beinah väterlich, „die Kammer ist äußerst stabil und diese Wut ist nur von kurzer Dauer. Sie kommt vor allem vom massiven Absterben seiner Gehirnzellen. Sobald sein Intelligenzniveau weit genug gesunken ist und der Stein die Kontrolle übernommen hat, sollte er ruhiger werden.“
„Weiter geht’s“, sagte Yonis, „wir haben noch einige Umwandlungen vor uns. Es wird ein paar Minuten dauern, bis er stabil und folgsam genug ist. Bis dahin können wir die andere Kammer nutzen.“
Sandra war übel. Inzwischen bereute sie ihre vermeintlich ehrenhafte Entscheidung diesen barbarischen Akt zu verfolgen. Sie blickte zur Gruppe der apathisch wartenden, unfreiwilligen Angestellten und als sie es nicht mehr aushielt, suchte sie Trost, indem sie ihren Blick an Garwenia heftete, an eines der Leben, welches sie nicht verdammt, sondern gerettet hatte. Es war ein Trost, der deutlich geringer ausfiel, als sie gehofft hatte. Dies, das ahnte sie, würde noch ein langer, harter Arbeitstag werden.
~o~
Die Füße von Enrys „Angestellten“ entwickelten tatsächlich ein Tempo, wie es einem gewöhnlichen Verbrennermotor in nichts nachstand, nur, dass die Beschleunigung noch besser funktionierte. Enry, der seinen Schirm wie einen Kreisel im Fahrtwind drehte – seltsamerweise, ohne dabei aus dem Auto geweht zu werden – jauchzte vergnügt und ich musste wieder daran denken, wie schlecht ich mich gefühlt habe, als ich realisiert hatte, dass das Licht von Uranor auf der Ausbeutung anderer Lebewesen basierte. Hatte dieser Mann sich je so gefühlt, oder hatte er es immer nur genossen, Macht über andere zu haben? Immerhin hatte er in diesem Fall keine Möglichkeit das Leiden auszublenden, welches er verursachte und offenbar wollte er das ja auch nicht, sondern entschied sich ganz bewusst dafür es zu verursachen. Doch war er deshalb böse? Immerhin war er in einer Gesellschaft aufgewachsen, die den Ellenbogen zur Allzweckwaffe des sozialen Miteinanders erhoben hatte. Selbst, wenn er anfangs Mitleid für andere Deovani empfunden haben sollte, musste er das schnell als Schwäche, als Wettbewerbsnachteil erkannt haben. Warum dann nicht den Egoismus umarmen und zelebrieren, wenn man schon nicht den Mut hat, ihn zu bekämpfen? Verglichen mit Selbstverleugnung war das wahrscheinlich zumindest psychologisch betrachtet die deutlich gesündere Einstellung.
Mein Interesse an Enrys Psyche verflüchtigte sich jedoch schnell, als wir einer Gruppe Passanten begegneten, von denen einige sich nicht schnell genug vor den Reifen des Gefährts in Sicherheit bringen konnten und – soweit ich das durch Karmons Augen hindurch beurteilen konnte – aufs grausamste verstümmelte oder sogar tötete, was unser Fahrer lediglich mit einem gackernden Lachen quittierte.
Im Grunde war es egal, wie Arschlöcher entstanden, dachte ich. Man musste sie bekämpfen, wo immer sie sich zeigten, ansonsten saugten sie irgendwann alles in sich auf.
Da ich jedoch gerade nicht mal in der Lage war eine Stubenfliege zu bekämpfen, versuchte ich mich vorerst mit Enrys Rücksichtslosigkeit abzufinden und mich stattdessen auf die Umgebung zu konzentrieren.
Spätestens als Enry die immer noch recht engen Gassen verließ, in denen er seine kleinen, praktisch folgenlosen Verkehrsmassaker abgehalten hatte und auf eine Art sechsspurige Autobahn einbog, hatten wir das Invisible Land endgültig hinter uns gelassen.
Das erkannte man schon allein daran, dass die Elendshütten und schäbigen Geschäfte um uns herum, einfachen, aber sauberen Bürogebäuden wichen. Auch die Luftqualität verbesserte sich etwas, wobei dies wahrscheinlich nur den wahrnehmbaren Geruch betraf, denn zwar gab es hier keine ekelhaften Müllkippen, aber dafür schraubten sich unzählige Fabrikschlote hinauf in den Himmel, die ihre Abfallprodukte in die Atmosphäre bliesen. Ich hatte natürlich keine Ahnung, was dort im Einzelnen hergestellt wurde, aber nach allem, was ich bisher über Deovan erfahren hatte, war ich mir fast sicher, dass hier nicht nur Wasserdampf aus den Schornsteinen geblasen wurde. Die Geruchsbelästigung mochte hier zwar geringer ausfallen, aber nicht alles, was giftig war, stank auch.
Immerhin öffnete sich der Himmel über uns etwas. Noch immer gab es dort vereinzelte Werbebotschaften zu lesen und der Regentransport wurde über eine Art gläsernes Leitungssystem gewährleistet, welches die Flüssigkeit hinab zu den Firmengebäuden leitete. Doch zum ersten Mal tauchten am Firmament Sterne und zwei kleine, etwas unförmige Monde auf und neben einigen Bürogebäuden zeigten sich ungewöhnliche, gitterförmige Gewächse, die an eine Mischung aus Lianen, Bambus und Laubbäumen erinnerten. Ich erblickte jedoch keine Wohnungen, Parks, Freizeiteinrichtungen oder auch nur Passanten. Jedenfalls so lange nicht, bis wir an einem weitläufigen Areal mit blinkenden Hologrammen, Arena-artigen Bauten, kleinen, würfelförmigen Gebäuden und parkenden Fahrzeugen vorbeikamen, zwischen denen tausende von Deovani und anderen Lebewesen umherwuselten.
„Das sind die Mittelmärkte“, erklärte Enry, der wohl wieder zum Plaudern aufgelegt war, „hier werden vor allem Waren der mittleren Preiskategorie gehandelt. Luxusgüter findet man auf den Hochmärkten und die Endmärkte bieten Mängelware, aber auch einige exotische Schnäppchen für den speziellen Geschmack. Zum Beispiel so ausgefallene Kreaturen wie dich.“
„Kreaturen wie ich haben schon manchen in Mängelware verwandelt“, bemerkte Karmon, dessen eigenartiger Gleichmut anscheinend immer noch Grenzen kannte, knurrend.
„Ich weiß“, sagte Enry, „deshalb habe ich mich ja auch abgesichert.“
Kurz darauf fegte ein Stromstoß durch Karmons Körper, der so heftig war, dass ich für einen Moment fast befürchtete, dass der Stein, in dem ich ruhte, einfach unter all der Energie zerbrechen oder schmelzen könnte.
„Das war nicht nötig“, beschwerte sich Karmon.
„Oh, keine Sorge“, antwortete Enry und beschleunigte sein seltsames Gefährt, womit er zwei relativ gewöhnliche schwarze Protzkarren hinter sich ließ, „was nötig ist, entscheide immer noch ich.“
Der Rest der Fahrt verlief in Schweigen und so versuchte ich mich von meiner zunehmenden Hilflosigkeit abzulenken, indem ich die anderen Verkehrsteilnehmer beobachtete, die sich mit uns auf der Fahrbahn befanden. Dabei handelte es sich nicht allein um Fahrzeuge, sondern auch um Flugzeuge, die die Straße ohne große Probleme als Landebahn nutzten und sogar um vier- oder zweibeinige Kreaturen, die doppelt so groß wie Karmon oder Autemga waren und die ihre „Fahrer“ in ihren Händen trugen wie Jungfrauen in einem King-Kong-Film. Manche dieser Wesen erinnerten mich entfernt an riesenhafte Laarmaschk oder Golems, aber es gab auch vergrößerte Insekten, schwebende, eisblaue Würmer, seltsame, dachsartige Säugetiere mit gebeugtem Gang und sogar riesenhafte Vertreter intelligenter Völker wie den Bravianern oder den Andrin, auch wenn ich kein Zeichen von Intelligenz in deren stumpfen, absurd vergrößerten Gesichtern erkennen konnte. Tausend Fragen bildeten sich in meinem Geist, aber ich hatte keinen Mund, um sie jemand anderem als Karmon zu stellen und dieser ignorierte sie allesamt.
Mir fiel auf, dass Enry sich gegenüber den hiesigen Verkehrsteilnehmern deutlich zurückhaltender zeigte, als gegenüber den Fußgängern im Invisible Land. Womöglich, weil die hier entstehenden Sachschäden die Summe übersteigen würde, die seine Versicherung bereit war zu zahlen.
Das Schweigen endete erst, als wir schließlich ein Gebiet erreichten, bei dem es sich nur um das beste Viertel der Stadt handeln konnte. Hier gab es Wolkenkratzer, die so hoch waren, dass sie sich bis hinauf in die Stratosphäre des Planeten erstrecken mussten, aber auch niedrigere und um so weitläufigere Gebäude, die in sich in der Experimentierfreudigkeit ihrer Architektur nicht vor Enrys Gefährt verstecken brauchten und Bögen, Spiralen, Winkel, hängende und schwebende Konstruktionen und kryptische Symboliken auf verschwenderische Weise miteinander kombinierten. All das wurde umgeben von wilden, fast dschungelartigen Parks, kleinen Bächen und Flüssen, bunten Einkaufsstraßen und teilweise palastartigen Wohnhäusern, auf denen der Namen ihres jeweiligen Bewohners wie ein Firmenlogo prangte.
Sogar diverse Raumhäufen und Startbahnen konnte ich erkennen, auf denen sich unglaublich leise Gefährte in den Himmel erhoben oder von ihrer Mission zurückkehrten. Sogar einige bauchige, extravagante Fluggeräte, die mich vage an Heißluftballons oder Zeppeline erinnerte durchschwebten den unbegrenzten Himmel. Die Regenleitungen verliefen hier nicht mehr überirdisch, sondern senkten sich in den Boden hinab, wo sie in unterirdischen Leitungen oder kleinen Bächen mündeten.
Dieser Stadtteil – von dem ich wahrscheinlich lediglich einen winzigen Bruchteil erkennen konnte, war dabei von einer großen, gläsernen Mauer umgeben, von der ich instinktiv annahm, dass sie selbst einem entschlossenen Raketenbombardement spielend standhalten würde.
Sichtbare Werbebotschaften gab es hier nicht, aber auf besagte Mauer, direkt über dem einzigen, erkennbaren Eingang, durch den jene Autobahn führte, auf der wir uns gerade befanden, stand in großen, goldenen Buchstaben ein einziger, pathetischer Slogan geschrieben:
„Die Früchte der Freiheit.“
Für mich gab es keinen Zweifel: Das hier war der Ort, von dem jeder Deovani seit seiner Geburt träumte und den nur die allerwenigsten erreichen konnten.
„Ein gutgemeinter Ratschlag“, beendete Enry sein langes Schweigen, „sollte ich während der Dauer deines Anstellungsverhältnisses je auf die absurde Idee kommen, dir ein paar Stunden freizugeben, oder dich auf eine Besorgung außerhalb deines Arbeitsortes zu schicken, versuch besser gar nicht erst ohne mich aus den Hochmärkten herauszukommen. Ohne mindestens zehntausend Dominanten auf deinem Identifier oder eine von mir ausgestellte Vollmacht wird dich die Barriere augenblicklich in deine Bestandteile auflösen. Haben wir uns verstanden?“
„Ja“, sagte Karmon knapp und dunkel und ich spürte die wachsende Wut in ihm. So langsam hatte er wohl genug von den ständigen Drohungen und Einschüchterungen seitens Enry. Ich fragte mich, wann diese Wut größer werden würde, als der seltsame Zorn, den er auf mich verspürte.
„Gut“, sagte Enry zufrieden, beschleunigte erneut und passierte die Mauer, wobei er einen sorgsamen Blick auf seinen Identifier warf und tief seufzte als gleich zehntausend Dominanten auf einmal von seinem Konto abgezogen wurden, was sich jedoch nur vermuten ließ, da sich lediglich die kryptische Zahlenfolge auf seiner Armanzeige änderte.
Kaum hatten wir die Grenze zu den Hochmärkten passiert, dauerte es nicht lange, bis wir endlich das Ziel unserer gemeinsamen Reise erreichten. „Das ist euer neues Zuhause“, sagte Enry und das Gebäude, auf welches er deutete, entsprach nicht ganz den farbenfrohen Vorstellungen, die ich mir vom Firmensitz dieses Mannes gemacht hatte, auch wenn es auf gewisse Weise zu ihm passte.
Es handelte sich um eine riesige, schiefe Bretterhütte mit kleinen, blinden Fenstern, in deren Zentrum sich ein großer, furchterregender Wurm aus dem Boden emporhob, der den Eindruck erweckte, nicht nur das Haus, sondern auch jedes Lebewesen verschlingen zu wollen, das den Fehler machte sich ins Innere zu begeben. Über dem augenlosen Kopf des Wurmes thronte die in zittrigen Lettern geschriebene, ironisch anmutende Bezeichnung: „House of Life“. Das ganze verströmte eine Atmosphäre, die irgendwo zwischen Geisterbahn, Lost Place und dem Tatort eines kürzlich begangenen, abscheulichen Verbrechen lag. Doch auch wenn es unwahrscheinlich war, dass es sich bei dem Wurm um eine reale, lebendige Kreaturen handelte, bestand er eindeutig nicht aus Pappmaché, sondern war so detailliert und lebensecht gearbeitet wie das Werk eines sinistren Künstlers.
Neben dem großen, mitten in seiner Bewegung eingefrorenem Wurm, der sich gierig durch das Haus zu fressen schien, erhoben sich zwei weitere, etwas kleinere, aber ebenfalls reglose Exemplare der Gattung Vermes, die ihre Mäuler ebenfalls weit geöffnet hielten. In eines davon fuhr Enry hinein.
„Was für ein Ort ist das?“, fragte Karmon und noch bevor Enry antwortete, sah ich in seinen Augen, das erste Mal etwas anderes als Gier, Überheblichkeit und Verachtung. Das hier war etwas, für das er wirklich brannte.
„Das hier ist ein Ort der Reinigung“, schmetterte Enry, „ein Tempel der Wiedergeburt, eine Pilgerstätte der Extreme, ein Fanal der Hoffnung und das wohl interessanteste, großartigste, spektakulärste, atemberaubendste Wettbüro in ganz Deovan, wenn nicht im ganzen Multiversum.“
Bei diesem pathetischen Gequatsche fühlte ich mich nicht nur unwillkürlich an Uranor erinnert, sondern vermisste es sogar. Selbst Tannvan war mir sympathischer gewesen, als dieser Mann.
„Das Prinzip ist so einfach wie genial“, fuhr Enry fort, während die hoffentlich künstliche Speiseröhre des Wurms an seinem Wagen vorbeirauschte, „Jeder, dem es an Aufregung oder Perspektiven in seinem Leben fehlt, kann dieses Haus hier betreten, wenn er einen bescheidenen Eintritt zahlt und zusätzlich bereit ist, etwas Geld zu setzen. Dabei setzt er jedoch nicht auf reines Glück, sondern auf seine eigenen Fähigkeiten, wie es gute deovanische Tradition ist. Alles, was er dafür tun muss, ist das Haus zu betreten, das Labyrinth zu durchqueren, den dortigen Gefahren zu trotzen und auf der anderen Seite wieder herauszukommen. Schafft er das, bekommt er eine Menge Geld, neue Lebensfreude und eine zweite Chance etwas aus seinem Leben zu machen. Schafft er es nicht, behalte ich das eingesetzte Geld und führe die Körper nützlichen Zwecken zu. Alles fair, durchdacht und freiwillig.“
„Diese Leute gehen hier rein, um zu sterben“, fasste Karmon ungläubig zusammen, „freiwillig?“
„So kann man das nicht sagen“, widersprach Enry, „die meisten wollen überleben oder wären zumindest mit ihrer Fortexistenz einverstanden. Aber manchmal steckt man halt in einer Sackgasse fest, die unweigerlich in den Endmärkten enden wird. Für solche Trader – vor allem Geber an der Schwelle zum Have-Non – stellt das House of Life einen letzten Ausweg dar, der allemal besser ist, als sich direkt das Leben zu nehmen oder den Weg in die tiefen Gassen anzutreten. Aber auch einige Nehmer, denen der Kitzel des Tradens nicht mehr ausreicht oder die von ihrem Dasein gelangweilt sind, suchen uns manchmal auf. Unsere Kundenstruktur ist sehr divers.“
„Und welche Rolle habe ich dabei zu spielen?“, fragte Karmon.
„Was denken Sie?“, wollte Enry wissen.
„Sie suchen jemanden, der verhindert, dass ihre Gäste lebendig am anderen Ende des Hauses herauskommen“, vermutete Karmon.
„Ich sehe, wir verstehen uns“, erwiderte Enry grinsend.
Auch wenn ich momentan weder Lippen noch Lunge hatte, konnte ich ein inneres Seufzen nicht unterdrücken. Ich hatte viel erwartet, als Enry Karmon verpflichtet hatte. Am ehesten eine Anstellung als Söldner oder Leibwächter. Eben, dass Enry jemanden suchte, der seine Drecksarbeit erledigen würde. Vielleicht auch ein Einsatz als Gladiator oder Schoßhund für irgendwelche zweifelhaften Kämpfe. Aber ganz bestimmt hatte ich nicht damit gerechnet, dass er Personal für seine kranke Version einer Geisterbahn rekrutierte.
„Sie müssen den Job natürlich nicht alleine erledigen“, fügte Enry hinzu, „wir haben bereits ein fähiges, eingespieltes Team, das Sie dabei …“
Enry geriet ins Stocken, als mehrere qualvolle Schreie erklangen und das „Enrymobil“, welches plötzlich gewaltige Schlagseite bekam, direkt in die Wand krachte.
Wir immer Mega Mega Krass ich hoffe der nächste Teil kommt sehr bald Raus ich kann mich garnicht mehr gedulden habe schon Entzugserscheinungen und gucke ständig Bei Kati und Hier ob du schon nh neuen Teil gebracht hast ❤
Qualität brauch eben seine Zeit ;b
Danke! Ja, mit der Zeit ist das so eine Sache. Ich war da in Verhandlungen über Lieferverträge mit einer Zeitmine in Rihn über einen deovanischen Zwischenhändler. 1A-Ware, aber leider brauche ich meine Nieren noch :-/
Bei „menschlichen“ Nieren würde ich dir Dank Qua empfehlen. Meine Quellen munkeln man könne dort ressourcengünstig an allerhand Organe kommen.
Bei den deovanischen Aufpreisen würde ich die Zwischenhändler allerdings meiden (;
Danke dir! Der neue Teil erscheint entweder Morgen oder am Freitag, also musst du nicht mehr lange warten ;-).
Hallo,
Ich bin ein großer Fan deiner Geschichten, besonders von Fortgeschritten und ich habe auch einem Freund von mir empfohlen sich Fortgeschritten einmal anzuhören. Es sind jedoch einige Fragen dabei aufgekommen, bitte nimm sie nicht zu ernst, aber es wäre sehr nett wenn wir zumindest einige Antworten bekommen könnten.
Also hier sind erstmal drei Fragen die mal interessant wären zu wissen;
Erstmal, ein einer Stelle wurde gesagt das sich die Andrin eher schlangenartig bewegen, aber irgendwie kann ich mir das nicht so richtig vorstellen, wir haben auch schon versucht zu googlen und Leute zu finden die sich schlangenartig bewegen. Es kamen allerdings nur irgendwelche Yogaübungen und das hat nicht wirklich geholfen, wäre voll nett wenn du das ein bisschen genauer definieren könntest.
Zweite Frage wäre auf einer Skala von 0-10 wie attraktiv ist On-Grarin für einen Andrin?
Dritte Frage wäre ob Andrin sich auch so richtig verlieben können oder ob es für sie nicht möglich ist.
Okay das war’s erstmal, ich hoffe die Fragen waren nicht zu komisch.
Danke für deine Aufmerksamkeit und schönen Tag noch.
Hey! Danke dir für dein Interesse und geiler Nickname übrigens! 😀 Die Fragen kann ich gerne beantworten. Zu deiner ersten Frage: Das Problem ist, dass du wohl keinen Menschen finden wirst, der sich so bewegen kann, da unsere Knochen und Gelenke dafür nicht geschaffen sind. Du kannst dir das ein wenig „schwabbelig“ und wellig vorstellen, wie bei jemandem, der keine Knochen hat, nur eben nicht ganz so instabil. Die Beine schieben sich quasi in einer fließenden Bewegung nach vorne. Am ehesten kannst du das mit diesem Geisterviech aus dem alten Disney-Zeichentrickfilm vergleichen https://www.youtube.com/watch?v=aDATXtewPrg . Vielleicht hilft das etwas weiter. On-Grarin würde ich auf einer Hot-or-Not-Skala am ehesten eine 7 geben. Er sieht schon ganz gut aus, aber würde wahrscheinlich noch nicht als Modell durchgehen. Zu Frage 3: Kommt drauf an, was du unter Liebe verstehst. Ich glaube die meisten Andrin könnten sich verknallen, sich für ein paar Monate einen Folterkeller co-hosten und eine wirklich intensive Zeit haben, aber letztlich bliebe es oberflächlich und von kurzer Dauer und würde nur so lange funktionieren, wie der hormonelle Kick mehr ballert als der natürlich Drang anderen zu schaden. Danach würde wahrscheinlich eines von drei Dingen passieren. 1. Die Wege trennen sich 2. Es mündet in eine reine Zweckgemeinschaft 3. Es endet in einem Massaker. Drei ist dabei am wahrscheinlichsten, wobei es auch von den Machtkonstellationen und den jeweiligen Individuen abhängt. Die Andrin sind ja vernunftbegabt und würden so wenig ihre gesamte Zukunft für ein wenig Spaß aufs Spiel setzen, wie die meisten von uns und sie wissen auch, das Kooperation manchmal ganz nützlich und erholsam sein kann. Grundsätzlich ist aber auch denkbar, dass zwei Andrin eine aufrichtige, haltbare Beziehung führen, die am gegenseitigen Wohlergehen ausgerichtet ist. Allerdings müssten sich dabei zwei (nach andrinischen Maßstäben) wirklich perverse Individuen zusammenfinden. Das wäre etwa so, wie wenn sich zwei Menschen treffen, die auf Hardcore-SM und Kannibalismus stehen und sich gegenseitig verspeisen wollen. Kommt vor, ist aber nun auch nicht gerade die gesellschaftliche Norm. Soweit erstmal mein Senf. Komisch fand ich die Fragen übrigens nicht. Ist doch lustig, sich dazu Gedanken zu machen ;D. Dir auch noch einen tollen Tag. LG Angstkreis