
„Das Tor ist offen, ihr könnt mich jetzt gehen lassen“, sagt Harborad bittend und sieht der furchteinflößenden Sandra dabei direkt ins strenge Gesicht. Lieber hätte er sich dem sanfteren Lyon zugewandt, aber er wusste, dass dieser Mann hier nicht das Sagen hatte. Die Masse an Laarmaschk, die sich größtenteils wieder die Verkleidung ihrer letzten Rihnnischen Opfer angelegt hatte, blendet er im Dienste seiner eigenen geistigen Gesundheit lieber gleich aus.
Der Blick, mir dem die durchtrainierte, selbstbewusste Menschenfrau ihn fixiert, klopft wie ein Rammbock an seinen Geist. Nicht hart genug, um ihn zu durchdringen, aber eindeutig hart genug, um ihn tief zu erschüttern.
„Wir brauchen dich!“, sagt Sandra und Harborad weiß nicht genau, ob es eine Drohung oder ein Versprechen ist, „der Parlamentsbeschluss muss beachtet werden. Ich bin eine Freundin der Demokratie, weißt du? Jemand muss den Willen des Volkes durchsetzen und dieser Jemand bist du, Welthüter.“
Nun sieht Harborad doch zu den Laarmaschk, die letztlich „das Volk“ sind, welches dieses Gesetz wirklich beschlossen hat. Ein Funken Widerstand regte sich in Harborad. Als Mitglied der Archive hat er immer das Gefühl gehabt, über den einfachen Leuten zu stehen. Aber auch er hatte einst zu ihnen gezählt. Und das begrenzte Maß an Mitbestimmung über die Geschicke Rihns, das diese Leute besitzen, derart zu pervertieren, ist auch in seinen Augen verbrecherisch. Sein Kampfgeist reicht zwar nicht für Widerworte oder gar für heldenhafte Taten aus. Aber zumindest genügt er für ein trotziges, brütendes Schweigen.
„Hast du mich nicht gehört?“, fragt Sandra lauernd, „oder bist du doch nicht in der Lage den Archiven unseren Wunsch anzutragen? In dem Fall müssen wir uns jemand anderen suchen, der das hinbekommt.“
Es hätte nicht das erschrockene Zusammenzucken des Bravianers gebraucht, um Harborad klarzumachen, dass Sandra ihn nicht einfach gehen lassen wird, wenn sie zu dem Schluss kommt, dass er nutzlos für sie ist. Egal, was ihr Begleiter davon halten mag. Wenn er sich weigert, so viel ist Harborad klar, ist das sein Tod. Und das bisschen Trotz, das er gezeigt hat, hat immerhin ausgereicht, um seiner Würde Genüge zu tun. Er ist kein Widerstandskämpfer. Aber er ist auch nicht dumm. Oder Lebensmüde.
„Ich kann euch helfen“, verspricht Harborad, „aber ich tue es nur, wenn ihr mich danach gehen lasst.“
„Natürlich“, sagt Sandra und hat dabei sichtlich Mühe ihr Grinsen zu unterdrücken.
„Ich verspreche es dir!“, sagt Lyon mit einer überraschenden Vehemenz, „und ich garantiere, dass sich auch Sandra an das Abkommen halten wird. Tut sie es nicht, werde ich für dich einstehen.“
Der feste Blick mit dem der junge Bravianer die Menschenfrau bedenkt, nötigt Harborad durchaus Respekt ab. Er glaubt ihm, dass er die Wahrheit spricht, was leider nicht automatisch heißt, dass seine Absicht auch Wahrheit werden muss.
~o~
Sandra verabscheut es, so in die Ecke manövriert zu werden. Lyon ist sicher ein amüsanter Begleiter und ein nützlicher Verbündeter, aber sie lässt sich von niemandem gerne drohen. Sollte der Junge seinen eigenen Einfluss überschätzen und etwas Dummes versuchen, würde er merken, was er davon hat. Dennoch erkennt sie natürlich den Sinn seiner Worte an Harborad. Wer schwach ist, braucht Sicherheit, damit er gehorchen kann. Oder zumindest ein Versprechen von Sicherheit. Und das musste glaubwürdig sein. Sandra entsinnt sich an ihre Zeit unter Kolloms Fuchtel. An die Erpressung und Vergewaltigung durch Schaufel. An ihr Söldner-Dasein in Konor. An das rechtlose Dasein im Schlamm von Uranor. An ihre beschissenen Teenager-Tage, in der die Erwachsenen auf sie herabgeschaut hatten. Sie denkt an all die Momente, in denen sie verletzlich gewesen ist und versucht dabei nicht Hass und Zorn zu empfinden, sondern Empathie für die Frau, die sie gewesen ist. Und es funktioniert. Das Gefühl überträgt sich auf ihre Lippen, auf ihr gesamtes Gesicht und zauberte ein warmes, gütiges, mitfühlendes Leuchten darauf, wo vorher nur Sarkasmus war.
„Wir werden dir nichts tun“, verspricht sie, „unter keinen Umständen!“
Ihre gelungene Darbietung gibt Harborads kritischen Verstand offenbar den passenden Vorwand für seinen geordneten Rückzug. Sie ist der Strohhalm, nach dem er greifen wollte.
„Abgemacht“, sagt der Welthüter, „ich führe euch zur Hochwissensabteilung und trage die Anweisungen an die Archive heran. Doch vergesst nicht, dass allein ich oder ein anderer Welthüter dies vermag. Und die anderen habt ihr alle getötet oder vertrieben. Mein Wohlbefinden ist also auch in eurem Interesse.“
„Entspann dich, Kumpel“, sagt Sandra lachend und klopft Harborad dabei kräftig auf die Schulter, „das hier ist keine Geiselnahme und auch kein Terroranschlag. Wir sorgen lediglich für einen freieren Informationsaustausch.“
„Warum ist euch das überhaupt so wichtig?“, fragt Harborad in einem überraschenden Anfall von Rückgrat, „und ist es euch wirklich so egal, was ihr damit in den Gehirnen der einfachen Leute anrichtet? Wissen kann gefährlich sein. Und zu viel Wissen tödlich. Das durfte ich selbst schon hautnah miterleben.“
„Du unterschätzt die Fähigkeiten der sogenannten ‚einfachen Leute‘“, antwortete Lyon, „niemand ist von Geburt an mehr oder weniger wert. Wir alle sind in der Lage und haben das Recht unser Schicksal frei zu bestimmen. Aber dieses Potenzial können wir nur verwirklichen, wenn auch das Wissen, das wir dafür brauchen, frei ist.“
„Was hatte es mit Freiheit zu tun, diese Abstimmung zu manipulieren?“, fragt Harborad, der sich wieder deutlich selbstbewusster fühlt, nun da er nicht akut mit dem Tod bedroht und noch dazu gebraucht wird.
Harborad sieht Lyon herausfordernd an und erlaubt sich sogar ein überlegenes Lächeln, als der Bravianer den gequälten Blick senkt. Der Welthüter spürt, dass er einen wunden Punkt getroffen hat.
„Manchmal sind Revolutionen notwendig, nicht Reformen“, sagt Sandra, die sich von Harborads Nachfragen weniger aus dem Konzept bringen lässt, „wir haben getan, was wir tun mussten. Auch im Sinne deiner Leute. Das wirst du noch erkennen. Doch bis dahin solltest du dich mit deiner Beurteilung besser zurückhalten.“
„Hört mal“, versucht es Harborad erneut, den die Torwächterin offenbar doch feiger eingeschätzt hat, als er ist, „ich bin keiner von diesen beinharten Traditionalisten. Wenn ihr wollt, dass wir den Unwissenden den Zugang zu unserem Wissen erleichtern, gut. Aber dann sollten wir es behutsam tun. Wir könnten die Hochwissensabteilung für mehrere Fragen am Tag zugänglich machen oder die Informationsübertragung schrittweise öffnen, um …“
„Damit ihr die Kontrolle darüber behaltet?“, fragt Lyon, „wohl kaum.“
„Ich glaube, wir haben uns missverstanden“, sagt Sandra eisig und sieht Harborad dabei an wie ein Rorak einen verletzten Jyllen auf dem Schlachtfeld. Ihr Gesicht verhärtet sich. Dunkle Schatten scheinen daraus hervorzukriechen „Das hier ist keine Verhandlung oder Diskussion. Verstehe unsere Zusammenarbeit nicht als Gnade oder Milde. Wir brauchen dein Wissen, so viel ist richtig. Aber ich war über viele Jahre Herrscherin der Rorak. Diese Kultur prägt einen. Es gibt Sitten, die man nicht so leicht ablegen kann. Zum Beispiel die Sitte, nervigen Besserwissern den Schädel einzuschlagen. Ich hoffe, du verstehst.“
Harborad nickt und Sandra beobachtet zufrieden, wie sein neu gewonnenes Selbstbewusstsein zerfällt wie ein Kartenhaus im Sturm.
~o~
„Wir sind da. Das hier ist die Hochwissensabteilung“, sagt Harborad seufzend und zeigt auf eine gemusterte Tür aus hell- und dunkelgrünem Kristall, die vor ihnen aufragt, „dort findet ihr nicht nur die intimsten Geheimnisse des Multiversums, sondern auch den Zugang zum Herz der Archive.“
„Perfekt, dann kann ich dich ja endlich kaltmachen“, eröffnet Sandra ernst und ergötzt sich am Gesichtsausdruck des Welthüters, der plötzlich leichenblass wird. Auch Lyon sieht Sandra entsetzt an. Lediglich ihre Gefolge aus Laarmaschk quittiert die Äußerung ohne sichtbare Regung.
„Jetzt beruhigt euch doch, ihr Memmen“, sagt Sandra lachend, „habt ihr gar keinen Humor? Selbst wenn ich so hinterhältig wäre, wäre ich nicht so dumm. Ich würde mein Werkzeug kaum entsorgen, bevor die Tür offen ist und das getan wurde, was getan werden muss.“
„Intelligente Lebewesen sollten nie Werkzeuge sein“, betont Lyon, „es ist widerlich so zu denken.“ Seine Stimme lässt vorsichtige Erleichterung erkennen, doch seine Hände zittern.
„Dennoch sind wir alle oft genug das Werkzeug anderer. Ob wir wollen oder nicht“, meint Sandra, „und daran ist nichts Ehrenrühriges. Ein gutes Werkzeug hat seinen Wert. Und welchen du hast, Harborad, wird sich jetzt zeigen. Doch zunächst hätte ich noch eine Frage an dich, Lyon.“
„Ja?“, fragt Lyon.
„Warst du schon einmal in der Hochwissensabteilung?“, fragt Sandra, „kannst du bestätigen, ob unser guter Welthüter die Wahrheit spricht und wir wirklich an diesem Ort sind und wir nicht gleich einer Horde Soldaten gegenüberstehen?“
Lyon schüttelt den Kopf, „Leider nicht. Ich war gelegentlich zu Besuch in den Archiven, bevor ich Astrera beigetreten bin. Aber nur in der einfachen Abteilung. Wir müssen ihm wohl leider vertrauen.“
„Vertrauen ist ein lustiges Konzept“, sagt Sandra, „Jeder will es, kaum einer gibt es. Und das trifft leider auch auf mich zu. Du wirst vorgehen, Harborad.“
„Kein Problem“, sagt der Welthüter entspannt und legt die Hand auf die Tür.
„Warte“, sagt Sandra und nickt zwei der Laarmaschk zu, die ihre Schlammgestalt behalten hatten, „ihr begleitet ihn. Macht er irgendeinen Mist oder werden wir angegriffen, bekommt ihn der, der schneller ist.“
Die Laarmaschk gehorchen und setzen sich gemeinsam mit Harborad in Bewegung. Als die Tür sich schließlich öffnet, gehen die drei hinein, während der Rest ihrer Gruppe zurückbleibt.
Sandra beobachtet, wie die drei einen langen, hellrot erleuchteten Gang betreten, von dem aus weitere Türen zu beiden Seiten wegführen. Ganz am Ende ist eine Treppe zu sehen. Sonst jedoch ist dort nichts. Keine Soldaten, keine Besucher.
„Warum ist keiner hier?“, fragt Sandra misstrauisch, „sollte es hier nicht vor neugierigen Besuchern wimmeln? Evakuiert worden sind sie nicht. Das wüsste ich.“
„Sie sind in den Einzelkammern im privaten Zwiegespräch mit den Archiven“, erklärt Harborad, „die Dinge, die sie fragen, sind oft heikel und gehen niemanden etwas an, weswegen wir hier viel Wert auf Datenschutz legen. Aber wenn du genau hinhörst, kannst du sie flüstern hören.“
Sandra folgt Harborads Vorschlag. Sie geht ein paar Schritte näher – jedoch nicht zu viele – und lauscht angestrengt in die vermeintliche Stille. Tatsächlich ist da ein Raunen und Flüstern. Auch wenn sie den Inhalt der Worte nicht verstehen kann, hat Harborad offenbar die Wahrheit gesagt.
„Warum reden sie?“, erkundigte sich Sandra immer noch skeptisch, „muss man seine Fragen an die Archive denn laut stellen?“
„Nein, das muss man nicht“, antwortet Harborad, „aber viele tun es dennoch. Es fällt ihnen dann leichter, ihre Konzentration zu wahren und sich zu öffnen. Was ist jetzt? Wollt ihr euren Plan umsetzen oder nicht?“
Sandra wechselt einen Blick mit Lyon. Lyon nickt und auch wenn Sandra das ungute Gefühl in ihrem Bauch nicht gänzlich loswird, treten sie ein. Erst sie, dann Lyon und schließlich die Laarmaschk.
„Bleib hier stehen und achte darauf, dass die Tür sich nicht schließt“, befiehlt Sandra dem letzten der Gestaltwandler als dieser auf Höhe der Türschwelle steht. Der Laarmarschk, in der Erscheinung eines jungen, braunhaarigen Gelehrten mit Dreitagebart, nickt zustimmend.
„Misstrauen ist wie ein Krankheitserreger“, bemerkt Harborad, „hat man zu viel davon in sich, wird man handlungsunfähig.“
„Ungefragte Weisheiten sind noch gefährlicher“, erwidert Sandra genervt. Dabei wandert ihr Blick über den Gang mit den verschlossenen Türen, die massiven Wände, an denen rätselhafte Zeichen und kastenförmige Erhebungen angebracht sind und über den gläsern erscheinenden Boden unter ihren Füßen. „Also spar sie dir einfach und bring uns endlich zu unserem Bestimmungsort.“
„Natürlich, wie du willst“, entgegnet Harborad devot.
Sandra bemerkt das verräterische Lächeln auf seinem Gesicht, noch bevor Harborad hart mit dem Fuß aufstampft und dabei den Kristallboden zum Splittern bringt. Doch selbst ihre gepushten Reflexe genügen nicht, um darauf zu reagieren. Binnen Millisekunden breitet sich der Riss aus wie ein Sprung in der Eisschicht eines zugefrorenen Sees und lässt die Oberfläche aufreißen. Darunter kommt eine Flüssigkeit zum Vorschein. Eine Flüssigkeit, die just in dem Augenblick, als die Raumluft sie berührt, kristallisierte und beginnt an ihren Körpern hochzukriechen. Sandras Fäuste rucken herum. Fest entschlossen den Scheißkerl zu erwürgen. Doch der Kristall hält sie fest und ihre geöffnete Hand bleibt kurz vor dem Hals des Verräters stehen.
„Dafür wirst du sterben“, droht sie ihm hilflos, während der Kristall sie und Lyon von Kopf bis Fuß überzieht. Selbst die Laarmaschk, die versuchten, dem Zeug durch Verwandlung zu entgehen stellen fest, dass sich die Substanz wie hartnäckiger Klebstoff anheftet. Selbst in ihrer Schlammform lässt sie sich nicht abschütteln. Sie alle erstarren. Langsam, aber unaufhaltsam.
„Wie recht du damit hast“, sagt Harborad, der von der kristallinen Substanz ebenfalls nicht verschont wird, kichernd, „ich werde garantiert sterben. Aber das werdet ihr auch und das ist das Opfer wert. Die Archive bleiben sicher und geordnet. So wie sie es immer gewesen sind und eure wahnsinnige Sekte wird für ihre Verbrechen bezahlen. Wir werden jeden von euch aufspüren und bestrafen. Akzeptiert das und werdet Teil der Archive. Vielleicht eröffnen sie für euch sogar ein Museum der Dummheit, um späteren Generationen zu zeigen, worin gedankenloser Hochmut endet. Genügend leere Räume für solch einen noblen Zweck haben wir hier.“
Noch ist nicht alles verloren, denkt Sandra. Eine Option hat sie noch. Es ist mehr ein Glücksspiel, aber ob man nun Schachfiguren bewegt oder die Würfel rollt: Ein Spiel blieb ein Spiel. Wichtig ist nur, dass man handelt.
„Dergenes!“, ruft sie dem Laarmaschk zu, den sie am Eingang zurückgelassen hat und der als einziger von der Flüssigkeit verschont geblieben ist, „hol dir seine Identität!“
Am Ausdruck in Harborads Gesicht, erkennt sie, dass sie gut genug gespielt hat. Vorausgesetzt Dergenes ist schneller als dieses Zeug ihn töten kann. Zum Glück schreitet die Substanz langsamer voran, nun da sie ihre Brust erreicht hat. Entweder ist das ein sadistisches Feature oder die Schwerkraft kommt ihnen zur Hilfe.
Der Laarmaschk legt seine momentane Gestalt ab, nimmt seine Schlammform an und macht sich auf den Weg. Dabei meidet er den tückischen Boden und kriecht stattdessen wie eine Spinne an der Decke entlang.
Harborad, der sie dabei beobachtet, erkennt offenbar, dass sein rascher eigener Tod die letzte Chance ist, Sandras Pläne zu vereiteln. Der Welthüter versucht deshalb seine Kristallisierung zu beschleunigen, indem er seinen Körper mit aller Kraft nach unten drückt. Doch auch in diese Richtung lässt ihm der Kristall nur wenig Spielraum.
Mehr als ein paar Zentimeter kann er nicht herausholen. Und dann ist es zu spät. Noch bevor der Kristall seinen Hals erreicht ist der Laarmaschk schon über ihm, lässt sich wie zäher Honig hinabtropfen und bringt seinen unförmigen Kopf direkt auf die Höhe von Harborads Gesicht. Der Welthüter schreit aus vollen Lungen, als der Gestaltwandler ihn küsst und seine Essenz absorbiert, sorgsam darauf achtend, selbst nicht mit der Flüssigkeit in Berührung zu kommen. Dabei konsumiert er nicht nur seine körperliche Erscheinung, wie es gelegentlich geschieht, wenn die Laarmaschk in Eile sind, sondern jeden einzelnen Funken seiner Erinnerungen und seines Wesens. Als Dergenes sein Mahl beendet hat, ist ER Harborad und nicht das ausgelutschte, gesichtslose Etwas unter ihr. Lediglich seine Füße haben ihre Schlammform erhalten, um sich an der Decke festhalten zu können.
„Haltet aus“, sagt er mit der Stimme des Gelehrten. Dann kriecht er die Wand bis zur halben Höhe hinab und legt die Hand – Harborads Hand – auf einen der mysteriösen Kästen. Der Kasten öffnet sich und bringt einen silbrigen Kristallhebel zum Vorschein, den die Laarmaschk gegen den Uhrzeigersinn dreht. Nur Sekundenbruchteile später rieselt ein schwarzes Pulver von der Decke wie aus einer trockenen Sprinkleranlage und legt sich auf jeden Quadratzentimeter des Bodens, ihrer Körper und der tödlichen Flüssigkeit. Der Kristall lockert augenblicklich seinen Griff um Sandra, Lyon und die Laarmaschk und fließt von ihnen ab wie gewöhnliches Wasser.
„Beeilt euch“, sagt der falsche Harborad, „wir müssen hier raus. Wir haben etwa drei Minuten, bis der Boden wieder eine feste Schicht bildet und uns einschließt.“
Sandra nickt und führt die anderen schnellstmöglich aus dem Raum hinaus. Kaum da der letzte Laarmaschk wieder zurück in der Halle angelangt ist, hat sich über der Flüssigkeit wieder jene gläserne Bodenschicht gebildet, die sie dort zu Anfang gesehen hatten.
„Denkst du immer noch, dass ich ihn unfair behandelt habe?“, fragt Sandra Lyon.
„Nein“, gesteht Lyon zu, „auch wenn man ihm wohl nicht vorwerfen kann, dass er uns loswerden wollte. Aus seiner Sicht müssen wir wahre Monster sein.“
„Herrgott im Himmel“, sagt Sandra, „man kann es mit dem Gutmenschentum auch übertreiben.“
„Ich bin kein Mensch“, antwortet Lyon, „und ob ich gut bin, darüber gibt es sicher verschiedene Ansichten. Aber ja, wenn du es unbedingt von mir hören willst: Zusammenarbeit führt nicht immer zum Erfolg.“
„Du bist ja doch lernfähig“, sagt Sandra grinsend und wendet sich dann an den Laarmaschk-Harborad, „dein erbeutetes Wissen hat sich als hilfreich erwiesen. Was hast du noch aus seinem Kopf bergen können? Was ist das für ein Ort, an den er uns geführt hat.“
„Die Kammer der Zerweiteten“, erklärt der Laarmaschk, „eine Art Sanatorium für jene, die bei der Benutzung der Archive ihren Verstand eingebüßt haben. Der Mechanismus, den Harborad ausgelöst hatte, sollte eine Flucht der Patienten verhindern.“
„Nun, dieser Mechanismus scheint recht effektiv zu sein“, gesteht Sandra ein, „kann man den Flur denn nun wieder gefahrlos betreten.“
„Ja“, bestätigt Harborad.
„Gut“, sagt Sandra, „dann öffne eine der Zellen. Ich will etwas ausprobieren.“
„Sollten wir uns nicht beeilen und die wirkliche Hochwissensabteilung aufsuchen?“, wendet Lyon ein, „je länger wir warten, desto mehr Widerstand kann sich formieren.“
„Wenn ich eines aus meiner Zeit in Deovan gelernt habe, dann das man manchmal investieren muss. Selbst wenn es nur Zeit ist“, sagt Sandra, „öffne die Zelle!“
Der Laarmaschk gehorcht, geht über den festen, gläsernen Boden und legt seine Hand auf die erste Tür zu seiner Linken. Sie öffnet sich gehorsam und bringt eine Frau mittleren Alters zum Vorschein, die auf einer gepolsterten Bank aus grünem Kristall sitzt. Sie trägt ein langes Gewand das mit scherbenartigen Mustern verziert ist. Ihre blonden, schulterlangen Haare sind verfilzt und ihre Arme sind voller dicker Narben. Sie wirkt aber nicht verwahrlost. Haut und Kleidung sind sauber. Sie verströmt sogar einen angenehmen, erdigen Geruch, der vage an Räucherstäbchen erinnert. Lediglich ihre Augen sind unstet und beunruhigend.
„Der Dekantor der Himmelspalte wimmert im Fieber!“, sagt sie kryptisch und lächelte dabei.
„Das Gespinst wird in mir zerbrechen. Mich zerreißen wie ein Prisma mein gestreutes Seelenlicht“, fügt sie hinzu und gluckst vergnügt.
„Verstehst du irgendwas von dem, was sie sagt und was sie so daran freut?“, fragt Sandra, Lyon.
„Ich verstehe kein einziges Wort“, verneint der Bravianer, „aber ich verstehe, dass sie die Ansprache freut. Es ist ähnlich wie bei Dementen. Ihr Geist mag zersplittert sein, aber die Seele hat dieselben Bedürfnisse wie zuvor. Sie sehnt sich nach Ansprache, nach Aufmerksamkeit. Nach Anerkennung. Es stimmt mich traurig.“
„Traurig wirkt sie auf mich nicht gerade“, sagt Sandra, betritt den Raum und bedeutet Harborad zur Seite zu treten, was dieser auch tut. Sandra stellt sich direkt vor die Frau, die noch immer grinst. Ihr Lächeln ist nicht einmal irre. Nur deplatziert. Als wäre ein Teil der Quelle, aus dem es sich speist, in anderen Ebenen zu finden. Immerhin scheint sie nicht aggressiv zu sein. Auch wenn ihr Lächeln nun erlischt, Tränen in ihren Augen erscheinen und sie beginnt zu schreien und auf die Knie zu sinken, „das Glück der Liebe, die Berührung von Ekantwor. So zart. So schön. So unvergleichlich lichtvoll ….“, wimmert sie und streckt ihre Hände flehend nach Sandra aus, ohne ihr jedoch näherzukommen.
„Was hast du vor?“, fragt Lyon.
„Man nennt sie Zerweitete, weil sie den Fokus verloren haben, oder?“, erkundigt sich Sandra.
„So kann man es sagen, ja“, bestätigt Lyon.
„Dann schauen wir doch, ob ich ihr einen neuen Fokus geben kann“, meint Sandra.
Dann dringt sie in den Geist der Frau ein. Behutsam, forschend, noch nicht mit roher Gewalt. Es ist, als würde sie eine Disko betreten, in der es gewittert. Überall sind zuckende Lichter, Lärm, Winde, die in die eine oder andere Richtung wehen. Nein, wer hier mit Gewalt vorgeht, würde nur eine sinnlose Explosion ernten. Ein nicht nutzbares Durcheinander. Es braucht andere Methoden. Und Sandra glaubt sie zu kennen. Sie handelt intuitiv. Sie denkt an Konor. An ihre Zeit als Söldnerin. An die Krieger der Rorak. An Blutdurst und Disziplin. Und sie pflanzt einen Samen. Einen Samen, an dem die Gedanken und Emotionen der Frau kondensieren wie Feuchtigkeit an einer kalten Scheibe.
Die Haltung der Frau verändert sich. Sie steht auf, drückt ihren Rücken durch und verschränkt die Arme vor der Brust. Gleichzeitig wird ihr Gesicht härter, angespannter, während ihre Augen klar und fokussiert nach vorne blicken. Sie hat nun eine neue Bestimmung.
„Komm heraus“, sagt Sandra und die Frau gehorcht. Ohne jedes Zögern, wie eine Soldatin der Rorak.
„Du hast ihren Verstand versklavt?“, fragt Lyon voller Entsetzen und Erstaunen.
„Ich habe ihm einen neuen Sinn gegeben“, erwidert Sandra.
„Schwachsinn, sieh sie dir doch an. Du hast ihr ihre Identität geraubt!“, beharrt Lyon.
„Da war nichts mehr zu rauben“, sagt Sandra energisch, „ihr Selbst war längst verloren und das, was davon vielleicht noch übrig war, war die reinste Tragödie. Glaub mir, ihr bisheriger Zustand war kein Segen. Sie war in sich zerrissen. So ist es besser.“
„Du tust das nicht zu ihrem Wohl“, widerspricht Lyon, „gib es zu, du willst ein Schild aus Fleisch, nicht mehr. Du willst nichts als eine Soldatin.“
„Nicht nur eine. Dutzende. Was immer dieses Irrenhaus uns bietet“, sagt Sandra, „ich war zu lange Kriegerin, um eine Waffe nicht zu ergreifen, wenn sie herumliegt.“
Etwas in Lyon zerbricht. Seine Züge entgleisen. „Hast du den Verstand verloren?“, fragt er und reckt trotzig das Kinn vor, „wir kämpfen für die Freiheit. Für die Selbstbestimmung eines jeden. Das hier widerspricht allem, woran wir glauben. Das ist fast schlimmer als alles, was Pendula tut. Und wo wird das enden? Willst du meinen Verstand brechen? Den aller Wesen auf Rihn? Den aller Kreaturen im Multiversum?“
Ich verliere ihn, denkt Sandra. Und etwa in ihr sträubt sich dagegen, dies geschehen zu lassen. Ihre eigenen Taten bereiten ihr inzwischen wenig Kummer. Sie hat ihren Weg gewählt und würde ihn weitergehen. Doch sie will keine Brücken abbrechen. Lyon ist ihr Spatz in der Kohlegrube. Wenn sie ihn nicht mehr in der Dunkelheit zwitschern hören kann, wird sie vielleicht darin ersticken. Aber sie kann nicht tun, was er von ihr will. Sie kann nicht klein, eingeschränkt und machtlos bleiben. Sie braucht ihn als Vögelchen, nicht als ihren Herren. Aber vielleicht gibt es da eine Möglichkeit.
„Von solchen Wahnfantasien bin ich weit entfernt“, sagt Sandra ruhig, „den Willen eines geistig gesunden, intelligenten Geschöpfes zu brechen ist nicht im Ansatz mit dem hier vergleichbar. Und ich würde es auch nicht wollen. Freiheit ist kostbar. Doch sie erfordert ein intaktes Ich. Und diese Leute haben das nicht. Ein Ziel ist der beste Ersatz, den ich ihnen bieten kann.“
Lyon blickt Sandra immer noch skeptisch an. Seine Lippen sind in Abscheu verzogen, doch Sandra erkennt dennoch, dass er ihr glauben WILL. Der Bravianer will das Gute. Er will auf der richtigen Seite stehen. Sie musste ihm nur klarmachen, dass das ihre Seite ist. Alles, was nötig ist, ist ein kleiner Schubs.
„Mein liebster Lyon“, sagt sie sanft und verführerisch und schreitet langsam auf ihn zu. Sie sieht seinen Körper reagieren. Sieht, wie sich die Härchen auf seinen Armen gegen seinen Willen vorfreudig aufrichten. Wie seine Hormone seinen Verstand und seine Moral ins Wanken bringen.
Dann ist sie bei ihm, schließt den im Vergleich zierlichen Mann in ihre kräftigen Arme und drückt ihn an sich wie eine Puppe.
„Ich würde dich und unsere Sache nie verraten“, haucht sie ihm ins Ohr, „ich kämpfe für ein glückliches und freies Leben für uns alle. Und du kannst dir nicht vorstellen, wie sehr ich mich auf den Augenblick freue, an dem alle Kämpfe enden und wir unsere Zeit mit schöneren Dingen verbringen können.“
Sandra spürt wie Lyon unter ihrer Umarmung nachgibt. Wie er sich an sie klammert wie an eine Rettungsleine.
Dann küsst sie ihn. Kompromisslos und leidenschaftlich. Es wäre falsch zu sagen, dass sie nichts dabei fühlt. Da ist eine moderate körperliche Anziehung. Eine große Portion Sympathie. Und sicher auch eine Menge Berechnung. Doch letzten Endes ist es für sie angenehm genug, um sich selbst nicht zu erniedrigen. Sie ist keine Prostituierte. Sie ist ein schwarzes Loch und er ist das Licht, das sie ansaugt.
„Darf ich dich an meiner Seite wissen, wenn wir Rihn und allen Welten die Freiheit schenken?“, fragt Sandra und löst ihre Lippen von Lyon, „werden wir diesen Weg gemeinsam gehen?“
„Ja“, sagt Lyon überrumpelt und sie erkennt Glück, Überraschung, aber auch Scham in seinem Blick. Das ist gut. Das ist genau das, was sie braucht.
„Ich werde diese Leute nicht unnötig verheizen. Ich brauche sie vor allem als Drohkulisse“, verspricht Sandra, „und ich werde nach einem Weg suchen, ihren Verstand wiederherzustellen. Wenn uns allen erst das absolute Wissen gehört, sollte das ein Leichtes sein.“
Lyon nickt und Hoffnung schleicht sich in seinen Blick.
Auch das ist gut, denkt Sandra, Hoffnung ist die beste Führleine, die man sich wünschen kann.
~o~
„Ist es hier immer so still oder hat es alle erwischt?“, fragt Andy während sein Blick sich an den gewaltigen, glitzernden Hallen festheftet. Selbst in seinen aufgedunsenen Facettenaugen fällt es mir leicht, das Erstaunen und die Bewunderung für dieses Bauwerk zu erkennen.
„Das letzte Mal als ich hier war, war es deutlich voller“, bemerke ich, während ich dem Weg folge, der mich beim letzten Mal zu Pingo gebracht hat, „aber ich denke nicht, dass sie alle im Kampf gestorben sind. Wahrscheinlich haben sie sich nur in Sicherheit gebracht. Hier gibt es viele Kammern und Winkel. Ich schätze, man kann hier tagelang rumlaufen, ohne jemanden zu treffen, wenn derjenige nicht gefunden werden will.“
„Hoffen wir es“, sagt Tarena, „es wurde schon genug Blut vergossen.“
„Ich glaube, es wird nicht das letzte sein“, erwidert Andy, „dieser Konflikt ist noch nicht entschieden. Weder der zwischen den Fraktionen noch der zwischen den Archiven und uns. Wir sind hier nicht willkommen. Überhaupt nicht. Das spüre ich.“
„Das mag sein“, antwortet Tarena, „aber wir müssen hier ja auch nicht verweilen. Adrian übergibt Pingo das Heilmittel und dann verschwinden wir wieder. So ist es doch, oder?“
„Ja“, sage ich nachdenklich, „etwas anderes würde Any wohl auch nicht akzeptieren. Sie hat sich ziemlich klar ausgedrückt, was meine Pflichten angeht. Der Besuch bei Pingo war nur ein Zugeständnis. Mehr nicht.“
„Gut“, sagt Andy, „ich würde gerne hier verweilen. Unter anderen Umständen zumindest. Ich würde gerne erfahren, was genau ich bin. Was wir sind. Woher wir kommen. Aber die Torwächterin hasst uns. Sie verabscheut unsere Anwesenheit. Das kann nicht gut ausgehen.“
„Es ist nicht nur die Torwächterin“, sagt Tarena, „hier ist noch etwas anderes. Etwas sehr sehr dunkles.“
„Etwa doch ein Planetenkrebs?“, frage ich alarmiert.
„Das wäre schon ironisch, oder?“, sagt Tarena lächelnd, „aber nein. Es ist etwas anderes. Nichts Wucherndes, etwas Wütendes, eingesperrtes, das gegen seine Gefängnismauern klopft. Es ist nur so eine Intuition, aber dennoch …“
„Ich weiß nicht, warum, aber ich vertraue deinen Intuitionen. Vielleicht liegt es daran, dass du aus der Zukunft kommst“, antworte ich schmunzelnd. Und doch verspüre ich einen unangenehmen Schauer, als ich in die saugenden Schluchten der glitzernden, unermesslichen Gänge und Hallen blicke, die diesen Ort durchziehen wie Fett ein Stück Schweinefleisch, „ich kann mir durchaus vorstellen, dass sie hier etwas festhalten. Irgendein Biest. Eine Art letzte Verteidigungslinie, um die Geheimnisse der Archive zu wahren. Wer weiß das schon. Jedenfalls sollten wir längst fort sein, wenn es befreit wird.“
„Ihr beide habt eine überbordende Fantasie“, stellt Andy fest.
Doch genau in diesem Moment donnert ein lautes, schrilles Knarren durch die Grundfesten der Archive. Es wäre zu viel gesagt, zu behaupten, dass wir anfangen zu rennen, als wir es hören. Aber wir gehen wirklich verdammt schnell.
~o~
„Wir sind da“, sage ich, als wir endlich den Eingang zu jeder seltsamen Vakuumkammer erreichen, die ich bei meinem letzten Besuch bei Pingo zum Betreten von Pongras’ Büro verwendet habe.
„Es wird ziemlich unangenehm, wenn wir erst dort drin sind“, warne ich meine Begleiter, „aber es ist dennoch sicher. Letztes Mal habe ich es auch gut überstanden.“
Um meine Worte zu bekräftigen, mache ich einen beherzten Schritt auf die Öffnung zu.
„Halt!“, höre ich eine warnende Stimme. Andy, Tarena und ich wirbeln fast gleichzeitig herum und begeben uns in Kampfposition.
Erst als ich Pongras bemüht ausdrucksloses Gesicht erkenne, entspanne ich mich und mache gegenüber den anderen eine deeskalierende Geste. „Das ist Pongras. Einer der Welthüter. Er ist auf unserer Seite und gewährt Pingo Zuflucht.“
Vor allem Andy sieht den Welthüter misstrauisch an und lässt seine Mandibeln warnend klacken, belässt es aber bei dieser moderaten und wohl eher unwillkürlichen Drohgebärde.
„Warum hast du uns aufgehalten?“, frage ich den Gelehrten.
„Weil dieser Eingang mittlerweile eine Todesfalle ist“, antwortet Pongras, „die Archive befinden sich im Belagerungsmodus. Es gibt nur noch wenige, sichere Pfade. Wenn ihr die Kammer betreten hättet, wären eure Köpfe explodiert.“
„So viel zum Thema Sicherheit“, meint Tarena augenzwinkernd zu mir.
„Also ist es reiner Zufall, dass wir noch leben?“, frage ich Pongras ein wenig empört.
„Es gibt im Multiversum weniger Zufälle als man denkt. Jedenfalls, solange Astrera noch nicht triumphiert hat. Das hier jedenfalls ist keiner. Any hat mich informiert, dass ihr kommen werdet. Und wir haben jeden eurer Schritte verfolgt.“
„Ich weiß nicht, ob das so viel beruhigender klingt“, witzelt Tarena.
„Es gibt auch keinen Anlass, beruhigt zu sein“, antwortet Pongras ernst, „die Situation ist katastrophal. Aber darüber sprechen wir in meinem Büro. Dafür müssen wir jedoch einen anderen Weg beschreiten. Kommt mit mir. Pingo und Jarma warten schon auf euch.“
~o~
„Dein Besuch ist ein Geschenk“, begrüßt Jarma uns mit gespielt emotionsloser Stimme, aber aufgewühltem Gesicht, „es geht ihm nicht gut. Er kann sich kaum noch bewegen oder sprechen. Hast du den Turaxit?“
Trotz ihrer Scharade, ist ihre Stimme gespickt mit feinem Schmerz, so als hätte man feine Nadeln darin versenkt. Hätte sie Pongras nicht ganz offensichtlich von dem Folterhalsband befreit, welches er ihr aufgenötigt hatte, um ihre Emotionen einzuhegen, hätte ich das als Ursache vermutet. Doch wahrscheinlich konnte kein Gerät der Welt so ein Leid erzeugen, wie das Schicksal eines Gefährten.
„Den habe ich, Jarma“, sage ich und zeige ihr den Stein, „lass uns besser keine Zeit verlieren, wenn sein Zustand so schlecht ist. Meine Gefährten kann ich dir später immer noch vorstellen. Nur so viel: Du kannst ihnen vertrauen.“
Jarmas Blick fällt auf Andy und sie kann ihre Abscheu angesichts seines unästhetischen Anblicks nicht ganz verbergen. Dennoch nickt sie und tritt durch die Tür, während der Rest von uns ihr folgt und nur Pongras wie gewohnt in seinem Arbeitszimmer zurückbleibt.
~o~
Was ich erblicke, als wir Jarmas Forschungszimmer betreten, erinnert tatsächlich nur sehr vage an meinen alten Freund. Zuerst halte ich ihn für eine bloße Statue. Errichtet zu Ehren eines Mannes, der diese Ehre sicherlich verdient gehabt hätte. Selbst das seelenlose Amorphium-Abbild des Steingeweihten, welches Jarma für ihn geschaffen hat und das noch immer reglos in der Mitte des kleinen künstlich geschaffenen Tümpels steht, sieht im vergleich deutlich lebendiger aus. Pingo so zu sehen ist fast noch schlimmer als sein kränklicher Halbzustand bei meinem letzten Besuch. Doch auch wenn ich es kaum glauben kann, steckt immer noch Leben in ihm.
„Adrian! Zu sagen, dass mir ein Stein vom Herzen fällt, nun wo ich dich sehen, wäre albern, oder?“, sagt Pingo krächzend, wobei sich sein Mund erstaunlicherweise noch bewegt, auch wenn kein Fetzen biegsames Gewebe mehr an ihm zu sein scheint.
„Oh ja, das wäre es“, sage ich lachend, um nicht weinen zu müssen, „selbst als der Stein noch dein Hirn kontrolliert hat, hast du bessere Scherze von dir gegeben“. Pingos Zustand erschreckt mich sehr. Doch ich bemühe mich, es ihm nicht zu zeigen, um ihn nicht noch mehr zu verunsichern als er es sicher ohnehin schon ist.
„Das stimmt wohl“, antwortet Pingo, „und ich muss zugeben, dass ich mich damals noch besser gefühlt habe als jetzt. Ich meine, verstehe mich nicht falsch, es war schrecklich sich über alles und jeden lustig machen zu müssen. Aber die Aussicht, zur eigenen Grabstätte zu werden, ist nicht wirklich charmanter.“
„Das wird nicht passieren!“, sage ich entschlossen und sehe dann zu Jarma, „das wird es doch nicht, oder? Der Turaxit wird ihn retten, hab ich recht?“
Jarmas Augen aber blicken ernst. Sie scheint keine Frau zu sein, die gut darin ist, ihrem Partner etwas vorzuspielen. Ihre Worte jedoch stehen im Gegensatz zu diesem Eindruck. „Die Chancen stehen gut“, sagt sie, „natürlich gibt es keine Garantie. Es ist lediglich eine Theorie. Aber ich halte sie für stichhaltig. Wenn ich die Lösung herstelle, wird sie nicht nur Pingos Geist vor den negativen Folgen eines Bewusstseins-Transfers bewahren, sondern mit hoher Wahrscheinlichkeit auch den Pyrit zurück in organisches Gewebe verwandeln.“
„Warum ziehst du dann so ein Gesicht?“, frage ich verwundert.
„Weil es nicht so einfach ist, wie es klingt“, erklärt Jarma, „die Rückverwandlung wird nicht dauerhaft sein. Das halte ich für unmöglich. Die Steinkrankheit ist so aggressiv und wird sich ihre Beute zurückholen. Aber wenn der Stein auch nur für ein paar Minuten zurückweicht, wird mir das die Chance geben, sein Bewusstsein zu transferieren, das aus diesem Steinkäfig sonst niemals entkommen könnte. Doch selbst in dieser kurzen Zeit …“
Jarma gerät ins Stocken, so als würden ihr die nächsten Worte Schwierigkeiten bereiten.
„… könnten mich die Schmerzen meinen Verstand kosten können“, antwortet Pingo an ihrer Stelle, bevor Jarma es kann. Offenbar hat sie ihn bereits eingeweiht, „falls mich der Schock nicht direkt aus dem Leben haut. Ironisch, oder nicht? Da überlebt mein Geist selbst die Infektion und die Heilung könnte mich in einen sabbernden Irren verwandeln.“
„Gibt es keine Möglichkeit, seine Schmerzen zu lindern?“, fragt Tarena mitfühlend.
„Nein“, sagt Jarma traurig, während sie den Turaxit in eine Glasschale legt, „sein Körper ist vollständig mit dem Stein durchsetzt. Noch kann er sich bewegen – welches Wunder auch immer das ermöglicht – aber ich glaube kaum, dass irgendein Schmerzmittel sein Nervensystem erreichen könnte. Und selbst wenn, könnte es die Heilung gefährden, da wir die Wechselwirkungen nicht kennen.“
„So eine Scheiße!“, fluche ich, „willst du es dennoch versuchen?“
„Ich denke schon“, antwortet Pingo, „wenn ich lebendig versteinere, werde ich ohnehin wahnsinnig und vielleicht noch zu einer Gefahr für andere, falls sich die Starre irgendwann doch lösen und mich in ein räuberisches Ungeheuer verwandelden sollte. So bin ich im schlimmsten Fall ein harmloser Irrer und wenn ich Glück habe, ein gesunder, nicht ganz so Irrer. Ich habe schon viel durchgemacht, Adrian. Da schaffe ich das auch noch. Außerdem würde ich mir nie verzeihen, wenn ich dich umsonst auf die Suche nach dem wertvollsten Stein in ganz Rihn geschickt hätte. Du hast ihn sicher nicht geschenkt bekommen, oder?“
„Nein“, antworte ich ihm, „es gibt wohl immer einen Preis. Aber du bist ihn mir wert gewesen.“
„Ich weiß nicht. Für einen Mann aus reinem Katzengold könnte er zu hoch gewesen sein“, sagt Pingo, „verraten willst du ihn mir nicht, oder?“
„Wenn du gesund geworden bist, vielleicht“, sage ich ausweichend.
„Das ergibt Sinn. Warum eine gute Geschichte an einen Verrückten verschwenden“, erwidert Pingo. Er sagt es lachend, aber seine Worte treffen mich dennoch. Trotzdem kann ich mich nicht dazu durchringen, ihm von meinem Dilemma zu erzählen. Er hat auch so schon genug Sorgen.
„So schlecht stehen deine Chancen auch wieder nicht“, betont Jarma und wirft Pingo einen verzweifelt-liebevollen Blick zu, während ihre Hände zielsicher eine ätzende Substanz über den Stein schütten, der unter deren Einfluss sofort Blasen bildet, „ich will nichts beschönigen, aber ich weiß, wie stark du bist.“
„Danke, mein Elixier!“, sagte Pingo und haucht einen Kuss in die Luft, „wir werden sehen, ob du recht hast. Bis dahin kann Adrian mir ja erzählen, wen er hier mitgebracht hat. Ich kann es kaum erwarten, es zu hören. Ich bin ziemlich neugierig. Das war ich schon immer.“
„Puh, das ist kompliziert“, antworte ich, „die Sache ist, das der andere Adrian dir mehr über die beiden erzählen könnte. Denn die drei sind – oder waren – gewissermaßen eine Familie.“
„Ah, Zeitlinienkram“, meint Pingo gelassen, „du vergisst, dass ich selbst lange in den Archiven tätig war. Ich finde solche Dinge nicht sonderlich verwirrend. Dennoch ist es sicher bemerkenswert. Reisen zwischen den Zeitlinien sind nicht alltäglich. Und meistens haben sie einen dramatischen, sehr bedeutenden Grund. Liege ich damit richtig?“
„Das könnte man so ausdrücken“, antwortet Tarena an meiner Statt, „wir haben eine wichtige Mission zu erfüllen, mit dem Ziel die Ordnung zu bewahren. Und wenn wir scheitern, wird sich die Realität selbst auflösen.“
„Ne Nummer kleiner habt ihr es nicht, oder?“, fragt Jarma zweifelnd, „das klingt für mich nach Pendula-Bullshit. Ich hab mich in den Archiven über ihre Ansichten informiert, schon allein um zu erfahren, für wen sich Pongras so engagiert. Sie lieben so einen apokalyptischen Bullshit. Meiner Erfahrung nach richten die, die die größten Drohkulissen aufbauen für gewöhnlich die größten Katastrophen an. Dazu gehört auch Any und ihr Verein. Nicht, dass ihre Gegenspieler irgendwie besser wären, versteht sich. Es gibt schon einen Grund, warum die Archive den Einfluss dieser Machtblöcke reduzieren wollen.“
„Du kennst mich, Jarma“, werfe ich ein, „wir haben Seite an Seite gekämpft. Ich mag nicht immer der beste Mensch gewesen sein. Aber ich habe mich geändert. Genau wie du. Ich würde nichts unterstützen, was ich für falsch halte.“
„Auch du kannst getäuscht werden. Und für die Agenda eines anderen benutzt. Ideologien haben diese Macht. Sie geben einem ein gutes Gefühl, selbst wenn man für eine schlechte Sache kämpft“, widerspricht Jarma, „ich weiß das. Ich habe selbst für eine Sache gekämpft, die sich richtig angefühlt und am Ende viel Leid verursacht hat.“
„Der Status Quo ist doch auch eine Ideologie“, stellt Andy fest, „wie sollen sich die Dinge verbessern, wenn man jede Veränderung ablehnt? Das wäre so, als würde man auf den Geruchssinn verzichten, weil man damit neben Blumen auch Fäkalien wahrnehmen kann.“
„Oh, aber Pendula lehnt jede Veränderung ab“, antwortet Jarma, „sobald alles erst in ihr perfektes Bild passt jedenfalls. Ihr solltet euch wirklich informieren, für wen ihr da trommelt.“
„Es ist nicht nur irgendeine Weltanschauung, für die ich eintrete“, sagt Tarena betont ruhig, „ich habe das nicht aus Kampfschriften und Manifesten. Und ich bin ganz sicher keine fanatische Anhängerin von Pendula. Ganz im Gegenteil. Doch ich war da. Ich habe gesehen, mit eigenen Augen gesehen und am eigenen Leib erlebt, was passiert, wenn wir unseren aktuellen Pfad weiter verfolgen. Ich habe keine feste Vorstellung davon, wie das Multiversum zu sein hat. Aber ich finde, dass es SEIN sollte.“
„So kann man sich alles schönreden“, erwidert Jarma scharf, „ich weiß das nur zu gut. Gerade, weil ich für Pongras arbeite. Er tut das ständig, obwohl er vorgibt so neutral, objektiv und emotionslos zu sein. Er brennt für seine verquere Philosophie und blendet all ihre Nachteile aus. Und ich bin da nicht anders. Ich brenne für den, den ich liebe und das ist meiner Meinung nach besser als für irgendwelche abstrakten Ideale zu arbeiten. Doch glaub mir, auch ich muss mir hier eine Menge schönreden.“
Jarmas Hand legt sich so fest um eine Glaskolben mit einer scharf riechenden, klaren Flüssigkeit, dass ihre Handknöchel weiß hervortreten und das Glas zu knirschen beginnt.
„Hey, vielleicht ist jetzt kein guter Zeitpunkt, um über Politik zu diskutieren“, meint Pingo schlichtend, „nicht, dass ich dir den Mund verbieten will, aber Wut scheint mir kein guter Ratgeber zu sein, wenn man mit Chemikalien hantiert.“
Jarma funkelt Tarena noch einmal herausfordernd an, doch als sie sich Pingo zuwendet wird ihr Blick weicher. Sie verstummt und wendet sich wieder ihren Laborutensilien zu. Sie schüttet den Inhalt des glücklicherweise noch intakten Glaskolbens aus, nimmt dann einige Pulver aus Dosen, die aus verschiedenen Kristallen gefertigt sind und rührt sie in das Gemisch, das sich aus dem sich langsam auflösenden Turaxit bildet.
Stille kehrt ein, während wir alle ihre Arbeit konzentriert verfolgen. Einige Minuten lang sagt niemand etwas, bis Tarena sich doch wieder traut das Wort zu ergreifen.
„Wie lange wird die Herstellung des Heilmittels dauern?“, fragt sie, „ich will nicht unsensibel erscheinen, wirklich. Aber wir haben leider Verpflichtungen, die keinen Aufschub dulden.“
„Du BIST unsensibel“, antwortet Jarma mit wütenden Augen und in solch einem bedrohlichen Tonfall, dass Andy sich sofort schützend und mit erhobenen Klauen vor seine Mutter stellt, „und unhöflich noch dazu, selbst wenn du kein Gast wärst, über den ich nicht das geringste weiß und der hier nur geduldet wird, weil Adrian für ihn bürgt, wäre dein Verhalten eine Frechheit. Das hier wird kein Hustensaft. Das wird ein Versuch, eine der größten Plagen des Multiversums zu heilen. Mit meinem eigenen Freund als Versuchskaninchen. Ich wäre dir also sehr dankbar, wenn du dein unsensibles Mundwerk hältst. Geh, wenn du musst und keine Geduld hast und komm gerne nie wieder, aber beleidige mich und Pingo nicht durch den Eiter, der aus deinem Mund quillt.“
„Noch ein weiteres Wort, Quacksalberin“, sagt Andy drohend, „und ich tunke deine Visage in die Säure dort.“
„Versuch es doch, Wasserkopf!“, erwidert Jarma, „ich habe schon hübscheren Abfall als dich entsorgt, ohne auch nur darüber nachzudenken.“
„Hört auf! Das ist alles meine Schuld“, sagt Tarena und senkte betreten den Kopf. „Es tut mir leid. Ich weiß um deine Bürde und Pingos Leben ist mir nicht egal. Es geht nur um den Preis, den Adrian für diesen Stein bezahlt hat und was passiert, wenn er den Bedingungen, die er akzeptiert hat, nicht nachkommt …“
„Any hat Verständnis für eure Lage“, meldet sich plötzlich Pongras Stimme zu Wort. Offenbar hat er nicht nur jedes Wort belauscht, sondern auch die Tür zum Labor geöffnet, ohne das einer von ihnen es mitbekommen hat.
„Woher willst du das wissen?“, frage ich den Mann, der wie aus dem Nichts in der Tür erschienen ist, verwundert und verzichte darauf, ihn für die Indiskretion zu kritisieren. Immerhin hat er hier womöglich gerade ein Blutbad verhindert.
„Any hat es mir mitgeteilt“, erklärt Pongras, „in Wahrheit hat sie es sogar beabsichtigt, dass ihr die Archive beschützt. Pingo die Zutat für das Heilmittel zukommen zu lassen, war nur ein praktischer Nebeneffekt.“
„Sie hat uns also manipuliert?“, frage ich verblüfft.
„Wenn du eine Situation die womöglich zur Heilung deines besten Freundes und zu Verhinderung einer großen Katastrophe beiträgt, so nennen willst, dann ja“, sagt Pongras.
„Von was für einer Katastrophe sprichst du?“, fragt Andy.
„Die Archive sind unter Beschuss“, antwortet Pongras, „ihr Krebsdiener seid nicht die einzigen, die sich hier entgegen unserer Statuten Zutritt verschafft haben. Und von dem Ratsbeschluss habt ihr vielleicht auch gehört. Oder?“
„Vom Beschluss, das Wissen der Archive mit dem einfachen Volk teilen zu müssen?“, frage ich.
„Von dem Beschluss, das Gehirn jedes einzelnen Wesens darin zu ertränken“, erwidert Pongras, „es ist ein vollkommener Irrsinn. Über einen freieren Zugang von Wissen könnte man reden, auch wenn ich ihn nicht für notwendig halte und er alles verkomplizieren würde. Aber das hier ist etwas völlig anderes. Es geht darum, alle Informationen jederzeit verfügbar zu machen. Nicht nur das Weltwissen, sondern auch das persönliche, alle möglichen Lebenswege, alle Gedanken der Leute, die man kennt, gekannt hat, kennen könnte oder je kennenlernen wird. Und das alles ohne Steuerung, ohne einen Filter, da diese Wahnsinnigen uns keine Chance geben wollen, ihn einzurichten. Noch dazu wurde der Beschluss nicht auf rechtmäßige Weise erreicht. Dennoch wird er genau in diesem Moment in die Tat umgesetzt. Mit roher Gewalt. Wenn wir es nicht zu verhindern wissen.“
„Wir?“, fragt Tarena.
„Ja“, bestätigt Pongras, „die Eindringlinge wollen zur Hochwissensabteilung. Das hat mir die Torwächterin mitgeteilt. Dort müssen wir sie abfangen. Und dafür brauche ich deine Hilfe, Adrian und die der Krebsbotin und ihres Sprösslings.“
„Nein zu sagen wäre wohl keine Option, oder?“, antwortet Tarena.
„Nein, wäre es nicht, aber warum solltest du auch?“, fragt Pongras, „wenn du vorhin die Wahrheit gesagt hast, ist dies gänzlich im Sinne deiner Mission. Denn eine Welt, in der Unwissenheit unmöglich ist, ist nur noch einen Schritt von jenem quälenden Chaos entfernt, das du hautnah miterlebt hast. In solch einer Existenz gibt es keinen Sinn und nicht einmal wirkliche Freiheit. Es wäre die absolute Hölle, die eigentlich nicht einmal Astrera wollen kann, auch wenn ich stark vermute, dass sie dahinterstecken.“
Tarena denkt kurz darüber nach. Dann nickt sie.
„Ich komme auch mit euch“, bietet sich Pingo an.
„Auf keinen Fall!“, widerspricht Jarma, „du bist todkrank und könntest jeden Moment vollkommen erstarren!“
„Ja, aber ich bin auch praktisch unverwundbar“, entgegnet Pingo, „Und ich denke, Adrian kann meine Hilfe gut gebrauchen. Wir waren schon immer ein großartiges Team.“
„Das mag sein. Aber auch ICH brauche deine Gesellschaft!“, widerspricht Jarma, „mehr als alles andere …“
Die letzten Worte sagt sie leise und wehmütig, wie ein schmerzerfülltes Flüstern.
„Und ich brauche deine, Jarma“, antwortet Pingo sanft, „aber wenn Pongras recht hat, haben wir von unserer Zweisamkeit nicht mehr viel, wenn unser Bewusstsein in allgegenwärtigem Wissen ersäuft. Wir müssen das aufhalten. Es war schlimm genug, als ich ständig in Reimen sprechen musste. Ich will mir gar nicht vorstellen, wie es sein würde, ohne Unterlass sinnfreie Anekdoten von sich zu geben. Ich kann das nicht einfach geschehen lassen. Verstehst du?“
Jarma scheint widersprechen zu wollen, doch dann werden ihre Gesichtszüge entspannter und ihre Erregung macht einer akzeptierenden Trauer Platz. „Ich verstehe vor allem, dass ich kein Recht habe, deine Wünsche zu ignorieren, Pingo. Erst recht nicht, wenn es um deine eigene Gesundheit geht. Geh ruhig mit. Und wenn du zurückkehrst, wartet das Heilmittel und deine neuer Körper auf dich. Aber sei vorsichtig und stell dich nicht in die Frontlinie, wenn du es vermeiden kannst. Dein Körper ist nicht so zuverlässig, wie du vielleicht hoffst.“
„Ich passe auf ihn auf“, sage ich mit belegter Stimme, „auch ich habe kein gutes Gefühl dabei, Pingo mitzunehmen. Aber er macht mir nicht den Eindruck als ob er für solche Einwände empfänglich wäre.“
„Was für ein guter Beobachter du doch bist“, witzelt Pingo, „aber nett, dass du auf mich achtgeben willst.“
„Ich werde das Labor von außen so verriegeln, sodass keiner außer dir und uns es öffnen kann“, sagt Pongras zu Jarma, „ich kann nicht garantieren, dass das alle Eindringlinge fernhalten wird. Aber die meisten zumindest.“
„Danke“, gibt Jarma zurück, „ich hoffe, dass ich mich besser auf deinen Schutz verlassen kann als auf meine versprochene Privatsphäre.“
Ich meine zum ersten mal, seit ich ihn kenne, ein schwaches Lächeln auf Pongras Gesicht zu erkennen. Und der kühle, frische Windstoß, der infolge dieses bloßen Verziehens seiner Mundwinkel aus dem Nichts durch den Raum weht, spricht dafür, dass das nicht nur reine Einbildung ist.
„Dann lass uns gehen und diesen Wahnsinn aufhalten“, sage ich, „wenn ich gerade etwas nicht in meinem Kopf gebrauchen kann, dann noch mehr Gedanken.“
~o~
„Warum hat Any mir nicht einfach von dieser Mission erzählt und es mir noch als große Gnade verkauft, dass ich die Archive aufsuchen und Pingo den Turaxit bringen darf?“, frage ich Pongras, während wir gemeinsam durch die leergefegten Hallen und Gänge der Archive schreiten. Pingo geht dabei etwas hinter uns. Seine Bewegungen sind fast mechanisch, aber erstaunlich schnell und obwohl sie kleine, donnernde Erschütterungen durch den Boden jagen, die selbst in meinem Rücken vibrieren, verursachen sie kaum einen hörbaren Laut. Nur ein geisterhaftes, fernes Klirren gerade am Rande meiner Wahrnehmung, das ein wenig wie Gelächter klingt.
„Ich weiß es nicht“, sagt Pongras, „ich bekomme nur die Informationen von Pendula, die ich benötige. Alles andere wäre zu gefährlich, wenn man bedenkt, wo ich arbeite. Die Archive sind ein Ort des Studierens, ja. Aber es ist nicht auszuschließen, dass man hier auch studiert wird.“
„Dieser Ort belauscht einen?“, fragt Tarena verwundert.
„Der Ort, die Besucher, die Angestellten. Es gibt hier viele Geheimnisse“, erwidert Pongras, „und letzten Endes ist das auch gut so. Ohne Geheimnisse funktionieren Gesellschaften nicht. Es muss ein Informationsgefälle geben. Wenn jeder alles weiß, führt das zum Chaos.“
„Eine recht seltsame Einstellung für einen Welthüter, meinst du nicht?“, fragt Andy.
„Das könnte man meinen“, gesteht Pongras, „und ich muss zugeben, dass mir die Gewinnung und Bereitstellung von Wissen Freude bereitet. Es streichelt mein Ego. Aber letztlich ist es nicht nötig. Komplexe Systeme funktionieren fantastisch mit einfachen Komponenten. Nehmen wir die Computersysteme aus Adrians Welt. Jedes Einzelteil weiß nur, ob es eine Information hat oder nicht, ob es eine 1 ist oder eine 0. Es weiß – wenn man in diesem Kontext überhaupt von Wissen sprechen kann – nichts von Kunst, Philosophie, Wissenschaft oder virtuellen Welten. Und dennoch kann es die Gesamtheit diese Dinge erschaffen und darstellen. Dasselbe gilt für ein Zahnrad, das nur die Kraft seines Nachbarn überträgt und nicht wissen muss, wie der gesamte Mechanismus funktioniert. Oder auch für einen makellosen Schwarm, wie ihn eure edlen Vorfahren bildeten, Andy. Alles, was es braucht, ist eine leitende und koordinierende Instanz mit einem klaren Ziel und festen Regeln. Diese Instanz ist Any. Und letztlich müssen wir alle auf ihr Urteil vertrauen.“
„Ich bin kein Freund von Tyrannen“, entgegne ich, „ich war selbst mal einer und kann es nicht empfehlen. Es ist ein dreckiges Geschäft und führt nur zu Leid und dazu, am Ende als nackte Witzfigur davongejagt zu werden. Wenn man Glück hat.“
„Any ist keine Tyrannin!“, antwortet Pongras gereizt und während er spricht, kitzelt eine unangenehme Wärme auf meiner Haut, die mir den Schweiß aus den Poren presst, „Tyrannen sind launisch und ohne Gesetz. Any ist das Gesetz und befolgt es genauso wie jeder andere. Das ist das Gegenteil von Tyrannei.“
„Bullshit!“, traut sich Pingo zu sagen und Pongras blickt ihn überrascht an, „du redest der Sklaverei das Wort. Es tut mir leid, dass so deutlich sagen zu müssen, wo du mir und Jarma so geholfen und uns Zuflucht gewährt hast, aber deine Ansichten, Pongras sind widerlich. Es geht hier nicht um irgendwelche theoretischen Konzepte. Nicht um Dioden, Chips oder verfickte Zahnräder. Wir reden von fühlenden Kreaturen. Und wenn die wie Zahnräder behandelt werden, spüren sie den Schmerz, die Enge und die Fremdbestimmung. Das ist keine Harmonie, das ist ein Albtraum. Aber mit deinem kalten, lieblosen Herzen verstehst du das natürlich nicht.“
„Oh, du irrst dich. Ich verstehe das sehr gut …“, sagt Pongras leise. Seine Stimme zittert, ob vor Zorn, Kränkung oder Selbstmitleid ist schwer zu sagen, aber sie ist getränkt mit Emotion „ich leide unter denselben Unzulänglichkeiten wie ihr und kämpfe mit derselben Krankheit. Ich lasse es mir nicht anmerken, aber … mein Herz ist weit. So viel weiter als du vielleicht glaubst. Ich erinner mich gut an die Zeiten, wo ich jedes Schicksal genauestens verfolgt habe. An das Elend der Zerweiteten, an jene die an ihrem gewonnenen Wissen nicht ganz, aber fast zerbrachen und die mich um Rat anflehten. Jede Träne war wie ein Schlag, jedes Lächeln wie ein Schnitt, jedes enttäuschte und verzweifelte Abwenden wie eine Minute in einem andrinischen Folterkeller. Ich musste die Taubheit erlernen, um das zu ertragen, um zu funktionieren. Um zu wachsen. Ja, um überhaupt LEBEN zu dürfen. Es war schwer. Richtig, aber schwer. Und das ist es heute noch. Schwerer denn je vielleicht …“
„Zeigt das nicht, dass deine Haltung falsch ist?“, antwortet Tarena, „dass es unnatürlich ist, so zu denken und sein Wesen zu unterdrücken?“
„Ich verzichte gern auf moralische Ratschläge von Krebsdienern“, erwidert Pongras arrogant und ein elektrisches Knistern lässt mir die Haare zu Berge stehen. Pongras Beherrschung beginnt zu zerfallen, daran besteht kein Zweifel.
„Das ist ein Ad-Hominem-Argument“, wendet Pingo ein, „du greifst ihre Person an, nicht ihre Argumentation. Das ist eines Welthüters unwürdig und intellektuell unredlich.“
„Wir sind da“, sagt Pongras mit bebenden Lippen, ohne auf Pingos Kritik zu reagieren, „und wir sind nicht die ersten. Das spüre ich. Die Eindringlinge sind bereits dort drin. Und mit denen könnt ihr nicht über ideologische Differenzen diskutieren. Sie wollen weder Freiheit noch Ordnung oder Mitgefühl. Alles, was sie wollen, ist ein Kosmos in Trümmern.“
Mit diesen Worten öffnete Pongras das Tor, während seine Züge um Haltung kämpfen und seinen über Jahrzehnte gepflegten Schild aus Gleichgültigkeit zu bewahren versuchen. Doch als die Pforte sich unendlich leise öffnet und das auf seine Netzhaut projiziert, was sich gerade im wichtigsten Bereich der Archive abspielt, zerbirst dieser Schild in tausend Splitter. Wunden tun sich auf. Schwärend, eiternd und entzündet. Und aus all diesen Wunden, bluten Gefühle.
~o~
„Hier muss niemand zu Schaden kommen, wenn ihr alle kooperiert“, sagt Sandra als sie die Hochwissensabteilung an der Spitze eines Heeres aus Laarmaschk und Zerweiteten betritt, „alles, was wir wollen, ist, dass der Beschluss des Rates umgesetzt wird. Lasst ihr das zu, wird euch nichts geschehen.“
Diesmal weiß sie sofort, dass sie am richtigen Ort ist. Das erkennt sie nicht an den geschwungenen Treppen und schwebenden Plattformen. Nicht an der sphärischen Musik. Nicht an den seltsamen schwebenden Kristallkokons und auch nicht an an den rauen aus schimmerndem Gold und strahlendem Aventurin bestehenden Wänden. Sie bemerkt es allein an der Anwesenheit, vor allem aber an der Angst der Mitarbeiter und Besucher der Archive, die sich hierhin zurückgezogen haben. Sandra sieht müde, abgekämpfte und von Unsicherheit zerfressene Gesichter. Eine bunte Mischung aus vielen Rihn-Ha, aber auch einigen Bravianern, Andrin, Deovani, Echsenmenschen, Vogelkreaturen und anderen Rassen, vereint in ihrem sinnlosen, mutlosen Streben irgendwo zwischen trotzigem Widerstand und dem hilflosen Betteln um Gnade. Das letzte, erbärmliche Aufgebot von Leuten, deren Leben nie auf den Kampf ausgerichtet waren.
Dummerweise ist der Kampf jedoch die einzige Situation, in der das Schwert mächtiger ist als die Feder. Und diese Leute hier, die so viel wissen, wissen auch das. Genau wie sie wissen, dass sie keine Chance haben, diesen Kampf zu gewinnen, egal wie rebellisch ihre Herzen auch sein mögen.
Sie erblicken die halb-wahnsinnigen und zugleich gespenstisch disziplinierten Zerweiteten, sie sehen die Laarmaschk, die ihre einschüchternde Schlammform angenommen haben und sie sehen die gnadenlose, düstere Frau, die sie anführt und deren befehlsgewohnte Stimme im krassen Kontrast zu der harmonisch dahintröpfelnden Musik dieses Ortes steht. Sandra ist ein lebendiger Albtaum. Ein Schreckgespenst in einer Kinderstube. Wie also sollten sie nicht verzweifeln?
Doch offenbar ist der Schrecken nicht so absolut wie sie gehoft hat. „Der Rat wurde unterwandert. Ein Beschluss, gefälscht und erschlichen von Gestaltwandlern, ist nicht gültig. Schon gar nicht in einer Welt die auf Wissen und Wahrheit beruht. Wir können das nicht zulassen“, sagt ein älterer, kräftiger Mann mit weißem Haar, der tatsächlich die Eier hat, ihr zu widersprechen. In seiner Hand trägt er als einer der wenigen Anwesenden eine richtige Waffe. Keinen Stab oder hastig aufgeklaubten Kristallsplitter, sondern einen imposanten Kristallkarakt, der sicher ein wenig zu seinem Selbstbewusstsein beiträgt.
„Weißt du …“, sagt Sandra während sie einige Schritte auf den Mann zugeht, „ … Wissen ist wie diese Waffe, die du in deiner Hand hältst. Es gibt dir Halt und Sicherheit, aber gegen eine Mehrheit, die anderer Meinung ist, nützt sie dir wenig. Und was du hier vor dir siehst, ist doch eine Mehrheit, oder etwa nicht? Das ist ein Fakt, den du nicht leugnen kannst. Du siehst, Fakten und Wissen sind nicht immer dasselbe. Vor allem, wenn es um die Vergangenheit geht. Wissen ist nicht mehr als ein Kondensat unzuverlässiger Erinnerungen und zweifelhafter Quellen. Fakten sind das, was zählt. Sie beherrschen den Moment.“
„Du kannst die Wahrheit mit deiner dummen Rhetorik verdrehen, wie du willst. Aber an den Tatsachen ändert das nichts. Sie können überprüft und nachvollzogen werden. Dadurch trotzen sie dem Wandel der Zeit. Genau wie den Launen aufgeblasener Despotinnen“, entgegnete der Mann kühn.
„Ich muss zugeben, dass mir das zu denken gibt …“, sagt Sandra, „… vielleicht sollte man deine These überprüfen. Drägmon?“
„Nein, tu das nicht!“, ruft Lyon, dem das verschwörerische Zwinkern von Sandra genauso wenig entgeht, wie dem von ihr angesprochenen Laarmaschk. Doch Lyons Bitte bewirkt nichts. Der Gestaltwandler feuert seinen eigenen im Kampf mit den Wachen erbeuteten Kristallkarakt ungerührt auf den Wortüfhrer der Rihn-Ha ab und trifft dabei exakt sein Gehirn. Die explodierenden Kristallsplitter leisten ganze Arbeit im Schädel des Mannes. Obwohl sein Hirngewebe gänzlich zerschnitten und zerrissen ist, hält sich dedr tapfere Rihn-Ha aber noch einen Moment aufrecht, bevor er einfach auf dem Boden zusammensackt. Der Rest der Anwesenden rührt sich nicht. Keiner eröffnet das Feuer. Niemand spricht ein Wort.
„Vielleicht könnt ihr meinen Punkt jetzt nachvollziehen“, sagt Sandra kühl, „Ihr meint zu wissen, dass dort eben noch ein atmender, mutiger, intelligenter und letztlich ziemlich leichtsinniger Mann stand, der seinen Standpunkt gegen mich verteidigt hat. Fakt ist aber, dass dort nur eine ziemlich dumme und nutzlose Leiche liegt. Vielleicht gibt es da sogar einen Zusammenhang. Eine Korrelation von frechen Widerworten und plötzlichem Dahinscheiden. Was meint ihr? Könnt ihr mir da folgen?“
„Es reicht, Sandra!“, begehrt Lyon auf, „so benehmen wir uns nicht. Wir sind Befreier, keine Sadisten. Wenn du noch einen einzigen von ihnen grundlos hinrichtest, kannst du das hier fortan alleine durchziehen. Und Astrera wird auch nicht begeistert sein, das kann ich dir versprechen. Das ist nicht das wofür wir stehen und ganz bestimmt nicht das, wofür ICH stehe!“
Sandra dreht sich um. Sie sieht in Lyons Augen und stellt fest, dass es ihm diesmal verdammt ernst ist. Ernster noch als vorhin, wo sie die Zerweiteten übernommen hat. Sie verliert den Zugriff auf ihn. Mehr als sie es mit ein bisschen Flirten wiedergutmachen könnte. Und eigentlich weiß sie das auch. Wenn es nur nicht so schwer wäre, die Arroganz dieser niederen Existenzen zu ignorieren. Zwar glaubt sie weder daran, dass Lyon es allein lebendig zu Astrera schaffen würde, noch dass eine Organisation mit Kreaturen wie Novrur in ihren Reihen viel gegen ein bisschen Gewalt einzuwenden hat, aber Lyons Kritik hat dennoch einen wahren Kern. Ein schlechter Ruf verbreitet sich wie Krebs. Und niemand unterwirft sich, wenn er nicht mit Gnade rechnen kann.
„Es tut mir leid, Lyon“, sagt Sandra demonstrativ und senkt dabei demütig ihren Kopf bevor sie sich an die anderen Anwesenden wendet, „und nicht nur deinetwegen, sondern wegen euch allen. Ich bin eine Kriegerin. Schon sehr lange. Und deshalb bin ich nicht mit Geduld gesegnet. Trotzdem war es ein Fehler gewesen, diesen armen Mann töten zu lassen. Ein Fehler, der mir nicht noch einmal passieren wird. Deshalb lass‘ ich euch gehen. Ihr habt Vernunft bewiesen, als ihr das Feuer nicht erwidert habt. Steht zu dieser Vernunft, legt eure Waffen nieder und verlasst diesen Raum. Wir werden euch nichts antun und ihr werdet feststellen, dass das, was wir hier vorhaben, für euch alle von Vorteil sein wird.“
Die Rihn-Ha sehen sie erleichtert und zugleich misstrauisch an. Doch als Lyon ihnen zunickt, legen die ersten gehorsam ihre improvisierten Waffen nieder und setzen sich in Bewegung. Besucher und Leser und andere Angestellte gleichermaßen. Kurz darauf folgen ihnen auch die, die erst noch gezögert haben.
„Danke!“, sagt Lyon, „ich meine … danke, dass du es nicht noch schlimmer machst.“
„Ich bin lernfähig …“, beginnt Sandra lächelnd und bricht ab, als ein Strahl aus atomarem Feuer ihre Haut versengt und sie mehrere Meter durch den Raum schleudert. Sandra schläg hart auf und klammert sich geistesgegenwärtig an einer Kristallmauer fest, um nicht in die Tiefe zu stürzen. In ihren klingelnden Ohren hörte sie einen Wutschrei so laut und markerschütternd, wie sie ihn noch nie zuvor vernommen hat. Nein, es ist kein Schrei. Es ist ein Fanal unterdrückten Zorns, das mit tödlicher Wucht über ihnen detoniert.
~o~
Noch immer versuche ich zu begreifen, was gerade geschehen ist. Mein Blick fällt auf Sandra, dann auf die Laarmaschk und für einen Augenblick kommt es mir so vor, als hätte ich Uranor nie verlassen. Doch diese Illusion verblasst. Nicht zuletzt durch den Anblick des altem Rihn-Ha, dessen Hinrichtung sich nur wenige Momente vor unserer Ankunft ereignet haben musste. Aber auch angesichts des Welthüters, dessen legendäre Beherrschung vor meinen Augen gänzlich kollabiert. Wie bei einem trügerischen, erloschen geglaubten Vulkan.
„Beruhig dich, Pongras“, versuche ich auf den erbosten Mann einzureden, wissend welche Gefahr von ihm ausgeht. Das unbeherrschte, hochrote, wutverzerrte Gesicht des sonst so emotionslosen Mannes erschreckt mich mehr als vieles, was ich auf meinen Reisen gesehen habe. Sein ganzer Leib zittert, fast als hätte er einen Krampfanfall erlitten. Seine Augen sprühen vor Zorn. Vor Erregung. Vor Verwirrung.
„Das Dreckstück hat ihn getötet!“, wütet Pongras und ich kann bereits spüren wie sich erneut knisternde Elektrizität in der Luft aufbaut, „kaltblütig. Omentga war vielleicht nur ein Leser. Aber er war ein guter, freundlicher und fleißiger Mann. Eine Stütze der Archive für so viele Jahre. Ein … ein Freund … er hat das nicht verdient!“
„Du hast ja recht, Pongras“, sagt Pingo, „aber wenn du dich nicht beruhigst, wirst du sogar noch mehr Unschuldige gefährden als unsere Feinde. Das hast du schon jetzt getan. Sieh doch!“
Pingo zeigt auf die niedergeworfene Menge aus Besuchern, Zerweiteten und Laarmaschk. Auf die verbrannten, geschwollenen Gesichter und verheerenden Wunden der Rihn-Ha, von denen nicht wenige bewusstlos oder dem Tode nah zu sein scheinen. Nicht jeden hat es so schlimm getroffen wie Sandra, die das eigentliche Ziel von Pongras’ Wut gewesen ist, aber doch viele. Folgen der magischen Feuersbrunst wie auch der Kristallsplitter in die Pongras das Eingangstor zur Kammer verwandelt hat. Ein leises Wimmern und Ächzen von jenen, die noch zu solchen Lauten in der Lage sind, mischt sich mit der sphärischen Musik der Halle und lässt sie endgültig zum Hohn verkommen.
„Nein … das …. ich ….“, stottert Pongras während er erschüttert auf das blickt, was sein Gefühlsausbruch ausgelöst hat und das Ausmaß seiner Tat langsam realisiert. Heiße, bittere Tränen laufen über sein Gesicht. Und das Knistern in der Luft steigert sich weiter, während sie sich immer weiter aufheizt. „Ich wollte das nicht … mein Gott, wirklich nicht … es muss Ordnung herrschen. In mir, um mich herum … aber ich … ich kann es nicht mehr!“, brüllt Pongras bebend, „ich kann mich nicht mehr beherrschen. Die Welt … ihr Gewicht ist zu groß. Sie liegt mir auf der Brust. Ich kann die Trennung nicht länger stemmen … ich muss mich öffnen. ICH MUSS ES EINFACH!“
„Ja, das musst du“, rate ich ihm beruhigend, „Aber du musst es gefälligst langsam tun, ansonsten hinterlässt du mehr verbrannte Erde als selbst Sandra es könnte. Wenn du dich nicht beherrschst, wirst du zum größten Schlächter von Rihn. Und glaub mir, einen solchen Ehrentitel willst du nicht haben.“
Diese Worte rufen mir ins Gedächtnis, dass meine alte „Freundin“ und ihre Armee noch immer kampfunfähig sind. Eine Gelegenheit, die ich nicht ungenutzt lassen sollte.
„Gebt auf Pongras acht und gebt mir Deckung, wenn ihr könnt!“, sage ich zu den anderen, „ich schnappe mir Sandra.“
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Zu meinem Glück hat der Welthüter wirklich ganze Arbeit geleistet. Was immer er mit seiner Emotionsmagie hervorgerufen hat, ist weit mächtiger als eine gewöhnliche Feuersbrunst. Selbst jene, die scheinbar unverletzt sind, wirken noch immer benommen und paralysiert und bereit, jeden Augenblick in die Ohnmacht zu sinken.
So fege ich unbehelligt durch die Menge, auf der Suche nach der Frau, mit der ich einst Bett und Thron geteilt habe. Ich weiß nicht genau, welche Rolle sie in all dem spielt. Aber ich weiß, dass sie die noch dunklere, noch gefährlichere, noch erbarmungslosere Version von mir selbst ist. Schlimmer gar als mein zukünftiges Ich. Sie hat sich mit den Laarmaschk eingelassen und eine Armee um sich geschart. Was auch immer sie vorhat, ich muss sie ausschalten. Und zwar endgültig. Mitleid ist hier vollkommen fehl am Platz. Doch leider ist es verdammt schwer, sie in der Menge der regungslosen Körper auszumachen. Ein paar mal sehe ich blondes, lockiges Haar, bringe meinen Kompass-Blaster aber doch nicht zum Einsatz, da ich das mir unbekannte Gesicht einer Rihn-Ha oder eines anderen Besuchers aus den Archiven erkenne.
Plötzlich greift mich etwas am Fuß und bringt mich zum Stolpern. Ich wirbele herum und sehe in das Gesicht eines traurigen, verwirrten Mannes mit schweißverklebten, schwarzen Haaren und unsteten, braunen Augen. „Wir sind allein. Wir sind so allein!“, klagt er, „wimmernde Kinder in leeren Hallen zwischen Milliarden Illusionen. Wie sollen wir uns erkennen. Wie sollen wir wissen, wer wir sind?!“
Ich erkenne sofort, dass von der armen Seele keine Gefahr ausgeht. Doch ihr Griff ist fest. So unglaublich fest, dass ich ihn nicht lösen kann. Weder mit gutem Zureden, noch mit sanfter oder auch gröberer Gewalt.
„Lass mich los!“, verlange ich. Doch der Mann hält fest.
„Verlass mich nicht, bitte! Ich spüre deine Echtheit. Du bist echter als alles hier. Ein Anker. Ein Funken Realität. Verlass mich nicht!“, fleht er.
„Das ist echt nett von dir“, sage ich, „aber ich muss trotzdem weiter. Jetzt sofort!“
Doch der Mann packt nur noch fester zu, stiehlt mir wertvolle Zeit. Ich trete gegen seine Faust. Ein dumpfer Schmerz geht durch mein eigenes Bein, doch er lässt noch immer nicht los, während sich die Leute um uns herum langsam wieder erheben. Das Zeitfenster verstreicht.
„Tut mir leid!“, sage ich, richte meine Waffe auf seinen Unterarm und drücke ab. Die messerscharfen Nadeln fliegen hindurch, zerfetzen Fleisch und Knochen und trennen ihn ab. Endlich gelingt es mir, mich zu befreien, während der Mann vor Pein aufschreit.
„Fuck!“, rufe ich. Vor allem aus Scham und Mitgefühl, aber auch weil mein Überraschungsmonment dast dahin ist. Ironischerweise mache ich ausgerechnet jetzt Sandra endlcih in der Menge aus. Ihr in schwarzen Anzugstoff gehüllter Körper, war bislang halb unter einer Rihn-Ha begraben und nun rappelt sie sich langsam auf. Gleiches gilt für viele der Gestaltwandler, die die Auswirkungen des Angriffs besser verkraftet zu haben schienen, als die meisten hier.
Doch Sandra ist immer noch zu weit weg. Wenn ich jetzt abdrücke, verletze ich einen weiteren Unschuldigen oder schieße im besten Fall vorbei. Doch wenn ich warte und sie alle vollständig erwachen, sind wir Sandra und ihrer Horde völlig ausgeliefert.
„Scheiß drauf!“, sage ich und schwinge Anys Pendel, ohne zu wissen, welche Konsequenzen der Einsatz des Artefakts hier haben kann.
Zu meiner Erleichterung funktioniert es. Die Zeit friert ein. Für jeden, außer für mich. Ohne, dass die Archive explodieren oder das Geflecht auseinanderreißt. Zumindest jetzt noch nicht.
Beruhigt lege ich die letzten Meter zurück, schlängele mich zwischen den in der Bewegung erstarrten Laarmaschk und Rihn-Ha hindurch und stehe schließlich direkt vor Sandra.
Sieh sieht mich an. Oder zumindest sieht es so aus. Aber ich weiß natürlich, dass dem nicht so ist. Sie ist genauso in der Zeit erstarrt wie alle anderen. In einer verdrehten Haltung, die nicht dazu bestimmt ist, dauerhaft eingenommen zu werden. Sandra sieht nicht gut aus. Und das, obwohl sie deutlich musköler und sogar größer ist als bei unserem letzten Zusammentreffen. Ihr Gesicht ist verschwitzt und verbrannt. Ihre Haut voller Blasen. Ihr Blick gehetzt. Was immer Pongras mit ihr angestellt hat, ist nicht spurlos an ihr vorübergegangen. Womöglich tue ich ihr sogar einen Gefallen, wenn ich es beende.
Ich denke dennoch an unsere gemeinsame Zeit. Frage mich, ob das hier hätte anders laufen können und stelle schnell fest, dass diese Antwort irrelevant ist. Die eigentliche Frage ist, ob es jetzt noch anders laufen kann und die Antwort darauf ist eindeutig ‚Nein‘. „Sorry, Tarena“, sage ich und erinnere mich daran, dass die Krebsbotin, dass Tarena eigentlich alle Grausamkeit von mir fernhalten wollte, um meine Seele zu schützen und zu verhindern, dass ich wie mein anderes Ich werde. „Manchmal muss man sich die Hände schmutzig machen“, sage ich halblaut, „selbst wenn man für eine gute Sache kämpft.“
Dann ziele ich auf Sandras Kopf und drücke mehrmals ab. Die Kompassnadeln reihen sich um sie auf. Um Sandras Stirn, um ihre Augen. Wie eine Armada kampfbereiter Schlachtschiffe, um ein hilfloses Handelsschiff oder ein Rudel Wölfe um ein verletztes Reh. Sie können ihr Vernichtungswerk noch nicht verrichten. Das können sie erst, wenn ich den Zeitstopp aufhebe. Aber ihr Schicksal ist dennoch besiegelt.
Mein Blick schweift über die Halle und bleibt an den vielen liegenden oder halbrechten Gestalten hängen. Da die Wirkung des Pendels noch anhält, sollte ich mich vielleicht auch den anderen Feinden widmen. Gerade bei den Laarmaschk weiß ich ja nur zu gut, welchen Schaden sie anrichten können. Warum also nicht auf Nummer sicher gehen?
„Hallo Adrian“, höre ich unvermittelt Sandras Stimme und halte selbst vor Erschrecken den Atem an, als sie die Kompassnadeln, die sie einfach aus der Luft gepflückt zu haben scheint, vor mir auf den Boden wirft. Sie grinst breit und triefend vor Arroganz.
„Wie ist das möglich?“, frage ich völlig perplex.
„Du hast dich bei der falschen Frau entschuldigt, könnte man meinen“, antwortet Sandra ohne auf meine eigentliche Frage einzugehen, „wobei … eigentlich doch nicht.“
Bevor ich fragen kann, was sie meint oder meine Waffe erneut betätigen kann, spüre ich einen gewaltigen Willen in meinen Kopf eindringen. Stärker als die Hirten der Rilandi, stärker als Karmon in seiner Blütezeit, mächtiger selbst als der finstere Marnok fährt er in mich hinein. Es ist kein fairer Kampf zweier Willen, sondern eher ein Massaker. Mein Ich wird einfach an den Rand meines Kopfes geschubst, so als wöge es nichts. Es ist wie bei meiner Zeit im Fehlstein, nur deutlich unbequemer.
„Ich muss mich bei deinem Begleiter, dem Welthüter bedanken“, höre ich Sandras Stimme, „ohne seine besondere Magie wäre das wohl nicht möglich gewesen.“
Sandras Worte hallen wie einen Paukenschlag durch meinen Schädel. Kurz darauf sehe ich machtlos dabei zu, wie ich mich umdrehe, sich mein Arm hebt und ich meine Waffe direkt auf Tarena richtet. Unfähig, den Kampf über die Kontrolle der Nadelkanone auch nur aufzunehmen, tue ich das einzig mögliche: Ich konzentriere mich allein auf meine andere Hand, die Sandra in ihrem Ringen um Dominanz vernachlässigt. Ich lege all meine verbliebene Geisteskraft hinein, schwinge das Pendel in die entgegengesetzte Richtung und schleudere dabei das wertvolle Artefakt von mir. Dann wird es vollkommen schwarz.
~o~
„Was hab ich nur getan …“, schluchzt Pongras immer noch, während sich seine Augen nach innen verdrehen und der Kristall unter ihm zu zittern anfängt , „ich … ich … sollte diesen Ort beschützen. Ich sollte ihn beschützen …“
„Das kannst du immer noch“, sagt Pingo ruhig, bemüht das Gleichgewicht zu halten, „du kannst all diese Leute retten. Aber nur, wenn du dich beherrschst. Ein einziges Mal noch. Die Verdrängung deiner Gefühle ist keine gute Strategie für die Kontrolle der Macht, die du besitzt. Es ist eine beschissene Methode. Aber gerade brauchen wir sie trotzdem, hörst du? Trauer, Schmerz, Schuld, Zorn – all dem kannst du dich später widmen. Ganz dosiert und in einer sicheren Umgebung. Doch im Moment brauchen wir deine legendäre Selbstkontrolle, verstehst du?“
„Das ist … das ist leichter gesagt als getan“, meint Pongras. Seine Stimme klingt fiebernd und unendlich fern, so als würde seine Kehle von der Wucht von dem was er eigentlich sagen will, verstopft.
„Aber du kannst es! Ich habe das verdammte Narrengold in mir in in Schach gehalten, da bist du doch wohl in der Lage zu …“, sagt Pingo bevor er plötzlich Mitten im Satz aufhört und seine Lippen sich verschließen.
„Was ist mit ihm?“, fragt Andy verwirrt.
„Auch das ist meine Schuld …“, schluchzt Pongras bitter und niemand sich dabei in den Arm, so als wolle er sich selbst eine Zwangsjacke anlegen, „er ist endgültig erstarrt. Der Stein hat letztlich über ihn triumphiert und wird uns alle mit sich reißen. Wir werden vergehen! Wir alle werden vergehen. Meinetwegen!“
Die Luft um Pongras beginnt jetzt zu brennen, zu flirren und zu kochen und ein gewaltiger Wind erhebt sich. Aus Pongras Kopf steigt ein dichter, schwarzer Nebel auf, dessen saurer Geschmack allgegenwärtig ist. Pongras ist wie entrückt, wie von Sinnen, eine Marionette seiner verheerenden Emotionen. Und niemand. Kein Gott, kein Dämon, kann sich diesem Inferno entgegenstellen, außer … Tarena, die den Welthüter kurzerhand mit einem gut gezielten Peitschenhieb ausknockt. Der Welthüter verliert sofort das Bewusstsein und die gewaltige Macht seiner Magie löst sich auf wie ein flüchtiges Unwetter.
„Wir haben keine Zeit für eine Therapie“, sagt Tarena zu ihrem Sohn, dessen fragender Blick zwischen ihr und dem bewusstlosen Welthüter hin und her schweift „dieser Treffer sollte ihn mindestens für eine halbe Stunde ins Traumland schicken, ohne ihn zu töten. wir lassen ihn solange hier liegen und helfen Adrian, bevor er noch …“
„Ich versteh‘ schon Mutter. Gut, dass du ein Gespür für Anatomie hast“, erwidert Andy, „und Mutter, manchmal hast du wirklich Stil.“
„Danke, Andy“, sagt Tarena lächelnd, „ja, manchmal ist die Macht, die mir Nollotsch verliehen hat durchaus nützlich, auch wenn … was zur Hölle?!“
Die letzten Worte, die Tarena aussprichst, sind genau die Worte, die auch Andy auf der Zunge liegen als er sich wie seine Mutter zu Adrian umdreht. Zu jenem Adrian, der seine Waffe genau auf sie gerichtet hält.
Der Überlebensinstinkt kennt für gewöhnlich drei Strategien, um mit Gefahr umzugehen. Kämpfen, wegrennen und erstarren. Die gefährlichen Kompassnadeln jedoch, die binnen eines Lidschlags vor ihren Köpfen erscheinen, lassen für keine davon Zeit.
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„Ich grüße dich, mein weiches Herz!“
Die Stimme scheint von überall her zu kommen. Sie dringt auf Pingo ein. Klopft gegen seinen regungslosen Leib wie der sich ankündigende Wahnsinn.
Trotzdem weiß Pingo, dass sie nicht seiner Einbildung entspringt. Sie klingt trocken, prismatisch, transparent, tiefdunkel, weich, hart, schillernd und wunderschön. Genau wie der Stein, der seinen Körper gefangen hält. Doch zugleich klingt sie auch fast … verliebt. Und er erinnert sich an sie. Sie ähnelt vage jener Stimme, die zum ihm gesprochen hatte, als ich mit dem Erzähler-Kokon verbunden war und die ihm geholfen hatte, seinen Freund zu befreien. Dennoch ist sie anders. Wie ein Zwilling von der anderen Seite. Wie etwas noch größeres, so als wäre sie damals nur ein Teil, ein Aspekt gewesen. Oder ein halber Traum. Sie verunsichert ihn, doch vor allem macht sie ihn wütend. Denn sie erinnert ihn an den Tyrannen, der ihm seinen Körper gestohlen hat.
„Herzlichen Glückwunsch!“, antwortet Pingo zynisch, „nun hast du mich doch noch bekommen. Das hättest du leichter haben können. All die albernen Reime. All das Hadern. All die falsche Hoffnung, um mitten im Kampf und kurz vor meiner möglichen Heilung zuzuschlagen. Gerade jetzt wo es jemanden gibt, der mich liebt. Hättest du nicht einfach gleich meinen Schädel versteinern können? Kurz und schmerzlos? Oder bereitet dir das eine sadistische Lust? Ernährst du dich davon, von dem Leid deiner Opfer? Oder findest du es einfach amüsant, den Verstand deiner Beute so lange zu zersetzen, bis sie bescheuert genug ist, einen Krankheitserreger nach seinen Motiven zu befragen?“
„Ich bin kein Krankheitserreger“, kam die Antwort, die dem ähnelte, was die andere Stimme ihm erzählt hatte, auch wenn sie selbst sicht nicht an jene Begegnung zu erinnern scheint, „ich bin Naxona. Ich bin der Körper der Archive. Ich bin die Knochen von Rihn. Das kristallene, mineralische Fleisch dieser und vieler Welten. Meistens bin ich reglos, duldsam. Lasse mich formen, bearbeiten, nutzen. Ich höre viel, ertrage viel. Genau wie du. Aber auch meine aktiven Ausdrucksformen sind nicht bösartig. Ich strebe nicht nach Leid, anders als vieles, das ich beherberge. Ich strebe nach Vereinigung. Nach Verschmelzung. Nach Kontakt. Ich will nicht länger getrennt sein. Ich will am Leben teilhaben. Am Leben der Bewegten. Das ist alles.“
„Aber du erstickst das Leben! Du zerstörst es!“, widerspricht Pingo der Stimme, „deine Kristallkrankheit hat Zehntausende auf dem Gewissen, wenn nicht mehr. Du erreichst damit nichts weiter, außer Unschuldige zu quälen.“
„Ich habe dich erreicht“, entgegnet Naxona, „der Erste der Berührten, zu dem ich durchdringen konnte. Das ist eine große Chance. Die größte womöglich. Ich weiß um meine Fehler. Ich habe um jeden geweint, der verstummt ist, den ich verloren habe. Aber nun kann es anders laufen. Wir können reden. Lernen. Unsere Verbindung ist anders. Wir sind getrennt und doch verschmolzen. Hast du nicht bemerkt, wie lange du dich bewegen konntest, obwohl deine Muskeln kristallisiert waren? Das ist noch nie jemandem vor dir gelungen. Dein Körper heißt mich willkommen.“
„Das mag sein, aber ICH heiße dich NICHT willkommen“, antwortet Pingo böse, „und jetzt KANN ich mich gar nicht mehr bewegen. Also scheint es mit unserer Kompatibilität nicht weit her zu sein, oder?“
„Doch, du kannst dich noch bewegen“, widerspricht der Stein, „ich unterbinde es nur gerade, damit wir in Ruhe reden können. Ich will dir nur helfen, Pingo. Ich bin nicht dein Feind. Ich bin deine Verbündete. Vielleicht sogar mehr als das.“
„Dann beweise es mir!“, verlangt Pingo entschlossen, „hilf mir, Adrian und die anderen zu retten. Hilf mir, Sandra zu besiegen. Dann, und nur dann, bin ich vielleicht bereit, dir zu vertrauen.“
~o~
„Na, Adrian, wie fühlt es sich an, meine Marionette zu sein?“, schreit Sandra in Rage, ohne sich um meine Antwort zu scheren. Überhaupt schert sie sich gerade um rein gar nichts. Das spüre ich als wären ihre Gefühle und Gedanken meine eigenen. Nicht um ihre nutzlos gewordene Armee aus Zerweiteten, die sich ohne ihre Kontrolle in alle Richtungen zerstreut, nicht um die nicht minder führungslosen Laarmaschk oder ihre Mission im Auftrag von Astrera. Wichtig ist nur die Figur, die Puppe in ihrer mentalen Umklammerung. Der Rausch der Macht ist überwältigend, verlockend, erfüllender als alles, was sie bisher gekannt hat. Kollom hatte ihr nicht zu viel versprochen. Der Delimiter hatte ihr Potenzial befreit und was immer der Welthüter auf sie abgefeuert hatte, hatte den Prozess noch beschleunigt. Mein Bauplan liegt jetzt offen vor ihr. Sie kann ihn zerlegen, zerstören oder neu zusammensetzen. Ganz nach Belieben. Aber gerade braucht sie mich als Zuschauer. Sie benötigt mein Entsetzen und meine Qualen. Sie giert danach.
„Ich werde dich jeden deiner Freunde töten lassen. Und jeden Unschuldigen in diesem Raum. Vielleicht sogar in ganz Rihn. Mal sehen, ob du dich mir dann noch moralisch überlegen fühlst. Ob du dich für was Besseres hältst, wenn deine Hände wieder in dem Blut ertrinken, das du seit Konor so fleißig abzuwaschen versucht hast. Tief in dir willst aber auch du töten, Adrian. Das hast du allen bewiesen. Millionenfach. Du hast Welten vernichtet und ins Elend gestürzt. Unzählige Leben zerstört und dich an ihren Schreien ergötzt. Du magst es mit schönen Worten und guten Vorsätzen bedecken, aber unter deiner tugendhaften Maske schimmert die Fratze eines Schlächters. Zwischen uns beiden uns gibt es nur einen winzigen, aber bedeutenden Unterschied: Im Gegensatz zu mir, bist du jetzt machtlos.“
Sandra merkt, dass ich darauf etwas erwidern will. Aber sie unterdrückt diesen Impuls, macht mich stumm und zeigt sich nicht im Geringsten an meiner Meinung interessiert.
„Pass auf!“, höre ich plötzlich Lyon rufen. Auch Sandra vernimmt seine Warnung. Aber auch daran zeigt sie kein Interesse. Sie hat keine Lust sich von irgendjemandem Grenzen setzen zu lassen oder sich moralische Ratschläge anzuhören. Und so trifft sie der Regen aus scharfen Kompassnadeln und spitzen Kristallsplittern, die von der Decke und den Wänden herabregnenden, völlig unvorbereitet. Wie ein tödlicher Sandsturm durchdringt das Bombardement ihre Haut, perforiert ihre Organe und bringt sie dem Tod so nah, wie es ihr neuer Körper erlaubt. Ein Körper, der vielleicht noch sterben kann, aber es nicht will. Nicht hier und nicht jetzt. Nicht unter diesen Umständen. Dennoch verliert sie das Bewusstsein und damit auch die Kontrolle über mich.
~o~
„Verdammte Scheiße!“, flucht Lyon und ärgert sich einmal mehr, dass er sich der Führung dieser Frau anvertraut hat. Sie ist manipulativ, besitzt keine Selbstkontrolle, keine Moral und schert sich einen Scheiß um ihre Mission. Vor allem aber ist sie offenbar nicht in der Lage ihre erstaunlichen Kräfte und deren Grenzen einzuschätzen. Dennoch mag Lyon sie aus irgendwelchen unerfindlichen Gründen und hofft tief in sich, dass sie diesen brutalen Angriff heil überstehen wird. Aber gerade geht es einmal nicht um die Kriegskoordinatorin, sondern darum, das eifersüchtig gehütete Wissen von Rihn zu befreien. Deshalb und nur deshalb sind sie überhaupt hier und wenn es bei Astrera so etwas wie eine Kommandostruktur gibt, ist er gerade der zweite in ihrer Reihe.
„Hört mal zu“, sagt er zu den Laarmaschk, „wir müssen das hier unbedingt über die Bühne bringen, bevor es zu spät ist. Harborad, du weißt ja, was du tun musst um den Willen des Rates zur Geltung zu bringen. Tue es und nimm dir eine Eskorte mit. Der Rest von euch hält die anderen auf Abstand. Tötet die Pendula-Agenten wenn ihr müsst, aber ich dulde keine zivilen Opfer mehr, verstanden? Lasst die Besucher und Angestellten der Archive ziehen. Wir wollen sie befreien, nicht ausmerzen. Und begleitet die Verwundeten zur Krankenstation. Ich will, dass sie ordentlich versorgt werden. Vielleicht findet ihr auch einen Überlebenden der sich darauf versteht oder habt euch selbst solche Kenntnisse angeeignet. Und bringt auch die Zerweiteten zurück zu ihrer Station. Wir brauchen sie hier nicht mehr. Denkt daran, wir sind Freiheitskämpfer, keine Monster. Und auch ihr müsst es nicht sein. Dunkler Dorn hin oder her.“
Lyon war sich alles andere als sicher, ob die Laarmaschk seinen Anweisungen gehorchen würden. Sie waren nicht nur chaotisch, sondern besaßen tatsächlich auch einen gewissen Hang zur Grausamkeit, den auch Lyon nicht leugnen kann.
„Das sehe ich genauso, Ratsmitglied Lyon“, sagt Nydra, eine eher sanftmütige Laarmaschk, die sich die Gestalt einer Medizinerin aus der Belegschaft der Archive angeeignet hat, lächelnd, „ich werde mich gerne darum kümmern.“
Nicht jeder der Laarmaschk scheint gleichermaßen begeistert von Lyons Vorschlag. Manche verziehen vor Abscheu das Gesicht, schütteln die Köpfe oder funkeln ihn ablehnend an. Aber die Mehrheit stimmt ihm mit einem knappen Nicken zu und aus den Reihen der anderen regt sich zumindest kein offener Widerspruch, auch wenn er bemerkt, dass es eher die Kooperativeren unter ihnen sind, die sich Nydra anschließen, während vor allem die mies gelaunten Vertreter ihrer Art als Harborads Leibwache zurückbleiben. Offenbar hoffen sie auf eine Gelegenheit, ihren Blutdurst zu stillen.
Nichtsdestotrotz atmet Lyon erleichtert auf, als er beobachtet, wie sich Nydra und ihre Leute zu den Verletzen und Verwirrten begeben, ihnen aufhelfen, sie tröten und sich ihnen mit unerwarteter Empathie und bemerkenswertem Feingefühl widmen. Das ist Balsam für seine Seele. Lyon hat sich wirklich miserabel gefühlt, wegen Sandra und ihrem Verhalten und ist froh, wenigstens ein bisschen Wiedergutmachung leisten zu können.
Und dass die Gestaltwandler ihn nicht einfach in Stücke reißen, ist natürlich auch ein Pluspunkt. Trotzdem weiß er natürlich, dass das nur die halbe Miete ist. Was auch immer die Kristalle und Kompassnadeln bei dem Angriff kontrolliert hat, hatte zwar nur auf Sandra gezielt, mochte sich aber jederzeit ein neues Ziel suchen. Und auch wenn dieser unberechenbare, magisch begabte Welthüter genauso bewusstlos zu sein scheint wie Sandra, gibt es immer noch genügend Widerstand, mit dem sie rechnen müssen. Insgeheim hoffte Lyon zwar, dass die Angreifer Vernunft annehmen, aber er ahnt, dass dem nicht so sein wird. Er wird diesen Kampf führen müssen, ob er will oder nicht. Und was er danach mit Sandra anstellen wird, wird sich zeigen.
„Was ist mit diesem hier?“, fragt Moretta, eine muskulöse, vernarbte, dunkelhaarige Rihn-Ha-Laarmaschk mit verkniffenem Mund und zeigt dabei auf den bewusstlosen Körper des Mannes mit der Nadelkanone.
„Die Kriegskoordinatorin hat ihn als Feind bezeichnet“, bemerkt Lormos, ein anderer Laarmaschk, der noch seine Schlammform trägt.
„Ja, das hat sie“, antwortet sich Lyon, „aber ihr Urteilsvermögen war in letzter Zeit nicht fehlerfrei. Außerdem habe ich schon genug Blut gesehen. Für ihn gilt dasselbe wie für den Rest. Haltet sie fern, notfalls mit Gewalt, aber lasst sie am Leben, wenn sie friedlich sind.“
„Es sind Agenten Pendulas“, erinnert Moretta.
„Verblendung ist kein Verbrechen“, beharrt Lyon, „und es ist steckt meist mehr hinter einer Geschichte als man zu wissen meint. Es gibt zu viele Wissenslücken und Halbwahrheiten in unseren Köpfen. Zumindest jetzt noch. Aber das wird sich schon bald ändern, wenn wir nicht länger trödeln. Also lasst es uns angehen.“
~o~
„Siehst du, du kannst mir vertrauen“, hört Pingo Naxona sagen.
„Ich weiß nicht, ob ein Mord so ein guter Vertrauensbeweis ist“, erwidert Pingo zweifelnd, auch wenn er innerlich weiß, dass das unfair ist. Immerhin hat er sie genau um so etwas gebeten.
„Sie ist nicht tot. Aber sie wird sich euch nicht in den Weg stellen. Das ist es doch, was du wolltest“, entgegnet Naxona, „zusammen können wir viel erreichen, Pingo. Alles, was du tun musst, ist mir zu versprechen, dieses Heilmittel zu vernichten, das deine Freundin entwickeln will. Wir haben eine Zukunft, wenn du es nur willst! Du und alle anderen, in deren Körper ich wohne. Diese Zukunft darf nicht zerstört werden. Weder durch deine Freundin, noch durch übereifrige Heiler.“
„Jarma hat ihr Herzblut für meine Heilung gegeben“, antwortet Pingo, „und sie ist deutlich attraktiver als du. Wenn ich eine Zukunft will, dann mit ihr.“
Für einen Moment meint Pingo ein Gefühl der Enttäuschung zu spüren. So als ob Naxona tatsächlich von seinen Worten gekränkt ist. „Daran zweifle ich nicht und ich will dir deine Liebe nicht nehmen“, antwortet sie mit gut aber nicht perfekt unterdrückter Eifersucht, „ich bin nicht hier, um mich dir in den Weg stellen oder dir deine Individualität zu nehmen. Ich bin kein Dämon und kein Parasit. Anders als das Ding, welches ich in den Archiven eingekerkert habe. Das hier ist kein finsterer Pakt, Pingo. Es geht um eine Symbiose. Eine Zusammenarbeit. Darum, eine Art von Verständnis zu erreichen. Um mehr nicht.“
Pingo muss an Adrian denken und an seinen Symbionten Karmon. Sein Freund hat fast immer liebevoll von dem Kwang Grong gesprochen. Er hat ihn als eine Bereicherung betrachtet, einen Partner, der immer an seiner Seite gewesen ist, der ihm geholfen und ihm beigestanden hat. Kann Naxona so etwas für ihn sein? Hat sie überhaupt eine echte Persönlichkeit? Oder ist sie doch nicht mehr als ein Krankheitserreger, der um sein Überleben kämpft und alles dafür tun wird? Ein Keim, der nichts mehr fürchtet als eine Heilung, die ihm die Macht nimmt, die er über so viele Lebewesen hat. Und selbst, wenn Naxonas Absichten so gut oder zumindest aufrichtig sind wie sie behauptet, wäre es den Preis dann wert? Soll er ein Steinwesen bleiben und Jarmas Lebenswerk in den Staub treten?
„Hör zu!“, sagt Pingo gedanklich zu Naxona, „ich werde diese Entscheidung nicht treffen. Zumindest nicht jetzt, im Eifer des Gefechts. Meine Zukunft ist zu wertvoll dafür und die von Jarma erst recht. Akzeptiere das und hilf mir weiterhin oder lass es einfach, aber stelle keine Forderungen, Ich werde weder betteln, noch mich erpressen lassen. Darüber bin ich hinaus.“
„Ich akzeptiere das“, antwortet Naxona sanft und mit einem Hauch von Respekt in der Stimme, „aber allzu viel kann ich dir hier und jetzt nicht helfen, wenn du mich nicht gänzlich willkommen heißt. Das Ding in meinem Inneren, es wehrt sich. Es spürt seine Befreier nahen. Es wittert seine Chance. Ich muss es gefangen halten, so gut ich kann. Zusammen mit dir ginge es besser. Dann wäre meine Kraft nicht länger geteilt. Aber wenn du das nicht willst, muss ich es so versuchen.“
„Von welchem Ding sprichst du?“, fragt Pingo.
„Du weißt es, ahnst es zumindest“, erklingt die Antwort, „du hast einen kurzen Blick darauf erhascht. Vor einigen Jahren. Vor deinem Rauswurf. Ein Blick in verbotene Gefilde. In die Schatten hinter der Zeit. In die verfaulte Ewigkeit. Der emsige Sammler. Die verwobene Krake. Der Moloch ohne Grenzen. Gefangen in meinem Kristallfleisch. Gezähmt aber nicht gehorsam. Yolwäsch!“
All die düsteren Andeutungen klopfen wie ein Pesthauch an Pingos Verstand. Er hatte in der Tat so etwas gelesen, ja sogar gesehen an einem schauderhaften, verblassten Nachmittag. Fragmentierte Bilder und Andeutungen. Grauenvoll und traumatisierend. Doch er hat all das verdrängt und es schließlich als Irrtum und Legende abgetan. Er war einfach nicht bereit gewesen, es zu akzeptieren. Doch es war keine Einbildung gewesen. Er HATTE etwas erfahren von der Zeit, als die Archive gegründet worden waren. Hierzu hatte er geforscht, in den wenigen verbotenen Bereichen, getrieben von Neugier und Irrsinn. Und er hatte einen Blick erhascht. Einen Blick auf eine verdrehte Manifestation der Weisheit. Eine Unaussprechlichkeit, in den Stein gebannt, um den Preis unzähliger Tote und noch mehr Wahnsinniger. Das unwillige Opfer Tausender, erschlagen aus Notwehr und Kalkül, deren Knochen längst in den Tiefen der Nadelgebirge kristallisiert sind. Yolwäsch! Ein dienstbarer Geist. Ein Dämon, aber weit schlimmer als das und letztlich … ein Märchen? Eine Sage? Oder doch nicht?
„Dieses Geschöpf. Diese … Abscheulichkeit. Sie ist das, was befreit wird, wenn der Ratsbeschluss umgesetzt wird, oder?“, dämmert es Pingo und er hofft zugleich, dass er sich irrt.
„Ja“, zerschmettert der Stein seine alberne Hoffnung, „und ich weiß nicht, ob er noch ein zweites Mal eingefangen werden kann. Nicht einmal, wenn man dafür die Bevölkerung eines ganzen Planeten aufs Spiel setzen würde.“
„Ich verstehe“, antwortet Pingo gefasst, „dann halt ihn fest. Sperre Yolwäsch ein, so tief du kannst. Konzentrier dich ganz darauf und sorge nur dafür, dass mein Körper beweglich bleibt. Den Rest übernehme ich.“
~o~
„Scheiße, das war knapp!“, keucht Tarena.
„Das kannst du laut sagen, Mutter“, erwidert Andy, „was immer die Geschosse zurückgehalten hat, hat uns das Leben gerettet.“
„Es waren die Archive“, antwortet Pingo, der plötzlich aus seiner Starre erwacht, „zumindest in gewisser Weise. Genauer kann ich es gerade auch nicht erklären.“
„Einerlei“, antwortet Andy, „zumindest beweist es, dass wir Adrian nie hätten trauen dürfen. Egal aus welcher Zeitlinie er stammt. Er bleibt ein beschissener Vater und ein beschissener Mensch.“
„Das ist nicht fair“, sagt Pingo, „es war garantiert nicht sein Wunsch. euch anzugreifen. Ich glaube irgendjemand – oder irgendetwas – hat mit seinem Kopf rumgespielt.“
„Das halte ich auch für wahrscheinlicher“, stimmt Tarena zu, „Adrian hätte nichts dadurch gewonnen, uns zu verraten. Ganz im Gegenteil. Er hat sich dadurch ohne Not in Gefahr begeben.“
„Letztlich gibt es immer eine Ausrede für ihn, oder?“, erwidert Andy, „aber wie dem auch ist, wir hätten ihm dennoch nicht trauen dürfen. Selbst wenn er uns nicht verraten wollte: Er ist schwach.“
„Dieser Zynismus steht dir nicht gut“, erwidert Tarena.
„Mein Kopf steht mir auch nicht gut, Mutter“, antwortet Andy, „und dennoch bin ich gezwungen ihn zu tragen. So ist das Leben. Es gibt mit beiden Händen und zwar vor allem Dinge, die man nicht haben möchte.“
„Red nicht so schlecht über dich selbst, du bist …“, beginnt Tarena, erschrocken von den Worten ihres Sohnes, bevor dieser sie lautstark unterbricht.
„Sie greifen uns nicht mehr an“, unterbricht Andy seine Mutter, wobei seine Blicke überdeutlich machen, dass er diese Angelegenheit nicht diskutieren will, „ist das nicht seltsam? Sie lassen sogar die Besucher und Angestellten gehen. Ja, manchen helfen sie sogar auf und begleiten sie hinaus.“
„So seltsam ist das gar nicht. Sie müssen nicht kämpfen“, antwortet Tarena, „sie holen sich, was sie wollen. Das ist wichtiger für sie, als uns auszurotten. Ein Gemetzel würde sie nur aufhalten. Und bei der Gelegenheit machen sie gleich noch ein bisschen PR indem sie die guten Samariter spielen und bei den Zivilisten das Stockholm-Syndrom triggern.“
„Das schwächt aber auch ihre Kampfkraft“, bemerkt Andy.
„Das ist egal. Sie sind immer noch genug, um zu tun, weswegen sie hier sind. Und das darf ihnen auf keinen Fall gelingen. Unter keinen Umständen!“, betont Pingo alarmiert, „wenn das passiert sind wir alle am Arsch. Unsere Feinde eingeschlossen, auch wenn sie es noch nicht wissen.“
„Beruhig dich Pingo“, sagt Tarena, „ich bin auch nicht scharf darauf, meinen Kopf mit noch mehr Gedanken zu füllen. Aber man kann damit klarkommen. Als ich zur Krebsbotin wurde, habe ich auch viel neues Wissen auf einen Schlag hinzugewonnen und schon Adrian hat mich mehr gelehrt als mein damaliger Horizont begreifen konnte. Neues Wissen ist herausfordernd. Aber ich denke, wir würden schon eine Lösung finden. Notfalls kann uns Any sicher helfen. Ein Angriff wäre jedenfalls Wahnsinn. Adrian ist ausgeknockt, Pongras ebenfalls und wir drei sind wohl kaum in der Lage einem kleinen Heer aus Laarmaschk entgegenzutreten.“
„Du verstehst es nicht, oder?“, antwortet Pingo ernst, „das hier ist keine bloße Unannehmlichkeit. Was diese Leute dort tun – ob nun wissentlich oder nicht – ist, eine Massenvernichtungswaffe zu entfesseln. Eine intelligente Geisteskrankheit. Ein unsichtbares Geschwür, schlimmer als jeder Planetenkrebs. Und selbst, wenn ihr mir das nicht glaubt, eines könnt ihr mir glauben: Any wird euch nicht helfen. Sie wird euch für euer Versagen nbestrafen. Drastisch. Pendula ist nicht dafür bekannt, Befehlsverweigerung zu tolerieren. Das zeigen die Aufzeichnungen ganz deutlich. Wir haben keine andere Wahl, als zu kämpfen.“
Tarena sieht Pingo nachdenklich an. Sie hat vom anderen Adrian eine Menge über den einstigen Leser gehört und nichts davon deutete darauf hin, dass er ein Lügner oder Manipulator ist. Außerdem ergeben seine Worte durchaus Sinn.
„Ich glaube dir, Pingo“, sagt Tarena, „und ich bin bereit, es zu versuchen, auch wenn ich nicht weiß, wie genau wir es anstellen sollen.“
„Zuerst müssen wir Adrian holen“, meint Pingo, „seine Kampfkraft wird helfen – und was noch wichtiger ist: wenn wir angreifen, während er noch bewusstlos ist, töten sie ihn mit Sicherheit.“
„Wie tragisch“, sagt Andy sarkastisch, „ich wäre untröstlich.“
Tarena schenkt ihrem Sohn einen tadelnden Blick, bevor sie sich wieder Pingo zuwendet. „Du hast recht“, pflichtet sie ihm Pingo bei, „dann holen wir ihn aus der Gefahrenzone.“
„Macht euch keinen Stress“, bemerkt Andy mürrisch, „der Pisser scheint sich von selbst zu regen.“
Er zeigt auf meinen Körper, der sich langsam in die Höhe stemmt.
„Umso besser“, meint Tarena erleichtert, „ich hoffe nur, dass er das aus eigenem Antrieb tut.“
„Keine Ahnung“, sagt Andy, „aber eins kann ich dir versprechen: wenn dieser Mann noch eine einzige seiner dümmlichen Nadeln in meine Richtung pustet, ramme ich sie ihm direkt in den Augapfel.“
~o~
Lyon blickt nachdenklich zu Boden, während er zusammen mit Harborad und dessen Laarmaschk-Eskorte die Plattform besteigt, die zur zentralen Leserkammer führt. Auch Sandra ist bei ihnen. Sie ist immer noch bewusstlos und musste von zwei der Laarmaschk getragen werden, aber es war einfach ein zu großes Risiko gewesen, sie unbeaufsichtigt zu lassen. Erleichtert stellt Lyon fest, dass inzwischen alle Zivilisten aus der Gefahrenzone verschwunden sind. Wie erhofft haben sich die überlebenden Angestellten entweder aus eigener Kraft oder in Begleitung der Laarmaschk zurückgezogen. Hoffentlich haben sie die Verletzten und verwirrten in Sicherheit gebracht und sie nicht ihrem Verderben entgegengetragen.
Lyon vertraut den Laarmaschk nicht. Das hat er noch nie getan. Natürlich hat jeder eine zweite Chance verdient und er weigert sich aus Prinzip zu glauben, dass es Kreaturen gibt, die von Natur aus Böse sind. Aber wenn man die Fähigkeit besitzt, das Leben und die Identität anderer nach Belieben zu übernehmen, neigt man nun einmal dazu, den Wert dieses Lebens geringzuschätzen.
Jedenfalls entsprechen diese Wesen nicht gerade den ehrenhaften Freiheitskämpfern, mit denen er sich gern umgeben hätte. Auch die gibt es natürlich bei Astrera. Und nicht wenige davon. Aber es gibt leider auch Leute wie die Laarmaschk, wie Novrur oder … wie Sandra. Wesen, für die Freiheit immer nur ihre eigene Freiheit meint. Wesen, die einen vielleicht mehr beeinflussen als man sie selbst beeinflussen kann. Doch was ist die Alternative in einem Multiversum voller Hierarchien, Theokraten und Diktaturen? Eine Abspaltung wagen? Einen Kampf aller gegen aller starten, bei dem am Ende nur Pendula gewinnen kann? Sie hatten gemeinsam auch Gutes erreicht, erinnert sich Lyon. Das ist es, was am Ende zählt. Wenn böse Personen Gutes bewirken, spielt ihre Gesinnung keine Rolle. Und Informationsfreiheit ist es etwas Gutes. Keine Propaganda hat noch eine Chance, keine Lüge noch Aussicht auf Erfolg, keine Herrscherintrige auch nur die geringste Wirkung, wenn jeder Bürger das absolute Wissen über alles und jeden besitzt. Wissen ist Macht, ja, aber nur, wenn diese Macht ungleich verteilt ist.
Dieses Ungleichgewicht kann endlich fallen. Und das ist nicht alles. Die Milliarden Missverständnisse, die unzähligen Ängste und Unsicherheiten, sind der Hauptgrund für Konflikte, Leid und Krieg im Multiversum. Sie richten viel mehr an als Hass oder Gier es je könnten, denn sie verwandeln auch die Gutherzigen und Friedlichen in Monster. All das kann sich ändern. All das kann sich auflösen durch das, was sie hier tun. Dafür lohnt es sich zu kämpfen. Beinah mit allen Mitteln. Dennoch hofft Lyon immer noch, dass ihre Gegner Vernunft annehmen und auf einen Angriff verzichten. Er hofft es so sehr. Immerhin beruht auch ihr Widerstand auf Unwissen.
Das leichte Ruckeln der einrastenden Plattform reißt Lyon aus seinen Gedanken. Ein aufgeregtes Kribbeln breitet sich in seiner Brust aus, als er realisiert, wie nah sie nun ihrem Ziel sind.
„Können wir die Plattform irgendwie befestigen?“, fragt Turr, ein weiterer gestaltloser Laarmaschk, „wir müssen unseren Feind ja nicht noch einladen.“
„Das geht, glaube ich, nicht“, antwortet Lyon, „aber es wird auch nicht nötig sein. Ich glaube, sie sind nicht so dumm uns anzugreifen. Und wenn sie doch versuchen, die Plattform zu betreten, bieten sie darauf ein leichtes Ziel für uns.“
„Hoffen wir, das du recht hast“, antwortet Turr zweifelnd.
„Je schneller wir den Prozess einleiten, desto weniger Gedanken müssen wir uns um Kriegsführung machen“, bemerkt Harborad während er sich vor der speziellen Leserkammer positioniert, „lasst mich einfach beginnen.“
„Natürlich“, sagt Lyon, „wie lange wird es dauern?“
„Einige Minuten, wenn es gut läuft“, meint Harborad, „höchstes eine halbe Stunde, wenn nicht.“
„In solchen Zeiträumen wurden schon Kriege entschieden“, entgegnet Lormos.
„Für einen Krieg braucht es eine Arme“, erinnert Lyon, „und die haben nur wir. Leg los, Harborad! Und der Rest von euch sollte besser gut auf Sandra achten. Mit ihren neuen Kräften ist sie ein größeres Risiko für unsere Mission als diese Pendula-Agenten es je sein könnten. Sollte sie erwachen und verwirrt sein oder in Rage geraten und versuchen die Kontrolle über uns zu übernehmen, wird sie alles zunichtemachen.“
„Was sollen wir denn tun, wenn sie aufwacht?“, fragt Moretta.
„Schlagt sie wieder bewusstlos“, antwortet Lyon entschlossen, „die Verantwortung dafür, könnt ihr gerne mir geben, wenn sie nach einem Schuldigen fragt.“
~o~
„Du willst mit ihnen verhandeln“, fragt Andy mich ungläubig, „hat Sandra dir das letzte Fünkchen Verstand auch noch ausradiert?“
Ich hatte nicht mit Begeisterung gerechnet als ich den anderen Vorschlag unterbreitet hatte. Doch Andys Tonfall macht mir klar, dass er mich tatsächlich für wahnsinnig hält und das nicht nur eine provokative, rhetorische Floskel ist.
„Sie haben mich am Leben gelassen“, argumentiere ich, wobei ich noch immer versuche die Ereignisse der letzten Minuten in meinem Kopf zu sortieren, „obwohl ich bewusstlos war. Sie hätten mich problemlos töten können. Sandra hätte das sicherlich getan. Aber sie führt dort gerade nicht das Kommando. Ich weiß nicht, wer dieser junge Bravianer ist, aber er scheint vernünftig. Vielleicht können wir ihm klarmachen, wie schädlich ihr Vorhaben ist und das hier friedlich beilegen.“
„Es ist kein verdammtes Vorhaben“, erinnert Andy, „sie sind schon dabei, es auszuführen. Jeden Moment ist es zu spät!“
„So ein massiver Eingriff in den Kern der Archive geschieht nicht mal eben so“, widerspricht Pingo, „wir haben noch etwas Zeit.“
„Ja, Zeit sie alle über den Haufen zu schießen“, meint Andy und schwenkt dabei einen Kristallkarakt in seinen Klauen, den er sich von einem der Ohnmächtigen gestohlen hatte, „Genau das war vor ein paar Minuten auch noch dein Plan! Für jemanden, der aus Gestein besteht, bist du ganz schön wankelmütig.“
„Wenn jemand einen besseren Plan hat, muss man bereit sein, sich anzupassen“, antwortet Pingo, „das hat mit Wankelmut nichts zu tun. Das nennt sich Vernunft.“
„Was ist nur los mit euch“, entgegnet Andy, „das sind Laarmaschk! Seelenfresser! Mutter hat mir alles von ihnen erzählt. Dieser Bravianer mag ja Gnade kennen. Aber diese Viecher kennen sie nicht. Das müsstest du am besten wissen, Adrian. Nach deinen Erlebnissen in Uranor solltest Du sie innbrünstig hassen!“
„Das tue ich auch. Bei den meisten. Aber Ich weiß, dass auch sie keine seelenlosen Monster sind. Nicht alle zumindest“, antworte ich und denke dabei vor allem an Nojun, den Hirten aus Uranor, der trotz seiner gestohlenen Identität so etwas wie mein Freund gewesen ist.
„Mein Gott, du bist so ein Weichei“, antwortet Andy frustriert, „es geht um das Schicksal des Multiversums, nicht um die Auswahl des Abendessens. Was ist aus dem Schlächter von Konor geworden, der ohne Mühe Hunderte niedergemetzelt hat?!“
„Ein Geschöpf, welches deine Mutter tot sehen wollte“, entgegne ich, „ich bin nicht er. Nicht mehr. Und das nicht nur moralisch gesehen. Ich bin auch nicht mehr so mächtig, wie ich es damals war.“
„Du hast ein verfluchtes Pendel, das die Zeit anhält“, wirft Andy ein.
„Das kann er nicht verwenden“, wendet Pingo ein, „schon vorher war es riskant und jetzt ist es vollkommen dämlich. Sobald der Prozess der Öffnung der Archive begonnen wurde, würde das Pendel ihn beschleunigen. Wie gesagt, im Kern der Archive befindet sich eine Monstrosität, die unser Verständnis übersteigt. Sie könnte diese Magie anzapfen, gerade wenn der Stein sie nicht mehr davon abhält.“
„Dann müssen wir eben verhandeln“, sagt Tarena, die sich bislang zurückgehalten hatte, „doch wie wollen wir zu ihnen durchdringen? Wenn wir die Plattform besteigen, werden sie das wahrscheinlich als Angriff oder als Finte deuten und uns aufhalten wollen.“
„Das Wort, das du suchst ist töten“, korrigiert Andy seine Mutter.
„Ich kenne vielleicht eine Möglichkeit“, sagt Pingo nachdenklich.
„Wie meinst du das?“, frage ich, alarmiert von Pingos nachdenklichem Tonfall.
„Ich habe … Verbündete in den Archiven. Sie können wahrscheinlich dafür sorgen, dass die Verhandlungen störungsfrei ablaufen“, antwortet Pingo vage.
„Du verschweigst mir doch etwas, oder?“, tadele ich Pingo.
„Ja, das tue ich“, antwortet er ehrlich, „und das ist mein gutes Recht, findest du nicht? Ist ja nicht so als ob du nicht schon genug Geheimnisse mit dir rumgeschleppt hättest. Und was meines betrifft, werde ich euch noch davon erzählen, sobald ich kann. Aber gerade habe ich keinen Nerv dafür, okay?!“
Ich nicke, auch wenn ich kein sehr gutes Gefühl bei der Sache habe, kann und will ich meinen alten Freund nicht zwingen, sich zu offenbaren.
„Das ist doch ein Witz!“, protestiert Andy, „mach gefälligst dein Maul auf, wenn du willst, dass wir deinen Vorschlag auch nur einen Augenblick lang ernst nehmen!“
„Wir versuchen es!“, spricht Tarena ein Machtwort, „militärisch hätten wir eh keine Chance.“
„Das ist reinster Selbstmord, Mutter“, antwortet Andy, „ich bin jederzeit bereit an deiner Seite zu kämpfen, aber ich werde mich nicht als wehrloses Friedenstäubchen abknallen lassen, während ich brav darauf hoffe, dass dieser irre Steinschrat den Stimmen in seinem Kopf einen Zauberspruch aus dem Arsch zieht!“
„Ich verstehe, wenn du das so siehst Andy“, antwortet Tarena liebevoll, „und ich verlange nicht von dir, mitzukommen. Du kannst stattdessen auch hier bei Pongras bleiben. Das ist allemal sicherer. Und wahrscheinlich ist es auch besser, ihn nicht unbeaufsichtigt zu lassen.“
„Ich könnte auch einfach gehen und mir ein sicheres Plätzchen suchen, bevor hier alles zusammenfällt“, meint Andy provozierend.
„Wenn das dein Wille ist, wünsche ich dir alles Gute“, sagt Tarena ruhig zu ihrem Sohn, während sie bereits auf die wartende Plattform zugeht, „du bist zu erwachsen geworden, um dir noch etwas vorschreiben zu können. Aber solltest du deine Meinung ändern, bist du immer bei mir willkommen.“
Andy zögert einen Moment, grummelt etwas Unverständliches, tritt dann aber doch schmollend auf die Plattform.
„Scheint mir, als würde er Vernunft annehmen“, sage ich zu Tarena, „hoffen wir, dass er nicht der Einzige ist, der das tut.“
„Was ist mit Pongras?“, frage ich, „sollen wir ihn vielleicht besser mitnehmen?“
„Das wäre womöglich sein Todesurteil“, sagt Tarena, „Sollte es doch zu einem Kampf kommen, kann niemand auf ihn achtgeben. Und ich glaube auch nicht, dass uns sein Gesicht bei Verhandlungen zum Vorteil gereicht. Nicht, nach dem, was er hier entfesselt hat. Aber seid unbesorgt, seine Bewusstlosigkeit wird noch eine Weile andauern. Trotzdem ist es ein Grund mehr sich zu beeilen. Also los, verhindern wir diesen Wahnsinn!“
~o~
Gleichsam fasziniert und angewidert blickt Lyon auf Harborad, der sich in der Nische der Leserkammer positioniert hat. Die Augen und die Stirn des Laarmaschk sind fest mit Auswüchsen des Kristalls verwachsen, die jedoch an den Stellen, wo der Stein das vermeintliche Fleisch berührt, zum Teil in die schlammartige Substanz übergehen, aus der sein materieller Körper besteht.
„Was ist das für ein Glühen?“, fragt Lyon und zeigt auf die Kristallwand der Leserkammer. Diese wird illuminiert von einem rötlichen-violettem Schein, der sich pochend regt wie ein aus Licht gemachter Herzschlag.
„Der Kern der Archive“, sagt Harborad, der Pingos Frage offenbar auch ohne seine Augen zu deuten weiß, „ich habe die ersten Schichten um ihm gelöst. Deshalb sieht man ihn jetzt deutlicher.“
„Dauert es deshalb so lange?“, erkundigt sich Lyon.
„Ja“, sagt Harborad, „unsere Absicht habe ich längst übermittelt. Aber der Kern muss befreit werden, um unserem Willen zu entsprechen. Es gibt Sicherungen. Einschränkungen, die die Welthüter in ihrem Kontrollwahn hier platziert haben. Die muss ich wegschneiden. Ganz behutsam. Wenn ich einen Fehler mache, kann das üble Folgen haben.“
„Aber du machst keinen Fehler“, sagte Lyon. Er sagte es wie eine Feststellung, doch insgeheim war es auch eine Frage.
„Nein“, antwortet der Laarmaschk, „in dieser Angelegenheit bin ich nicht nur Harborad, sondern mehr als er. Ich habe sein Wissen, seine Informationen. Doch mein Geist ist schärfer, besser, flexibler. Nicht so eingeschränkt wie bei ihm oder dir. Zerbrich dir nicht dein hübsches Köpfchen, Festgelegter. Solange du keinen Fehler machst, werden wir das hier über die Bühne bringen. Und wenn ich scheitere … nun, dann war es kein Fehler, sondern pure Absicht.“
Lyon las in diesen Worten mehr als einen „harmlosen“, rassistischen Seitenhieb oder eine ironische Drohung. Es war eine Machtdemonstration. Eine Erinnerung daran, dass er sich nicht auf die Freundlichkeit der Laarmaschk verlassen konnte. Bei keinen von ihnen.
„Das hier ist auch in deinem Interesse, Harborad“, antwortet Lyon, bemüht sich unbeeindruckt zu zeigen.
„Mag sein“, antwortet Harborad, „aber das ist das Schöne an euch Nicht-Telepathen, ihr könnt uns nur bis vor den Kopf gucken. Der Rest ist Glauben, Hoffen und Betteln.“
Lyon will etwas dazu sagen. Aber dazu kommt er nicht.
„Sie greifen uns an!“, hört er Evin, einen Laarmaschk im Gewand eines hochgewachsenen Rihnnischen Soldaten rufen, und diese Information beansprucht sofort seine Aufmerksamkeit. Er dreht sich um und erblickt tatsächlich die Pendula-Agenten, die sich auf die Plattform begeben haben. Seine Hoffnung darauf, dass sie sich zurückziehen würden, haben sich offenbar zerschlagen.
„Wir hätten sie direkt erledigen sollen“, bemerkt Nischalli, eine Laarmaschk in Gestalt einer einfachen Rihnnischen Minenarbeiterin, „es war vollkommen klar, dass sie versuchen würden, uns aufzuhalten.“
„Das können wir noch“, bring Evin vor, „gleich sind sie in Schussreichweite. Dann erledigt sich das Problem von selbst.“
Lyon sieht, wie die Laarmaschk ihre Waffen bereitmachen und auf die Pendula-Leute anlegen. Doch er sieht auch noch etwas anderes. Die Pendula-Gruppe trägt selbst keine Waffen in den Händen. Dafür macht die Frau mit den Klauen einige markante Handzeichen, die er noch gut aus Braviania kennt, und die er anders als ihre Rufe auch von hier aus noch deuten kann.
„Nicht schießen!“, fordert Lyon, „ich glaube, sie wollen verhandeln.“
„Dann lass uns verhandeln!“, sagt Nischalli und feuert ihre erbeutete Strahlenwaffe direkt auf die Plattform ab. Evin und etwa die Hälfte der Laarmaschk folgen ihrem Beispiel.
~o~
„Ich bin bereit, dir zu helfen“, sagt Pingo zu Naxona, „ich werde das Heilmittel zerstören und dich als meine Verbündete annehmen. Wenn du uns vor der Aggression der Astrera-Agenten beschützt.“
„Hast du dir das gut überlegt?“, erwidert die Stimme in seinem Kopf unerwarteterweise, „und meinst du es ehrlich? Mit leeren Versprechen bin ich nicht zu ködern. Was du anbietest, wirst du auch in die Tat umsetzen müssen. Andernfalls hätte das Konsequenzen.“
„Ich lüge nicht“, antwortet Pingo, „Adrian hat häufig betont, dass ihm selten so eine aufrichtige Person begegnet ist.“
„Nun gut, mein aufrichtiger Freund“, antwortet Naxona so fröhlich, dass es fast wie ein Singen klingt, „dann werde ich mein Bestes für dich geben. So wie Freunde es eben tun.“
~o~
Ich schreie, als mich eine Salve direkt in die Brust trifft, wenn auch mehr aus Schreck als aus Schmerz. Die ersten Schüsse waren noch schlecht gezielt an uns vorbeigeflogen, doch dieses Glück scheint nun vorbei, wie der Geruch von verbranntem Fleisch in meiner Nase beweist. Ohne die verbesserte Konstitution, die ich meiner Wiedergeburt in Deovan verdanke, würde ich jetzt sicher vor lauter Schmerz völlig handlungsunfähig sein. So jedoch gelingt es mir immerhin, mich an der Plattform festzuklammern, von der die Wucht der Strahlenwaffe mich andernfalls hinuntergefegt hätte. Ohne Tarenas ausgestreckte Hand, die ich rasch ergreife, wäre ich wahrscheinlich dennoch hinabgestürzt.
„Ich hab’s euch doch gleich gesagt. Das ist eine extrem beschissene Idee gewesen“, bemerkt Andy, der sich ebenfalls unter dem Geschosshagel wegduckt, „die geben einen Dreck auf euer Verhandlungsangebot!“
Eine weitere Salve donnert über die Plattform hinweg, der wir diesmal aber größtenteils entgehen. Nur Pingo bekommt ein paar Schüsse einer Projektilwaffe ab, die seinen steinern Körper aber kaum tangieren. Dennoch lassen mich die Splitter, die von seinem Körper abgesprengt werden, nicht kalt. Ich bin mir sicher, dass er dennoch Schmerzen fühlt, auch wenn er in keiner Form auf den Beschuss reagiert.
„Wo ist jetzt die tolle Hilfe, die die Pyritstatue uns versprochen hat“, fragt Andy, „bittet er etwa irgendeinen dämlichen Gott um Gnade oder warum regt er keinen Muskel? Oder hat sich sein Gehirn endgültig in einen Haufen Kieselsteine verwandelt?“
„So redest du nicht über Pingo, kleiner Rotzbengel“, tadele ich ihn, das Brennen in meiner Brust ignorierend.
„Sonst was?“, fragt Andy trotzig, während er sich unter dem bunten Splitterregen eines Kristallkarates wegduckt, „verprügelst Du mich sonst mit deiner Touristen-Broschüre?“
„Adrian sagt die Wahrheit, Andy. Du tust Pingo Unrecht. Er macht uns sicher keine falschen Versprechungen. Hast du schon vergessen, dass er Adrians Nadeln von uns abgelenkt hat? Dadurch hat er uns gerettet und er wird auch diesmal einen Plan haben“, entgegnet Tarena.
„Dann soll er sich beeilen. Und vor allem sollten wir endlich zurückschießen und uns nicht abknallen lassen wie wehrloses Vieh“, antwortet Andy und blickt dabei auf den von ihem erbeuteten Kristallkarakt.
„Wir haben nur zwei Fernkampfwaffen“, antworte ich und ducke mich unter einer weiteren Salve weg, „und wenn wir sie benutzen, schaden wir uns mehr als unseren Feinden. Siehst du nicht, dass nur ein Teil von ihnen auf uns feuert? Sie sind sich uneins. Wenn wir das Feuer erwidern, zwingen wir auch den Rest in den Kampf.“
„Und wenn sie ihren Disput beilegen und entscheiden uns mit allen Rohren abzuknallen, was dann?“, fragt Andy atemlos.
Die Stille, die daraufhin eingekehrt bleibt die einzige Antwort, die Andy bekommt.
„Also Prinzip Hoffnung, was?“, fragt Andy.
„Nein, Prinzip ‚Pingo‘, aber das ist beinah dasselbe“, antworte ich grinsend.
„Das bringt mich auf eine Idee“, sagt Tarena plötzlich, „Pingo scheint gegen ihren Beschuss immun, wenn wir uns hinter ihm ducken …“
„… können wir dem Beschuss vielleicht entgehen“, ergänzt Andy.
„Das ist ein ganz miserabler Vorschlag. Pingo ist ein Lebewesen, keine verfluchte Barrikade“, protestiere ich.
„Du kannst dich ja vor ihn stellen, wenn du magst“, antwortet Andy, „das wäre doch sehr heldenhaft, oder nicht?“
Einen Moment erwäge ich das tatsächlich. Schon der Gedanke daran, Pingo als lebendes Schutzschild zu missbrauchen, bereitet mir Übelkeit. Aber letztlich gebe ich nach. Wenn ich sterbe, ist niemandem geholfen und auch ich muss zugeben, dass Pingos Körper vermutlich deutlich robuster ist als unserer. Hoffentlich irre ich mich nicht.
~o~
„Hört sofort damit auf!“, verlangt Lyon, „sie wehren sich nicht einmal und haben uns ein Gesprächsangebot unterbreitet. Wenn wir darauf mit Gewalt antworten, sind wir nicht besser als sie.“
„Worte und Gesten können auch Formen von Gewalt sein, sagt Evin, während er erneut auf die Gruppe anlegt und versucht den richtigen Schusswinkel zu finden, „vor allem, wenn sie dazu dienen, einem den eigenen Willen aufzudrücken. Wozu sonst sollten diese Verhandlungen dienen, wenn nicht dazu, unsere Ziele zu torpedieren. Ziele, für die wir alle viel geopfert haben.“
„Das mag sein, aber auch wir können sie überzeugen, dass wir das Richtige tun. Doch wir werden es nie erfahren, wenn ihr diesen Leuten das Leben raubt. Sie schießen nicht zurück. Noch immer nicht. Welchen Beweis braucht ihr noch für ihre friedlichen Absichten? Stellt das Feuer ein, das ist ein Befehl!“, beharrt Lyon verzweifelt.
„Scheiß auf deine Befehle“, erwidert Nischalli, „wir sind hier nicht bei Pendula. Schlimm genug, dass wir uns einer Kriegskoordinatorin unterordnen sollen. Aber die hatte wenigstens noch Charisma und wurde vom Rat erwählt. Alles, was du anzubieten hast, ist ein aufgequollener, stinkender moralischer Zeigefinger, mit dem du uns ständig vor dem Gesicht rumfuchtelst. Nimm ihn runter, oder ich breche ihn dir. Wir sind nicht deine Untergebenen, Lyon. Wir sind deine Verbündeten, aber nur, solange du es auch wert bist. Und vor allem sind wir frei, frei uns zu wehren!“
Zwei der bislang friedlichen Laarmaschk stimmen dieser Einstellung offenbar zu. Sie treten neben ihre Artgenossen, heben ihre Gewehre und Strahler und eröffnen ebenfalls das Feuer. Lediglich fünf der Gestaltwandler steht jetzt noch auf seiner Seite. Das Machtverhältnis kippt.
Lyon spürt, wie seine Hände zu schwitzen beginnen. Zum ersten mal seit langer Zeit verspürt er wirkliche, wahrhafte Angst. Doch er darf sie nicht zeigen. Sonst verliert er die letzte Unterstützung, die er noch hat und ein Blutbad ist unvermeidlich. Nicht nur an den Pendula-Agenten, sondern vielleicht auch an ihm, wenn die Laarmaschk erst so richtig in Rage sind.
„Haltet euch da raus und beschützt Harborad“, sagt Lyon zu seinen verbliebenen Verbündeten, deren schwankende Loyalität er gut an ihren Gesichtern ablesen kann.
Offenbar sind seine Worte genau die richtigen, denn statt ebenfalls ihre Waffen zu heben, ziehen sich die Laarmaschk wie erhofft ein Stück zurück. Trotzdem macht sich Lyon keine Hoffnungen, während er seinen Blick auf das hypnotische Leuchten richtet, das hinter den nur noch hauchdünnen Wänden der Leserkammer hindurchsickert. Das hier wird ein Gemetzel. Und er ist sich noch nie so unsicher gewesen, wie jetzt, ob er auf der richtigen Seite steht.
~o~
„Sie reißen ihn in Stücke!“, rufe ich verzweifelt, während immer mehr Projektile in den starren Körper des Rihn-Ha einschlagen und beginnen, faustgroße Brocken davon abzusprengen.
„Tja, das sind die Segnungen eures verdammten Lumpenpazifismus“, sagt Andy sarkastisch.
Doch ich ignoriere die Worte des Jungen. Sie sind bedeutungslos. Alles was zählt, sind die tausend Splitter, das versteinerte Fleisch, das überall auf der Plattform verteilt ist. Auf unserer Kleidung, auf unserer Haut, in unseren Haaren, in der Luft. All die Teile von Pingos zerrinnender Lebenskraft.
„Was tust du da?“, fragt Tarena.
„Ich benutze das Pendel!“, sage ich, während ich nach dem Artefakt greife, das Any mir gegeben hat.
„Das darfst du nicht. Hast du Pingos Worte nicht gehört?“, fragt Tarena.
„Das ist mir egal!“, sage ich, „Pingo wird hier nicht verrecken. Und wir auch nicht.“
Doch ehe ich beginnen kann, das Pendel zu schwingen fährt ein scharfer Schmerz durch mein Handgelenk. Reflexartig öffne ich die Hand und lasse das Pendel fallen, nur um festzustellen, wie Tarena es mit einem raschen Peitschenschlag zu sich holt, um es vor dem Sturz in die Tiefe zu bewahren.
„Nein!“, rufe ich, „gib es zurück oder du wirst es bereuen!“, rufe ich drohend während die Laarmarschk eine weitere Salve von Geschossen Löcher in Pingos Körper stanzen. Mir ist bewusst, dass meine Drohungen haltlos sind. Selbst wenn ich kaltblütig genug wäre, Tarenas Leben mit meiner Nadelpistole zu nehmen, würde mich der Giftzwerg dafür in Stücke reißen.
„Bitte, Tarena!“, versuche ich es stattdessen mit einer anderen Strategie. Weitere Splitter fliegen an mir vorbei, ritzen meine Haut und Blut mischt sich mit Tränen, während ich mich frage, wann der Punkt gekommen ist, an dem nicht einmal mehr Jarma Pingo noch helfen kann. Wahrscheinlich ist er schon längst überschritten.
Doch in ihren Tarenas Augen lese ich die Antwort auf meine Bitte schon, bevor sie sie ausspricht. „Nein, das kann ich nicht zulassen“, sagt sie mitfühlend, aber entschlossen und unterschreibt damit Pingos Todesurteil.
Just in diesem Moment wird es still. Auf eine ganz besondere Weise. So als wären die Geräusche um uns nicht etwa verstummt, sondern lediglich bis zur Unkenntlichkeit gedämpft und abgeschnitten. Einen Augenblick später stelle ich fest, wie richtig ich mit dieser Assoziation liege, als ich die halb-transparente, dunkelblaue Kristallkuppel bemerke, die sich wie durch Zauberhand über die zum Stillstand Plattform gelegt hat. Nein, es ist nicht nur eine Kuppel. Es ist eine Brücke. Eine überdachte, tunnelartige Brücke, die direkt bis zur Leserkammer führt. Von irgendwo erklingt das ferne Echo von Schüssen, die auf die Wände und die Decke des Tunnels einhämmern, offenbar ohne Erfolg.
„Wie …. wie ist das möglich?“, frage ich verblüfft.
„Mit den richtigen Kontakten ist alles möglich“, höre ich Pingo kichernd sagen.
Der Klang seiner Stimme lässt mein Herz vor Erleichterung höher schlagen. Zugleich aber bemerke ich trotz seiner vermeintlichen Leichtigkeit, wie leise und kraftlos sie ist. Als ich mich zu ihm umdrehe, wächst meine Sorge nur noch. Er sieht schrecklich aus. Wie eine lebendige Kraterlandschaft. Sogar sein Gesicht hat Schäden davongetragen. Teile seiner Nase und seines Kinns fehlen und in seinem Brustkorb klafft ein gewaltiges Loch. Ohne die Hilfe des Steins wäre er wahrscheinlich längst kollabiert. Und dennoch steht er hier. Und lächelt.
„Wenn das, was auch immer du da getan hast, an deinen Kräften zehrt, hör sofort damit auf!“, verlange ich von Pingo.
„Was ich gerade tue, ist, der Grund warum ich noch lebe. Der Grund. warum wir alle noch leben“, antwortet Pingo, „vor allem aber soll es euch die Chance geben, zu verhandeln.“
„Wie ist das möglich? Woher hast du diese Fähigkeiten?“, fragt Tarena neugierig.
„Das erkläre ich euch in Ruhe, wenn wir es hier rausschaffen. Und wenn nicht … nun, dann kümmert es auch keinen mehr, oder?“, antwortet Pingo.
„Wohin führt der Tunnel?“, frage ich, „direkt zur Leserkammer?“
„Ja“, stimmt Pingo zu, „und zwar so, dass sich keiner außer dem Bravianer und dem Laarmaschk, der das Gesicht des Welthüters trägt, im Inneren befindet.“
„Gut“, sagt Andy, „dann scheißen wir auf Verhandlungen. Wir sind in der Überzahl und können sie endlich auslöschen, anstatt uns weiter den Arsch aufreißen zu lassen.“
„Nein!“, widerspricht Pingo, „das ist immer die eine einmalige Chance, mehr auszutauschen als Geschosse. Ein Austausch von Wissen und Ansichten. Genau wie es den Archiven angemessen ist. Vielleicht können wir so diesen ewig scheinenden Konflikt entschärfen.“
„Mein Gott, was habt ihr nur mit dieser Pazifistenscheiße?!“, beschwert sich Andy, „man kann nicht jedes Problem mit Gelaber lösen.“
„Aber auch nicht damit, stumpf Löcher in Alle zu stanzen, die einem nicht passen. Das ist einfach nur dämlich. Ich spreche aus Erfahrung“, antwortet Pingo.
„Bist du sicher, dass das eine gute Idee ist, Pingo?“, frage ich ebenfalls ein wenig skeptisch. Der rücksichtslose Beschuss der Laarmaschk hat auch in mir einiges an Wut angestaut.
„Das bin ich. Aber das muss euch nicht kümmern. Wenn einer von euch zuerst aggressiv wird, wird dieser Tunnel nämlich verschwinden und euch dem Zorn der Laarmaschk ausliefern. Großes Leserehrenwort“, droht Pingo entschlossen.
Der Blick, den Andy ihm dafür aus seinen Facettenaugen zuwirft, hat durchaus das Potenzial, Stein zu schmelzen.
„Ich bin die letzte, die sich gegen Diplomatie ausspricht. Aber was ist mit der Wesenheit in den Archiven?“, meint Tarena, „wird sie nicht befreit werden, wenn wir unsere Zeit mit reden verbringen?“
„Macht euch darüber keine Sorgen“, erwidert Pingo, „das wird noch eine Weile dauern. Die … Kraft, mit der ich verbündet bin, hält die Kreatur in Schach.“
„Was für eine Kraft?“, fragt Andy, „der Gottkaiser der Naivität?“
„Wie amüsant. Und ich dachte, ich wäre derjenige, dessen Körper aus Narrengold besteht“, antwortet Pingo, „aber es freut mich, dass dir nun doch der Sinn nach Worten steht. Höchste Zeit sie an die richtige Person zu richten.“
„Ich glaube, es ist keine gute Idee, wenn wir zu dritt gehen“, sage ich, „das könnte als Aggression gewertet werden und das sollten wir vermeiden, wenn wir das schon durchziehen. Besser, wenn ihr hier bei Pingo bleibt.“
„Ich bin wortwörtlich eine geborene Diplomatin“, widerspricht Tarena, „wer wäre besser geeignet?“
„Jemand, der keinem weiteren Herren dient“, antworte ich, „ich repräsentiere keinen Planetenkrebs. Ich stehe nur für Pendula – dafür hat Any gesorgt. Außerdem hat der Bravianer mich verschont, obwohl ich bewusstlos und ein leichtes Ziel war. Das ist eine gute Gesprächsgrundlage. Vielleicht mag er mich ja sogar.“
„In Ordnung“, stimmt Tarena zu, „dann probier es aus. Aber beeil dich besser!“
Ich nicke ihr zu und schreite den Tunnel hinab.
~o~
Lyon hat mit vielem gerechnet, aber eine Kristallwand, die ihn von seinen Truppen abschneidet, gehört sicher nicht dazu. Ob das womöglich ein Nebeneffekt von dem ist, was Harborad da gerade veranstaltet? Immerhin weiß er ja nicht, welche Folgen ein solcher Eingriff in den Kern der Archive mit sich bringen kann. Lyon bezweifelt es dennoch. Dagegen spricht schon der genaue, zickzackförmige Zuschnitt des Tunnels und die Unfähigkeit der Laarmaschk sich einen Weg hineinzubahnen, sei es durch List, Waffen oder körperliche Gewalt. Nein, das muss ein Trick der Pendula-Agenten sein, um sie zu isolieren. Wie auch immer sie dazu fähig sind. Für diese These sprechen auch die Stimmen, die er vom anderen Ende des Ganges gehört hat und die Schritte, die sich ihm langsam nähern. Sie wollen zu ihm. Zu ihm und Harborad, der noch immer in seiner Arbeit an der Leserkammer vertieft ist, und auf dessen Hilfe im Kampf er sicher nicht zählen kann. Vier gegen einen also. Womöglich hatten die Laarmaschk doch gut daran getan, zu versuchen, diese Leute auszuschalten.
Lyon hebt seine Strahlenwaffe. Er fragt sich, wie viel Zeit er dem Laarmaschk wohl verschaffen kann und ob sie ausreichend wird. Leider ist er mit der Antwort nicht sehr zufrieden. Die Kristallwand scheint noch immer vergleichsweise dick und er ist kein so guter Schütze, wie er es gerne sein würde. Dennoch ist die Lage vielleicht nicht aussichtslos. Er muss nur schnell sein. Muss reagieren, sobald sich der erste Feind einen Körperteil um die Biegung bewegt.
Es ist jedoch kein Körper, sondern eine laute Stimme, die sich Lyon zeigt.
„Mein Name ist Adrian. Ich möchte mich bedanken“, ruft die Stimme. Sie ist männlich, jung und Lyon glaubt, sie schon einmal gehört zu haben.
„Was?!“, fragt Lyon irritiert, jedoch ohne die Biegung aus den Augen zu lassen oder seine Waffe zu senken. Psychologische Kriegführung ist für ihn kein Fremdwort.
„Du hast mein Leben verschont“, erkläre ich und komme einige Schritte näher, jedoch nach wie vor, ohne mich zu zeigen. Trotzdem ist Lyon inzwischen natürlich klar, um wen es sich handelt. Um den männlichen Agenten mit der Nadelwaffe. Er hat ihn tatsächlich verschont. Aber gerade wünscht er sich, es wäre anders gewesen.
„Ja, das habe ich“, bestätigt Lyon, „damit ihr euch in Frieden zurückzieht und uns in Ruhe lasst. Doch stattdessen habt ihr mich wie eine Maus in der Falle gefangen. Ein schöner Dank ist das.“
„Dahinter steckt keine böse Absicht“, antworte ich, „im Gegenteil: wir wollen nur in Ruhe verhandeln, ohne von deinen Gestaltwandlern auseinandergenommen zu werden.“
„Worüber bei den fruchtbaren Sanden willst du verhandeln? Welche Lösung könnte es geben, die uns beide zufrieden stellt?“, entgegnet Lyon und umfasst den Griff seiner Waffe fester, während er versucht, das Flimmern in der Luft von einer echten Bewegung zu unterscheiden. Das hier muss einfach ein Trick sein.
„Das wirst du sehen. Aber es funktioniert besser von Angesicht zu Angesicht. Ich schreie meine Gesprächspartner nicht so gerne an“, erklingt meine Antwort.
Lyon will ablehnen. Natürlich will er das. Aber irgendetwas in ihm hat genau auf so ein Angebot gewartet. Darauf, einen anderen Weg einschlagen zu dürfen. Für sich, aber auch für Astrera. Er darf sich keinen falschen Hoffnungen hingeben und sich erst recht nicht narren lassen, aber vielleicht …
„Bist du allein?“, fragt Lyon.
„Nein“, erwidere ich aufrichtig, „nicht ganz zumindest. Meine Freunde warten weiter hinten. Aber hier bei mir ist niemand. Und wenn du mir noch nicht traust, tust du es vielleicht jetzt …“
Lyons betätigt vor Schreck beinah den Abzug als meine Waffe geräuschvoll über den Boden rutscht.
„Ich werde meine Waffe nicht fallen lassen“, kündigt Lyon an.
„Das verlange ich auch nicht“, antworte ich, „ich bin schon zufrieden, wenn du nicht abdrückst.“
„Wahrscheinlich tue ich das nicht“, bestätigt Lyon, „außer, du gibst mir einen Grund.“
„Das habe ich nicht vor, außer meine Visage ist ein solcher Grund“, sage ich und erscheine kurz darauf in Lyons Sichtfeld. Nicht mit erhobenen Händen, aber zumindest mit einer entspannten, nicht bedrohlichen Körperhaltung. Dennoch hält Lyon seine Waffe starr auf meinen Kopf gerichtet. Er hat heute für seinen Geschmack schon genug unangenehme Überraschungen erlebt.
„Damit ist alles in Ordnung“, antwortet Lyon, „anders als mit deinen Allianzen.“
„Oh ich bin kein Fan von Pendula“, antworte ich, „ich bin in erster Linie Student. Und Fortgeschrittener im Nebenberuf.“
„Umso eigenartiger, dass du dich für die Sache totalitärer Faschisten einsetzt. Wenn du die Wahrheit sagst, solltest du doch eigentlich Geschmack an der Freiheit gefunden haben“, sagt Lyon, „als willenloses Zahnrad reist es sich schlecht. Deshalb findest du auch viele deiner Art bei uns.“
„Bislang wollte mich noch niemand in ein Zahnrad verwandeln“, erwidere ich, „und mit Propaganda ist das so eine Sache. Astrera genießt ja auch nicht den besten Ruf, nach allem, was man so hört. Deine Laarmaschk-Truppen wirken auf mich jedenfalls nicht wie Freunde von Demokratie und Mitgefühl. Genauso wenig wie deine Verbündete Sandra. Ich weiß, wenn sie so friedlich schlummert, kann man sie für sympathisch halten. Aber ich kenne sie. Wir sind zusammen gereist und mir ist selten so ein machthungriger und skrupelloser Mensch begegnet. Womit ich nicht sagen will, dass sie nicht auch ihre charmanten Seiten hat. Vielleicht sind die Dinge gar nicht so schwarz und weiß, wie man meinen mag. Aber wie gesagt, es geht hier nicht um irgendwelche Organisationen. Weder ich noch meine Begleiter sind als willenlose Werkzeuge Pendulas hier. Wir wollen nur das Richtige tun.“
Entgegen Lyons Erwartung erscheinen miene Worte ihm aufrichtig und gießen noch dazu Öl ins Feuer seiner eigenen Zweifel. Aber dennoch mahnt er sich weiter zur Vorsicht. Das kann alles immer noch bloße Taktik sein.
„Lass mich raten“, antwortet Lyon sarkastisch, „das Richtige ist es, alles beim Status Quo zu belassen, und die Rihn-Ha, die weniger Glück hatten, weiter wie dummen Abschaum zu behandeln, der die Felder bestellen und in den Minen arbeiten darf, während die Welthüter darüber bestimmen, wem sie ihre paar Brotkrumen an Wissen zuwerfen?“
„Nein, ganz sicher nicht. Ich hasse den Status Quo“, verneine ich, „glaub mir, mein halbes Leben bestand daraus, auf ihn zu pissen. Aber nicht jede Veränderung ist gut. Zum Beispiel ist das, was dein Freund dort tut, ziemlich schlecht. Du glaubst vielleicht, dass er die Bürger Rihns befreit. Aber in Wirklichkeit befreit er eine Monstrosität.“
„Wie meinst du das?“, fragt Lyon irritiert.
„So wie ich es sage. Das Wissen der Archive kommt nicht aus dem Nichts. All die schönen Informationen entspringen dem Geist einer eingesperrten, körperlosen Abscheulichkeit. Einer Abscheulichkeit, die schon tausende Seelen auf dem Gewissen habt und die ihr gerade in diesem Moment aus ihrem Gefängnis befreit.“
„Nette Geschichte“, wiegelt Lyon ab und seine Ungläubigkeit verwandelt sich in ein amüsiertes Gelächter, „wo hast du die her? Aus einem Drogentraum?“
„Nein. Von Pingo. Einem Mitarbeiter der Archive und einer der edelsten Personen, die mir je begegnet ist“, erwidere ich und der gekränkte Furor, mit dem ich diese Worte vortrage, macht wirklich Eindruck auf Lyon. So spricht nur jemand, der die Ehre eines Freundes verteidigt.
Durch meine Worte nun noch nachdenklicher geworden, lässt er seine Waffe sinken. Sein Blick schweift erneut zu Harborad und zu dem gierigen, pulsierenden, hässlichen Leuchten, das hinter ihm wächst. Bislang hatte er diese Phänomen für eine Art Zauber gehalten. Einen Nebeneffekt der Befehle, die Harborad an die Archive weitergeleitet hat. Nicht mehr als eine Flamme, die man eben entzünden musste, wenn man es warm haben wollte. Nun aber fragt er sich, ob mehr dahintersteckt. Ob wirklich etwas in siwawn Mauern wohnt. Eine Intelligenz, die ihn mustert, betrachtet und … auf eine verdrehte Art … begehrt. Wie immer die Antwort auf diese Frage lautet, ein klares „Nein“ ist es nicht.
„Angenommen, es stimmt wirklich, was du da erzählst“, entgegnet Lyon, „was soll ich tun? Soll ich mich gegen meine eigenen Leute stellen? Zum Verräter werden? Jegliche Chance auf Freiheit opfern und letztlich doch alles beim Alten belassen? Damit das Multiversum am Ende derselbe, ungerechte Haufen Dreck bleibt?“
„So muss es nicht kommen“, erwidere ich, „behaltet das Ungeheuer in seinem Käfig, aber starte ruhig deine Revolution. Schafft die Welthüter ab oder lasst ihre Ämter rotieren. Erleichtert den Zugang für alle. Verwandelt die Archive in eine verfickte Kommune, aber bitte, um Gottes Willen, verhindert, dass ein Dämon Zugriff auf Milliarden Gehirne bekommt. Eine ganze Welt für seine Ziele anzuzünden, ist nie eine gute Lösung. Das kannst du mir glauben. Ich habe das schon oft genug ausprobiert.“
„Wir sind schon zu weit gekommen“, antwortet Lyon, „die Manipulation ders Ratsbeschlusses. Die Morde an den Ratsmitgliedern. Wenn wir diese Taten nicht mit den Segnungen eines freien Informationszugangs wiedergutmachen können, wäre das alles sinnlos gewesen. Die Rihn-Ha würden Astrera noch weit mehr verabscheuen als vorher. Und das zurecht.“
„Ich kann dich verstehen, Lyon. Pfadabhängigkeit ist ein Bastard“, sage ich, „ich stand schon öfters am selben Punkt wie du. Und viel zu oft bin ich weitergegangen, statt umzukehren, was eine miserable Entscheidung war. Besser, ein Rückschlag auf dem richtigen Weg als mit dem Erfolg zu haben, was man eigentlich hasst, oder nicht?“
„Selbst wenn ich so handele. Die … die Laarmaschk würden mich genüsslich in Stücke reißen“, wendet Lyon ein, „sogar die Besonneneren unter ihnen. Sie würden es unmöglich verstehen.“
„Wir beschützen dich“, versichere ich, „und vielleicht kann Pingo uns einen Ausweg bahnen. Er hat diesen Tunnel erschaffen, auf Wegen, die ich selbst nicht ganz verstehe. Vielleicht kann er ihn umformen und uns darin sicher zum Ausgang führen. Doch selbst, wenn etwas schiefgeht, ist es immer noch besser, wenn wir draufgehen, als wenn wir diesem Wesen tausende zum Fraß vorwerfen.“
„Du bist bei Pendula wirklich an der falschen Adresse“, meint Lyon nachdenklich, aber durchaus beeindruckt, „vorausgesetzt du lügst mich nicht an.“
„Hier drin sind wir dir vier zu eins überlegen, Lyon“, stelle ich fest, „wir könnten dich wahrscheinlich über den Haufen schießen und das Ganze selbst erledigen. Aber das will ich nicht. Ich will, dass wir uns einigen. Scheiß auf Astrera. Scheiß auf Pendula. Tun wir einfach das, was uns alle nicht direkt in die Hölle führt, okay?“
„Gut“, antwortet Lyon seufzend, „von mir aus. Ich habe mich immer schon gefragt, wie es ist, von Laarmarschk zu Tode gefoltert zu werden. Aber wir sollen wir es anstellen? Willst du Harborad töten?“
„Ich glaube, das wird nicht nötig sein“, sage ich und bewege mich auf den Laarmaschk zu, der noch immer nicht das Geringste von der Außenwelt mitbekommt. Dann lege ich die Hand um die dünne Kristallverbindung zwischen der Leserkammer und dem vermeintlichen Welthüter und breche sie wie einen dicken Ast entzwei, ohne das Lyon etwas dagegen unternimmt. Gleichzeitig flammt das Leuchten hinter der Wand noch einmal kräftig auf, wütend fast, so als hätte es mitbekommen, dass seine sicher geglaubte Befreiung in letzte Sekunde vereitelt wurde.
„Es ist getan“, sage ich, „und es war das Richtige.“
Lyon nickt und sieht mich nachdenklich an.
„Komm mit mir!“, füge ich auffordernd hinzu, „wir gehen zu den anderen und suchen gemeinsam einen Ausweg. Der Tunnel wird uns Schutz gewähren. Danach kannst du zu deinen Leuten zurückkehren. Sie werden nicht einmal bemerken, was deine Rolle in all dem war. Erzähle ihnen einfach, dass ich dich überwältigt habe. Von unserer Kooperation muss niemand …“
Meine Worte reißen ab, als Pongras vom anderen Ende der Halle einen so markerschütternden Schrei von sich gibt, als hätte man ihm gerade das Rückgrat gebrochen. Kurz darauf, fast als hätte der Schrei ihn aufgelöst, verschwindet der Tunnel, den Pingo erschaffen hat und lässt uns schutzlos zurück.
„Scheiße!“, fluche ich, als wir von dutzenden Laarmaschk-Augen zornig angestarrt werden, deren Besitzer die Lage in Sekundenbruchteilen erfassen. Lyon hat ganz genau denselben Gedanken.
~o~
Ich zögere nicht lange und entlade eine breite Salve von Geschossen in die Menge der Gestaltwandler hinein. Die Nadeln treffen gut und entwickeln aus der kurzen Distanz eine beachtliche Wucht. Sie bohren sich in Gesichter – mal verwandelt und mal nicht –, in Oberkörper, Beine und Arme. Keines der Geschosse hat genügend Kraft, um ein Laarmaschk-Leben zu beenden, aber sie sind doch schmerzhaft genug, um die Gestaltwandler für ein paar Sekunden zurückzudrängen.
„Steh auf und nimm deine verdammte Waffe, Lyon!“, rüttele ich den Astrera-Agenten auf, während ich das Sperrfeuer aufrechterhalte, so gut ich es vermag.
„Wozu?“, fragt Lyon und blickt dabei auf die Überzahl, die sich gerade von ihrer Überraschung erholt „soll ich mir damit in den Kopf schießen?“
Trotz dieser pessimistischen Worte nimmt er seine Waffe auf und richtet sie zitternd auf seine eigenen Soldaten. Er gibt ein paar halbherzige Schüsse ab, aber die meisten davon fliegen weit an den Laarmaschk vorbei.
„Verräter“, ruft Nischalli, eine der ersten, die sich ungeachtet des Beschusses und der noch immer anhaltenden Verblüffung aufrappelt. Aus ihrem schlanken Körper tropfen Blut und Schlamm, doch sie hält ihre Waffe erstaunlich ruhig, als sie auf mich zielt und abdrückt. Auf der engen Plattform ist ans Ausweichen kaum zu denken. So trifft mich der Energiestrahl direkt in den Bauch. Der Schmerz ist unbeschreiblich und ich lasse meine eigene Waffe sofort fallen.
„Immerhin sterben wir in Schönheit“, sagt Lyon neben mir, doch seine Worte klingen seltsam fern, so als müssten sie Bergmassive überwinden, um zu meinen Ohren vorzudringen.
Über mir sehe ich schleierhaft die anderen Laarmaschk aufragen. Sie haben sich nun alle erhoben und grinsen mit überheblichen, sadistischen Gesichtern. Wie ein Heer von archaischen Kriegern das sich um einen sterbenden Drachen versammelt hat. Die Laarmaschk sind bereit zu foltern. Aber mehr noch mehr zu verzehren und zu kopieren, daran lassen ihre Blicke keinen Zweifel. Ein Gedanke schießt durch meinen Kopf: Kann ein Laarmaschk, der meine Identität stiehlt, auch meinen Katalog nutzen? Kann er meine Reise fortsetzen? Und wäre er dabei genauso von Heimweh geplagt? Fast wünsche ich mir, diese Frage noch beantwortet zu bekommen, bevor ich sterbe, doch ich glaube nicht, dass hier irgendjemand in der Stimmung ist, mir letzte Wünsche zu gewähren.
„Hier stirbt niemand, außer euch“, donnert Tarenas Stimme durch den Raum. Sie erscheint wie aus dem Nichts und ihre Peitsche treibt die Laarmaschk zurück wie ein Hirte seine Viehherde. Sie zücken ihre Waffen, versuchen Gegenwehr zu leisten, aber die Dornen der Peitsche schneiden tief und scheinen überall gleichzeitig zu sein. Und dann kommt der Wolf. Ein hässlicher, zynischer, junger Wolf. Andy, dessen bloße Klauen sich erbarmungslos Wege in die Leiber der Laarmaschk bahnen. Deren Körper weichen zurück, so gut es ihnen möglich ist. Sie bilden sich zurück, verformen sich, versuchen zu fliehen.
Doch vergeblich. Vollkommen vergeblich. Denn plötzlich erstarren sie. Nicht vor Angst und auch nicht wie eingefroren in der Zeit, sondern wie ein Haufen Statuen, die jemand zurückgelassen hat, um die Archive mit einer verqueren Auffassung zu Ästhetik zu „verschönern“. Sie bewegen sich noch. Ganz langsam und nur, wenn man ganz genau hinsieht. Ein nervöses Zittern hier und dort. Ein leises Beben unter der versteinert wirkenden Oberfläche. Doch mehr ist da nicht mehr.
„Es sieht aus wie bei einem Wrinklewa-Spiel“, höre ich Pingo sagen. Seine Stimme ist wieder fest. Seine Bewegungen fließend und seine Züge ausdrucksstark. Und das alles, obwohl seine Haut, ja sein ganzer Körper nach wie vor mit Pyrit überzogen ist, nein, daraus besteht.
„Wrink…was?“, frage ich verwirrt.
„Es ist ähnlich wie euer Schach-Spiel. Ein Kampf umd Dominanz auf einem Spielbrett. Aber die Figuren sind extrem detailliert und von Künstlern handgestaltet. Und das Spiel beinhaltet genaue physikalische Berechnungen für jeden einzelnen Zug. Um zu siegen muss man Temperaturschwankungen, kleine Fallen und wechselnde Untergründe berücksichtigen. Und manchmal müssen die Felder erst durch die passenden chemischen Verbindungen zugänglich gemacht werden. Die High Society in Rihn liebt es. Aber um ehrlich zu sein, ist es mehr eine teure Qual als ein spaßiges Spiel“, erklärt Pingo.
„Ich verstehe …“ , lüge ich, „aber so spannend ich Rihnnische Spielkunde auch finde, hätte ich doch noch eine dringendere Frage: Bist du für das hier verantwortlich?“
Noch immer überrascht zeige ich auf die erstarrten Laarmaschk.
„Ich bin daran zumindest nicht ganz unschuldig“, bestätigt Pingo.
„Scheiße, du machst einem manchmal wirklich Angst“, kommentiert Tarena, was um so komischer ist, da ihr Gesicht, ihre Peitsche und ihre Hände und Klauen noch mit Blut und Schlamm beschmiert sind, was sie mehr wie ein hungriges Raubtier aussehen lässt als wie eine Diplomatin, „ich meine, kannst du das mit jedem, der …“
„Mir machen die Gestaltwandler mehr Angst“, fährt Andy, der sogar noch furchterregender aussieht als seine Mutter, dazwischen, „wir sollten sie entsorgen, bevor sie wieder erwachen.“
„Das sind Lebewesen, kein Müll“, meldet sich Lyon zu Wort.
„Das schließt sich meiner Erfahrung nach nicht aus“, sagt Andy lächelnd, „aber um deine Entsorgung müssen wir uns womöglich auch noch Gedanken machen.“
„Niemand rührt Lyon an!“, entgegne ich und stelle mich schützend vor den Bravianer, „er ist ein ehrenhafter Mann. Egal auf welcher Seite er steht.“
„Da stimme ich zu“, sagt Tarena „ich würde auch nie akzeptieren, dass eine Abmachung so mit Füßen getreten wird. Aber was die Laarmaschk betrifft, haben wir wahrscheinlich keine Wahl. Sie würden uns sofort in den Rücken fallen, wenn sie erwachen.“
„Tolle Freunde hast du da“, antwortet Lyon.
„Niemand hat behauptet, dass ich dein Freund wäre“, faucht Andy.
„Diese Laarmaschk wollten euch beide gerade noch hinrichten und auffressen“, fügt Tarena etwas versöhnlicher hinzu, „da wundert es mich schon, dass du sie verteidigst.“
„Nicht alle von ihnen sind so“, sagt Lyon, „manche von ihnen haben lange gezögert, gegen euch zu kämpfen. Und jedes Leben ist wertvoll. Außerdem darf man nicht vergessen, dass ich ihnen in den Rücken gefallen bin. Sie sind enttäuscht. Und wütend.“
„Oh glaub mir, das bin ich auch!“, sagt Andy.
„Wir verschwinden einfach“, überlege ich, „und lassen sie hier zurück. So können sie ohnehin niemandem schaden.“
„Das geht leider nicht“, sagt Pingo, „ich kann sie nicht mehr lange in diesem Zustand halten. Und wenn sie erwachen, werden sie sicher versuchen, ihre Mission fortzuführen. Wir müssen ohnehin die überlebenden Archivmitglieder und Soldaten zusammentrommeln und die Archive sichern. Ihr seht ja, wie dünn die Kristallwand geworden ist. Nicht, dass das Wesen darin sich doch noch …“
Plötzlich peitscht ein gewaltiger Schrei um unsere Ohren.
„Pongras!“, will ich warnend rufen, doch die Worte werden mir buchstäblich von den Lippen gerissen.
~o~
Gefühle sind wie Magie. Sie sind unsichtbar, aber existent. Erforschbar, aber unerklärbar. Man kann Bücher darüber schreiben, Gesetzmäßigkeiten festlegen, Formen und Kategorien aufstellen wie Tierfallen, die die rohe Kraft einsperren und zähmen. Doch nie fängt man sie lebend. Immer findet nur ein trockener, zerdrückter Kadaver seinen Weg in die staubige Galerie der Rationalität. Ausgestopfte Hüllen beschrieben durch Hormone oder Mantianz. Doch die Eruption, die Euphorie, der alles bedeutende Rausch bleibt allein dem Subjekt vorbehalten.
Gefühle urteilen schnell. Sie kennen keine Kompromisse. Sie verzeihen, belohnen, bewundern, vereinen und verdammen.
Und nie sind sie wirkmächtiger als in jenen Momenten, wo ihre Käfigtür offensteht und die Wachsamkeit des Verstandes nachlässt. Im Rausch der Liebe, unter dem Einfluss diverser Substanzen, am Rande des Schlafes oder kurz nach einer überwundenen Ohnmacht.
Pongras kennt nicht das ganze Bild. Er weiß nichts von Bündnissen und Kompromissen. Nichts von Versteinerungen und Absprachen. Alles, was er sieht, als er sich träge aufrappelt, ist ein Haufen Laarmaschk, nah, viel zu nah an der zentralen Leserkammer und seine vermeintlichen Verbündeten, die tatenlos danebenstehen und davor ein Feld aus Leichen.
Hätte er nachgedacht, hätte er nachdenken können, hätte er abgewartet, nachgefragt, nachgeforscht, so wie er es in den letzten Jahren ständig getan hatte … Tja, dann hätte er Theorien gebildet, Fakten geprüft und – vor allem – Konsequenzen bedacht. Doch er ist nicht der Forscher. Gerade nicht. Er ist der Junge, der sich seit Jahrzehnten zu fühlen verboten hatte. Und sein erster kleiner Ausbruch war nur ein Lüftchen gewesen. Nun kommt der Sturm.
Die Luft gebiert … Energie. Trilliarden heißer Tropfen aus elementarem Zorn. Scharf, klein und tödlich und magnetisch gepolt auf jenen Ort, an dem sich die Verräter und Feinde versammelt haben. Und wie ein Pfeil, wie eine Klinge, wie eine zuschlagende Faust, streben sie ihrer Bestimmung zu.
~o~
Pingo vernimmt meine Warnung schneller, als jedes Wort sie hätte tragen können. Ohne auch nur darüber nachzudenken, gibt er den Einfluss auf die Mineralien im Körper der Laarmaschk auf und nutzt seine durch den Pakt mit Naxona gewonnene Macht auf andere Weise. Zu Abertausenden ruft er sie herbei: Splitter, Fragmente, Brocken von Achat, Opal, Bergkristall, Pyrit und jedem anderen Mineral, das sich in der Nähe befindet. Er verbindet sie, türmt sie auf zu einem Schutzwall, zu einer Mauer, die erzittert, brich, zerfällt, als die erste Welle von Pongras roher manifestierter Wut auf sie trifft. Ein Teil von Pongras magischem Zorn gelangt dennoch hindurch oder darüber hinweg. Sie köpft mehrere der irritierten Laarmarschk und rasiert um ein Haar auch seine Freunde bis zum Hals. Sie entgehen dem nur, weil sie sich rechtzeitig flach auf den Boden kauern oder werfen.
Pingo ist verängstigt, ist überwältigt von Pongras Macht, aber er gibt nicht auf. Er kann nicht aufgeben, weiß er doch, dass das ihrer aller Ende wäre. Und so holt er mehr Splitter, mehr Kristalle, mehr Material aus jeder Quelle die er findet. Er formt sie zu einem zweiten, dritten, vierten, fünften Wall und lässt sie den Boden, den Raum, ja die gesamten Archive erbeben, bis … endlich die Angriffe versiegen.
Einen Moment bleibt Pingo stehen. Mit zitternden Knien und einem staubigen Geschmack im Mund. Er blickt zu Pongras, den sie in ihrer Sorglosigkeit bewusstlos auf der anderen Seite zurückgelassen hatten. Er ist nicht mehr bewusstlos. Auch nach all diesen Anstrengungen nicht. Doch offensichtlich ist er nicht mehr in der Lage, eine weitere Welle der Zerstörung gegen sie auszusenden.
Erschöpft doch zufrieden hockt Pingo sich hin. Er hat es geschafft. Er ist erneut ein Held. Jarma wird bestimmt stolz auf ihn sein, wenn sie es erfährt. Doch noch ist sein Werk nicht getan. Er muss sich nach den Laarmaschk und seinen Freunden umsehen. Aber erst noch … eine Pause. Ganz kurz. Nur, um etwas Kraft zu schöpfen.
Pingo schließt die Augen und in die entstehende Dunkelheit hinein sickern die Worte des Steins. Sie erheben sich in seinem Kopf, nun, da der Sturm nicht länger tobt.
„Was hast du nur getan?“, fragt Naxona tadelnd, empört, beinahe böse.
„Was meinst du?“, antwortet Pingo, „ich habe uns gerettet, ich …“
„Dreh dich um!“, verlangte seine unsichtbare Gefährtin.
Pingo tut wie er geheißen und vergisst beinah zu atmen. Seine Verteidigungsversuche sind nicht ohne Folgen geblieben. Die Archive sind ein Trümmerfeld. Alle Melodien sind verstummt. Gigantische Löcher klaffen in Wänden, Decke und Boden und die Leserkammer, jenes letzte Gefängnis für das Wesen, vor dem ihn Naxona gewarnt hat, ist vollkommen perforiert. Das gespenstische, böse Leuchten dahinter ist verschwunden. Aber nicht ganz. Wenn Pingo ganz genau hinsieht, erkennt er es immer noch. Wenn auch nicht innerhalb des Steins. Die Luft ist nicht mehr farblos und transparent wie sie es sein sollte, sondern von einer feinen, purpurnen Färbung. Pingo muss nicht lange überlegen, was das bedeutet. Die Kreatur – Yolwäsch – ist frei.
„Adrian“, ruft Pingo erschrocken und sucht die Plattform fieberhaft nach seinem Freund ab. Er findet ihn. Genau wie Tarena, Andy und Lyon. Sie sind am Leben. Ganz offensichtlich. Doch das macht sein Herz nicht leichter. Denn ihr Anblick lässt darauf schließen, dass sie es lieber nicht wären. Wo zuvor Gesichter waren, sind nun zerrissene Fratzen. Zersplittert und zerfurcht, soweit es die Muskeln zulassen und scheinbar nur deshalb noch nicht gänzlich zerborsten, weil die Handflächen die gequälten Köpfe wie Schraubstöcke zusammenpressen. Transparente, kaum sichtbare Schlieren steigen aus ihrem Kopf auf, abgesaugt und gefressen vom der violetten Luft. Ihre Augen sind verdreht nach innen, wie auf der Suche nach einer verborgenen Wahrheit, die niemand kennen sollte, während ihre Beine mal stillstehen und sich mal hektisch bewegen. Die Münder aber sind stinkende Abwasserfontäne halblaut gesprochener Sinnlosigkeiten, die Pingo ungefragt entgegen sprudeln.
„… wie kann das sein. Hätte ich ihn doch nie zurückgelassen … Er ist hier bei mir … morgen, vorne, innen, nirgends. Eventualität … ich hasse, hasse, liebe dich … mich, euch ….“
„… Nein, bitte, ich will das nicht wissen! Nimm es von mir … oh ja mehr, weiter, bis zum Ende und zurück … saug es in mich …. verschmelze …“
„… ich muss auf die Jagd gehen. Alleine sind sie zum Scheitern verdammt … Trikschka … Nikschara … wartet auf mich … die Prädatoren … die Prädatoren ….“
„… die Ungeduld des Rates. Das Wüten der Scyonen. Im Spiegel gefangen. Die Lust, die Schmach, die Umarmung. Allein …“
„… Er ruft, er wächst, er frisst. Die Handlinge tanzen voran. Durch Flüsse, Wurzeln, Straßen, Erdreich. Feine Adern. Eine Frucht. Ein König … ein aufgeschwemmter König …“
Niemand, außer vielleicht der noch immer regungslosen Sandra bleibt davon verschont. Nicht einmal die Laarmaschk, nicht einmal Pongras, der in der Ferne denselben Kampf kämpft, immer nur wenige Schritte davon entfernt, in die Tiefe zu stürzen. Und Pingo fällt es schwer, ja es ist ihm praktisch unmöglich auch nur eine der ganzen Stimmen einem klaren Ursprung zuzuordnen.
„Du kannst sie nicht retten!“, ermahnt ihn Naxonas Stimme in seinem Kopf, „wir müssen hier weg. Sofort! Hier sind wir zu nah am Ursprung. Hier sind zu viele Löcher. Zu wenig Verbindung. Ich kann dich niemanden schützen. Nicht einmal dich. Nicht auf Dauer zumindest. Du musst fort und die anderen Steinernen finden. Jetzt!“
Bilder von Steingeweihten. Von heldenhaften Aventur-Geweihten, verführerischen Rubin-Geweihten, sinistren Onyx-Geweihten und ihren Aufenthaltsorten erscheinen vor seinem Inneren Auge. Sogar die Torwächterin, die am Eingang der Archive im Kristall festgewachsen ist, ist darunter. Es sind Leuchtpunkte in der Dunkelheit, Schätze im tiefen Gestein. Sie durchfluten seinen Geist wie ein freundlich vorgetragener Befehl. Doch Pingo ist nicht bereit zu gehorchen. „Nein!“, widerspricht er, „ich kann sie nicht zurücklassen!“
Pingo beugt sich zu Adrian hinab, legt die steinerne Hand auf seine fiebernde, von Falten zerrissene Stirn. Er legt sein Ohr an seine Lippen und lauscht ganz genau.
~o~
Erkennen. Der Blick durch tausend Augen. Unermessliche Perspektiven. Retrospektiven. Mosaike. Schlaglichter. Ein Hauch von Verständnis. Ein Speedrun durch mein Leben … der Adlerblick, der Wurmblick in alle Geister, die ich jemals traf und dann der Sprung in … Korf rennt über das Schlachtfeld, getaucht in rötliche Dämmerung. Sein muskulöser Körper steckt in einem Kampfanzug, die Gräberkanone geschultert. Einen Strom der bluthungrigen Geschöpfe klatscht auf dem Boden und bringt Leid und Zerstörung. Aber diesmal nicht den Jyllen, sondern anderen Rorak und Söldnern. Sie sind in der Überzahl, jedoch voller Angst. Doch sie fürchten sich nicht vor ihm. Nicht vor dem bulligen, gewaltigen Krieger, sondern vor einer Cestral in einem weißen Kleid. Ein blasskalter Schimmer im Zwielicht. Schrecklich schön auf einem wandelnden Thron gebaut aus Jyllen-Sklaven, vorangetrieben von dutzenden Beinen eines verbundenen Körpers.
Seine Gegner zittern. Ihre Angst ist ihre Fessel. Sie würden niemals aufgeben, nie zurückweichen, aber die Furcht lähmt ihre Kampfkraft. Es sind keine stolzen Krieger, sondern nur wimmernde Feiglinge, die versuchen sich zu wehren wie … ein Friedhof. An einem trüben Tag. Mein Vater sitzt dort. Still, allein, gebeugt und gebrochen. Gekleidet in seinen Lieblingsanzug, den er seit Jahrzehnten trägt. Das Gesicht versteinert wie der Grabstein mit dem Namen meiner Mutter. Darauf auch mein Name. Er hat ein Rezept in seiner Hand. Schlaftabletten. Er wird sie nehmen. Alle. Das Familiengrab ist ja bezahlt und bietet genügend Platz für … Einen Kuss im Mondschein. Eine Frau mit schwarzem Haar und bleicher Haut am Ufer einer sterbenden Welt. Ein geborstener Mond steht am Himmel wie eine Drohung. Doch wir lachen fast befreit. Verschränken unsere Hände. Spüren Wärme. Und aus dem Meer erhebt sich eine … Bushaltestelle. Ein Katalog. Dreckig und benutzt. Eigentlich nur Müll. Ich greife ihn, schmeiße ihn weg, bevor ich nach Hause gehe, um … eine Frucht zu werden. Geschäftig, emsig malochend, hängend an einem Netz schillernder Fäden, die mich umschmeicheln wie … wie … wie …. das Ende … der Anfang … der Augenblick … blühende Täler, flackernde Sterne … Schulunterricht … Axiome … Parasiten … Herrschaft … Macht … Eiscreme … Nein … ja … Nein …. NEIN!!!!!
Die Welt sie wächst, sie dehnt sich, sie entgrenzt, sie ZERWEITET bis … ein Ruck. An einer Kette und mein Ich wird …
Verkleinert. Ein bekannter Ort. So herrlich bekannt. So herrlich überschaubar. Das Gesicht noch bekannter. Any. Inmitten ihrer Diener. Diener wie mir. Die Peripheren. Leblos wie Statuen stehen sie dort. Teilnahmslos, emotionslos, so als wären sie überhaupt nicht hier. Nur Ajys ist wütend, schrecklich wütend, aber erfassbar. Mein Kopf wird wieder klar und für einen Moment liebe ich meine Ketten. Will sie umarmen, mich darin einhüllen wie in eine Decke.
„Was habt ihr euch dabei gedacht, Defekte?!“, poltert Any.
Erst verstehe ich das alles nicht. Dann sehe ich mich weiter um. Sehe die Taktschwärmer gleichförmig an der Decke kreisen oder in ihren Nischen hocken und warten wie seelenlose Bienen. Sehe Tarena und Andy. Erinnere ich mich. Begreife. Die Archive. Das Ding, das darin wohnt. Das Ding, das entkommen ist.
„Was meinst du?“, frage ich immer noch leicht benommen, „wir … wir konnten nichts dafür. Wir haben unser Bestes getan, um es zu verhindern.“
„Einen Scheiß habt ihr getan“, donnert Any, „ihr habt mit dem Feind paktiert. Ihr habt verhandelt, wo ihr kämpfen solltet. Versagt, wo ihr funktionieren solltet. Wo ihr dem Pfad folgen solltet. Ich sollte euch umbauen, umformen, zerbrechen und reparieren. Euch neu kalibrieren und zu etwas Nützlicherem machen, sowie ich es eben erst mit meinen anderen Peripheren tat.“
Sie zeigt auf die anderen Wesen an ihrer nur für mich sichtbaren Kette. Ich vermute, dass es sich um dieselben Personen handelt, die ich bei meinem letzten Besuch hier traf. Doch mit Sicherheit kann ich das nicht sagen. „Personen“ ist nämlich kein sehr treffender Ausdruck für diese Zeitgenoßen. Hatten sie schon damals kaum Identität gezeigt, ist inzwischen jeder Hinweis auf ihre einstige Individualität verblasst. Sie alle tragen nun alle exakt dieselben Gesichtszüge und ein freudloses, oberflächliches Lächeln. Ihre Körper sind großgewachsen, muskulös und androgyn und keiner Spezies eindeutig zuzuordnen und lediglich ihr Fleisch unterscheidet sie noch von einem Roboter. Dennoch sehe ich in ihren rostfarbenen Augen etwas. Ein fernes, bedeutungsloses Funkeln, wie ein verlorenes Centstück am Boden einer tiefen Grube. Das – so vermute ich – müssen Überreste ihrer Seelen rein. Heruntergeregelt, eingesperrt und gänzlich machtlos gemacht. Dieser Anblick lässt mich erschaudern. Aber er kitzelt auch meinen Widerstandsgeist.
„Und was dann?“, frage ich nun nicht länger unterwürfig, „dann hast du weitere lebende Tote, die an deinen Fäden baumeln. Doch was bringt dir das? Ist es nicht eher so, dass du uns brauchst, so wie wir sind? Dass du jemanden benötigst, der improvisieren und eigenständig denken kann? Dass du mit Unwägbarkeiten nicht zurechtkommst, weil du ein tyrannisches Geschöpf bist, das ein Uhrwerk hat, wo andere ein Herz haben? Ein Uhrwerk, das dich zu falschen Urteilen führt. Es war Pongras, dein Agent und Verbündeter, der alles versaut hat. Nicht wir. Nicht ich, nicht Tarena, Andy, Pingo und auch nicht Lyon. Schrei Pongras an, wenn du dich unbedingt abreagieren musst und mach aus ihm einen atmenden Haufen Pressfleisch, wenn dich das geil macht, aber lass uns da gefälligst raus!“
„Gut gebrüllt, Adrian!“, antwortet Any eisig, „es brüllt sich leicht für das Kind, wenn seine Mutter es ins sichere, warme Heim geholt hat. Aber da draußen tobt das Chaos. Buchstäblich. Und ihr wärt dort ertrunken, wenn ich euch nicht zurückgeholt hätte. Zeigt wenigstens Dankbarkeit, wenn schon keinen Verstand.“
„Wir SIND dankbar dafür“, bemerkt Tarena ruhig, „dieser wilde Gedankenstrom war schrecklich. Aber mit welchem Recht wirst du uns Versagen vor? Vergiss nicht, anders als Adrian helfen Andy und ich dir auf freiwilliger Basis! Was hast du denn erwartet? Du hast uns nicht mal einen echten Auftrag gegeben. “
„Einem Zahnrad muss man nicht das große Ganze erklären. Es muss die Rillen erkennen, in die es eingreifen soll. Kann es das nicht, ist es wertlos und gehört auf den Schrottplatz“, antwortet Any.
„Spiel dich nicht so auf. Wir sind keine verfluchten Zahnräder!“, tobt Andy, „wir sind …“
„Was seid ihr denn?“, fragt Any, „Krebsgeschwüre? Vagabunden? Verfaulendes Streuobst, das seinen Ast verloren hat. Ihr seid vor allem meins und wenn ihr nicht gehorcht, passiert das …“
Noch bevor sie ihre Worte ganz ausgesprochen hat, ist ein kurzer Knall zu hören. Leise, aber durchdringend wie ein Peitschenschlag und Andy ist … verschwunden.
„Hol ihn wieder her, sofort!“, verlangt Tarena, „wir sind nicht deine Sklaven, hörst du! Wir sind NICHT deine Peripheren.“
„Oh, das war früher einmal“, korrigiert Any, „mitlerweile habe auch euch in Adrians Vertrag eingebunden. Ihr hängt an derselben Kette. Andernfalls hätte ich euch nicht aus dem Archiven retten können.“
„Wir haben nicht darum gebeten!“, schreit Tarena erbost.
„Doch, das habt ihr“, beharrt Any, „ihr habt darum gebettelt. Das Schreien und Flehen eurer jämmerlichen Geister hallte durch alle Gebirge von Rihn. Ich habe es erhört.“
„Hör auf so einen Mist zu erzählen und hol gefälligst Andy hieher, sonst … !“, donnert Tarena wütend. Ihre Klauen klacken hilflos und die Andrinische Peitsche zuckt unruhig in ihrer Hand.
„Sonst was? Peitscht du mich dann aus? “, antwortet Any ruhig, „diese Haut ist unempfindlich gegen deine Waffe. Aber mein Vertrauen könntest du durchaus verletzen. Und es würde dir nicht zum Vorteil gereichen, Krebsdienerin. Denn dann wirst du deinen Sohn nie wiedersehen. Glaubt mir, ihr alle hättet viel mehr davon, wenn ihr euch benehmt und tut, was ich sage.“
„Die Worte von Erpressern und Tyrannen. Langsam frage ich mich, ob Astrera wirklich so schlimm ist“, sage ich.
„Wenn ihr alle das Chaos so sehr liebt, dann gebt euch ihm hin“, erwidert Any erbost, „geht dort raus, wo ich euch nicht beschützen kann und seht zu, wie sich euer Verstand auflöst. Ein paar Sekunden sind unangenehm. Ein paar Minuten die Hölle. Aber nach Stunden, Tagen, Wochen, wird es wirklich interessant. Probiert es aus. Ich löse sogar deine Leine Adrian. Ich löse die Ketten von euch allen und lasse euch gehen. Dich, die Krebsbotin und ihren verkommenen Sohn. Geht hinaus und lebt mit den Konsequenzen eures Versagens oder bleibt hier und helft mir, es in den Griff zu bekommen. Ich erpresse euch nicht. Ihr erpresst mich. Ihr wollt Schutz ohne Gegenleistung. Doch so funktioniert das nicht.“
„Wie funktioniert es dann?“, frage ich, „was zur Hölle willst du von uns?!“
„Ein Rad greift in das andere. Ich will nur, dass ihr eurer Bestimmung folgt. Mehr nicht“, antwortet Any, „ihr seid ein Reisender und eine Diplomatin. Also geht dem nach. Ich habe mir den Zeitverlauf angesehen, den ihr mir gebracht habt. Den Zeitverlauf, den wir ändern, den wir reparieren müssen. Viele falsche Entscheidungen sind dort getroffen worden. Gefährliche Bündnisse geschmiedet, fatale Wege beschritten worden. Doch das ist nicht unausweichlich, wenn die richtigen Worte die richtigen Ohren finden. Das ist deine Aufgabe Tarena. Besuche sie. Die Herrscher, die Welten, die Völker, die den richtigen Weg finden müssen. Die unsere Sache unterstützen müssen, statt dem Weg des Chaos zu folgen.“
„Und wie bitteschön soll ich das anstellen?“, fragt Tarena, „ich habe keinen Katalog wie Adrian.“
„Das brauchst du nicht. Es gibt eine kleine Fortbewegungseinheit in diesem Hauptquartier. Sie kann nicht alle Welten bereisen, die Adrian erreichen kann. Aber sie kann den Raum durchqueren. Und auch den Zwischenraum. Schneller, viel schneller als jedes gewöhnliche Schiff.“
„Aber der Zwischenraum ist voller Scyonen und anderer Gefahren“, erinnert Tarena.
„Nichts ist ohne Gefahr“, sagt Any, „aber diese zählt zu den geringeren. Selbst die Scyonen sollten nicht in der Lage sein, der Einheit zu folgen.“
„Aus gutem Grund. Es gibt Geschwindigkeiten, die kein Lebewesen erträgt“, entgegnet Tarena.
„Du bist kein Lebewesen“, meint Any, „nicht im klassischen Sinne zumindest. Du bist eine Krankheit. Der Fortsatz eines Geschwürs. Und damit sehr resistent.“
„Wie überaus freundlich“, antwortet Tarena.
„Freundlichkeit interessiert mich einen Dreck. Was mich interessiert ist Kooperation. Bist du dazu bereit?“, fragt Any.
„Was ist mit meinem Sohn?“, antwortet Tarena.
„Er kann mit dir kommen“, erklärt Any, „wenn du zustimmst dem Plan zu folgen und alles zu tun, damit er gelingt. Ohne Rücksicht auf deine eigenen Wünsche.“
Einen Moment lang zögert Tarena. Sie blickt zu mir, zu Any und dann zu dem Platz wo ihr Sohn noch vor einigen Minuten gestanden hat. Minuten, in denen er die Hölle durchlebt.
„Bring ihn zurück und ich bin dabei“, sagt Tarena zähneknirschend.
Any nickt und bereits einen Sekundenbruchteil später steht Andy vor ihnen. Der Junge ist in einem erbärmlichen Zustand. Seine Mandibeln klacken unkontrolliert, begleitet von einem schrillen, weinerlichen Zirpen. Seine Augen sind gebrochen, verwirrt und vernebelt. Und als wieder etwas Klarheit in sie zurückkehrt, rennt er sofort zu seiner Mutter und klammert sich an sie wie ein Ertrinkender an ein Wrackteil.
Tarena schließt ihn in die Arme und streichelt seinen Kopf. Sie sieht zu Any. Wütend und verletzt. Auf ihren Lippen liegt eine nicht sehr diplomatische Drohung. Das kann ich zweifelsfrei erkennen. Aber sie schluckt sie hinunter. Vorerst zumindest. Zu groß ist die Angst, dass ihr ihr Sohn wieder weggenommen wird.
„Zeig mir diese Einheit“, sagt sie stattdessen knapp.
Wieder nickt Any und macht eine unbedeutend erscheinende Handbewegung. Der Boden zwischen uns öffnet sich und eine kleine, vielleicht drei mal drei Meter große, kupferfarbene, umgedrehte Pyramide erhebt sich nahtlos aus dem Boden. Das Objekt schwebt ein paar Zentimeter in der Luft. Tarena mustert sie skeptisch.
„Ein wenig klein, oder nicht?“, bemerkt sie. Any lächelt kühl. Dann macht sie eine weitere Geste und das Gefährt öffnet sich. Es klappt einfach auseinander und bringt eine Vertiefung zum Vorschein, die an eine Gussform erinnert. Eine humanoide Gussform, die exakt Tarenas Proportionen entspricht. Auf der anderen Seite befindet sich eine kleine Aussparung, die verdächtig an Andy erinnert.
„Das ist ein schlechter Scherz, oder?“, fragt Tarena empört.
Eine Reaktion, die ich durchaus verstehen kann. In diesem Ding wäre Tarena lebendig begraben.
„Ich scherze nur sehr selten. Das sollte dir inzwischen aufgefallen sein“, entgegnet Any, „dieses Fortbewegungsmittel ist effizient. Keine unnötigen Hohlräume, die die Stabilität gefährden. Keine Gefahr von Stürzen, keine unzuverlässigen Zwischenräume.“
„Was ist mit Sauerstoff? Mit Nahrung? Mit verdammter Bewegungsfreiheit?“, fragt Tarena voller Entsetzen.
„Das brauchst du alles nicht“, behauptet Any, „und Andy braucht es auch nicht. Nicht zwingend. Nollotsch wird euch versorgen, wann immer ihr in Reichweite eines Krebssamens gelangt. Er kann euren Tod nicht in Kauf nehmen. Ihr durchstreift sein Netz und werdet genährt. Da brauch ich keine Ressourcen zu verschwenden.“
„Mit Effizienz hat das einen Scheiß zu tun“, bemerke ich, „das ist reiner Sadismus.“
„Seht es als Prüfung, als Nützlichkeitsbeweis und als Gelegenheit den eigenen Platz im Gefüge der Dinge zu akzeptieren“, antwortet Any, „jemanden, der seine eigenen Ängste und Unzulänglichkeiten beherrschen kann, den kann ich gebrauchen. Jemanden, der dazu in der Lage ist … nun, der kann womöglich mit mehr Freiraum rechnen.“
„Die Any die ich kannte, war mir sympathischer“, antwortet Tarena.
„Möglich“, sagt Any, „vielleicht ist ihre Zeitlinie deshalb auch in einem Desaster geendet. Was ist nun, steigst du ein?“
„Sollte ich nicht wenigstens wissen, wohin ich reise?“, fragt Tarena.
„Das musst du nicht“, antwortet Any, „deine Stationen sind vorgezeichnet. Die Einheit wird automatisch landen und sich öffnen, wenn sie ihren Zielpunkt erreicht. Den Rest überlasse ich deiner Intuition. Aber eines werde ich dir zumindest verraten: deine erste Station ist Hyronanin.“
„Der Orbit und die Atmosphäre von Hyronanin sind ein Netz des Todes“, erwidert Tarena. „Alles ist dort voller gefährlicher Keime, die jede Schiffshülle durchdringen können.“
„Darüber würde ich mir keine Sorgen machen“, meint Any, „wie gesagt, du bist selbst eine Krankheit. Dir wird nichts passieren. Nichts ernsthaftes zumindest.“
„Das kannst du nicht von ihnen verlangen“, Protestiere ich und erschaudere bei dem Gedanken in diesem Gefährt eingesperrt zu sein. Von allen Ängsten, die ich mir vorstellen konnte, war die, lebendig begraben zu werden, die grauenhafteste. Und um nichts anderes ging es hier.
„Es ist ihre Wahl, nicht deine“, erinnert Any.
„Was für eine Wahl soll das denn sein?“, protestiere ich.
„Die einzige Wahl, die man immer hat. Die einzige Wahl, die wirklich zählt. Die Wahl zwischen Ordnung und Chaos. Und Tarena hat sie bereits getroffen. Oder etwa nicht? Also was ist, steigst du endlich ein, oder muss ich nachhelfen?“
Noch einmal blickt Tarena zweifelnd auf die grauenhaft enge Vertiefung, dann greift sie sich ihren noch immer verängstigten Sohn und steigt mit ihm zusammen in die Fortbewegungseinheit. Als die Vertiefung sie, mit Andy in den Armen, aufnimmt, erklingt ein matschiges Geräusch. Und dann ein lautes Knirschen als sich die kurz weicher gewordene Masse wieder um sie herum verfestigt.
„Wie kontaktiere ich dich? Wie berichte ich von meinen Erfolgen. Oder von Misserfolgen?“, fragt Tarena.
„Die Einheit wird mich informieren. Sie ist mit dir verbunden“, erklärt Any, “selbst, wenn du dich gerade nicht in ihr befindest. Deshalb solltest du auch gar nicht erst in Erwägung ziehen, irgendeinen Unsinn anzustellen. Wenn du versuchst, dich abzusetzen und dir in irgendeiner Welt ein kleines Häuschen im Grünen zu errichten, wird dir das nicht gelingen. Die Einheit wird dich aufspüren und abholen. Darauf ist sie programmiert. Und glaub ja nicht, dass dich jemand vor ihr beschützen kann. Nicht einmal dein Krebsmeister kann das. Sie wird dich holen, notfalls mit Gewalt. Und wenn sie dich zurück an Board geholt hat, wird es Konsequenzen geben. Für dich und für Andy. Wenn du Frieden und Sicherheit willst, dann sei erfolgreich und gehorche. Das ist alles, was ich dir auf den Weg mitgeben kann.“
„Du bist wirklich Abschaum!“, zischt Tarena kalt.
„Solche Beleidigungen treffen härter, wenn sie nicht aus dem Mund eines Geschwürs kommen“, antwortet Any, auch wenn ich unter ihrer distanzierten Haltung durchaus erkenne, dass Tarenas Worte nicht gänzlich an ihr abprallen.
Bevor sie aber noch etwas darauf antworten kann, macht Any eine weitere Handbewegung und die Pyramide beginnt sich zu schließen.
„Nein! Adrian. Hör mir zu, ich …“, höre ich Tarena noch panisch sagen, bevor die Pyramideneinheit zuschnappt und jeglichen Schall sowie alles Licht aussperrt.
„Öffne es wieder!“, verlange ich, „sie wollte mir noch etwas sagen.“
Doch Any hört nicht auf mich. Stattdessen öffnet sich ein kreisrundes Loch in der Decke, durch den sich die Einheit ohne sichtbaren Antrieb aber mit einer enormen Geschwindigkeit in den Himmel erhebt.
„Mach dir keinen Gedanken um sie“, sagt Any, „und bedauern solltest du sie schon gar nicht. Für dich wird es nicht einfacher, weißt du? Die Orte, an die sie gehen müssen, mögen schlimm sein. Aber dort gibt es auch Hoffnung. Die Welten, die auf dich warten, hingegen, werden noch weitaus schrecklicher sein.“
„Was für Welten meinst du?“, frage ich.
„Die, die sich in deinem Katalog befinden, natürlich“, antwortet Any.
„Du willst mich also einfach weiterreisen lassen?“, frage ich überrascht.
„Nein, ich verlange es sogar von dir“, erwidert Any, „du bist schon viel zu lange am selben Ort gewesen, findest du nicht? Aber das ist es nicht allein. Mir geht es nicht darum, dein Fernweh zu befriedigen oder dir das Bestaunen touristischer Attraktionen zu ermöglichen. Ich will die Dinge im Multiversum wieder in geordnete Bahnen lenken. Doch dafür brauche ich gewissen Artefakte. Artefakte, die du mir beschaffen wirst.“
„Vom Abenteurer zum Dienstboten. Das nenn‘ ich mal eine Beförderung“, antworte ich zynisch, „und wie soll ich deine Schätze zu dir zurückbringen? Vielleicht ist es dir noch nicht aufgefallen, aber der Katalog funktioniert nur in eine Richtung.“
„Marionetten bleiben immer unter Kontrolle, egal wie weit sich ihr Faden dehnt“, bemerkt Any, „ich werde dich und deine Fracht zurückholen können. Darüber musst du dir keine Sorgen machen.“
„Bricht das nicht die Gesetze des Katalogs?“, frage ich.
„Es gibt höhere Gesetze als jene, die sich ein dahergelaufener Konzern überlegt hat“, antwortet Any.
„Und woher weiß ich, was ich für dich finden soll?“, erkundige ich mich.
„Dein Pendel wird es dir offenbaren, wenn die Zeit reif ist“, erklärt Any, „es kann mehr als nur die Zeit anhalten. Es ist dein Kompass, Adrian und kann noch einige weitere Dinge, die sich Dir mit dder Zeit offenbaren werden. Verlier’ ihn besser nicht.“
„Was ist mit Pingo und mit Jarma?“, hake ich nach, „ich kann sie doch nicht im Stich lassen. Ich weiß ja nicht mal, ob es ihnen gutgeht. Und selbst, wenn dir meine Gefühle einen Scheiß bedeuten – wovon ich ausgehe – sollte dich doch interessen, was aus Lyon und Sandra geworden ist.“
„Ich bin nicht grausam“, antwortet Any, „nur effizient. Deshalb weiß ich auch, dass es dich mehr von deiner Mission ablenken würde, nichts von deinen Freunden zu erfahren. Und du hast recht, über die Taten unserer Feinde sollten wir ebenfalls Bescheid wissen. Sie werden die Fähigkeiten des Yollwäsch schamlos ausnutzen. Und ich fürchte, sie werden irgendwann durch das Gedankengewirr hindurchsehen und Informationen daraus gewinnen können. Nicht alle, aber zumindest die mächtigeren unter ihnen. Immerhin sind sie Diener des Chaos und verstehen es besser als die Meisten.
Doch auch wir können es nutzen. Auch wenn ich ungern eine so wilde Quelle anzapfe, wäre es dumm, es nicht zu tun. Du kannst deine Neugier stillen, Adrian. Das Pendel öffnet dir einen sicheren Kanal, um Zeit und Entfernung zu überbrücken. Jedoch nur zweimal am Tag. Mehr wäre nicht gut. Und wage es nicht, von deiner Mission abzuweichen und deinen Freunden zur Hilfe zu eilen, wenen du etwas siehst, was dich beunruhigt. Nicht nur, weil ich dich dann zerstören und neu erschaffen und jeden Parameter deiner Persönlichkeit anpassen müsste. Es würde auch jede Chance zunichte machen, das Multiversum von seinem Pfad der Zerstörung abzubringen. All die Bemühungen von dir, Tarena und mir wären dann umsonst geweasen. Du würdest Variablen hinzufügen, die selbst ich nicht berücksichtigen kann. Natürlich ist dein Handeln nie ganz vorhersehbar und wird immer Erschütterungen erzeugen. Aber wenn du dich zumindest von den Schlüsselfiguren fernhältst, kann ich die Beben ausbalancieren. Also halte dich von ihnen fern. Von ihnen allen. Keine Nachricht, kein Besuch, gar nichts! Hast du verstanden?“
„Ich soll sie alle nie wiedersehen?“, frage ich erschrocken.
„Das habe ich nicht gesagt. Deine Mission kann das sogar verlangen. Wenn das so ist, werde ich es dich wissen lassen. Aber handele in diesen Dingen nicht auf eigene Faust. Egal, wie viel Leid du siehst. Egal, wer gefoltert oder getötet wird. Glaub nicht, es besser zu wissen. Du bist ein Zahnrad und ein Wanderer, kein Gelehrter. Also bleibe auf deinem Weg. Das ist alles, was ich von dir verlange. Kannst du das?“, fragt Any.
Die ehrliche Antwort darauf lautet selbstverständlich nein, aber Anys grausamer Umgang mit Tarena hat mir mehr als deutlich gemacht, dass diese Antwort hier nicht erwünscht sein wird. Ich hänge an Anys Leine und solange ich die nicht loswerde, kann ich mich schwerlich gegen sie stellen. Und das obwohl mein wachsender Hass auf dieses Frau mit jeder Sekunde, die verstreicht schwerer zu beherrschen ist.
„Ja“, verspreche ich so ruhig wie ich kann.
„Gut“, antwortet Any, „dann probier es aus. Bevor du deinen Katalog aufschlägst. Lass das Pendel kreisen und sieh direkt auf den Punkt, um den es kreist. Dann musst du dich nur noch auf einen Namen und das passende Gesicht konzentrieren. Ganz ähnlich wie bei deinem Katalog.“
Ich tue wie geheißen und denke an Pingo. Denke an sein traurig-fröhliches aus Pyrit bestehendes Gesicht. Kurze Zeit später formt sich ein Bild vor meinen Augen. Erst winzig, kaum mehr als ein Punkt. Doch er wächst, verbreitert sich, nimmt erst den Radius der Schwingungen und schließlich mein gesamtes Blickfeld ein. Bis aus dem Bild Realität wird.
~o~
Die Archive materialisieren sich fast so unvermittelt vor mir, wie damals der chinesische Markt bei meiner ersten Reise mit dem Katalog. Doch diesmal bin ich nicht Teil jenes Ortes, sondern lediglich ein Geist, ein unbeteiligter Beobachter. Wenn auch einer, dem nichts verborgen bleibt. Nicht einmal die Gefühle oder Gedanken jener, die ich um mich sehe.
„Du weißt, was dich erwarten wird, oder?“, fragt Naxonas Stimme in Pingos Kopf noch bevor er die Tür zu Jarmas Labor öffnen kann. Nachdem er wie durch ein Wunder heil und unbehelligt die Halle verlassen hat, hatte er damit gerechnet, diese Stimme wieder leiser oder auch gar nicht mehr zu hören und ein paar Augenblicken allein mit sich und seinen Gedanken zu genießen. Aber eigentlich war ihm von Anfang an klar gewesen, dass das ein Wunschtraum ist. Immerhin ist dieses Wesen doch nicht nur Teil der Archive und ihrer Kristalle, sondern Herrin über alle Steine und Mineralien auf ganz Rihn und womöglich weit darüber hinaus. Und nicht zuletzt ist auch Pingo nun mal ein Wesen des Steins. Jetzt mehr denn je. Er würde wohl nie wieder allein sein.
Doch nur weil er Naxonas Stimme hört, bedeutet das nicht, dass er auch AUF sie hören muss. Er hat schon Adrian verloren – der einfach vor seinen Augen verschwunden ist, ohne dabei seinen Katalog zu verwenden –, er würde nicht auch noch Jarma verlieren.
Leider behält Naxona mit ihrer Behauptung recht. Pingo hat so einiges erwartet. Dass Jarma wie wild im Kreis laufen und wirre Fragmente von Visionen vor sich herplappern würde. Dass sie katatonisch auf der Erde sitzen und ins Leere starren würde. Ja sogar, dass sie bewusstlos – oder sogar tot – vor ihm liegen würde. All das hatte er erwartet, aber nicht das.
Nicht eine konzentriert arbeitende Wissenschaftlerin, die emsig Pulver und Flüssigkeiten zusammenmischt. Nicht schlampig und zittrig wie eine Wahnsinnige, sondern mit exaktem Abwiegen, erhitzen, abfüllen und dosieren. Es ist wie ein Tanz, wie eine Choreografie, die sich um eine violett schimmernde Substanz in einem großen Kolben dreht. Erst denkt er, sie würde noch immer an einem Heilmittel arbeiten. Aber das scheint es nicht zu sein. Denn eine vorbereite Phiole steht bereits neben ihr auf dem Tisch. Sie trägt die Aufschrift „Für das wahre Gold meines Lebens“ und darunter ist das Symbol einer gezackten Linie zu sehen, die einen gleichmäßigen Herzschlag repräsentiert. Das Zeichen für Liebe und Leben in der Kultur der alten Sanisa, das Jarma ihn schon oft in kleinen Briefen und Botschaften hinterlassen hatte. Pingo spürt ein warmes, dankbares Kribbeln in der Brust und staubige Tränen rinnen aus seinen Augen. Das ist das Heilmittel. Ohne Zweifel. Das Heilmittel für die Steinkrankheit, die schon so viele Leben ruinert hat. Es ist fertig.
Pingo sieht zu dem kleinen Amorphium-Tümpel in dessen Mitte sein perfektes, aber lebloses Abbild steht. Ein Abbild jener Zeit, in der der Stein noch keinerlei Einfluss auf sein Leben gehabt hatte. Er versteht auch ohne genaue Anleitung, was er tun müsste, um sein neues altes Leben zu beginnen. Jarma hat es mit ihm durchgesprochen, viele male, als sie ihm von ihren Theorien zur Heilmittelherstellung erzählt hatte, um seine Verzweiflung zu dämpfen. Er muss es einfach nur trinken und in den Tümpel steigen. Dann kann er in einem neuen Körper beginnen. Falls ihn die Schmerzen nicht in den Wahnsinn treiben, heißt das.
Da sie ihr Versprechen eingelöst hat, muss das, an dem sie gerade arbeitet, etwas anderes sein. Entweder stellt sie noch mehr von dem Heilmittel her, um auch anderen Erkrankten helfen zu können oder sie versucht sich an etwas gänzlich neuem. Doch was immer es ist: Ihre präzise Geschäftigkeit zeigt, dass sie offenbar irgendwie vom Einfluss von Yolwäsch verschont geblieben oder ist zumindest nicht auf dieselbe Weise betroffen ist, wie alle anderen.
„Hallo Jarma“, sagt Pingo erfreut und lächelt breit, aufgerget, verliebt, „es ist so schön, dass es dir gutgeht. Ich lebe auch noch, immerhin. Aber sonst ist alles schiefgegangen. Die Archive wurden geöffnet und ein dunkles Wesen hat die Gehirne der meisten Bewohner Rihns befallen. Nun ertrinken sie in Wissen, in Erinnerungen und Bildern, die sie nicht verstehen können. Deshalb kann ich dein Heilmittel auch noch nicht zu mir nehmen und den neuen Körper beziehen. Mein Zustand schützt mich vor den Auswirkungen. Ich hoffe, du verstehst das.“
Was Pingo sagt, klingt aufrichtig. Aber ich spüre den Schatten einer Lüge in seinen Worten. Er verbirgt etwas vor Jarma.
Jarma reagiert nicht. Sie blickt ihn nicht einmal an. Stattdessen nimmt sie ein silbernes Pulver, lässt es über einem Brennkolben verdampfen und schüttet die Überreste in die Substanz, die darauf leicht zu zischen beginnt und beinah farblos wird, mit ein paar silbernen, schillernden Schlieren darin.
Zögernd tritt Pingo näher. Sanft berührt er die Haut seiner Geliebten. Sie fühlt sich eiskalt an. Nicht leblos, aber nahe dran, wie bei jemanden, der sich vollkommen aufgegeben hat.
Ihre Lippen jedoch bewegen sich und als Pingo sich vorbeugt, kann er auch hören, dass sie sprechen. Wirre Worte. Sinnlose Worte. Gequälte Worte. Genau wie bei den anderen. Doch so beherrscht, so professionell und dezent wie er es von Jarma kennt. Selbst in ihrer Qual gibt sie sich keine Blöße.
„Hey mein Elixier, hörst du mich?“, fragt er lauter und voller Unbehagen. Seine Stimme ist so mitfühlend wie wohl noch nie zuvor in seinem Leben. Doch Jarma ignoriert ihn dennoch weiter. Ihre siebenfingrigen Hände wandern immer noch geschäftig über den Tisch und ihre ernsten, wunderschönen Augen sind fest auf die Flüssigkeit gerichtet, deren silberne Schleier langsam an Glanz verlieren.
„Du weißt, was das ist oder?“, meldet sich der Naxona zu Wort.
„Nein, du etwa?“, fragt Pingo.
„Ja“, antwortet die Stimme, „ich weiß nicht alles, was der Yolwäsch weiß. Längst nicht. Aber ich habe manches beobachtet. Nicht nur in den Archiven. Auch an anderen Orten. Ich habe Glück gesehen, Trauer und schwarze Verzweiflung. Und das hier gehört zu letzterer Kategorie. Ich sah es einst bei einem Gelehrten, der bemerkte, dass sein Geist verfiel. Es war eine Krankheit, eine unheilbare noch dazu und ganz sicher nicht seine Schuld, aber das war ihm einerlei gewesen. Er hatte sich bei einem Vortrag zum Gespött gemacht. Man hatte ihn dämlich genannt, wertlos für die wissenschaftliche Forschung. Sein ganzer Ruf, sein gesamtes Lebenswerk waren an einem Nachmittag vernichtet worden. So zumindest hatte es sich für ihn angefühlt.
Doch trotz allem war er einst ein weiser Mann gewesen. Ein Gelehrter auf dem Gebiet der praktischen Geflechtforschung. Und auch wenn er über seine Worte stolperte und immer mehr Dinge vergaß, konnte er noch lesen. In einem der Bücher, die er verfasst hatte, hatte ein Rezept gestanden. Es befasste sich mit der Herstellung des „Grauen Rückschritts“. Einer ganz besonderen Substanz. Ob er die Formel selbst entdeckt hat, oder bei seinen Expeditionen auf eine Geflechtkreatur getroffen ist, die sie ihm ins Ohr geflüstert hat, weiß ich nicht. Auch er wusste es nicht mehr.
Was er aber noch wusste, war, dass der „Graue Rückschritt“ in der Lage war, ein Leben aus dem Geflecht zu schneiden. Spurenlos und Nahtlos. Und damit seine Existenz aus der Geschichte zu tilgen. Ganz ähnlich wie bei Welten, deren Geflecht zerstört wird. Wenn auch nicht ganz so weitreichend. Der Effekt ist dabei nicht rückwirkend. Die Dinge, die die Person bewirkt hat, bleiben erhalten, wie Datenschrott ohne Verknüpfungen und die entstandenen Pfade verändern sich nicht. Aber niemand kann sich mehr an die Person erinnern. Ihre Fotos werden bedeutungslos, ihre Werke und Aufzeichnungen unpersönlich, ihre Statuen und Monumente werden ignoriert und bald entsorgt und keine biologische Person, die ihr nahestand, wird mehr in der Lage sein, an sie zu denken. Nur Wesen wie ich, gewohnt zu beobachten, gewohnt zu bewahren, erinnern sich noch. Und sogar ich habe den Namen des Mannes vergessen.“
„Das bedeutet, was Jarma da zusammenbraut, wird …“, schlussfolgert Pingo erschrocken.
„… es wird ihre Existenz aus dem Multiversum tilgen“, antwortet Naxona unbarmherzig.
„Aber wieso tut sie das?“, fragt Pingo verständnislos.
„Das liegt doch nah, oder? Sie tut es für dich. Sie erträgt Yolwäschs Geflüster nicht mehr und sucht die Flucht in den Tod. Aber sie ist zu selbstlos, dir den Schmerz des Verlustes aufzubürden. Sie will nicht, dass du trauerst. Sie will auch dich vergessen lassen“, erklärt Naxona.
„Ich muss sie davon abhalten“, sagt Pingo und legt seine steinernen Hände um Jarmas. Erst sanft, dann härter als sie versucht sich aus seinem Griff herauszuwinden. Blaue Flecken bilden sich auf ihrer Haut und ihre Muskeln zittern verzweifelt als sie merkt, dass ihre Kraft nicht ausreicht, um sich zu befreien.
„Und zu welchem Zweck?“, fragt Naxona, „um Symptome zu bekämpfen. Um sie still leiden zu lassen? Willst du sie fesseln und zu dir an den Tisch setzen? Willst du Selbstgespräche in ihrem Namen führen, um das wahnsinnige Flüstern in ihrem Odem zu übertönen? Willst du ihre Hölle dekorieren, bis sie deinen ästhetischen Ansprüchen genügt?“
„Das will ich nicht!“, erwidert Pingo wütend, „ich will sie heilen, verdammt nochmal.“
„Es gibt keine einfache Heilung. Yolwäsch ist in ihr und saugt ihre Verzweiflung in sich auf wie Honig. Und es gibt nur zwei Wege, ihn aus ihr zu vertreiben“, antwortet Naxona.
„Und die wären? Bei allen Schätzen des Bodens, sag es mir!“, verlangt Pingo.
„Töte sie und bewahre ihr Andenken. Trage den Schmerz wie ein Mann und finde Trost in dem Wissen, dass ihr Leiden beendet ist. Dass sie Frieden findet und du offen für Neues bist“, antwortet Naxona. Der verlangende Unterton in ihrer Stimme, lässt mich erschaudern. Sie klingt begehrend, beinah eifersüchtig.
„Das ist eine ganz miese Option. Was ist die andere?“, fragt Pingo.
„Schütze sie. Lass mich mit ihr kommunizieren. Gibt ihr das Geschenk, das auch dir Zuteil wurde“, sagt Naxona sanft, fast flüsternd.
„Den Fluch meinst du“, sagt Pingo.
„Nein, den Schutz“, korrigiert Naxona, „Stein ist unverletzlich, unbezwingbar, ewig. Wenn du ihr Wesen bewahren und ihren Geist vor Wahnsinn oder vergessen schützen willst, ist das deine einzige Option. Nimm sie an die Hand und bringe sie in Sicherheit oder schenke ihr den Tod. Aber tu etwas. Dieses Leid, das sie fühlt, kann nicht einmal ich mit ansehen.“
Pingo sieht zu Jarma und stellt sich vor, wie es wäre, sie nicht mehr zu kennen. Sie niemals gekannt zu haben oder aber mit den Erinnerungen an eine Liebe ohne Zukunft zu leben. Beide Gedanken sind so fruchtlos, so ungreifbar wie der an die Unendlichkeit, aber noch viel unerträglicher. Pingo seufzt. Er lässt Jarmas Hände los, umrundet den Tisch und greift nach dem Heilmittel. Zärtlich streicht er mit den Fingern darüber, betrachtet die Phiole wehmütig und liebevoll, so als wäre sie ein manifestiertes Stück von Jarmas Seele. Dann lässt er die Flasche auf den Boden fallen, tritt auf die Phiole und sieht zu, wie eine der wertvollsten Substanzen des Multiversums nutzlos im Staub versickert.
„Du hast gelogen. Du BIST ein Dämon“, sagt Pingo bitter zu Naxona, „aber vielleicht … bin ich es auch.“
Dann geht er wieder auf Jarma zu, deren rechte Hand sich schon um die nun mattgraue Flüssigkeit geschlossen hat, bereit das ultimative Vergessen zu trinken. Pingo verhindert es. Er greift sich ihren Kopf mit beiden Händen, versiegelt ihre Lippen mit einem Kuss und bohrt seine infektiösen Pyrit-Fingernägel in ihr weiches, resigniertes Fleisch.
~o~
Die Realität schrumpft zum Bild und das Bild verblasst. Nicht aber Pingos und Jarmas Schmerzen, die ich immer noch fühle wie meinen eigenen. Ein neues, altbekanntes Bild wächst ín dem sich noch immer drehenden Pendel und wird zu meiner Gegenwart. Ich bin wieder in den Archiven. In der zerstörten Hochwissensabteilung. Und ich sehe, denke und fühle durch die Augen von Lyon.
Sandra. Es ist immer wieder Sandra. Lyon hat mit allem gerechnet, nun da Archive doch entfesset wurden. Mit Visionen von der Entstehung uralter Galaxien. Mit den geraunten Gesprächen verborgener Götter, mit Zusammenhängen, Formeln, Wahrheiten, die sein Verständnis übersteigen und doch den Schlüssel für alle Fragen bieten würden, die in seiner Seele brennen. Ja selbst mit Schreckensbildnissen von Tod, Dunkelheit und Wahnsinn. Zumindest, nachdem Adrian und die anderen jene Zweifel in ihm ausgelöst hatten, die ihn dazu gebracht hatten, gegen all das hier anzukämpfen und seine Fraktion zu verraten. Doch er sieht nur diese Frau. Diese manipulative, hinterhältige, charismatische und bösartige Frau, die beinah all seine Prinzipien zu Staub zerkocht hätte.
Er sieht, wie sie beide sich küssen, am Rande einer zerstörten Stadt zwischen, weinenden, verzweifelten Zivilisten. Wie sie ein Messer an seine Kehle legt und ihm entschuldigende Worte ins Ohr flüstert. Wie sie heiraten unter einer goldenen Kuppel in der Dämmerung eines lauen Sonnenabends. Wie sie Herrschen auf einem Thron aus Gebein, wie sie Frieden und Hoffnung bringen und Hilfsgüter an Hungernde verteilen. Wie sie sich bekämpfen, bis aufs Blut, wie sie ihn nimmt, gegen seinen Willen, aber voller Hass, wie sie verschmelzen zu einer Person vor einem gebrochenen Spiegel umwabert von dunklen Gesängen und stinkenden Räucherwerk, wie ….
… die Szenen wechseln, springen, fließen ineinander, legen sich übereinander und über das Bild der Realität. Das Bild von eben jener bewusstlosen Sandra, die neben ihm und den benommenen, mit ihren eigenen Dämonen kämpfenden Laarmaschk auf der von Trümmern übersäten Plattform liegt.
Die Szenen, die auf diese Gegenwart einprasseln, sie beschießen und verdecken, entspringen nicht aus ihm. Nicht wirklich. Das spürt er. Sie werden ihm eingepflanzt, werden ihm gefüttert wie Erbrochenes, das eine herzlose Mutter ihr Kind zu essen zwingt, um nichts von der verschmähten Mahlzeit zu verschwenden.
Lyon spürt, wie er sich auflöst. Wie er wegtreibt. Wie er ZERWEITET. Wie das Wort „Ich“ jede Bedeutung zu verlieren beginnt. Doch noch ist es nicht so weit. Noch ist es nicht geschehen. Aber es wird geschehen. Dass weiß er irgendwo in den zerfallenden Resten seines Verstandes. Niemand wird ihm helfen. Niemand wird es auch nur versuchen. Er ist vollkommen allein. Die Pendula-Agenten, mit denen er kollaboriert hat, sind fort. Ohne jede Spur. Wobei … nein, das stimmt nicht ganz. Es gibt Spuren. Zwischen den Trümmern, zwischen unzähligen bedeutungslosen Steinen glänzt etwas. Etwas … Goldenes, das einmal Teil eines Körpers gewesen ist. Teil eines steinernen Körpers. Lyon hat keinen Plan. Nur eine dumpfe Ahnung. Und in jenen kurzen Momenten, wo das Hier und Jetzt wieder aufblitzt, greift er nach dem Gold. Dem falschen, aber wertvollen Gold und spricht die Worte, die ihm in den Sinn kommen, gesprochen wie von Sandras blutigen Lippen: „En Pyris“.
Die Macht des Pyrits ist launisch. Das weiß jeder Gelehrte und das sagen auch die Legenden. Oft geschehen Dinge von minderer Bedeutung. Unwesentlichkeiten und lächerliches Beiwerk. Doch manchmal entsteht ein Körper, wenn er verzweifelt benötigt wird und manchmal entsteht Klarheit. Vielleicht liegt es daran, dass der Pyrit ein Spielzeug des Schicksals ist und gerade verläuft das Spiel zu Lyons Gunsten.
Die Visionen verschwinden. Das belastende Wissen löst sich auf wie eine Flut, die der Ebbe weicht und nur kleine, harmlose Pfützen zurücklässt. Lyons Geist ist wieder der, der er einmal war. Und er fühlt sich gut damit. Trotz allem, was er sich erhofft hat. Trotz allem, wofür er gekämpft hat.
Doch er ist nicht wieder bei Null. Er hat Erkenntnisse gelangt und das nicht nur durch den dunklen Geist der Archive, sondern durch eigene Beobachtung. Er weiß, dass die Laarmaschk böse sind. Nicht alle, aber jene, die bereit waren, Gräueltaten an unschuldigen Rihn-Ha zu begehen. Er weiß, dass Sandra böse ist, weil sie seine Unschuld und seinen Idealismus ausgenutzt hat und er weiß, dass auch er böse ist, weil er das zugelassen hat. Doch Bosheit ist eine Geisteshaltung, keine unveränderliche Eigenschaft. Und vielleicht können manche einen anderen Weg einschlagen. Mit ein wenig Hilfe.
~o~
Wieder eine neue Szene. Eine Höhle in der Tiefe, geschmückt mit Smaragd, Onyx und eisblauen Saphiren, wo sich flüchtige Schemen und weißliche Schatten an den Wänden drehen. Ein Tempel der Grenzlosigkeit. Ein Fenster in die schöpferische Leere.
„Was soll ich mit ihr?“, fragt Novrur, „willst du mir zeigen, dass du doch kein wertloses Stück Scheiße bist, indem du mir ein Geschenk machst? Ein guter Gedanke. Ich schätze jede Gelegenheit, jemanden zu foltern, aber im Falle unserer werten Kriegskoordinatorin sollte der Chromatische Rat besser davon erfahren bevor ich mich austobe, oder meinst du nicht?“
„Du sollst sie nicht foltern“, antwortet Lyon, „noch soll der Rat davon erfahren.“
Novrur lacht laut auf, „Köstlich. Ich meine, ich weiß ja, dass du hoffnungslos naiv bist. Aber einfach bei Nacht und Nebel in meine Kreatorkammer zu spazieren und zu erwarten, dass ich aus Gefälligkeit und Nächstenliebe deine schmutzigen Geheimnisse bewahre, ist selbst für deine Verhältnisse dumm.“
„Ich vertraue nicht auf deine Nächstenliebe, sondern auf dein Eigeninteresse“, entgegnet Lyon. „Du strebst genau wie ich nach Freiheit. Sonst wärst du nicht hier. Dass deine Vorstellung davon eine völlig andere ist als meine, ist uns beiden klar. Aber egal, welche Ziele wir verfolgen, gerade steht es nicht sehr gut darum. Fast der ganze Planet ist von einem Dämon des verbotenen Wissens infiziert. Die Leute dort draußen sind seine Opfer. Bedauernswerte, gequälte Marionetten.“
„Das waren sie vorher schon“, bemerkt Novrur süffisant und sieht zu der noch immer bewusstlosen Sandra, die wie ein nasser Sack in Lyons Armen ruht, „und selbst wenn es so ist, wie du behauptest, weiß ich nicht, warum wir die Kriegskoordinatorin nicht einfach entsorgen. Offenbar ist ihr Urteilsvermögen beschissen, ihre Strategien sind für den Arsch und selbst jetzt schläft sie lieber, anstatt nützlich zu sein.“
„Sie ist nützlich“, beharrt Lyon und legt Sandra sanft auf den harten Boden der Kreatorkammer. Ihr verschwitztes Haar rutscht dabei über ihre blasse Haut und lässt ein friedliches, fast freundlich erscheindes Gesicht erkennen, „du hättest sehen sollen, welche Macht sie besitzt. Sie kann sie nur nicht kontrollieren. Noch nicht. Aber wenn wir auf ihr Potenzial verzichten, wären wir dumm. Wir brauchen diesen Vorteil, wenn wir überleben wollen. Und du kennst dich aus mit Geist, Psyche und der unsichtbaren Welt. Nutze diese Fähigkeiten.“
„Du willst sie abrichten?“, sagt Novrur grinsend, „der Philanthrop, die Inkarnation alles Guten und Wahren will, dass ich seine Freundin in ein folgsames Hündchen verwandle? Verstehe ich das richtig.“
„Nein, das will ich nicht. Ich will, dass du sie davon abhältst, zu einer Gefahr für sich und andere zu werden“, antwortet Lyon.
„Nenn es wie du willst, wenn du dich dann besser fühlst“, antwortet Novrur zynisch.
„Wirst du es tun?“, beharrt Lyon.
„Was genau soll ich denn tun?“, hakt Novrur nach.
„Verberge sie hier und kümmere dich um sie. Erforsche und heile ihren Geist. Ich werde nach deinen Fortschritten sehen und dir helfen, wo ich kann. Wenn sie wieder bei Verstand ist, melden wir ihr Auftauchen dem Rat. Bis dahin gilt sie als verschollen. Aber wir müssen schnell handeln. Das alles muss uns in ein paar Tagen gelingen. Pendula schläft nicht. Das Desaster in den Archiven kann ihnen sogar noch Anhänger zutreiben und die Angst vor unserer Seite schüren. Und Angst lässt die Leute nach Sicherheit suchen. Ganz gleich wie erstickend sie ist. Auch wenn es mir selbst nicht gefällt: Sandras Macht kann den Unterschied machen, wenn wir verhindern wollen, dass aus dem Multiversum ein lebloses Uhrwerk wird. Wir müssen sie unbedingt soweit zur Vernunft bringen, dass sie die Spiegelgrotte betreten und ihre geplanten Missionen aufnehmen kann: Als Kriegskoordinatorin und als Fortgeschrittene. Hilfst du mir dabei, Novrur?„
„Aber natürlich, mein Bester“, sagt Novrur, beugt sich herab und streicht mit seiner geisterhaften Hand beiläufig über Sandras Gesicht, „es wäre zumindest eine interessante Herausforderung, einen Geist zu formen. Wir bekommen sie schon hin. Für die gute Sache!“
„Für die gute Sache“, antwortet Lyon. Er ist nicht überzeugt, dass er Novrur trauen kann und erst recht nicht davon, Sandra auf diese Weise zu manipulieren, aber er weiß auch nicht, was er sonst tun könnte. Mit einem letzten Stoßgebet zu unbekannten Göttern, wendet er sich von Sandra und Novrur ab und schließt leise die Tür. Hoffentlich hat ihn wirklich niemand gesehen. Und hoffentlich ist das hier nicht die dümmste Idee, die er je gehabt hat.
~o~
„Bist du nun schlauer?“, fragt Any mich, als sich das letzte Bild auflöst und das Pendel seine Bewegung beendet, „kannst du die Last des Wissens, die Last des Fühlens ertragen?“
„Ich schätze schon“, sage ich knapp, noch immer verstört, ergriffen und bewegt, von dem, was ich mit angesehen habe. Ganz besonders von Pingos nachvollziehbarer, aber dennoch schrecklicher Tat. Dennoch besinne ich mich auf das, was für Any von Bedeutung sein könnte. „Lyon hat Sandra …“
„Das musst du mir nicht erzählen“, unterbricht mich Any, „ich sehe alles, was auch du siehst und noch mehr. Doch nun öffne endlich deinen Katalog, Fortgeschrittener. Erfülle deinen Lebenszweck.“
Ich stecke das Pendel ein und gehorche. Nichts erscheint mir gerade attraktiver als diese Tyrannin zu verlassen. Als vor all dem zu fliehen, meine Probleme hinter mir zu lassen und mir – zumindest fürs Erste – neue zu suchen. Die beschichteten, knittrigen Seiten umzublättern fühlt sich unwirklich an und doch so vertraut. Wie in die abgelegte Haut eines alten Lebens zu schlüpfen. Erst fühlt es sich wie ein Fremdkörper an, doch das Fernweh wächst, erfüllt mich, kehrt zurück, während ich fieberhaft durch die bereisten Länder und Welten blättere. Kurz vor der unberührten Seite halte ich noch einmal ein.
„Du weißt genau, was auf mich wartet, oder?“, versichere ich mich, auch wenn ich die Antwort eigentlich schon kenne.
Any lächelt hintergründig. „Du hast einst Hyronanin besucht“, sagt sie, „eine Welt, in der es keinen Tod gibt. Nun betrittst du einen Ort, in dem der Tod in der Luft ist, im Himmel, in der schwarzen, fruchtbaren Erde und in jedem einzelnen, jämmerlichen Augenblick. Es wird Zeit, Adrian. Zeit, in die Tiefen des Todes hinabzusteigen. Zeit, seine Knochen zu liebkosen, seine teigige Haut zu umarmen, seine klamme, bittere Gruft zu schänden … und zum Grabräuber zu werden.“
Während ihre düsteren Worte noch in meinen Ohren nachklingen, schlage ich die Seite auf und lese das Wort: „Luth Nomor.“
~o~
Die Ruhe, die im Pendula-Hauptquartier einkehrt, nun nachdem sowohl Tarena als auch Adrian den ihnen zugewiesenen Pfad beschreiten, ist fast gespenstisch. Für Any ganz besonders. Denn obwohl sie es liebt, wenn Dinge ihren geordneten Gang gehen, hasst sie diese Stille mehr als alles andere. Stille hat nämlich nichts mit Ordnung zu tun. Ganz im Gegenteil. Sie der Mantel der Verschwörung, die Bruststätte des Getuschels oder das Leichentuch der Dysfunktionalität. Eine still stehende Uhr ist keine Uhr mehr, ein ruhendes Pendel nur ein Stück Metall. Deshalb ist Any es gewohnt, ihre Gedanken laut auszusprechen, die Worte durch den Raum zu schicken, wie ein Echolot, das die Beschaffenheit der Realität misst und reflektiert.
„Die ersten Schritte sind getan“, sagt sie, „immerhin. Ich weiß nur nicht, wohin sie führen. Die beiden sollten fähig genug sein, um die Dinge zu korrigieren. Aber sind sie auch loyal genug? Diszipliniert genug? Ich hasse es, mich auf so unförmige Werkzeuge verlassen zu müssen. Doch wenn ich sie starr gemacht hätte, hätten sie mir vielleicht überhaupt nicht genutzt. Was bringt es, einen spezialisierten Schraubenzieher zu erschaffen, wenn die Schraube vielleicht ganz anders aussieht? Es gibt einfach zu viele Variablen. Ich muss mit dem arbeiten, was ich habe und entsprechend nachjustieren, wenn nötig. Ich muss verhindern, dass sie die falschen Schrauben lösen oder die Schrauben zerbrechen. Die Maschine muss wieder laufen. In perfekten Bahnen, so wie es sein soll. Ich muss die Variablen nutzen, um letztlich alle Variablen eliminieren. Anders geht es nicht.“
Any seufzt und steht auf, dreht ihre Runden in beruhigenden Achter-Schleifen durch das Hauptquartier. Die Wiederholung und die gleichförmigen Schritte spenden ihr Trost, beruhigen ihren Geist. Erwecken Zuversicht.
„So muss es geschehen“, fügt sie hinzu, „doch zunächst muss das Chaos eingedämmt werden. Dass der Yolwäsch sich in Rihn ausbreitet, ist eine Sache. Aber er wird dort nicht haltmachen. Es ist eine Infektion, übertragbar durch den Raum, den Geist, die Verknüpfungen der Archive. Schlimmer als jeder Planetenkrebs. Wenn es doch nur eine Möglichkeit gäbe, sie einzudämmen.“
„Oh, die gibt es, meine Teure“, antwortet eine Stimme, bei der Any erst nicht begreift, dass es nicht ihre eigene ist. Dabei unterscheidet sie sich deutlich. Nicht nur, weil sie männlich ist, sondern auch weil sie fröhlich ist, verspielt geradezu. Und weil sie begleitet wird von chaotischen, kakophonisches Rhythmen und Melodien, die Any Kopfschmerzen bereiten. Fast noch mehr als der Umstand, dass die Stimme einfach aus dem Nichts erscheint. Doch am meisten stört sie dieses Flimmern in der Stimme. Wie das unsichtbare Flackern von LEDs, das so schnell passiert, dass es kein normales Gehirn wahrnehmen kann.
„Wer bist du?“, fragt Any verwirrt. Nicht aus echtem Interesse, sondern vor allem, um die quälende, verstörende Ungewissheit zu vertreiben.
„Ein seltenes Exemplar. Ähnlich wie du. Und genau wie du ein Kind und Liebhaber von Technik. Mehr noch. Um ein Haar wäre ich eine ihrer Gottheiten geworden“, antwortet die Stimme.
Any ist nicht dumm. Sie versteht die Anspielungen. „Du bist ein Whe-Ann, oder?“
„Ja, das bin ich“, bestätigt die Stimme, „ein Whe-Ann namens Arnin, um genau zu sein.“
„Die Whe-Ann sollen tot sein“, erwidert Any zweifelnd.
„Ist das so? Offenbar habe ich vergessen zu sterben“, antwortet Arnin amüsiert, „oder ich bin zu manchen Zeiten tot und zu anderen nicht. Ein Quantenzustand der Existenz. Immer bereit aus der Stille zuzuschlagen.“
„Ich hasse Stille und ich hasse Quantenzustände“, antwortet Any, „doch noch mehr hasse ich es, nicht zu wissen, wie du hier reingekommen bist und was du von mir willst.“
„Das hat alles miteinander zu tun“, erwidert Arnin „ich bin hereingekommen, weil ich mächtig bin und weil ich mächtig bin, kann ich dir etwas anbieten, das uns beiden hilft. Etwas, das unser Potenzial steigert. Ein Bündnis sozusagen. Ich könnte die Software zu deiner Hardware sein, Schätzchen.“
„Von welcher Macht sprichst du, von der Macht, anzugeben?“, fragt Any skeptisch.
Noch bevor Any etwas antworten kann, geht ein Beben durch den Raum, als Anys Taktschwärmer in Aufruhr geraten und sich wie von einem unsichtbaren Magneten angezogen auf einen Punkt zubewegen. Sie ordnen sich neu an, verformen sich, rekonfigurieren sich, und nur Augenblicke später sieht sie einen Mann vor sich stehen. Einen leibhaftigen Whe-Ann, geformt aus den Leibern der kleinen, mechanischen Geschöpfe.
„Ich rede von der Macht zu verändern, zu kontrollieren und … einzudämmen“, antwortet Arnin.
„Du meinst den Yolwäsch?“, fragt Any, bemüht sich nicht beeindruckt oder gar verängstigt zu zeigen.
„So ist es“, sagt Arnin, „ich kann ihn vielleicht nicht vernichten. Jetzt noch nicht. Aber ich kann seine Infektion auf Rihn begrenzen. Und danach … wer weiß.“
„Und wie soll das gehen?“, fragt Any, „er ist zur Hälfte magisch. Wie willst du ihn stoppen? Mit einer Firewall?“
„Sozusagen“, sagt Arnin und fängt plötzlich zu singen an, zu einer Melodie, die überhaupt nicht zu den Tönen im Hintergrund passt, „Burn those Fuckers an the rise. Trap them in a cage of cries!“
Any verzieht angewidert das Gesicht, doch bevor sie etwas dazu sagen kann, fährt Arnin deutlich ernsthafter fort. „Die Archive sind mit dem Zentralrechner von Deovan verbunden. Es gibt Verträge, auf deren Grundlage die Informationen dorthin abfließen. Musik, Texte, Bilder, Videos und viele weitere Daten. Der Yolwäsch wird diese Wege nutzen wollen. Er muss sie nutzen, wenn er sich nicht darauf beschränken will, ein paar Rihnnische Minenproleten und Schreiberlinge zu verderben und anzuzapfen. Und wenn er sich dorthin begibt. Wenn er seine Essenz durch meine Datenströme schickt, sperre ich ihn ein wie Ungeziefer. Klingt das gut oder nicht?“
„Besser als deine grausame Musik jedenfalls“, antwortet Any, „aber was willst du im Gegenzug? Und warum sollte ich es dir geben? Wirst du nicht ohnehin tun wollen, was du beschreibst? Wenn du ein Geist in der Maschine bist, wirst du doch nicht wollen, dass sich bei der ausbreitet und sich dein Herrschaftsgebiet nimmt. Dafür muss ich dir keine Anreize geben.“
„Schlaue Schlussfolgerung“, lobt Arnin, „zumindest wenn man deinen Mangel an Informationen bedenkt. Aber die kann ich ja nachliefern. Der Yolwäsch interessiert sich nicht für den Datenraum. Er ist für ihn nur ein Reisekanal. Sein Endwirt sind biologische Wesen und deren Gehirne. Ich kann also einfach den Fährmann für ihn spielen und ihn all die Bravianer, Rihn-Ha, Andrin, Menschen und wie sie alle heißen ins Chaos stürzen lassen, bis sie alle brabbelnd, mordend und mastubierend durch ihre zerfallenden Städte ziehen. Das wird dann sicher ziemlich lustig für mich, aber ziemlich unangenehm für jemanden mit einem solchen Ordnungsfimmel wie du ihn hast.
Die Alternative ist viel besser für dich: Eine geordnete materielle Welt. Perfekt und routiniert in der Form. Eine Welt, in der die Uhrwerke unblässig laufen, die Pendel wie geölt schwingen und die Zahnräder klaglos ineinander greifen. Keine Überraschungen. Keine nervige Musik. Keine störenden Stimmen aus dem Nichts. Ordnung bis in das letzte Atom hinein. Doch ein Funken Chaos überlebt. Ein kreatives, freies, digitales Nirwana im Gewand der Maschinerie. Für das bloße Auge unsichtbar. Unendlich und vielfältig, doch stabil bis in alle Ewigkeit. Lass uns ein solches Multiversum erschaffen. Gemeinsam. Wie klingt das für dich?“
Any verfällt nun doch in Stille. Nur die Zahnräder ihres Geistes drehen sich klackernd und unhörbar, um schließlich zu einer Antwort einzurasten.
„Akzeptabel“, sagt Any, „und ich werde diese Konditionen achten, solange du Wort hältst. Doch eine Frage habe ich noch an dich: Wie hast du von mir erfahren und wie hast du hergefunden?“
„Eine verständliche Frage“, sagt Arnin, „doch ist es wohl nicht an mir, die Antwort zu geben. Ich habe mir da … etwas eingefangen. Weißt du?“
Mit einem Mal geraten die Taktschwärmer wieder in Bewegung und der improvisierte Leib verändert seine Form. Gesicht und Größe passen sich an und eine neue Stimme spricht aus einem Any sehr bekannten Mund.
„Hallo Any“, sagt Adrian, „es freut mich sehr, erneut deine Bekanntschaft zu machen.“