„Verdammt, wir müssen leise sein“, erinnerte Thomas mahnend. Makras Gelächter war nicht wirklich laut gewesen. Aber in der angespannten Stille wirkte es wie das Trompeten eines Elefanten.
„Komm mal runter, mein grummeliger Poet. Ich habe gerade an einen alten andrinischen Witz gedacht, den ich aus Jugendschutzgründen hier besser nicht wiedergebe. Aber ein wenig gute Laune tut uns sicher allen gut, oder nicht? Und wenn ich will, bin ich so leise, dass du mich nicht hörst, bis es zu spät ist“, flüstert die Andrin diesmal wirklich so ruhig wie ein Windhauch, „wer das nicht lernt, lebt in Andraddon nicht lange.“
„Dann fang besser mal an zu wollen“, mischte sich Scynra ein, „oder willst du, dass der Mob uns erwischt?“
„Ist es denn wirklich so schlimm mit den Unruhen?“, fragte Clary, während sie sich unruhig umsah. Doch die Nacht erschien ihr still und friedlich. Und hier hinter dem improvisierten Regierungssitz der Famtara schien sich niemand aufzuhalten, außer ihnen und einigen glitzernden, pollenähnlichen Kreaturen, die träge durch die Nachtluft schwebten. Dennoch … seit jener Nachricht, die sie kurz vor ihrem Aufbruch erreicht hatte, erschien ihr Cestralia noch viel weniger friedlich zu sein als nach ihrer ohnehin schon desillusionierenden Ankunft.
„Leider schon“, sagte Fienna traurig, „ich hatte euch vorhin die Details ersparen wollen, aber eigentlich ist es wohl besser, wenn ihr wisst, womit wir es zu tun haben. Es sind mehr als bloße Unruhen. Es ist eher eine Massenpsychose. Die radikalisierten Cestral scheuen nicht länger vor offener Gewalt zurück. Bevorzugt gegen Fremdgeborene und Dunkelwelter. Es gab schon regelrechte Massaker. Üble Gräuel. Tianda und jene, die noch halbwegs bei Verstand sind, versuchen das Schlimmste zu verhindern. Ich hoffe, es gelingt ihnen. Aber ich glaube, ihr eigentliches Ziel bin ich.“
„Sie wollen dich töten?“, fragte Toran nüchtern.
„Das vielleicht auch. Wenn ich nicht tue, was sie sich wünschen. Doch vor allem wollen sie mich dazu bringen, mit ihnen in den Krieg zu ziehen. Gegen Hyronanin, aber womöglich schon bald gegen das halbe Multiversum, wenn sich ihre Herzen weiter so verhärten“, meinte Fienna bitter.
„Warum haben sie sich denn nicht vor dem Regierungssitz versammelt?“, erkundigte sich Callan, „würde das nicht mehr Sinn ergeben, wenn sie etwas von dir wollen?“
„Das hier ist nicht mein üblicher Unterschlupf“, erklärte Fienna, während sie sich nervös über die Lippen leckte, „ich hatte schon länger gewusst, dass die Dinge nicht besonders gut stehen. Deshalb habe ich euch nicht dorthin bringen lassen. Es wäre viel zu gefährlich gewesen. Ich hoffe nur, in ihrem irrationalen Zorn kommen meine Leute nicht auf die Idee, mir auch an anderen Orten aufzulauern.“
„Warum führen sie diesen Krieg nicht einfach selbst?“, fragte Callan, „sie sind doch Jahrhunderte ohne Anführer ausgekommen, oder nicht? Warum sollten sie erst auf deine Erlaubnis warten?“
„Sie gieren nach Führung. Ich fürchte, irgendwann werden sie sich diese im Planetenkrebs selbst suchen. Aber noch wissen sie nicht von seiner Existenz und noch scheint auch er nicht bereit zu sein, sie direkt zu empfangen. Deshalb nehmen sie das nächstbeste, was sie finden können“, erklärte Fienna, „außerdem … und das wird wohl der Hauptgrund sein … hüte ich zurzeit den Sphärensamen, die einzige Möglichkeit, Cestralia physisch und kontrolliert zu verlassen. Schon deswegen brauchen sie mich. Oder notfalls meine Leiche.“
„Das klingt logisch“, kommentierte Callan.
„Ist all dieser … Hass denn allein dem Planetenkrebs geschuldet?“, fragte sich Clary und blickte hinauf zum Firmament, an dem sich blasse, violette Nebelfinger zeigten, durch die der Mond sein verzauberndes Licht streute.
„Zum Teil sicher“, überlegte Fienna, „ich spüre es ja selber. Diesen Zorn. Diese Unruhe. Er ist allgegenwärtig. Wie Elektrizität, die in der Luft flimmert. Auch wir Cestral sind keine Heiligen. Wir haben uns nur für eine friedliche Lebensweise entschieden. Für sehr lange Zeit. Doch auch wir tragen Dunkelheit in uns. Alles, was man tun muss, ist sie zu füttern.“
„Ich verstehe“, sagte Clary, „was ich nicht verstehe ist, wie genau ich diesen Planetenkrebs denn ausfindig machen soll.“
„Gedulde dich!“, antwortete Fienna beinah patzig, „das erkläre ich dir, wenn wir wieder im Untergrund sind. Hier oben ist es zu riskant, das zu erörtern.“
„Nutzen wir denn wieder Nartial, um den Untergrund zu betreten?“, wagte Clary nachzuhaken, auch wenn sie die Übellaunigkeit von Fienna verunsicherte.
„Nein, tun wir nicht! Der Arme muss sich ausruhen“, meinte Fienna, „aber der Eingang ist auch nicht weit von hier entfernt und diese Tunnel sind besser begehbar als die, die wir bei unserer letzten Reise durchquert haben. Wir sollten es auch zu Fuß schaffen.“
„Komisch. Dabei dachte ich eigentlich, es käme bei unserem Vorhaben auf jede Sekunde an“, bemerkte Toran, „ich an deiner Stelle hätte deinem wandelbaren Freund einfach befohlen mitzukommen.“
„Was fällt dir ein, du ungehobeltes Arschloch?!“, entgegnete Fienna nicht mehr nur übellaunig, sondern richtiggehend zornig, „ich bin keine Despotin und Nartial ist kein seelenloses Gefährt und auch kein deovanischer Lohnsklave, dem man nach Belieben seinen Willen aufzwingen darf. Mag sein, dass man die Dinge so handhabt, in dem finsteren, verkommen Loch, das du Heimat nennst. In der Zivilisation läuft das aber nicht so. Verstanden?!“
Fienna sprach so aufbrausend, so scharf und laut, dass die anderen zusammenzuckten. Einige aus bloßer Überraschung, andere aus Angst vor unerwünschter Aufmerksamkeit.
„Es … es tut mir leid“, sagte Fienna, als sie begriff, dass sie sich im Ton vergriffen hatte, schloss ihre Augen und ballte die Hände zu Fäusten, wie um ihre Aggression darin einzufangen, „ich hätte nicht so harsch reagieren sollen. Ich bin schon wieder viel zu lang hier oben. In der Nähe all dieses Hasses … ich brauche Erholung. Es … es tut mir wirklich leid.“
„Hör auf, dich für die Wahrheit zu entschuldigen, Famtara“, erklang eine männliche Stimme in fast verzückter Ekstase, „und ehre deinen Zorn. Du wirst ihn sehr bald brauchen. Wir alle werden ihn brauchen! Er wird uns emporheben. Weiter erhöhen als selbst die Schwingen der Fantasie es vermögen.“
Kurz darauf zeigte sich die Quelle der Stimme. Sie gehörte einem rotgekleideten, älteren, bärtigen Soldaten, der Teil einer Gruppe von zehn weiteren Cestral-Kriegern war. Ihre Gesichter waren alle unterschiedlich und glichen sich doch auf beunruhigende Weise: Es waren Gesichter gefangen zwischen einer dürftig unterdrückten Wut, die wie kochende Magma nach einem Ausgang suchte und einer verdrehten, verklärten Sehnsucht, die durch die obskuren Spiegelkabinette ihrer Augen blutete.
Bis auf zwei mit Schusswaffen ausgestattete Frauen, hielten sie schimmernde Speere in ihren Händen und hatten den engen Durchgang des Waldpfades, der durch das dichte, mit Leben gespickte Unterholz aus der Stadt hinausführte, strategisch blockiert.
„Wir werden den Krieg gegen Hyronanin führen“, sprach Fienna betont ruhig, während sie den anderen ein subtiles Zeichen gab, sich für den Notfall bereitzuhalten, „aber dazu braucht es Vorbereitungen. Vorbereitungen, die ihr gerade unterbindet.“
„Wir sind längst vorbereitet!“, schrie eine langhaarige Cestral, deren durchscheinender Körper vielfach tätowiert war, „Und wir haben schon genug gezögert. Jahrhunderte haben wir verträumt in die Sterne geblickt. Haben unsere Tage nutzlos verstreichen lassen, während man uns still und heimlich vergewaltigte. Wir sind mehr als bereit. Wir sind gerüstet mit Waffen und Willen. Und wir müssen endlich den ersten Schlag führen. Gleich hier. Gegen die Agenten des Bösen. Gegen den inneren Feind. Diese Leute, mit denen du reist, Famtara. Streck’ sie nieder oder trete zur Seite und lass es uns tun. Danach kannst du dich um die Kriegsvorbereitungen gegen die Seuchenhöhlen kümmern.“
Clary beobachtete Fienna genau. Sie sah in ihr Gesicht, las darin und entdeckte … Verständnis.
„Ihr habt recht“, sagte sie mit vor Zorn zitternder Stimme, während ihre Maske der Ruhe in tausend Splitter zerfiel, „ich bin es selbst so leid, mich zurückzuhalten und die Gastfreundliche zu spielen. Wir müssen unserer Bestimmung folgen und die Fremden stehen uns im Weg!“
Die tief empfundene Inbrunst, die in Fiennas Worten mitschwang, berührte Clarys Herz wie eine eisige Hand.
„Was laberst du da?“, fragte Callan und wollte seinen Pinpointer zücken, doch Fienna entwaffnete ihn mit einer geradezu beiläufigen Bewegung und das so brutal, dass Callan vor Schmerz aufschrie.
„Schön, dass du Vernunft annimmst“, sagte die unbekannte Cestral, „sollen wir es machen oder kümmerst du dich selbst um die Dunkelweltler?“
Callan, Makra und die anderen sahen sich ratlos an. Niemand von ihnen wusste mit Sicherheit, ob das hier eine sehr ausgefeilte List war oder ob Fiennas Verhalten einen anderen, verräterischen Grund hatte. Denn niemand von ihnen hatte die Dunkelheit in Fiennas Augen so deutlich und aus solcher Nähe gesehen wie Clary. Doch selbst in Clary wohnte noch ein kleiner, schüchterner Funke Hoffnung, was man ihr als ehemaliger Blue Mind wohl kaum zur Last legen konnte.
„Ihr könnt es tun, wenn ihr wollt“, stimmte Fienna zu, „doch fangt mit der Deovani hier an. Sie ist eine Fremdgeborene aus dem Tempel der Gier. Eine atmende Anmaßung für unsere Kultur und unsere Lebensweise. Und sie beherrscht die Mentravia besser als die meisten unseres Volkes, was wir nicht dulden können. Sie muss als Erstes gehen. Danach folgen die anderen. Aber erschießt sie nicht. Erledigt es aus nächster Nähe. Ich will ihr in die Augen sehen, wenn sie stirbt. Was den Rest betrifft, so überlasse ich euch, wie ihr sie entsorgt.“
Wenn diese grausamen Worte ein Schauspiel waren, dann das beste, was Clary je gesehen hatte.
„Wenn du ihr auch nur ein Haar krümmst, werde ich …“, begann Sycnra und zückte ihr Skalpel.
„Halt die Fresse Quacksalberin!“, rief die andere Frau mit der Schusswaffe. Doch ihr abgefeuertes Projektil flog noch schneller als ihre Worte und riss ein großes Loch in die Hand der Gesunderin, sodass sie gezwungen war ihre improvisierte Waffe fallenzulassen, „um dich kümmern wir uns als Nächstes. Den Rest von euch lassen wir vielleicht sogar leben. Wenn ihr euch ruhig verhaltet.“
Der Mann mit dem Speer, der zuerst gesprochen hatte, ging derweil schnellen Schrittes auf Clary zu. In seinen Augen lag eine sadistische Vorfreude.
Clary spürte den überwältigenden Drang wegzurennen. Aber das konnte sie nicht. Sie würde ihre Begleiter nicht einfach im Stich lassen. Stattdessen versuchte sie sich an jener Mentravia-Hypnose, die sie schon einmal gerettet hatte, aber diesmal wollte es einfach nicht klappen. Wann immer sie versuchte, sich eine andere, bessere oder auch nur irgendwie geartete Welt, zu erdenken, riss sie die Grausamkeit der Situation ins Hier und Jetzt zurück.
„Bitte Fienna!“, flehte sie deshalb, „das muss doch ein übler Scherz sein. Wir wollen dir doch helfen. Wie kannst du uns so hintergehen? Bitte! Ruf sie zurück. Wir müssen den Planetenkrebs bekämpfen. Nicht einander!“
Für einen Moment zuckte der Zweifel über das Gesicht der Famtara. Doch diese Beobachtung brachte Clary keine Hoffnung. Im Gegenteil. Er bewies endgültig, dass Fiennas herzloses Verhalten keine List gewesen war, sondern echter, böswilliger Verrat. Und selbst dieses Fünkchen Gewissen auf dem zarten Gesicht der Cestral erlosch schon Wimpernschläge später restlos. Alles was zurückblieb, waren Kälte und darunter ein ungehemmter lustvoller Zorn, der vorfreudig auf das Kommende wartete.
„Den einzigen Krebs, den wir bekämpfen müssen, bist du, Dunkelweltlerin!“, sagte der Mann mit dem Speer und holte aus, wobei er mit seiner Waffe direkt auf Clarys Schlüsselbein zielte. Doch sie wich nicht aus. Sie konnte es nicht mehr. Genau wie auch die anderen war sie viel zu überwältigt von der düsteren Erkenntnis, dass jener Ort, nachdem sie sich alle ihr Leben lang gesehnt hatten, in dessen mondbeschienene Lichtungen sie sich immer dann hineingeträumt hatten, wenn ihr reales Leben unperfekt, unfair oder schlicht schrecklich gewesen war, nicht nur nicht besser war als die meisten Welten da draußen. Sondern schlimmer.
Wozu noch kämpfen? Wozu sich gegen das Unvermeidliche wehren, wenn doch letztlich alles auf Folter, Hass und Verrat hinauslief?
Vielleicht war es jener Moment, an dem die Blase von Clarys heiler Welt wirklich zerplatzte wie ihre Haut unter der Spitze des Cestral-Speeres, wenn sich das Folgende nur eine kleine Winzigkeit später ereignet hätte. Aber noch ehe der hasserfüllte Cestral sein grausames Werk beginnen konnte, fegte ein kräftiger Wind sowohl ihn als auch Clary von den Beinen. Clary schlug hart, aber unverletzt auf dem Boden auf und ihre Augen richteten sich zwangsläufig gen Himmel wo sich eine Kreatur mit regenbogenfarbenen Schwingen herabsenkte, die beinah ihr gesamtes Sichtfeld bedeckten. Die Flügel erinnerten an Libellenflügel, nur waren sie stabiler, mit ledrigen Rändern und entlang ihres dünnen Musters mit Federn bedeckt. Aus dem kleinen Körper der Kreatur erwuchsen dicke, spinnenhafte Beine mit breiten Greifklauen und in ihrer Mitte saß ein bärenartiger Kopf mit zwei großen, gütigen Augen, die ihr vage bekannt vorkamen. „Nartial“, sagte Clary erkennend und sie glaubte ein leises trillerndes Singen zu hören, welches ihr antwortete.
„Tötet die Bestie!“, riefen die Soldatinnen wie aus einem Mund und sie warfen ihre Speere und schossen ihre Waffen ab. Die meisten Projektile gingen fehl, doch einige erreichten das zarte Fleisch der Flügel, woraufhin Nartial einen schmerzvollen Schrei von sich gab.
Fienna – das sah Clary zweifelsfrei als sie sich wieder auf die Beine kämpfe – schien nach der Ankunft ihres alten Freundes wie vom Wahn befreit und starrte ihn mit offenem Mund an.
„Lasst ihn in Ruhe!“, verlangte sie von den Eiferern, „ich befehle es euch!“
Doch diese Worte hätte sie sich sparen können. Weder hörten die wütenden Cestral-Soldaten auf ihren Befehl, noch brauchte Nartial ihren Schutz. Ungeachtet der auf ihn abgefeuerten Geschosse, ergriffen seine Klauen die Soldaten wie renitente Teenager und setzte die Hälfte von ihnen mit einem klebrigen Sekret fest, welches aus seinen Greifarmen floss, sodass sie sich nicht mehr bewegen konnten.
Der Rest der Truppe versuchte die Attacke fortzusetzen und sich auf Nartials Kopf zu konzentrieren. Doch sie machten den Fehler, sich nicht um Callan und die anderen zu kümmern. Diese hatten ihre Lethargie nämlich mittlerweile abgeschüttelt und kamen über sie wie eine Naturgewalt. „Tötet sie nicht. Wahrscheinlich sind sie nicht ganz Herr ihrer selbst“, erinnerte Callan seine Begleiter, auch wenn er selbst gerne gegen diesen Rat verstoßen hätte und verdammt große Lust hatte diesen Verrätern die Gedärme um die Ohren zu klatschen.
Die anderen nickten stoisch, wobei immerhin Scynra seine Äußerung sehr wohlwollend aufzufassen schien, während Makra eher schmollte. Sie war auch die einzige, die ihrem ausgeschalteten Gegner noch ein paar fiese, blutende Kratzer beibrachte. Die übrigen aber setzen sie lediglich außer Gefecht. Callan, indem er seinen Pinpointer als Nahkampfwaffe missbrauchte, Thomas mit der bloßen Faust und Scynra, indem sie bestimmte Punkte am Hals des Feindes drückte. Keiner ihrer Feinde starb dabei. Auch nicht jene Cestral, die in Nartials Klauen gefangen waren, wo ihre Bewegungen inzwischen erlahmt waren und sie begonnen hatten zu schnarchen. Clary vermutete, dass Nartial bei diesem Schlaf seine Finger im Spiel hatte. Womöglich war die Substanz, die er abgesondert hatte, nicht nur klebrig, sondern auch sedierend.
Der Koloss senkte sich herab, ließ seine Gefangenen sanft auf den Boden sinken und nahm fast im selben Augenblick eine humanoide Gestalt an, die etwas Katzenhaftes an sich gehabt hätte, wenn Katzen denn über vier Arme, drei Schwänze und verführerische rote Lippen verfügt hätten. Lediglich Nartials Augen blieben dieselben. Sie wurden nur kleiner und strahlten eine Enttäuschung aus, die Clary körperlich spüren konnte.
Doch Fienna war dafür noch viel empfänglicher. Nartials stummer Tadel traf sie wie ein Schwert. Die Famtara senkte erst den Blick, ging dann in die Knie und weinte.
„Es tut mir leid, Nartial“, sagte sie beschämt, „es tut mir unendlich leid, auch wenn es keine Rechtfertigung dafür gibt. Ich hätte mich nicht von diesem Hass mitreißen lassen dürfen, egal welche Stimmen im Wind flüstern.“
„Entschuldige dich nicht bei mir. Entschuldige dich bei diesen Leuten“, antwortete Nartial mit einer klangvollen, aber sehr ernsten, weiblich klingenden Stimme.
„Du hast recht“, sagte Fienna, straffte sich und wandte sich um, „aber ich entschuldige mich nicht bei euch, denn diese Schuld kann ich nicht ablegen. Doch ich drücke meine Reue aus. Gegenüber euch allen. Ganz besonders dir gegenüber, Clary. Mein Verhalten war niederträchtig, schwach und vollkommen unverzeihlich.“
„Das würde ich auch mal meinen“, bemerkte Makra, „solche Stimmungsschwankungen legen selbst andrinische Folterer nur selten an den Tag.
„Ich denke, man kann jede Schuld begleichen, wenn man nur den nötigen Gegenwert anbietet“, wandte Toran augenzwinkernd ein, „sei es nun Geld, Dienstleistungen oder das eigene Ableben.“
„Es ist schon in Ordnung“, sagte Clary deutlich versöhnlicher, auch wenn ihr das ungewohnt schwerfiel, „es war der Einfluss des Planetenkrebses oder etwa nicht? Dagegen konntest du dich nicht wehren.“
„Oh, ich kann es durchaus“, sagte Fienna, „ich konnte es zumindest lange Zeit. Mit der Hilfe der Glasnebel, einiger Kraftorte und von Nartial. Doch der Parasit scheint an Macht gewonnen zu haben. Schneller als ich befürchtet habe. Man kann ihm noch widerstehen. Aber nicht, wenn man so schwach und beeinflussbar ist wie ich.“
„Genug. Bevor wir hier vor Scham im Boden versinken, sollten wir es lieber buchstäblich tun“, meinte Callan, „auch wenn ich es inzwischen wirklich hasse unterirdisch unterwegs zu sein. Das hat mir bislang nichts als Ärger beschert.“
Scynra nickte bestätigend, aber Fienna widersprach. „In diesem Fall erwartet euch kein Unheil und keine Krankheit. Nur Heilung“, sagte sie.
„Was ist mit denen“, fragte Callan und zeigte auf die bewusstlosen Soldaten.
„Was soll schon mit ihnen sein?“, fragte MMM Toran, „wir lassen sie hier liegen. Wenn sie wach werden, sind wir schon über alle Berge.“
„Das ist zu riskant“, sagte Makra, „nachher folgen sie uns noch. Wir sollten sie einfach töten. Dann stellen sie keine Gefahr mehr dar.“
„Wir töten niemanden ohne Not“, sagte Scynra, „nicht, wenn ich dabei bin.“
„Und was, wenn wir gerade in Not sind?“, fragte Makra.
„Das sind wir aber nicht“, mischte sich Nartial ein, „wenn wir diese Leute in den Glasnebelraum mitnehmen, sollten sie langsam zur Besinnung kommen. Die Energien dort sind heilsam. Sie werden uns nicht länger bekämpfen und sich an die erinnern, die sie waren und immer noch sind.“
„Das glaube ich erst, wenn ich es sehe“, sagte Makra.
„Einer Andrin hätte ich schon etwas mehr Fantasie zugetraut“, meldete sich der bislang sehr schweigsame Thomas zu Wort.
„Oh unsere Vorstellungskraft ist in Andraddon sehr eng mit der Empirie verknüpft. Ursache und Wirkung, du verstehst?“, sagte Makra und erntete dafür ein mattes Lächeln des Dichters. Ihre Blicke aber blieben auf Callan geheftet.
„Dann lasst uns endlich abtauchen“, sagte Toran, „je schneller wir den Planetenkrebs beseitigen, umso schneller können wir endlich unseren Urlaub in diesem kostenlosen Paradies genießen.“
„Das ist doch mal ein guter Vorschlag“, urteilte Fienna und verwandelte sich in jene Form, die zumindest Clary bereits kannte.
~o~
Die Reise in den Untergrund verlief trotz der hohen Passagierlast, die Nartial buchstäblich zu schultern hatte, relativ unproblematisch. Schon bald waren sie ihn jenem etwas niedrigeren und engeren, aber nicht minder wunderschönen Tunnel angekommen, von dem Fienna gesprochen hatte. Und sie alle spürten, wie sie förmlich aufatmeten. Selbst wenn nun eine dicke Schicht Erde über ihren Köpfen lag, fühlte es sich eher nach Freiheit an, denn nach Bedrängnis. Das lag auch daran, dass es hier unten sehr hell war, da die Luft von dem feinen, leuchtenden Nebel schimmerte und ein würziger Geruch nach frischer Frühlingsluft wahrzunehmen war.
Thomas, der gerade nicht schreiben konnte, prägte sich all das genau ein und kritzelte ab und an ein paar Worte in den Boden, der von silbrigen Staub bedeckt war, während sich Clary fasziniert umsah, Fienna noch immer brütend und beschämt auf ihre Füße starrte und Makra etwas albern anzusehende Spiele mit Nartial spielte als wäre er lediglich ein großer Hund. Das hochintelligente Geschöpf ließ das aber nicht nur mit sich machen, sondern schien sogar Gefallen daran zu finden. Er warf die flinke Andrin ein paar mal zu Boden und fauchte sie an, wobei sie ihn ihrerseits mit ihren spitzen Fingernägeln kniff, an seinen Haaren riss oder ihm harmlose Schläge in die Seite gab. Manchmal, wenn er sie auf den Rücken geworfen hatte, blickte Makra auch zu Callan. Flüchtig zwar, aber deutlich genug, dass es auch ihm auffiel.
„Was ist er für eine Kreatur ist er?“, fragte Toran, der das Treiben mit eher stiller Neugier verfolgt hatte.
„Ein Werone. Und ein Bewohner dieser Welt“, meinte Fienna rätselhaft, „viel mehr kann ich dir nicht über ihn sagen. Es gibt nur ein paar Dutzend, die wie er sind in ganz Cestralia, soweit wir wissen und er ist der einzige in dieser Gegend. Sie waren schon da als unsere Geschichtsschreibung begann. Vielleicht sind sie sogar wortwörtlich ein Teil des Planeten. Wir wissen es nicht. Sie reden kaum darüber und sind verschlossen, was ihre Herkunft betrifft, auch wenn sie ansonsten die besten Gefährten sind, die man sich vorstellen kann.“
„Ein Teil des Planeten?“, hakte Toran nach, „das ist bemerkenswert. Sollte er dann nicht eigentlich auch unter dem Einfluss des Planetenkrebses leiden, anstatt ihn zu begrenzen?“
„Ich vermute, sie sind so etwas wie Wächter. Sie kämpfen aktiv gegen die Korrumpierung an. Wenn es sie einmal erwischen sollte, sind wir wahrscheinlich verloren. Doch zum Glück ist das noch nicht der Fall“, antwortete Fienna.
„Zum Glück“, bestätigte Toran und sah dann wieder zu Fienna, die auf Nartials Rücken gesprungen war und mit ihrer Dornenpeitsche über ihm in die Luft knallte wie ein Dompteur.
„Wie albern“, konnte sich Scynra einen Kommentar nicht verkneifen.
„Ich finde es schön. Dieser Ort sollte dafür da sein, ausgelassen und unbeschwert zu sein“, sagte Callan mit einem verträumten Lächeln auf den Lippen, „oder hast du etwas gegen Lebensfreude?“
„Absolut nicht“, verneinte Scynra, „aber ich habe etwas gegen Ignoranz. Solche Albernheiten liegen mir nicht. Aber sie sind vollkommen tolerabel, wenn die Umstände stimmen. Eskapismus und Affekte sind großartig, wenn man sich ihnen hingibt, wenn die Realität langweilig ist. Ist sie hingegen gefährlich, ist es einfach nur dumm, vor ihr zu fliehen. Man sollte sich ansehen, was einen plagt. Und es bekämpfen. Sonst gibt es ein böses Erwachen. Genau aus diesem Grund will ich auch nach deiner Wunde sehen.“
„Du hast wahrscheinlich recht“, sagte Callan und widerstand dem Impuls, einfach zu Makra zu stürmen und gemeinsam mit ihr und Nartial herumzualbern wie ein großes Kind.
Stattdessen ließ er Scynras desinteressierte Finger über seine Haut wandern.
„Es ist gut verheilt“, sagte sie, „aber du wirst eine weitere Dosis brauchen in ein paar Tagen. Nur um sicherzugehen.“
„Danke“, sagte Callan und fügte nach einigen Momenten hinzu, „ich finde toll, wie du dich um andere kümmerst. Nicht nur, weil ich zufällig dein Patient bin.“
Scynra lag kurz eine zynische Erwiderung auf den Lippen, aber stattdessen schenkte sie Callan ein professionelles Lächeln und ein freundliches Nicken.
„Komm, geh zu Makra. Ich seh’ doch, wie du sie mit den Augen ausziehst“, sagte Scynra etwas mütterlich.
„Ich glaube gerade hat sie mehr Spaß mit Nartial“, sagte Callan, „außerdem bin ich mir selbst noch unsicher, ob es eine gute Idee ist. Immerhin ist sie eine Andrin … was, wenn sie die Beherrschung verliert.“
Scynra lachte, „Schwer zu sagen, ob das jetzt Vernunft, Feigheit oder Rassismus ist, der aus deinen Worten spricht. Aber glaub mir, ich kann Leute gut einschätzen. Makra ist eine nervige, überdrehte Person mit einem eklatanten Mangel an Beherrschung und seltsamen Neigungen. Aber sie ist nicht böse. Sie wird nichts tun, was du nicht willst. Das ist ihr Prinzip und daran glaubt sie. Falls du aus dieser Verbindung einen dauerhaften Schaden trägst, dann wird er emotionaler Natur sein. Aber das kann immer passieren. Also probier es ruhig aus. Praktische Erfahrung ist meist aufschlussreicher als bloße Theorie. Das ist mein Rat als Wissenschaftlerin.“
„Also hältst du es für klug sich ihr zu öffnen?“, fragte Callan überraschend.
„Oh Gott, Nein“, sagte sie kichernd, „das wollte ich garantiert nicht damit ausdrücken. Aber es gibt nichts, was am Ende mehr Probleme verursacht als unterdrückte Triebe, jedenfalls wenn sie sich in einem akzeptablen Rahmen bewegen. Wenn es nach mir geht, würden wir uns diese gesamte Gefühlsduselei und alle Paarungsrituale für unsere Siegesfeier aufheben. Aber du bist eh nicht der Typ für dauerhafte Zurückhaltung. Je länger du wartest, desto größer wird die Wahrscheinlichkeit, dass du etwas richtig Dummes tust. Also handle lieber jetzt, wo du noch einen Rest Verstand besitzt.“
„Ein guter Ratschlag“, sagte Callan, „ich werde ihn beherzigen. Aber zu gegebener Zeit. Erst hat unsere Mission vorrang, da hast du schon recht. Und einstweilen werde ich noch nichts dümmeres tun als ich es für gewöhnlich tue. Versprochen!“
Scynra nickte und Callan glaubte eine gewisse Anerkennung in ihren Augen zu bemerken.
„Wie geht es nun weiter“, wollte Callan wissen und wandte sich dabei nicht länger an Scynra, sondern an Fienna.
„Es wird Zeit für Clarys Auftritt“, meinte Fienna und hob zum ersten Mal seit langem den Kopf, „Sie muss versuchen, die Spur des Ungeheuers aufzunehmen. Versuchen, seinen Ursprung zu finden, über die Wege, die ihr die Mentravia zeigt. Sie muss ihre Wege akzeptieren und jeder Intuition und jedem Hinweis nachgehen. Oft sind diese Pfade kompliziert, gefährlich und schmerzhaft. Aber sie werden sie leiten, so wie wir ihren Körper durch die stoffliche Welt leiten werden.“
„Gefährlich? Werde ich mich nicht nur geistig durch die Fantasiewelt bewegen?“, erkundigte sich Clary überrascht.
„In diesem Fall nicht“, sagte Fienna, „es ist eine besondere Form der Mentravia, wie sie nur wenige beherrschen. Nicht einmal ich. Sie schafft eine Verbindung zwischen dieser Welt und deiner Vorstellungskraft. Und dafür musst du dich dort angreifbar machen. Sonst können wir das Zentrum der Verseuchung nicht ausfindig machen.“
„Und niemand sonst kann das tun?“, fragte Toran neugierig.
„Nein“, bestätigte Fienna, „einige konnte es vor Adrians Angriff. Aber die meisten können sich nicht mehr genügend konzentrieren, um sich darauf einzulassen, selbst wenn sie noch bei klarem Verstand sind. Ihnen fehlt das Vertrauen und der Einfluss des Parasiten schwächt ihre Sinne. Bei mir ist es dasselbe, wie ihr euch wohl denken könnt. Wir alle sind seiner Präsenz schon zu lange ausgeliefert.“
„Und was ist mit uns?“, wollte Scynra wissen, „sind wir dagegen immun? Aufgrund biologischer Faktoren?“
„Ich glaube nicht“, sagte Fienna, „es ist kein Virus und keine Bakterie. Nicht einmal ein Pilz. Der Einfluss des Parasiten ist geistiger Natur. Jeder kann ihm verfallen, wenn er ihm lange genug ausgeliefert ist. Auch ihr. Ihr habt nur noch ein wenig Zeit, bis es soweit ist.“
„Wie fühlt es sich an, dieser Einfluss?“, fragte Clary.
Fienna überlegte eine Zeit. Schließlich sagte sie: „Es fühlt sich an, als würde nichts mehr einen Sinn ergeben, außer dem Wunsch alles noch sinnloser zu machen.“
„Das klingt seltsam“, urteilte Thomas.
„Ja“, gestand Fienna ein, „und es fühlt sich noch viel seltsamer an. Und so richtig richtig scheiße. Aber das soll uns erst Mal nicht kümmern. Clary, wollen wir anfangen?“
„Können wir. Aber was genau soll ich tun?“, fragte Clary.
„Beginne wie bei einer normalen Mentravia. Erschaffe ein Bild. Eine eigene, lebendige Fantasiewelt. Sie muss schön sein. Makellos. Ein Ort zum Wohlfühlen. Das ist wichtig. Und dann suche darin nach etwas, das nicht stimmt. Nach Fehlern und kleinen Abnormitäten, bis du zu dem Ort gelangst, von dem all diese Makel ausgehen“, erklärte Clary.
„Ich verstehe“, sagte Clary und schloss die Augen. Sie blendete alles aus oder versuchte es zumindest. Die Bedrohungen, die Erinnerungen, die entsetzlichen Traumata und sogar die Leute um sich herum. Sie klammerte sich allein an den angenehmen Geruch und die Nebel, die manchmal sanft wie zarte Vorhänge über ihre Haut strichen.
Und nach einer Weile entfaltete sich eine neue Welt vor ihren Augen. Eine Wiese an einem kleinen Fluss im Sonnenschein. Ähnlich wie sie es sich schon oft vorgestellt hatte. Ein einfacher, schöner, makelloser Traum. Der perfekte Ausgangspunkt für die Suche nach ihrem Feind. Oder doch nicht?
Denn als Clary genauer hinsah, als sie alles prüfte und anfasste, war sie sich da nicht mehr ganz so sicher. Das Gras war scharf und kalt. Wie in den Maschinengärten von Dank Qua. In dem Flüsschen schwamm eine bräunliche, stinkend-ätzende Brühe, die Clarys Haut blasen werfen ließ als sie auch nur in ihre Nähe kam und in der halb zersetzte, traurige Fischkadaver trieben.
Die Sonne brannte so heiß, so erfüllt von schädlicher, karzinogener Strahlung, dass sie förmlich spüren konnte, wie ihre DNA-Stränge darunter ihre Form verloren und mutierten. Das schlimmste aber war das, was am Horizont erschien. Es war ein geisterhaftes, kolossales Gesicht. Ihr eigenes, leeres Gesicht das mit weit geöffnetem Mund das klingenscharfe Gras fraß, welches sich in beinah endlosen Reihen vor ihr erstreckte. Nein, es fraß nicht nur das Gras. Es fraß auch die Erde, die Luft, jedes verfluchte Traum-Atom ihrer Vision. Und es wurde schneller, so als säße in diesem Zerrbild ein rücksichtsloser Raser, der sich zum Ziel gesetzt hatte, die Höllenfahrt seines Lebens zu erleben. Clary sah in die Augen. In ihre eigenen, angstverzerrten Augen, die immer größer wurden. Und schrie …
Ihr Schrei hallte hinüber in die gewohnte Welt. Makra und Nartial hielten mit ihrem ausgelassenen Spiel inne, die noch immer paralysierten Cestral-Soldaten zuckten unruhig in ihrem tiefen Schlaf und die anderen blickten erschrocken zu der ehemaligen Blue-Mind.
„Was ist los?“, fragte Fienna.
„Es funktioniert nicht“, sagte Clary, die gerade erst durchlittene Erfahrung noch immer tief in ihr Gesicht gegraben, „ich kann mir keine perfekte Welt vorstellen. Nicht mal eine aushaltbare. Es war … es war einfach nur schrecklich.“
Clarys Stimme zitterte, und mit ihr ihr ganzer Körper. Sie wirkte fahrig, traumatisiert und bot allgemein ein so erbärmliches Bild, das Callan dem Impuls nicht widerstehen konnte, sie in die Arme zu nehmen und ihr tröstend übers Haar zu streichen. Kurz fragte er sich, ob Makra das falsch auffassen könnte, doch dann entschied er, dass ihm das egal war. Wer kein Verständnis derartige Regungen hatte, konnte sich ficken gehen. Außerdem waren sie ja nicht einmal zusammen.
„Das ist kein Wunder“, hörte sie Nartial sanft sagen. Nun, da sein Herumalbern mit Makra beendet war, hatte er sich wieder seine weibliche, humanoide Gestalt gegeben, „dir fehlt die nötige Sicherheit, um zu Träumen. Fiennas kürzlicher Verrat könnte das ausgelöst haben. Oder die Erkenntnis, das Cestralia nicht mehr der schöne Ort ist, der es eigentlich sein sollte.“
„Es ist wahrscheinlich nicht allein das“, bemerkte Callan nachdem er festgestellt hatte, dass Clary gerade kaum in der Lage war zu sprechen, „Clary war einst eine Blue Mind. Sie wurde ihr ganzes Leben in Deovan in dem Glauben gelassen geliebt und umsorgt zu sein und in einer Welt des Mitgefühls zu leben. Alles nur, um den naiven Hofnarren für ihre zynischen Mitbürger geben zu können, und um dann eiskalt verstoßen und mittellos auf die Straße geworfen zu werden. Sie hat ihr Schicksal tapfer ertragen, aber irgendwann wird es jedem zu viel.“
Callan fühlte sich schäbig, weil er diese Dinge einfach vor all diesen Fremden erzählt hatte, ohne Clary um Erlaubnis zu fragen. Aber sie schien es ihm nicht übelzunehmen. Im Gegenteil. Sie strich ihm dankbar mit den Fingern über die Hand. „Er hat recht“, sagte sie, „es ist wohl alles einfach zu viel für mich.“
„Das ist nur allzu verständlich“, meinte Fienna, wobei sie Schwierigkeiten hatte, Clary direkt in die Augen zu blicken. Noch immer schämte sie sich zu sehr für ihr brutales Verhalten.
„Leider können wir auf deine kleinen Launen keine Rücksicht nehmen“, sagte Thomas hart, “wir müssen dieses Ding finden, ob du dich jetzt wohlfühlst oder nicht.“
„Die Psyche ist genauso empfindlich wie der Körper. Wenn nicht sogar empfindlicher“, antwortete Scynra, „oder würdest du von jemanden mit gebrochenen Beinen erwarten einen Marathon zu bestreiten.“
„Es gibt Figuren in der Geschichte, die Vergleichbares geschafft hatten. Weil sie den Willen besaßen und den Kampfesmut“, antwortete Thomas abwehrend, auch wenn er bei Scynras Worten das Gesicht verzog als hätte ihn ein Pfeil in die Brust getroffen.
„Mitleidloser Pisser“, knurrte Callan, „gerade du solltest wissen, dass solche Geschichten oft übertreiben. Immerhin tust du ja nichts anderes als aufgeblähte Worte irgendwo hinzuschmieren.“
„Es liegt genug Wahrheit in meinen Worten“, erwiderte Thomas, „wem es an Heldenmut mangelt, der muss eben an die Alternativen denken. Oder würde es Clary etwa gefallen nur noch von blutgeilen Sadisten umgeben zu sein? Das würde ihren Fühlies sicher nicht besser bekommen“
„Menschlicher Abschaum“, ätzte Scynra, „von euch kann man wohl keine Empathie erwarten.“
„Rassismus hilft uns jetzt nicht weiter“, sprach Fienna ein Machtwort, „das tut er nie. Genauso wenig wie dieses dumme Gerede von Thomas.“
„Ich … ich kann es nochmal versuchen“, stotterte Clary dankbar.
„Das ist mutig von dir und das solltest du wohl auch“, sagte Fienna, „aber nicht in diesem Zustand. Es gibt einen Ort der noch weit heilsamer ist als dieser hier. Dort bringe ich euch hin. Vielleicht hilft dir das weiter. Und wen nicht, dann ist es eben so. Deine Schuld jedenfalls wäre es nicht.“
„Schöner Spruch. Vielleicht will ihn ja jemand in deinen toten Körper ritzen, nachdem er deinen Kopf gefressen hat“, sagte Thomas zynisch und nur Sekundenbruchteile später zuckte eine Peitsche mehrmals über sein Gesicht und riss eine Reihe von oberflächlichen Wunden, die zusammen ein Andrinisches Schriftzeichen ergaben.
„Ich schreib‘ in deinen Körper alles, was du willst“, versprach Makra, „jedes Wort, was du von nun an sagst. Also schweig besser.“
Thomas sah sie düster an, während er sich die Kratzer betrachtete, schwieg dann aber tatsächlich.
„Danke, dass du mich verteidigst hast“, sagte Clary, „du bist echt in Ordnung für eine Andrin.“
„Ach nein, Süße“, kicherte Makra, „bei mir ist gar nichts in Ordnung. Aber es gibt Personen, neben denen sieht jeder wie eine Heilige aus.“
~o~
Schon als sie den ersten Schritt an die Oberfläche taten, verstand Clary genau, warum Fienna sie an diesen Ort geführt hatte. Die Luft schmeckte klar und unbelastet und doch nach Nostalgie so wie die Seiten der altmodischen aus Papier gemachten Bücher, die man ihr in ihrer Kindheit oft gegeben hatte. Bei der Formung von Blue Minds legte man viel Wert auf Sinnlichkeit, da sie der Emotionalität förderlich war. Sie kreierten jene Romantik, die den durchaus scharfen Verstand der deovanischen Kuriositäten davon abhielt, ihre Illusion zu früh zu durchschauen. Doch hier war es anders. Das spürte Clary genau. Das hier war keine Täuschung, kein Köder. Jeder der watteweichen Grashalme, jeder der fremdartigen Edelsteine, die so zahlreich wie gewöhnliche Kiesel am Seeufer lagen, strahlte eine unbestechliche Ehrlichkeit aus.
Clary war gerührt. Ihre Tränen flossen so ungehemmt wie das violette Wasser das beständig und doch ungewöhnlich langsam und behutsam den wunderschönen Wasserfall hinabrauschte, direkt auf eine … ja … tatsächlich … direkt auf eine rot-goldene kleine Sonne, die das Wasser zu feinem, glitzerndem Nebel zerstäubte und die geisterhaft inmitten des Sees schwebte.
„Das ist unmöglich“, sagte Callan staunend, „das Ding sollte uns alle und den gesamten Planeten grillen.“
Fienna lächelte, „wenn der Stern aus Wasserstoff bestünde, vielleicht. Aber er strahlt keine Hitze aus, sondern pure Magie. Oder Mantianz, wie es die Wissenschaftler gerne nennen.“
„Nach allem, was ich weiß sollte das kaum besser sein“, meinte Thomas, „Meines Wissens führt Mantianz zu Mutationen. Und die sollten bei dieser Konzentration massiv sein. Das ist kaum besser als neben einem havarierten Kernkraftwerk zu stehen.“
„Nur wenn das Geflecht einer Welt nicht intakt ist“, widersprach Toran und ging neugierig ein paar Schritte durch das flache, viskose Wasser, bis er die Magiesonne fast berühren konnte, „wenn doch, ist es sicher. Und für diese Annahme gibt es Argumente. Das Inmertra brennt seit Jahrhunderten, ohne etwas Schlimmes zu bewirken. Ganz im Gegenteil sogar.“
„Das stimmt“, pflichtete ihm Fienna bei, „es gibt kaum ein stabileres Geflecht als das von Cestralia. Ihr braucht euch keine Sorgen zu machen.“
„Was ist dann mit dem Gras?“, widersprach Thomas, „es bewegt sich, oder nicht? Diese Edelsteine verhalten sich ebenfalls komisch. Sie verändern ihre Form und die Farben … manche dieser Farben gibt es eigentlich gar nicht. Das Wasser fließt viel zu langsam und manchmal rückwärts. Und erst die Bäume …“
Er zeigte auf zehn große, silberne Bäume mit beinah astlosen Stämmen, deren gläsern scheinende Kronen hoch aufragten und von denen sich tauartige Netze wie klebrige Vorhänge bis zum Boden spannten. Zusammen bildeten sie eine Art Kuppel, die die gesamte Lichtung umgab.
„Natürlich verändert die Magie die Dinge“, sagte Fienna, „das tut sie auf unserem gesamten Planeten. Aber hier ganz besonders. Doch sie verändert sie nicht gegen ihren Willen. Sie schafft nur Möglichkeiten. Die Pflanzen, das Wasser, die Steine, die Wasserkreaturen, sie alle können sich ausleben, spielen, ausprobieren, ihr Wesen erkunden. Genau wie wir. Das hier ist ein Ort der Entspannung und der Sicherheit. Und diese Bäume sorgen dafür, dass es so bleibt und niemand hier so einfach hineinkommt.“
„Oder raus“, bemerkte Thomas zynisch.
„Das stimmt. Aber dafür gibt es den Tunnel, durch den wir herkamen“, antwortete Fienna.
„Wofür braucht es so einen Schutz überhaupt, wenn es bislang eine so friedliche Welt war?“, fragte Makra.
„Wir brauchten ihn bislang gar nicht“, sagte Fienna, „und die Wesen hier auch nicht. Er ist einfach da, weil die Bäume ihn entwickelt haben. Aus Kreativität, nicht aus Notwendigkeit. Es gab nichts mit feindlichen Absichten in Cestralia. Aber nun ist dieser Schutz uns von Nutzen. Selbst wenn sich ein hasserfüllter Soldat hierhin verirren sollte, wird ihm das nichts bringen.“
„Ist dies so etwas wie das Herz Cestralias?“, fragte Clary.
„Eines von zwei Herzen“, sagte Fienna, „das andere schlägt im Nebelbaum, hoch im Gebirge.“
„Sehr poetisch. Aber was sollen wir jetzt hier tun?“, fragte Thomas mürrisch.
„Ruhe finden“, antwortete nicht Fienna, sondern Nartial, der sich inzwischen die Erscheinung eines freundlichen Schlangenwesens gegeben hatte, das sich entspannt im Gras räkelte.
„Und das soll was genau bringen?“, fragte Thomas.
„Eine seltsame Frage für einen Dichter“, bemerkte Scynra.
„Entspannung kann viel produktiver sein als jede Hektik“, meinte Nartial.
„Solche Sätze hätte man in Deovan nicht mal als Werbebotschaft rausgehauen“, sagte Callan lachend.
„Ich weiß nicht, ob ich in der Stimmung für ein Mittagsschläfchen bin“, sagte Makra scherzhaft schmollend.
„Tut das, was ihr wollt“, riet Fienna, „und denkt einmal nicht an die Konsequenzen, es sei denn sie würden anderen schaden. Schämt euch nicht, überlegt nicht. Seid einfach.“
„Gilt das nicht nur für Clary?“, fragte Callan etwas verlegen, „immerhin muss sie ja ihre Mentravia antreten, nicht wir.“
„Eines solltet ihr begreifen“, antwortete Fienna, „Glück wächst nicht auf kargen Böden. Nur wenn die um euch herum glücklich sind, könnt ihr es auch sein.“
„Und für solch eine Messsage hätte man uns in Deovan erschossen“, sagte Toran und zwinkerte Callan zu.
„Ihr seid nicht mehr dort“, erinnerte Fienna, „legt die Gedanken an eure düsteren Heimatwelten ab, so wie an alles, was ihr dort erlebt habt. An vergangenen Schmerz und erlittene Folter. Und auch an all das Leid, das seinen Weg hierhin gefunden hat. Es wird nicht von Dauer sein. Es ist eine kleine Wolke vor einer unbelasteten Sonne und dahinter strahlt alles so hell wie gewohnt. Legt euch nieder und erfahrt es selbst. Legt euch ins Gras und hört Cestralia atmen. Oder wandelt auf seinen Straßen dorthin, wo es euch gefällt.“
Mit diesen Worten zog sich Fienna gänzlich aus, ging zu Nartial und schmiegte sich an ihn, woraufhin dieser wieder seine plüschige Form annahm. Mehr jedoch taten sie nicht. Sie genossen einfach nur die Nähe des anderen und ließen sich im Gras nieder.
„Was für ein grotesker Hippie-Scheiß!“, fluchte Thomas.
„Was ist nur los mit dir, Thomas? Für einen Literaten hast du wirklich verdammt wenig Sinn für Romantik“, bemerkte Gesunderin, „und das sage ich als Medizinerin.“
„Was du sagst, interessiert mich einen Scheiß“, sagte Thomas, „und ich muss es mir auch nicht anhören. Ich soll tun, was ich will? Gut, dann halte ich Abstand von euch!“
Mit diesen Worten ging Thomas zu einem der stärker von Sträuchern umgebenen Grenzbäume und betrachtete ihre Netze mit einem missmutigen Blick, während er sich an einen der Stämme lehnte.
Scynra zuckte mit den Schultern, legte sich hin, jedoch ohne ihre Kleidung abzulegen und blickte hinauf in die fremden, sanften Sterne, während sie ihr Skalpell beiläufig geschickt in der Hand jonglierte so als wäre es eine harmlose Meditationsübung.
Callan hingegen blieb stehen, zog jedoch seine Schuhe aus, um das Gras seine Fußsohlen kitzeln zu lassen. Dabei bemerkte er erst, das dort winzige, leuchtende Kreaturen herumkrochen, die mit ihren feinen Beinchen und den dunklen onyxfarbenen Kernen ganz entfernt an eine Mischung aus Insekten und riesigen Einzellern erinnerten. Aber er empfand keinen Ekel, zumal er feststellte, dass die Tiere ihm nicht zu nahe kamen, sondern sich so selbstverständlich von seiner Präsenz verdrängen ließen wie Wasser. Das Kribbeln, das er auf der Haut spürte, kam auch nicht von ihnen, sondern wahrscheinlich vom Knistern der belebenden Magie, die alle seine Sinne zu schärfen und doch seinen Verstand behutsam zu betäuben schien. Doch hier machte es ihm keine Angst.
Er fühlte sich tatsächlich sicher und war wirklich gewillt, einfach nur zu sein. Callan wusste, dass die meisten Konzepte von Meditation eine Marketing-Lüge war, die ihren Weg sogar bis in die Oberschicht von Deovan gefunden hatte. Dort war sie zugleich Luxus und Geißel der Nehmer und wohlhabenderer Geber gewesen, die sich so eine Leistungssteigerung erhofft und sie in manchen Fällen vielleicht sogar bekommen hatten. Wenn auch sicher nicht proportional zu ihren hohen Investitionen in die aufgeblähten Kurse und Leitfäden. Das zumindest hatte Devell ihm einmal erzählt, die ähnliches wohl auch selbst schon ausprobiert gehabt hatte.
Callan ließ seinen Blick zu der kleinen Magiesonne schweifen, die mit ihrem fluktuierenden Glanz an die Feen-Version eines Kaminfeuers erinnerte. Sie musste über eine wirklich unbändige Kraft verfügen. Callan dachte daran, das die meisten Deovani die solch eine Energiequelle entdeckt hätten, sofort alle Hebel in Bewegung gesetzt hätten, um sie sich anzueignen, sie zu vermarkten und gleich noch jeglichen Zugang zu diesem kleinen, paradiesischen Ort zu monopolisieren. Verdammt, früher wäre er wohl selbst versucht gewesen so etwas zu tun, wenn er nur die nötigen Mittel dazu besessen hätte. Doch heute nicht mehr.
Überhaupt hatten Dominanten ihre Bedeutung eingebüßt, seit er den Dunstkreis von Deovan und den umliegenden Kolonien verlassen hatte. Er hätte sich das früher nicht mal im Traum vorstellen können, aber offenbar war Geld keine Gottheit, sondern ein Parasit. Ein Geschöpf, das nur im entsprechenden Ökosystem überleben konnte und ohne seinen Wirt, ohne Bedingungen, die seine Fortpflanzung und Wirkmächtigkeit sicherstellten, nicht gedeihen konnte. Es mochte sein, dass dieses imaginäre Wesen wieder Macht über ihn bekommen würde, falls er Cestralia verlassen musste. Aber gerade genoss er, dass es so war. Jenseits dieser Grenzen suchte (High Rise) noch immer nach ihm und seinem Geld, falls seine Heimatwelt nicht längst Vergangenheit war. Ein bisschen hoffte Callan das sogar. Aus einem System wie Deovan, in dem allein der Gedanke an Widerstand oder Veränderung an allgegenwärtiger totaler Vereinzelung scheiterte, gab es nur zwei Auswege: die Flucht – wie es ihm und Clary gelungen war – oder den Tod – wie ihn Devell gewählt hatte. Devell hätte es hier gefallen, dachte Callan lächelnd, obwohl gleichzeitig ein Schauer der Wehmut über seinen Rücken jagte. Nein, korrigierte er sich, der Tod war nie der Ausweg.
Callan atmete tief durch, sog die klare, würzige Luft in seine Lungen und stieß sie schlagartig wieder auf, als zwei starke Arme ihn fesselten. Er wollte nach seinem Pinpointer greifen, doch den hatte er ein Stück entfernt ins Gras sinken lassen.
„Widerstand ist sinnlos, ich kann dir Schmerzen zufügen, die selbst das Denken unmöglich machen“, hörte er die sanfte, aber unnachgiebige Stimme von Makra in sein Ohr flüstern, „wenn ich dich nicht berühren soll, dann sag einfach ‚Nein‘. Dann tue ich es nie wieder. Unter keinen Umständen, egal wie sehr du mich anflehst. Aber wenn nicht, … nun … erinnere dich daran, dass wir hier tun sollen, was wir wollen.“
Callans Angst nahm ein wenig ab. Doch das Adrenalin, das bereits durch sein System rauschte, suchte sich eine neue Bestimmung und fand sie in Aufregung, Vorfreude und Neugier. Seine Sinne warnten ihn, seine Erfahrungen warnten ihn. Doch er musste auch an Scynras Rat denken und an Fiennas Worte und natürlich an sein Herz, das unerhört laut klopfte. Sein Widerstand schmolz zusehends, doch noch nicht gänzlich und er blickte Hilfe suchend zu Clary, so als wäre er der hilflose Blue Mind und sie die erfahrene, abgeklärte Frau. Doch Clary beachtete ihn nicht, sondern war ins seichte Wasser des Sees gegangen, wo sie mit den dort herumspringenden Wasserkreaturen spielte.
„Was ist nun?“, hakte Makra nach und ihr langes Haar kitzelte Callans Gesicht wie die Schnüre einer Peitsche, während sich ihr schlangenhafter Körper fordernd an Callan drückte, „darf ich mich nun schmollend an einen Baum lehnen wie dieser dichtende Miesepeter oder nicht?“
„Ich bin es nicht gewohnt, Deals einzugehen, deren Bedingungen ich nicht kenne“, sagte Callan ausweichend.
„Das ist ein ständiger Aushandlungsprozess“, meinte Makra, „kein toter Fetzen Papier oder Code. Es ist eine Verhandlung unserer Körper und Seelen. Und für gewöhnlich verhandle ich gut.“
Fuck it, dachte Callan. „Dann lass uns verhandeln“, hauchte er ergeben und kaum da er die Worte ausgesprochen hatte, wirbelte Makra ihn herum und drückte ihm einen Kuss auf die Lippen, während sich ihre Nägel mit wenig Zurückhaltung in sein Fleisch krallten.
Er sah in ihre Augen, rötlich braun wie getrocknetes Blut. Sie war ein Raubtier, daran bestand kein Zweifel. Sie roch sogar danach. Auf eine subtile, nicht unangenehme Weise. Aber ihre Gier flößte ihm keine Angst ein. Oder doch … etwas vielleicht. Aber es war jene Art von Angst, die Leidenschaft näherte, anstatt sie zu ersticken.
Callan spürte einen plötzlichen Druck auf sich lasten und ehe er sich versah, lagen sie beide im Gras und er lag lebendig begraben unter ihr. Sehr lebendig, um genau zu sein. „Hast du keine Angst vor einer Infektion?“, fragte Callan mit einer letzten Regung nüchterner Vernunft.
„Ich vertraue Scynra in dieser Hinsicht“, hauchte sie, während sie seine Hose mit einer ruppigen Bewegung öffnete. Ihr Gesicht schwebte über seinem und obwohl ihre Augen sanft blieben, präsentierte sie ein gefährliches Grinsen mit makellos weißen Zähnen.
„Glaub mir, dein blöder Pilz ist längst nicht das Bedrohlichste an diesem Ort“, sagte sie und schlug Callan unvermittelt ins Gesicht bevor sie ihm etwas gab, von dem er nicht wusste, ob es ein Kuss oder ein Biss sein sollte, „und gegen mich gibt es kein Heilmittel.“
Callan fragte sich, ob er sich schämen sollte. Ob das hier richtig oder nicht eher gefährlich war. Immerhin war Makra von ihrem Wesen alles andere als harmlos oder unkompliziert. Aber er hatte sich schon übleren Gefahr gestellt. Und von allen Gefahren, in denen er sich je befunden hatte, hatte sich noch keine so gut angefühlt.
~o~
Clary blickte zu Callan und Makra. Ein klein wenig Eifersucht fühlte sie schon. Aber wirklich nur ein wenig. Sie hatte in ihrem Leben noch nie eine romantische oder sexuelle Beziehung zu einer anderen Person gehabt. Deshalb hatte sie sich automatisch ein bisschen in Callan verschossen als sie ihn getroffen hatte. Aber inzwischen hatte sie realisiert, dass da nichts Ernstes war. Callan war ein netter Kerl, trotz seiner dunklen Vergangenheit und sie mochte ihn wirklich segr. Aber er war ihr zu zynisch, zu düster, zu traurig, um sich wirklich auf ihn einzulassen. Jemand wie diese Andrin passte da viel besser zu ihm, auch wenn sie die Schlangenfrau in Stücke reißen würde, wenn sie Callan nicht guttat. Es mochte sein, dass es naiv war, albern, unreif womöglich. Aber sie suchte insgeheim noch immer nach etwas Großem, Besonderen und Wunderschönen. Nach genau der richtigen Person die sich ihr im schicksalhaften Schein eines kitschig-silbernen Momentes offenbaren würde. Ja, das war wahrscheinlich romantischer Unsinn. Aber so war ihr Wesen und Clary schwor sich zumindest auszuprobieren, ob sie diesen Traum der Realität abnötigen konnte.
Gerade gab es ohnehin schon genügend Schönheit zu bewundern. Fienna hatte keinen Unsinn erzählt. Clary spürte förmlich wie die Magiesonne und die Mystik dieses Ortes die kürzlich erlittenen Gräuel von ihrer Seele brannten. Wie sie ruhiger und entspannter wurde, während die mal pfeilförmigen, mal flachen, mal fast nebelartigen Wasserkreaturen mit ihren Fingern spielten, sie neckten, anstupsen oder sanft daran knabberten. Einige von ihnen hatten Schuppen, andere glatte, amphibienartige Haut, manche sogar Fell oder Federn und wieder andere änderten ihre Form und ihre Farbe mit jeder ihrer Schwimmbewegungen. Dabei fing Clary Emotions- und Gedankenfetzen von ihnen auf. Sie handelten von Spielfreude, Erkundungslust und tiefer Zufriedenheit, aber manchmal auch von seltsamen fernen Gestaden so als würden diese Geschöpfe ihre eigene Form von Mentravia erleben und Nacht für Nacht durch den Zwischenraum schwimmen, immer auf der Suche nach einer neuen, aufregenden Abzweigung, die sie nehmen konnten.
In diesen Dingen war Clary den Wasserwesen nicht unähnlich. Auch sie war von Neugier getrieben und die richtete sich ganz besonders auf den ungewöhnlich trägen Wasserfall der hinter der kleinen Sonne verborgen war. Da sie spürte, dass sie trotz der entspannten Atmosphäre noch nicht so weit war sich auf jene besondere Mentravia einzulassen, die alle von ihr verlangten, beschloss sie, dieser Neugier nachzugeben. Immerhin hatte Fienna sie doch ermutigt ihren Impulsen zu folgen.
Und so ließ sie die Wasserkreaturen zurück, auch wenn es ihr schwerfiel, ganz besonders, da sie ihre Hand noch immer fordernd anstupsten und umrundete den Ball aus konzentrierter Magie. Aus dieser geringen Distanz überspülte sie das Objekt mit einer Welle statistischer Elektrizität, die zwar harmlos war, aber ihr sämtliche Haare buchstäblich zu Berge stehen ließ. Nicht nur an Armen und Beinen, sondern auch auf ihrem Kopf, was ihr ein Schmunzeln entlockte, als sie ihr Spiegelbild im Wasser betrachtete. Schließlich jedoch erreichte sie den Wasserfall, der mit seinem selbst aus dieser unmittelbaren Nähe nicht in ihren Ohren donnerte, sondern vielmehr zärtlich darin rauschte.
Zunächst sah sie auch in dem Viskosen, fast öligen Wasser ihre Spiegelung, aber dann verblasste dieses Bild und sie erblickte ihr altes Zimmer in Deovan. Sie hatten es immer ihr „Traumzimmer“ genannt. Und das passte sehr gut, denn es war nicht nur gefüllt mit Büchern und Bildschirm die von Abenteuern und Wundern berichteten oder Bilder aus diesen Geschichten zeigten, sondern auch mit entsprechenden Skulpturen und Stofftieren. Stets hatte ein angenehmer, fruchtig-herber Duft in der Luft gelegen, der sich im Jahresverlauf nur um Nuancen verändert hatte, nur um dann irgendwann wieder bei seinem Ursprung anzukommen. Die Möbel waren bequem und weich gewesen und zwischen dem Sammelsurium an Sagengestalten hatte ihre „Mutter“ immer kleine, verschnörkelte und stets ermunternde Botschaften Ihrer platziert. „Was auch passiert, ich bin für dich da!“, „Du bist das tollste Mädchen, das man sich wünschen kann“ oder „Es gibt keine stärkere Macht als die Liebe“ hatte dort gestanden. Diese Worte hatten oft in Clarys Kopf widergehallt, wann immer sie ihre Mutter getroffen und sie lächeln gesehen hatte. Vielleicht war es auch der Glanz solcher schönen Worte, der die kaum merkliche Distanz in ihren Berührungen und die Kälte in ihren Augen verborgen gehalten hatte. Jene Kälte, die an dem Tag als sie Clary auf die Straße gesetzt hatte, mehr als offenkundig geworden war.
Ihre Mutter hatte nicht gehässig gewirkt. Nicht schadenfroh. Eher erleichtert, so als wäre die leidige Last dieses albernen Schauspiels nach all den Jahren endlich von ihr genommen worden.
Wenn sie an all dies dachte, wollte sie den Wasserfall eigentlich gar nicht mehr durchschreiten. Aber sie tat es trotzdem. Die Neugier war stärker. Und so trat sie durch den wässrigen Schleier ihrer Vergangenheit, wobei sich Tränen und träges Wasser auf ihrem Gesicht vermischten.
Clary hatte eigentlich damit gerechnet, dass sich die seltsame Illusion hinter dem Wasserfall verflüchtigen würde, sobald sie ihn dursch. Aber das war nicht der Fall.
Sie war aber auch nicht in ihrem Zimmer, sondern in einer Höhle, deren Wände von schimmernden, purpurnen Kristallen und blassblauen Blüten übersät waren, die auch den Boden überdeckten und ihn in einen weichen, flauschigen Teppich verwandelten.
Und inmitten dieses lebendigen Teppichs saß ihre Mutter im Schneidersitz. Doch sie trug nicht die strenge Konzernfrisur, die sie damals immer schon ein ganz kleines bisschen aus der Immersion ihres aus Lügen gebauten Lebens gerissen hatte. Stattdessen fielen ihre Haare jetzt offen über ihre Schultern und anstelle eines Anzugs trug sie ein luftiges, legeres gelbes T-Shirt und eine lockere blaue Hose, die ihre nackten Füße halb bedeckte. All diese Dinge passten eigentlich nicht zu ihrer Mutter. Ganz anders als ihr Gesicht. Dieses wissende, scharf geschnittene Gesicht würde sie niemals wieder vergessen. Selbst wenn das Lächeln darauf nie so unverkrampft und echt gewesen war, wie jetzt, in diesem Augenblick.
Ein heftiges Zittern ging durch Clarys Körper und die Tränen flossen nun so beiläufig und doch unausweichlich wie Schweiß aus ihren Augen, während sie sich der Kreatur, dem Geist, der Luftspiegelung näherte, von der sie wusste, dass sie nicht ihre Mutter sein konnte.
Clary setzte sich neben sie, auch wenn es sie einige Überwindung kostete. Sie spürte irgendwie, dass es keine so schlechte Idee war, wie man meinen konnte. Und ihre vermeintliche Mutter sah zu ihr. Ihr Blick vertraut. So vertraut, dass es Clary schauderte.
„Was bist du?“, fragte Clary, „eine Illusion? Ein Wunschtraum?“
„Ja“, sagte ihre ‚Mutter‘, „aber nicht deiner. Ich bin gewissermaßen ihr Traum. Eine Möglichkeit, die nie realisiert werden durfte. Eine Möglichkeit, von der sie nicht einmal wusste. Die sie höchstens ahnte.“
„Also stammst du nicht aus meinen Erinnerungen, sondern aus ihren? Oder sogar aus ihren Gedanken?“, fragte Clary überrascht, „denkt sie an mich? Bereut sie, was sie getan hat?“
Das Mutterwesen schüttelte den Kopf und ihre Haare peitschten dabei wild und ungezügelt umher und blieben unordentlich, ja geradezu unvorteilhaft auf Schulter und Gesicht liegen. Ihre echte Mutter hätte das nie geduldet. Sie war immer perfekt gestylt gewesen. Etwas Trauer schlich sich auf das gütige Gesicht der Frau als sie auf ihre Frage antwortete. „Ein Teil von ihr sicherlich, aber ihr Alltagsverstand, ihr Bewusstsein hat dich längst vergessen und stellt sich anderen Herausforderungen. Es tut mir leid, liebes.“
Clary schluckte. Mit so einer Härte und Offenheit hätte sie nicht gerechnet. Das Mutterding spürte ihren Schmerz und kam näher. Ihre Hand berührte ihren Nacken. Eine Hand, die von Haut überspannt sein mochte oder auch von Blütenblättern. Genau ließ es sich nicht sagen. Nur, dass die Berührung Clary Trost spendete. Zumindest ein wenig.
„Warum hat mich Fienna hierhergebracht, wenn hier nur solche grausamen Erkenntnisse auf mich warten?“, sprach sie ihren Ärger laut aus, auch wenn sie vermutete, dass ihr gegenüber – von welchem Geist auch immer es beseelt sein mochte nichts davon verstand. Meint sie wirklich, ich könnte mich besser entspannen, wenn ich merke wie vollkommen egal ich meiner Mutter bin, dachte Clary.
Die Hand ihrer falschen Mutter streichelte und sie hauchte ihr einen mütterlichen Kuss auf die Stirn, der den Duft der Blüten mit sich trug. „Manchmal ist es heilsam die Wahrheit zu begreifen. Aber es sollte die ganze Wahrheit sein. Nicht nur ihr bitterer Anteil. Zynismus bietet keinen realistischen Blick auf die Welt, weißt du?“
„Was bitte soll an all dem gut sein?!“, entfuhr es Clary und es war beinah ein Schrei, bei dem sie ihre Fingernägel fest in ihre Handflächen krallte, „etwa du? Eine weitere schöne Lüge? Ein Wesen aus Schall und Rauch und Blüten?“
„Ich bin mehr als das“, sagte das Mutterwesen, „ich BIN deine Mutter. Mehr als die, die du kanntest. Ich bin ihr Urselbst. Und ich habe dein Leben stets verfolgt.“
Clary hatte von dieser religiösen Vorstellung der Cestral gehört. Aber sie hatte sie für eine schöne Geschichte gehalten wie so viele andere religiöse Menschen sie sich selbst erzählen. Sollte diese Legen nun tatsächlich war sein? Clary wollte darüber lachen. Sie wollte diese Vorstellung verhöhnen. Aber welcher Gewinn lag darin? Wenn es einen Moment gab, sich schönen Illusionen hinzugeben, dann wohl doch gerade diesen. Immerhin waren sie alle, war ganz Cestralia darauf angewiesen, das Clary sich in ihrer Haut wohlfühlte. Und welchen Schaden richtete ein Märchenglaube schon an, solange man seine Handlungen nicht daran ausrichtete?
„Ich hörte davon“, sagte sie nur, „jedes Wesen im Multiversum soll nach den Legenden der Cestral so ein Selbst haben. Aber warum bist du hier? Und was willst du von mir?“
„Ich will dir zeigen, wie Aldeen hätte sein können, wenn sie in einer anderen Welt für dich gesorgt hätte“, sagte das Urselbst.
Es klang vielleicht absurd, aber diesen Namen hatte Clary in ihrem gesamten Leben nicht gehört. Sie hatte ihre Mutter immer nur ‚Mutter‘ genannt und wann immer sie ise nach einem Namen gefragt hatte, war sie freundlich ausgewichen. Jetzt, in der Rückschau kam ihr das umso seltsamer vor. War das eine Strategie gewesen? Hatte sie damit künstlich eine größere emotionale Distanz zu ihr aufbauen wollen?
„Wozu soll das gut sein?“, fragte Clary, „willst du ihr Handeln etwa rechtfertigen? Sie hätte mich auf der Straße verrecken lassen. Ohne jedes Zögern. Ohne Geld, ohne jegliche Chance mich am Leben zu erhalten. Willst du etwa sagen, dass sie daran keine Schuld trägt?“
Aldeen schüttelte den Kopf, „Nein, das sicher nicht. Wir alle können uns so oder so entscheiden. Aber manche Entscheidungskorridore sind enger als andere. Kultur, Gesetze, Regeln, sie alle schränken unser Handeln ein. Du willst doch nicht behaupten, dass man die Taten eines Deovani, der ständig um sein Überleben kämpft und eines Cestral, der in einer – zumindest bis vor kurzem – utopischen Welt aufwächst, moralisch nach denselben Maßstäben beurteilen kann. Das wäre, als würde man in einem Wettrennen einige Läufer mit Gewichten ausstatten und andere nicht und sie dennoch gleich bewerten. Hieltest du das für fair?“
„Callan lebte auch in Cestral. Dennoch ist er kein so kaltes Monster wie meine Mutter“, meinte Clary.
„Das stimmt. Aber er hatte Glück gehabt“, sagte Aldeen, „andernfalls wäre er inzwischen tot oder hätte sich angepasst und aufgegeben. So wie die meisten.“
„Selbst wenn das so ist? Welche Lehre soll ich daraus ziehen? Soll ich meiner Mutter etwa danken für ihre Rolle in diesem grausamen Spiel?“, fragte Clary bitter, „soll ich ihr etwa verzeihen?“
„Nein, das musst du nicht“, sagte Aldeen lächelnd, „das könnte niemand verlangen. Schon gar nicht ich. Oder sie. Du sollst nur erkennen, dass du wertgeschätzt wurdest. Die ganze Zeit. Es ist ihr schwergefallen dich zu verstoßen, auch wenn du das vielleicht nicht glauben magst. Sie war stolz auf dich, auf deine Erzählungen gewesen, die du euren Gästen dargebracht hast. Sehr stolz sogar, und das nicht nur wie auf ein erfolgreiches Produkt. Das kannst du mir glauben. Auch wenn sie es sich nicht eingestehen konnte. Und an einem anderen Ort. In einer anderen Welt, da hätte sie es dir auch gezeigt. Da hätte sie dich wirklich lieben können.“
Clary war noch immer nicht sicher was sie davon halten sollte. Aber die Worte taten gut, erreichten einen Punkt ihrer Seele, der seit jenem grausamen Tag eiterte und verschorfte. Aldeen schien das zu spüren. Sie kam näher und schloss sie mütterlich in die Armee. Diesmal spürte Clary weniger Blüten als vielmehr nackte, ehrliche Haut.
„Du bist wertvoll“, flüsterte das Urselbst ihrer Mutter, „Wertvoller als alle Dominanten dieser Welt.“
Clary schauderte und sie spürte, wie die Krusten ihrer Seele abfielen und endlich, endlich wahre Tränen bluteten. Clary lächelte schmerzhaft schön und erwiderte die Umarmung ihrer ‚Mutter‘ so fest sie nur konnte.
~o~
Als sie aufhörte zu weinen, war Clary allein. Ganz allein, abgesehen von einem stummen Haufen Blumen, die wie ein Trauerbouquet in ihren Armen lagen. Doch trotzdem fühlte sie sich gut. Erleichtert und sichrer wie seit langem nicht mehr.
Es war nicht alles gut in ihr, nicht alles geheilt. Aber das Wissen, dass sie alles wusste und sich damit nicht endlos beschissen fühlte, war unglaublich erhebend, aufregend, frei.
Nun, da war sie sicher, würde sie in der Lage sein, die Dunkelheit aus ihrer Vorstellung zu vertreiben. Clary schloss die Augen und erschuf sich eine neue, bessere Welt.
~o~
„Es ist äußerst praktisch, dass dein Körper zumindest manche Wunden so rasch heilt“, meinte Makra, „bei Garnenn musste ich mich am Ende stets um die Wundversorgung kümmern. Ich habe es gern gemacht, aber es war zeitraubend.“
„Ich habe Schlimmeres erlebt“, sagte Callan, „und für gewöhnlich tat es einfach nur weh. In diesem Fall … nicht nur.“
„Welch ein Kompliment“, sagte Makra kichernd, „dein Marktwert in Deovan muss hoch gewesen sein, so charmant wie du bist.“
„Mein Marktwert war beschissen“, sagte Callan trocken.
„Und doch wärst du jetzt in der Lage, dir einfach alles zu kaufen, nach dem was man so hört“, neckte ihn Marka, „selbst den Partner, den du begehrst.“
„In Deovan könnte ich das vielleicht“, sinnierte Callan, der äußerst dankbar war, dass die Magie dieses Ortes sie während ihres intimen aber nicht sonderlich privaten Aktes etwa einen Meter in die Luft gehoben hatte, wo sie noch immer wie auf einem Luftkissen ruhten. Wenn das Gras die noch immer empfindliche Haut auf seinem Rücken berührt hätte, hätte ihn das wahrscheinlich zum Heulen gebracht. Wenn die Lust fehlte, war der Schmerz einfach nur Schmerz, „aber auch dort wäre es nicht so einfach. Selbst unter den besten Bedingungen. Du kannst alles kaufen, außer Freiwilligkeit. Und es gibt nichts, was das Ego mehr streichelt, als wenn jemand ohne Zwang bei einem bleibt. Außer vielleicht, wenn er dabei auch noch wirklich glücklich ist. Das kickt so richtig rein.“
„Weise Worte“, sagte Makra mit ernster Stimme aber einem neckenden Lächeln, „auch wenn Zwang und Freiwilligkeit sich nicht ausschließen müssen. Aber ich weiß, worauf du hinauswillst. Geteiltes Glück ist wertvoll. Und Geborgenheit auch. Das zählt mehr als romantischer Kitsch und hohle Schwüre. Dennoch schwöre ich dir eins: Ich werde dich so richtig auseinandernehmen, wenn wir etwas Zeit und Privatsphäre haben.“
„Ich bin ein kranker Mann“, sagte Callan mit gespielter Empörung und lehnte sich zurück, da er inzwischen die Angst überwunden hatte, plötzlich doch hart auf dem Boden aufzuschlagen.
„Nicht halb so krank wie ich“, sagte Makra, verpasste Callan eine … nun … liebevolle Ohrfeige und schmiegte sich dann schlangenhaft an, während seine Arme ihn umfassten wie Fesseln.
Callan grinste, während er zum leicht bewölkten Nachthimmel emporschaute und seine Lider langsam schwer wurden. Er wusste noch immer nicht, was er von dieser Verbindung halten sollte. Aber was immer es war, gerade war es gut.
~o~
Thomas war eingeschlafen. Wie lange er geschlafen hatte, wusste er nicht, aber jedenfalls lang genug, um Rückenschmerzen von der harten Baumwurzel zu bekommen und offenbar nicht lange genug, damit diese Blue Mind ihre absurde Traumtänzerei beginnen konnte.
Es war schon seltsam. Früher wäre er vor Glück quasi kollabiert, wenn er an einem solchen Ort erwacht wäre. Er hätte sich gekniffen, seine Finger gezählt, sich die Nase zugehalten und dutzend weiterer Reality Checks gemacht, wie in den luziden Träumen, die ihm vor seinem Sturz in die Dunkelheit gelungen waren und in denen er fieberhaft nach diesem Ort gesucht hatte.
Nun hatte er ihn gefunden und er hasste ihn. Nein, das war nicht richtig. Er spürte gar nichts. Noch immer nicht. Obwohl er auf eine magische Heilung von dieser trüben, gleichförmigen Gefühllosigkeit gesucht hatte, die ihm schon seine letzte Zeit auf der Erde zur Hölle gemacht hatte. Man nimmt sich immer mit, egal wohin man geht, dachte Thomas. Scheiß Kalenderspruch. Und noch beschissener, dass er wahr war.
Ja, es war wirklich verdammt ironisch. Da hatte er sich seit seiner Kindheit in Sehnsucht verloren, war durch Weltschmerz getaucht, durch die verworrensten Ausläufer der Fantasie gewandelt und hatte nebenbei ein passables schriftstellerisches Talent entwickelt, während er wie im Wahn nach jenem Paradies geforscht hatte, auf dessen Boden er nun saß. Alles nur, damit ihn Existenzangst, Erfolglosigkeit und Selbstzweifel am Ende als depressiven, zynischen Klumpen Blei und Misanthropie in Cestralia ausspuckten. Großartig. Wirklich witzig. Wenn es einen Gott gab, war er ein sadistischer Pisser.
Es sollte einen Autor geben, der diese bittere Reise dokumentieren konnte. Vielleicht könnte man sogar ein nettes Drehbuch daraus machen. Aber hier gab es nur ihn. Einen von Selbsthass zerfressenen Versager, der seit vielen Monaten nichts mehr zu Papier gebracht hatte, was ihn oder gar andere überzeugen konnte. Dennoch hatte ihn das Schreiben abgelenkt. Von sich selbst und von dem kalten, genervten Zorn, den er allem und jedem gegenüber hegte. Thomas wollte einfach nur weg. Und dennoch saß er in diesem lauschigen Freiluft-Hippie-Gefängnis fest und sah den anderen dabei zu, wie sie ihn mit Kitsch, Geilheit, Licht und Liebe zudröhnten. Es war nicht auszuhalten.
So wenig, dass er schon bald wieder die Augen schloss. Er war nicht müde, aber wenn er die Welt zumindest nicht sehen musste, fühlte es sich etwas besser an. Kaum da er die Augen geschlossen hatte, vernahm er jedoch das leise Geräusch von Schritten ganz in seiner Nähe. So leise, dass er sicher war, dass es all den Glücksbesoffenen um ihn herum niemals auffgefallen wäre. Dafür gab es zwei Erklärungen:
Entweder, Fienna hatte sich geirrt und die Cestral-Soldaten, die sie im Untergrund zurückgelassen hatten, hatten ihre faschistischen Gelüste nicht doch in den beruhigenden Nebeln abgelegt und sich entschlossen ihre kleine spirituelle Orgie in ein Schlachtfest zu verwandeln. Oder aber jemand aus ihrer eigenen Gruppe suchte nach einem Weg, die Lichtung zu verlassen. Und da Fienna ziemlich deutlich klargemacht hatte, dass es hier kein Durchkommen gab, konnte auch das nur zweierlei bedeuten. Sie hatte entweder gelogen und verließ sie nun um irgendeinen Arschloch-Move vorzubereiten oder jemand anders glaubte ihren Worten nicht und hatte einen Plan entwickelt, um hier rauszukommen.
Was auch immer der Fall war: Thomas hielt es für das Beste, sich schlafend zu stellen. Er war kein Kämpfer und war für seinen Geschmack schon in genügend körperliche Auseinandersetzungen reingezogen worden. Um sich ein weiteres Mal zu wehren, fehlte ihm auch einfach der Lebenswille. Falls ihn jemand im Schlaf meucheln oder ihn verschleppen wollte, war das eben so. Schlimmer konnte es kaum werden, oder? Und falls ihm der „Schleicher“ wie er den Unbekannten bei sich nannte, nach dem Leben trachtete … Tja, dann konnte das zumindest noch interessant werden.
Die Schritte hatten inzwischen aufgehört. Dafür spürte er warmen Atem in seinem Nacken und dann die prüfende Berührung einer Hand auf seiner Haut. Thomas behielt seine Reflexe unter Kontrolle und hoffte, dass der „Schleicher“ zu dumm war, um schlafende Personen von solchen unterscheiden zu können, die nur simulierten. Sollte es sich bei ihm um Scynra handeln, hätte er wohl keine Chance mit seiner Scharade durchzukommen. Die Gesunderin würde seine körperlichen Signale ganz sicher richtig einordnen können. Aber offensichtlich fehlte dem „Schleicher“ das nötige Feingespür. Denn der warme, feuchte Atem pustete schon bald nicht mehr seinen Nacken an und die Schritte bewegten sich von ihm fort. Dann vernahm Thomas ein seltsames, organisches Geräusch, gefolgt von einem flirrenden Knistern und schließlich einem Laut, der wie das Platzen einer überdimensionierten Seifenblase klang.
„Perfekt“, vernahm er ein sehr leises, aber unendlich selbstzufriedenes Murmeln. Er kannte diese Stimme. Sie gehörte Toran. Und das ergab Sinn. Immerhin war er der einzige außer ihm gewesen, sich nicht dem Vergnügen hingegeben hatte.
Was hatte dieser Mistkerl vor? Eigentlich konnte ihm das egal sein, aber so ziemlich das letzte Gefühl, das noch nicht gänzlich von Thomas Todessehnsucht begraben worden war, war seine Neugier. Ja, er würde dem Mann folgen. Und er würde es allein tun. Dass es gefährlich war, war ihm bewusst. Aber vielleicht konnte ein solches Risiko die verfluchte Leere aus ihm vertreiben. Und wenn nicht, dann starb er wenigstens nicht schmollend auf dieser Lichtung, die nach Schweiß, naiven Träumen und Sperma stank.
Thomas wartete ab und erhob sich erst als sich Torans Schritte deutlich, aber noch nicht zu weit von ihm entfernt hatten. Er „erwachte“ dabei keinen Moment zu früh. Denn das ausgefranste Loch, welches Thomas auf welche Weise auch immer in das Netz gerissen hatte und aus dem silbriges Baumblut tropfte, begann bereits wieder damit, sich zu schließen. Thomas zögerte nicht. Er stand leise auf, quetschte sich seitwärts durch die Öffnung und nahm Torans Spur auf. Sollten die anderen der Schlafwandlerin folgen oder sich in ihrer Oase austoben. Das war ihm gleich. Er hatte nun seine eigene Mission.
~o~
Wie schon bei ihrem ersten Versuch war auch Ort, der sich jetzt vor Clarys Augen manifestierte, Cestralia nicht ganz unähnlich. Zumindest jenem Cestralia wie es vor Adrians Ankunft gewesen war. Ein schöner, friedlicher harmonischer Ort mit reichem pflanzlichen und einigem tierischen Leben. Und dennoch war er auch anders. Trotz der sie umgebenden Bäume und des kleinen Wasserfalls, der zumindest ein wenig die Struktur der physischen Welt spiegelte, die sie hinter sich gelassen hatte.
Wo in Cestralia ewiges Mondlicht herrschte, war es an diesem Ort taghell und eines sanfte, gelblich weiße Sonne stand am Himmel. Anstelle der dichten, geheimnisvollen schimmernden Bäume dominierte hügeliges Grasland mit vereinzelt aufragenden Bäumen und kleinen Feldern voll violetter und roter Blumen. Auch die Bäume waren von purpurner Farbe und dicht belaubt und standen wie einsame lauschige Schattenspender oder in kleinen, verschwörerischen Grüppchen beieinander, was der Szenerie mehr Ähnlichkeit mit einem Schlosspark als mit urtümlicher wilder Vegetation verlieh. Dieser Eindruck wurde verstärkt durch die ordentlich angelegten, sonnenbeschienen Pfade, die sich wie ein liebevoll gestochenes Tattoo durch die Landschaft schnitten. sowie durch einen hübschen Brunnen aus hellem Stein, direkt zu ihrer Rechten, in dem klares, sauberes Wasser stand und durch kleine, weiße verzierte Zaunabschnitte und Bänke, die wie Zuckerdekor in der Landschaft verstreut waren.
Noch markanter war jedoch das ferne Märchenschloss im Osten, mit seinen silbernen Türmchen, das sich hinter einer Reihe schmaler, seichter Flüsse mit marmornen Brücken an den blauen, aber an den Rändern leicht rötlich schimmernden Himmel lehnte. Dennoch war auch dieses Schloss nicht dass Auffälligste in ihrer Vision, genauso wenig, wie das idyllische Dorf, das sich noch weiter östlich mit seinen unpassend modernen Gebäuden aus Glas und Beton in der Landschaft entfaltete.
Dieses Prädikat verdiente wohl eher der Wasserfall aus Wolken, der sich im Westen aus einem kreisrunden Loch im Himmel ergoss und den Boden mit flüchtigem Nebel flutete. Oder vielleicht auch der Ring aus schwebenden Steinen, der im Norden um den Körper einer riesenhaften, schlafenden Frau kreiste. Einer Frau, die in ihrem Traum ein entspanntes zufriedenes Lächeln zur Schau trug, die jedoch zum Glück keine Ähnlichkeit mit Clary besaß. Dadurch erwartete sie immerhin nicht von ihr bestürmt und überrannt zu werden, wie es das Gesicht in ihrer letzten Vision getan hatte. Ohnehin war sie sich unsicher, ob dieses Geschöpf lebte oder ob es sich lediglich um eine sehr lebensecht aussehende Statue handelte. Doch wie die Antwort auf diese Frage auch lauten mochte – Leben gab es hier so oder so.
Jenseits der Pflanzen war es jedoch spärlich und beschränkte sich auf feingliedrige Insekten mit bunten Flügeln und langen Rüsseln, die sich am Duft und Nektar der Blumen berauschten und auf vereinzelte, majestätische, rote Vögel, deren goldene Schnäbel sich vor allem den reifen Früchten der Bäume widmeten, aber die auch einem gelegentlichen Insektenhappen nicht ganz abgeneigt waren.
Diese Tiere gingen Clary allesamt aus dem Weg und suchten das Weite, wann immer sie nach ihnen greifen wollte. Weit weniger scheu war da das Geschöpf zu Clarys Füßen. Es war ein Comforter. Eine spezielle Züchtung aus Deovan, die Merkmale von Echsen und Säugetieren miteinander vereinte, weswegen sie auch als „Drachenhunde“ bekannt waren. Sie besaßen einen flauschigen Kopf aus dem fledermausartige Ohren ragten. Eine platte, längliche und fellbedeckte Schnauze, vier große, sanfte Kulleraugen und eine langen, weiche Zunge. Ihr Körper wurde getragen von sechs kräftigeb Beinen, die in breiten, ledrigen Echsenfüßen mündeten und deren warme Haut ähnlich schuppig war, wie die Unterseite ihres Bauches. Hinzu kam ein langer, kräftigen Schwanz, der am Ende mit kleinen, stumpfen Dornen besetzt war und ein Rücken, dessen Fell einen farblosen, subtil, aber gutriechenden Talg absonderte, der die Hände beim Streicheln pflegte und angenehm kribbelte.
Die Tiere galten als intelligent, zutraulich und sehr anhänglich und kommunizierten mit Körpersprache und melodischen Gesängen. Clary hatte immer davon geträumt, ein solches Tier an ihrer Seite zu haben. Aber ihre Mutter hatte diesen Wunsch stets mit dem Argument abgewiesen, dass Comforter äußerst selten waren und unter Artenschutz stünden. Sie seien – so hatte sie es ihr zumindest erzählt – nur in den fernen, wilden Randgebieten Deovans beheimatet und wären unglücklich, wenn sie zu weit von ihrer Heimat entfernt waren.
Clary hatte das damals geglaubt, denn es deckte sich mit den Geschichten und wissenschaftlichen Artikeln, die sie gelesen hatte. Geschichten, laut denen sich die Comforter – oder Rumarni wie man sie auch nannte – nach anfänglicher Zurückhaltung aus ihren Nestern und in die Zivilisation gewagt hatten, immer auf der Suche nach traurigen Deovani, die dringend Zuneigung brauchten und denen sie Trost spenden konnten. Heute vermutete Clary, dass die Rumarni aus einem Labor stammten, wo sie für zahlungskräftige Nehmer als Gefährten designt worden waren und dass sie schlicht zu teuer gewesen waren, um sie an einen Blue Mind wie sie zu verschwenden. Aber auch wenn dieser Gedanke vielleicht ernüchternd war, hatte Clary ihren Frieden damit gemacht. Die Comforter waren, was sie waren, egal wodurch sie entstanden sind. Immerhin waren die Deovani auch Produkte ihrer Umwelt, geschaffen, um den erfolgreicheren zu dienen und ihren Wohlstand zu mehren. Das hieß nicht automatisch, dass sie keine Seele oder keine Individualität hatten. Und selbst, wenn Clary stark vermutete, dass das Wesen, das seinen Kopf gerade sanft an ihren Unterschenkel schmiegte und sich von ihr über den befellten Rücken streichen ließ, komplett ihrer Einbildung entsprang, so gab es ihr doch ein unendlich zufriedenes, schönes Gefühl den Traum ihrer Kindheit berühren zu können und nicht allein zu sein.
Überhaupt war die Welt, die sie hier geschaffen hatte vollkommen harmonisch. Cestralia – obgleich real – war wie ein Wachtraum. Es kitzelte die Neugier, forderte die Fantasie. Dieser Ort hingegen war die Verkörperung eines friedlichen, geruhsamen, geborgenen Mittagsschlafs. Und ausgerechnet in dieser Welt musste sie die Spuren des Schreckens finden.
Das war leichter gesagt als getan. Natürlich, ein wenig erinnerte sie die Landschaft an ihren letzten, grauenhaften Versuch einer Mentravia, aber ihr fehlte jede offensichtliche Bedrohlichkeit. Jeglicher Raum für Unbehagen. Wo also sollte sie nur anfangen?
Ein Schloss wäre sicher eine gute Metapher für den Sitz des Bösen, aber die Wolkenfälle und dieses rätselhafte Frauenbildnis könnten ebenfalls ein Geheimnis verbergen. Sie hatten auf den zweiten Blick durchaus etwas Unheimliches, mysteriösen an sich, obgleich sie von hier aus einfach nur schön und friedlich wirkten. Aber war das wirklich des Rätsels Lösung? Clary ahnte, dass es mehr brauchte als eine ungute Vorahnung oder eine bloße Vermutung, um dem Planetenkrebs auf die schleimige Spur zu kommen.
Und wenn sie den falschen Weg wählte, mochte sie das sehr lange aufhalten. Denn all diese Wege waren weit und führten in ganz unterschiedliche Richtungen. Sie musste sich ihrer Sache also sicher sein, bevor sie weiterging. Doch gerade war sie das nicht. Absolut nicht. Weder ihr Geruchssinn, der ihr lediglich liebliche Frühlingsdüfte und den neutralen, höchstens etwas staubigen Fellgeruch des Comforters zutrug, noch das Betasten des Grases und der Blumen oder das genaue Absuchen ihrer Umgebung gaben ihr einen Anhaltspunkt.
„Hast du vielleicht eine Antwort für mich?“, fragte sie den Comforter und beugte sich zu ihm herunter, um ihm sanft über den flachen Kopf zu streicheln.
Das Tier antwortete nicht. Jedenfalls nicht mit Worten. Denn trotz seiner hohen Intelligenz war es der gesprochenen Sprache nicht mächtig. Aber es antwortete auf andere Weise. Nach einem kurzen, freundlichen Nasenstupser und einem schleckenden Kuss mit der rauen Zunge, die bei jeder Bewegung eine leise, beruhigende Melodie erzeugte, ließ das Haustier von ihr ab und ging voraus, den ausgetretenen Pfad vor ihr entlang. Clary wagte nicht zu hoffen, dass der Comforter den Weg kannte. Aber in einem hatte er definitiv recht: es war besser, sich erst einmal in Bewegung zu setzen. Immerhin lag noch ein Stück Wegstrecke vor ihr, bevor sich die Wege gabelten und sie sich entscheiden musste. Vielleicht würde sie bis dahin einen Hinweis bekommen.
~o~
„Ich hoffe, ihr beiden hattet einen schönen Schlaf“, wühlte sich Fiennas Stimme durch Callans wirren, unzusammenhängenden Traumschleier. Er lag noch immer in Makras besitzergreifenden Armen und war froh, dass sein Schamempfinden noch geringer war als sein Schmerzempfinden. Im Gegensatz zu ihnen beiden hatte sich Fienna nämlich inzwischen wieder angekleidet.
Callan brummte lediglich. Nicht aus schlechter Laune heraus, im Gegenteil, er war sogar ziemlich gut gelaunt, aber der Schlaf schwamm noch immer in seinen Gehirnwindungen und machte ihn wortkarg.
„Deine Freundin Clary jedenfalls ist schon auf den Beinen und scheint eine Spur gefunden zu haben“, ergänzte Fienna, „vor wenigen Augenblicken hat sie die Lichtung verlassen. Wir müssen uns also beeilen, wenn wir ihre Spur nicht verlieren wollen.“
„Wie geht das denn?“, fragte Makra laut gähnend, „hast du uns nicht erzählt, dass die Bäume niemanden durchlassen?“
„Sie spüren, dass ihre Mission wichtig ist. Dass sie in ihrem Sinne ist. Deswegen haben sie den Weg freigemacht“, antwortete Fienna, „genau darauf habe ich auch spekuliert. Aber nun schnell. Die anderen sind schon bereit zum Aufbruch. Ihr wart nur verdammt schwer wachzubekommen.“
Fienna grinste und plötzlich war Callans Nacktheit ihm doch ein wenig unangenehm. Er nickte nur und griff rasch nach seiner Hose.
„Habe ich dir erlaubt, dich anzuziehen?“, sagte Makra streng und mit so finsterer, gebieterischer Stimme, dass Callan seine Hose erschrocken wieder fallen ließ.
„Ist das dein Ernst?“, fragte er verunsichert, „… du kannst doch nicht ernsthaft wollen, dass …“
„Nun mach dir nicht ins Hemd, das du nicht mal anhast“, sagte Makra lachend, während sie ihrerseits ihren engen weißen Overall anzog, „ich will einen Partner, keine lächerliche Puppe. Bedingungslosen Gehorsam erwarte ich nur in gewissen Stunden. Wenn du also Kleidung brauchst, dann greif sie dir ruhig. Nicht, dass der Planetenkrebs noch ein unzüchtiges Interesse an dir entwickelt und ich eifersüchtig werde.“
„Du bist vollkommen wahnsinnig, weiß du das?“, sagte Callan kopfschüttelnd, auch wenn er sich ein Lachen ebenfalls nicht verkneifen konnte.
„Wahnsinn ist das Laster der Gelehrten“, sagte Makra und warf ihm einen Kuss zu, während sie ihren Reißverschluss hochzog.
~o~
„Wo sind Thomas und Toran?“, fragte Callan als sein Blick auf ihre überschaubare Gruppe fiel, die nur aus Scynra, Makra, ihm, Fienna und dem in seine humanoide Form verwandelten Nartial bestand.
„Sie waren schon weg, als ich aufgewacht bin“, sagte Scynra.
„Sind sie vielleicht zurück in den Tunnel gegangen?“, überlegte Makra.
„Möglich“, sagte Fienna, „auch wenn ich nicht weiß, warum sie das tun sollten.“
„Angst oder Verrat“, vermutete Makra, „oder auch beides. Das sind mit Abstand die häufigsten Motivationen für Fahnenflucht.“
„Wenn überhaupt wohl eher ersteres“, sagte Fienna, „aber ich mache es ihnen nicht zum Vorwurf. Niemand ist scharf darauf, sich einem Planetenkrebs zu stellen.“
„Aber andere vorschicken und von ihren Erfolgen profitieren, dazu sind sie alle bereit“, meint Scynra bitter.
„Nicht jeder ist ein Kämpfer“, sagte Callan, „und das ist auch gut so. Eine Welt die nur aus Kriegern besteht, ist fast so schlimm wie eine, die komplett von Kaufleuten bevölkert wird. Und wir haben weiß Gott schon zu viele Kämpfe auf der Welt. Doch genug geredet. Lass uns aufbrechen, sonst finden wir Clary niemals wieder.
„Ich kann sie jederzeit aufspüren, wenn nötig“, versprach Nartial, „aber du hast dennoch recht. Wir können nicht wissen, ob sie in Gefahr ist. Die Soldaten könnten uns auch hier finden. Es ist unwahrscheinlich, aber möglich.“
„Falls sie durch den Tunnel gelangen, ohne ihren fanatischen Zorn zu verlieren, werde ich sie aufhalten und verhindern, dass sie euch folgen“, versprach Fienna.
„Du kommst nicht mit uns?“, fragte Makra überrascht.
„Nein“, bestätigte Fienna.
„Ist das dein fucking Ernst?“, fragte Callan, „du willst uns allein gegen dieses Ungeheuer kämpfen lassen?“
„Das will ich nicht. Aber ich kann nicht garantieren, dass ich eure Verbündete bleibe, wenn ich diesen Ort verlasse“, sagte Fienna, „der Einfluss des Parasiten auf mich ist zu stark und er wird immer stärker. Bald kann ihn wahrscheinlich auch Nartial nicht mehr dämpfen. Nur dieser Ort allein kann das.“
„Ich verstehe“, sagte Callan schmunzelnd, um seine Unsicherheit zu überspielen, “wir treffen uns wieder hier, sobald wir die Welt gerettet haben.“
„Ich bin mir sicher, das werdet ihr“, meinte Fienna lächelnd.
~o~
Zum Glück dauerte es tatsächlich nicht lange, bis sie Clary wiederfanden, auch wenn Callans Sorge um sie sich mit jeder Sekunde ihrer Suche weiter vergrößert hatte. Kein Wunder, denn die Waldwege waren hier eng und verschlungen gewesen und der Boden hier war so voller Leben, dass sich Fußabdrücke nicht lange darauf hielten. Aber Nartial hatte Wort gehalten und als er sich für kurze Zeit in eine kleinere Flugkreatur verwandelt und sie mit charakteristischen Lauten gelotst hatte, hatten sie sie endlich aufgespürt. Lebendig, an einem Stück und mit einem entrückten Gesichtsausdruck, jedoch mit festen, selbstsicheren Schritten, fand sie sich auf dem schmalen Waldweg augenscheinlich gut zurecht, obwohl ihre Pupillen nach innen verdreht waren. Wie das funktionierte, war Callan ein Rätsel.
„Faszinierend“, sagte Makra, „zuletzt habe ich etwas Ähnliches als Mädchen in unserer Jugendakademie beobachtet. Damals, in Leidenskunde, hatten wir Versuchspersonen verschiedene Drogen verabreicht. Eine davon – sie hieß „Grinwarn“ glaube ich, führte zur vollständigen Trennung von Motorik, sinnlicher und kognitiver Wahrnehmung. Der Effekt war leider permanent gewesen und was sie mit der armen Frau danach angestellt hatten, Nein, was WIR hatten anstellen müssen, hat mir tagelange Übelkeit bereitet. Dennoch hat mich das Prinzip nie losgelassen. Als Werkzeug stumpfer, sadistischer Folter ist es geschmacklos und verachtenswert. Aber richtig angewendet und ohne permanenten Effekt könnte es ganz neue Erfahrungen bringen. Ich meine, stellt euch doch mal vor, wie es wäre, dem Körper Lust und Vergnügen zu bereiten, während man den Geist durch die richtigen Worte oder durch die Erzeugung von entsprechenden Bildern in einen Rausch der Angst versetzt. Diese Gleichzeitigkeit, dieser Widerspruch, diese absolute Ekstase angesichts tiefen Grauens … das wäre … unbeschreiblich.“
Makras Worte, getragen von ihrer hellen, begeisterten Stimme hatten bei Callan fast schon den beschriebenen Effekt. Sie stießen ihn ab und zugleich lockten sie ihn und er spürte wie sich die Lust in ihm regte, so absurd das auch war.
Beherrsch‘ dich, tadelte er sich selbst, du darfst dich in solchen kranken Fantasien verlieren. Schon gar nicht jetzt, wo du einen nüchternen Verstand brauchst und du auf Clary aufpassen musst. Makra, die ihn wissend und ein wenig auffordernd ansah und sanft seine Hand streichelte, war seiner Beherrschung allerdings nicht gerade zuträglich.
„Ein geschmackloser Vergleich“, befand Scynra, „Keine von außer verabreichte Droge würde so präzise arbeiten. Seht doch wie zuverlässig ihre Reflexe funktionieren und wie ruhig und gut abgestimmt ihre Bewegungen sind. So etwas lässt sich nur durch endogene Prozesse erreichen. Mit solchen barbarischem Gepantsche hat das nichts zu tun.“
Callan war dankbar für diesen kühlen Einwurf, da er dabei half seinen Verstand zu klären. Er beschloss, die Gelegenheit zu nutzen sich von den dunklen Trieben abzulenken, die Makra in ihm weckte. „In Deovan gibt es Drogen, mit denen die Leute hoch leistungsfähig bleiben“, warf Callan ein, „sie haben nicht mal Nebenwirkungen, wenn man das nötige Kleingeld hat.“
„Meinst du High Rise und Konsorten?“, fragte Scynra, „glaub mir, die haben Nebenwirkungen. Selbst in den Luxusvarianten. Ich hatte Zugriff auf geheime Studien. Diese Effekte sind subtil. Aber sie sind vorhanden. Fast alle Anwender leiden am Ende unter permanenter Derealisation und anderen Konsequenzen. Sie funktionieren weiter, aber sie fühlen sich noch beschissener als zuvor.“
Callan mochte sich gar nicht vorstellen, wie die Gesunderin an streng geheime Studien deovanischer Konzerne gelangt sein mochte, aber irgendwie hatte er trotzdem nicht das Gefühl, dass sie log. Und selbst wenn es anders wäre, wäre er nicht so dumm, ihre Aussage offen anzuzweifeln. Er wusste nicht, wann er ihre Hilfe wieder benötigen würde.
„Hey, scheint als wären diese körpereigenen Drogen auch nicht so astrein“, bemerkte Makra, „oder warum sonst bleibt sie jetzt einfach so stehen als hätte jemand ihr Hirn frittiert?“
„Ich glaube, sie denkt lediglich nach“, sagte Nartial, „geben wir ihr die Zeit. Immerhin ist sie keine Maschine.“
„Das stimmt“, sagte Callan, „wahrscheinlich ist niemand von uns weiter davon entfernt, eine zu sein.“
Trotz seiner Worte musste Callan sich eingestehen, dass auch er Clary zuletzt so betrachtet und behandelt hatte. Als ein fleischgewordenes Navigationssystem, über dessen Hirnchemie sich trefflich diskutieren ließ.
Getrieben vom Scham über diesen Gedanken, ließ er Makras Hand los, ging zu Clary und sah ihr ins Gesicht, das noch immer entrückt aber nun auch gleichzeitig grübelnd erschien.
„Darf ich sie berühren oder könnte sie das irritieren?“, fragte Callan Nartial, in der Hoffnung, dass er noch am ehesten eine Antwort auf diese Frage kannte.
„Das darfst du“, antwortete der Werone, „sie wird die Berührung nicht spüren, aber deine Zuwendung und Gegenwart wahrscheinlich schon.“
Callan nickte und legte Clary eine Hand auf die Schulter. „Ich hoffe, es geht dir gut“, sagte er leise, „und ich wünschte, ich wüsste, was du gerade siehst.“
~o~
Clarys Hoffnungen hatten sich nicht erfüllt. Obwohl sie inzwischen an der Wegkreuzung angelangt war, hatte sie nicht den kleinsten Makel in dieser Welt entdecken können. Der Himmel, das Gras, die Bäume, die Tiere, das alles wirkte so harmlos und friedlich wie zuvor, obwohl sie alles genauestens untersucht hatte. Es war paradox, dass dieser Umstand ihre Laune herunterzog, aber wenn man ihre Mission bedachte war das ja auch nur natürlich. Bis vor wenigen Minuten hatte sie ihre Erfolglosigkeit beinah resignieren lassen, aber inzwischen fühlte sie sich wieder motiviert und voller Tatendrang. Lag es an dem fröhlichen, anschmiegsamen Comforter-Männchen oder an etwas anderem? Clary konnte es nicht genau sagen. Sie wusste nur, dass sie sich mit einem Mal sicher und beschützt fühlte und von neuem Selbstvertrauen erfüllt war. Die Entspannung, die das mit sich brachte, führte auch dazu, dass sie erkannte, dass sie die Sache bislang ganz falsch angegangen war. Sie hatte sich in Details verloren, war hektisch von einem Objekt zum nächsten geeilt und hatte zu wenig auf die Stimmung geachtet. Doch letztlich war es genau das, worauf es ankam. Was sich falsch ANFÜHLTE, Nicht, was falsch AUSSAH.
Clary setzte sich auf die Bank, streichelte den Kopf des Comforters und lauschte der glücklichen Melodie, mit dem sich das sanfte, anschmiegsame Tier bei ihr bedankte, während es seinen Kopf auf ihren Knien ablegte. Das Geschöpf, dessen flauschiges Fell sie durch ihre Finger gleiten ließ, erinnerte sie beinah unangenehm stark an sie selbst. Ein Wesen, nur dazu geschaffen, andere zu unterhalten, abzulenken und ihre Bedürfnisse zu stillen. Nicht dazu, eigene Bedürfnisse haben zu dürfen.
Das war traurig. Verdammt traurig. Doch sie ließ diesen Gedanken rasch wieder los und ließ ihren Blick entspannt umherschweifen. Dabei achtete sie nicht auf die äußeren Dinge, sondern darauf, welches Echo sie in ihr erzeugten. Sie betrachtete die Straße, die Bäume, die Bank auf der sie saß. Und schließlich wurde sie fündig. Es war keine markante, auffällige Stelle. Nicht optisch zumindest, aber eine Stelle mitten in der Wiese, nicht weit von ihr, verschaffte ihr merkliches Unwohlsein. Noch ehe sie genauer darüber nachdenken konnte, folgte ihr Körper – oder zumindest diese Version davon – einem neugierigen Impuls.
Sie stand so plötzlich auf, dass sie den armen Comforter regelrecht erschreckte, bevor er ihr ebenfalls interessiert schnüffelnd folgte. Als sie den Ort erreichte, sah sie ganz genau hin. Doch das Gras sah genauso hübsch und harmlos aus wie an jedem anderen Fleckchen Erde in ihrer Vision. Und doch fühlte sie etwas. Nicht mehr nur rein emotional, sondern wie ein Vibrieren, wie ein Pulsieren in ihrer Hand, das stärker wurde, als sie diese Hand auf das Gras legte. Als sie das tat, erfasste sie ein tiefer, ursprünglicher Ekel, der von ihr verlangte gottverdammt wegzurennen, aber zugleich auch ein Trotz, der diesen feigen Drang verhöhnte. Clary griff in die Erde und steckte ihren Arm so tief hinein, dass er bis zum Ellenbogen darin verschwand. Sie fühlte Erdreich, erst trocken und krümelig, dann lehmig und schließlich etwas gänzlich anderes. Etwas … lebendiges. Clary erschrak und zog ihre Hand zurück. Doch bevor sie das tat, griff sie zu.
Als ihre Hand aus der Erde emporschoss und der Dreck davon abfiel, hielt sie etwas fest. Eine Ader. Hässlich schwarz, rot und grün gefärbt und dick wie ein Tigerpython, die in ihrer Hand pochte wie ein widerliches Glied. Der Ekel wurde übermächtig. Und es war nicht nur die ungewollte, sexuelle Assoziation, die für eine Frau, die noch nie mit jemand anderem außer sich selbst intim geworden war, trotzdem nicht minder unappetitlich war. Es war das Rauschen, das sie durch ihre Finger hindurch in sich spüren könnte. Es war kein Blut. Nicht nur jedenfalls. Vor allem war es Bosheit, Verzweiflung und ein lockender, vergifteter Gesang, der sie gnädigerweise nur als Vibration erreichen konnte und nicht als vollständiger Klang. Und da war noch etwas. Ein gestaltloser Hunger, so als könnte die Leere selbst sich in eine Flüssigkeit verwandeln und diese knotige Ader durchfließen, bereit irgendetwas aufzunehmen wie Blut es für gewöhnlich mit Sauerstoff tat.
Der Comforter zuckte zusammen und spuckte ein aggressives, verzweifeltes und zugleich verängstigtes Lied aus. Eine Dissonanz, in der Clary zumindest einen Splitter jener vibrierenden Melodie zu Erkennen glaubte, die in dem Gewebe gefangen war, das sie in ihrer Hand hielt.
Clary wollte das Ding loslassen. Sie wollte es unbedingt und sich danach mindestens ein Jahr lang die Hände in den klarsten Bergbächen waschen. Aber sie wusste auch, dass sie das nicht konnte. Sie sollte nach etwas Bösem in ihrer Schönheit suchen. Und sie hatte es gefunden. Statt also loszulassen, packte sie das schlangenhafte, warzig-schleimige Ding auch noch mit der anderen Hand und zog mit aller Kraft daran. Diesmal spürte sie einen Schmerz. Ein bisschen so, als hätte sie in eine Steckdose gepackt, nur nicht so intensiv. Aber sie gab nicht auf und zog weiter. Die Erde gab schließlich nach und brachte einen weiteren, grauenhaften Abschnitt der Ader zum Vorschein, wobei die nicht nur das Gras, sondern auch den östlichsten Pfad durchschnitt. Und jetzt dämmerte es Clary. Es war tatsächlich eine Ader. Und sie musste Kilometer messen. Entweder erstreckte sie sich bis zu dem idyllischen Dörfchen oder sogar bis hin zum Schloss. Genau ließ sich das noch nicht sagen.
„Ich werde es herausfinden“, flüsterte Clary, schluckte ihren Brechreiz hinunter und hangelte sich an dem Blutgefäß empor wie ein Bergsteiger oder Schiffbrüchiger an einer Rettungsleine. Nur, dass sie am Ende keine Rettung erwarten würde, sondern das genaue Gegenteil.
~o~
„Sie scheint ihren Weg gefunden zu haben“, sagte Callan erleichtert als sich Clary mit einem Mal sehr zielstrebig in Bewegung setzte.
„Oder sie läuft vor etwas davon“, meinte Makra.
„Gerade du solltest wissen, dass bloße Angst so nicht aussieht“, bemerkte Scynra
„Angst hat viele Gesichter“, sagte Makra, fügte aber nach kurzem Zögern hinzu, „dennoch hast du wahrscheinlich recht.“
„Sehr vernünftig“, meinte Scynra, „das sieht dir gar nicht ähnlich.“
„Vernünftig wäre es, wenn ihr aufhört zu streiten und wir uns stattdessen darüber Gedanken machen würden, wie wir diesen Planetenkrebs bekämpfen wollen, wenn Clary uns zu ihm geführt hat“, sagte Callan. „Fienna hat uns nicht gerade viele Hinweise mitgegeben.“
„Das liegt daran, dass ich bei euch bin“, sagte Nartial, „ich weiß, wie man es anstellt.“
„Das ist schön“, sagte Makra, „und wie?“
„Wir müssen in seinen Körper eindringen, in dessen Zentrum vorstoßen und seinen Zellkern zerlegen. Das geht aber wahrscheinlich nur, wenn Clary sich dem Krebs in ihrer Mentravia stellt“, erklärte Nartial.
„Wieso?“, fragte Scynra, „ist er sonst unverwundbar?“
„Womöglich“, sagte Nartial, „und selbst wenn nicht, würde es sehr lange dauern, ihn auf eigene Faust zu bezwingen. Und es kommt noch etwas hinzu. Wenn seine Stimme uns erreicht und wir sie zu lange hören, ist unserer Hirnchemie wie Wachs in seinen Händen. Denkbar, dass wir dann als seine Sklaven enden.“
„Das sind ja wunderbare Aussichten“, sagte Callan.
„Es sind die besten, die wir haben“, erwiderte Nartial.
„Hätten Fienna oder du Clary nicht wenigstens erklären können, was sie tun soll, bevor ihr sie auf diese Selbstmordmission geschickt habt?“, empörte sich Callan, „sie denkt doch lediglich, dass sie das Ungeheuer für uns ausfindig machen soll, nicht, dass sie sich ihm allein stellen muss. Habt ihr das einfach vergessen zu erwähnen oder ist das alles ein lustiges Spiel für euch?“
„Das ist es nicht“, sagte Nartial, „ganz und gar nicht. Im Gegenteil, ich bedauere, dass wir Clary auf diese Weise ausnutzen müssen. Aber es geht nicht anders. Sie wusste, dass es nicht ungefährlich ist und hat sich dennoch bereiterklärt. Jetzt kann sie allein ihrer Intuition vertrauen und wird sich nicht auf irgendwelche verkopften Pläne verlassen. Wenn wir ihr zu viel erzählt hätten, wäre das niemals möglich gewesen.“
„Vor allem aber hätte sie vielleicht nicht mitgespielt, wenn sie die gesamte Wahrheit gekannt hätte, oder?“, fragte Makra, „kann es sein, dass das euer eigentlicher Grund war, ihr nichts von dieser Ehre mitzuteilen?“
Nartial schwieg, doch das war Callan Antwort genug.
„Ihr Ureinwohner von Cestralia kennt kein Mitleid, oder?“, urteilte Callan, „nicht wirklich. Ich meine, ihr seid freundlich und nett und alles, wenn ihr nicht gerade Fremde in Lager steckt. Aber das ist alles nur theoretisch. Nur eine blutleere Philosophie für die guten, problemlosen Zeiten, mehr nicht. Ihr habt einfach zu wenig gelitten, um echtes Leid zu verstehen!“
„Inzwischen haben wir gelitten“, sagte Nartial einsilbig und ein wenig sarkastisch, „vielleicht lernen wir es ja jetzt.“
„Ihr lernt beschissen“, sagte Makra, „das erkennt man daran, dass euch eine Andrin und ein Deovani moralische Ratschläge erteilen müssen.“
„Wir brauchen euren Rat nicht“, sagte Nartial eisig, „nur eure Hilfe. Und die zu leisten liegt auch in eurem Interesse. Wir können gerne moralische Debatten führen, wenn der Planetenkrebs bezwungen ist. Bis dahin führen solche Diskussionen zu nichts.“
„Und bis dahin darf Clary ihren Kopf hinhalten?“, fragte Callan wütend.
„Keine Sorge, das müssen wir alle. Schon sehr bald“, meinte Nartial, „jedenfalls solange unser Kopf noch uns gehört. Wenn wir Sklaven des Krebses werden, müssen wir uns um all das natürlich keine Gedanken mehr machen.“
~o~
„Es gibt wichtige Neuigkeiten“, sagte Toran und ergriff den schleimigen, feinen Auswuchs, den der Krebs ihm entgegengestreckt hatte. Wie eine Stielwarze ragte er aus dem Fuß des sonst makellosen Berges heraus, auf dessen Rücken sich der majestätische Nebelbaum erhob, und ermöglichte es Toran, auf diese Weise Kontakt zu dem jungen Planetenkrebs herzustellen.
„Welche Neuigkeiten hast du denn, kleiner Wurmmann“, erkundigte sich die zarte, zerbrechliche Stimme in seinem Kopf. Sie war viel feiner und jünger als die seines Meisters aus Deovan. Aber sie besaß dennoch Ähnlichkeit. Kein Wunder, immerhin war Trogenzar hier seine Spore, sein Kind, wenn man so wollte. Aber Toran, der uns eigentlich als „Navin“, ehemaliger Kartellwächter von Deovan, bekannt war, vermutete auch, dass die meisten Planetenkrebse einen solchen Unterton in ihrer Stimme hatten. Ein lockendes, schmeichelndes Timbre, das wie klebriger Zuckerguss um einen Kern aus Zynismus gefaltet war und das in krassem Gegensatz zu ihrer beleidigenden Wortwahl stand. Toran wusste nicht genau, warum Trogenzar ihn so nannte. Wahrscheinlich aber um ihn zu erniedrigen.
„Es gibt noch einen anderen Ort, an dem du fressen kannst“, sagte Navin, und kaum da er das ausgesprochen hatte – laut ausgesprochen, auch wenn er das in seiner Nervosität nicht bemerkte –, spürte er die Euphorie des jungen Seelenverschlingers. Er war hungrig. Und das hatte nichts mit seinem jungen Alter zu tun. Planetenkrebse waren immer hungrig und immer im Wachstum.
„Erzähl mir davon, worauf wartest du noch“, drängte der Parasit und schob einen weiteren Auswuchs aus dem Berg, der sich wie eine lockere Fessel um Navins Oberkörper legte, „sonst fresse ich vielleicht dich. Ich bin hungrig. Meine Wurzeln reichen tief, aber sie finden zu wenig Nahrung und wachsen zu langsam.“
Navin nahm die Drohung gelassen hin. Nicht weil er sie für leer hielt, sondern weil er wusste, dass man gegenüber einem Planetenkrebs keine Schwäche zeigen durfte. Ganz besonders nicht, wenn man ihm nur indirekt diente. Porneck war streng zu ihm, aber auch an seinem Wohlergehen interessiert – jedenfalls soweit ihn das zu einem guten Diener machte – Trogenzar jedoch war er scheißegal. Außer er brachte ihm Futter.
„Es ist eine kleine Lichtung. Dort brennt eine helle Sonne aus reiner Magie“, sagte Navin, „vielleicht ist sie der Grund, warum du dich nicht so schnell entwickelst. Vor allem aber sollte sie dir Kraft geben. Viel Kraft. Genügend womöglich, damit du auch den Nebelbaum verschlingen und diese ganze Welt durchdringen kannst.“
„BESCHREIB MIR DEN WEG!“, donnerte Trogenzar gierig und Navin gehorchte.
Kaum da Trogenzar die Beschreibung vernommen hatte, spürte Navin ein leichtes Vibrieren unter seinen Füßen. So subtil, dass kein anderes Lebewesen es wahrgenommen hätte. Aber als Krebsbote hatte er ein ganz spezielles Gespür für solche Dinge. Ja, er konnte förmlich fühlen, wie sich das knotige, stinkende Fleisch durch das Erdreich wühlte, dabei Würmer, Insekten und Pflanzenwurzeln zerquetschte und sogar Felsen sprengte.
„DEINE INFORMATIONEN BRINGEN MIR NICHTS!“, beschwerte sich Trogenzar und Navin spürte wie sich der zweite Auswuchs enger um seine Brust legte, „Dort spüre ich dieselbe Barriere wie unter dem Baum. Ein Netz, gemacht aus weiteren Bäumen, das meine Wurzeln verbrennt, wenn ich mich ihnen nähere. Wusstest du das vielleicht sogar? War das eine Falle? Glaub nicht, dass du vor meinem Zorn geschützt bist, nur weil du der Wurm meines Vaters bist. Ich bin seine Tochter, sein Abkömmling. Du bist nur ein Werkzeug.“
Zu allem Überfluss schoss nun auch noch ein großes Stielauge auf der Öffnung hervor und sah Navin böse an, während seine Rippen unter dem Druck des Auswuchses knirschten. Er ist wahnsinnig, dachte Navin, schob diesen Gedanken aber beiseite.
„Ja, das bin ich“, sagte Navin so ruhig wie es ihm möglich war, „aber du musst lernen, dass Werkzeuge nützlich sein können. Dein Vater weiß das. Deshalb hat er mich geschickt, um dich zu pflanzen und zu hegen. Ich bin kein Verräter. Ich wusste schlicht nicht, dass du die Barriere nicht durchdringen kannst.“
„HÄLTST DU MICH ETWA FÜR SCHWACH?“, antwortete Trogenzar und das Auge, das nur noch wenige Zentimeter von Navin entfernt war, verlieh seinen Worten noch mehr Autorität.
„Du bist nicht schwach“, sagte Navin unterwürfig, „ganz im Gegenteil. Du hast schon jetzt die Macht über die Herzen der meisten Cestral. Nutze sie. Lasse deinen Gesang erklingen und fordere sie auf, die Bäume für dich niederzureißen.“
„Mein Gesang hat noch nicht genügend Kraft. Ich beherrsche ihre Gedanken noch nicht vollständig“, antwortete Trogenzar mit einem Mal voller Selbstzweifel und beinah schüchtern so als wäre er ein echtes Kind.
„Das musst du gar nicht“, sagte Navin, „du musst nicht jeden einzelnen ihrer Schritte kontrollieren. Es reicht, wenn du ihren Hass schüren und ihm ein Ziel geben kannst.“
Das Trogenzar dieser Vorschlag gefiel, erkannte Navin daran, dass das Auge blinzelte und sich der zweite, Augenförmigeauswuchs in den Berg zurückzog. Gleichzeitig erhob sich eine Melodie. Sie war noch leise und zart. Mehr eine Ahnung als ein wirklicher Klang. Aber sie trug Worte, die Navin verstehen konnte und die er beinah automatisch mitsprach.
„Zur Lichtung geht, wo Sterne glüh’n,
und ihr verzaubernd’ Licht versprühen.
Wo Bäume böse Ketten tragen
Die leichten Zugang uns versagen
Auf, auf, erhebt die müden Glieder
Und reißt die glitzernd’ Schranken nieder
Die morschen Wächter müssen fallen.
Denn dieses Licht gehört euch allen.“
„Gut formuliert“, schmeichelte Navin.
„Mich kümmert deine Meinung nicht“, sagte Trogenzar auch wenn der Klang seiner Stimme das Gegenteil aussagte, „mich kümmert nur, ob es funktioniert. Und um das sicherzustellen, musst du dich ebenfalls dorthin begeben. Schau, ob sich die Cestral wie gewünscht versammeln und achte darauf, dass sie ihren Zweck erfüllen.“
„Das werde ich“, versprach Navin und verbeugte sich tief, nachdem sich Trogenzar vollständig von ihm zurückgezogen hatte. Navin bezweifelte, dass das schon der richtige Moment war, um zur Lichtung zurückzukehren. Zu hoch war das Risiko, dass er die anderen noch dort antraf. Aber es war leider auch nicht der richtige Moment für Ungehorsam. Ganz gleich, wie sehr er dieses Rotzblag von einer Metastase hasste, er durfte nicht zum Ziel seines Zorns werden.
Also setzte Navin sich in Bewegung.
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Thomas, der das Ganze aus dem Schutz der Bäume heraus beobachtete, konnte seinen Augen und Ohren nicht trauen. In den letzten Jahren hatten nur wenige Dinge es geschafft, emotional zu ihm durchzudringen. Aber angesichts des widerlichen Planetenkrebses und der Worte, die er Toran hatte sagen hören, fühlte sogar er ein wenig Schrecken und Aufregung.
Die Frage war nur, wie er mit der Situation umgehen sollte. Eigentlich konnte ihm gleich sein, was das Vieh und sein verräterischer Diener mit dieser Welt anstellten. Immerhin hatte diese Welt ihn auf ganzer Linie enttäuscht. Aber was, wenn es wirklich der Planetenkrebs war, der seine seelische Heilung verhinderte? Sollte er dann nicht wenigstens versuchen, ihn zu bekämpfen. Das war das Gute daran, wenn einem alles egal war: es traf auch auf den eigenen Tod zu.
Warum also nicht versuchen, das eigene Leben wieder lebenswert zu gestalten, wenn man nichts zu verlieren hatte? Sich diesem Monstrum in den Tiefen des Berges allein zu stellen, noch dazu unbewaffnet, war allerdings undenkbar und wäre wirklich eine lupenreine Selbstmordmission gewesen. Er wusste zwar auch nicht, welche Geheimnisse Toran sonst noch verbarg, aber auch wenn Thomas alles andere als ein Kämpfer war, rechnete er ihm mehr Chancen aus, ihn zu überwältigen als das im Gestein verborgene Ungeheuer. Und vielleicht konnte er auch eine Konfrontation umgehen und die anderen warnen. Trotzdem würde er eine Waffe brauchen oder wenigstens so etwas ähnliches. Thomas sah sich um, während er darauf achtete, dass Toran, der ihn bald passieren würde, ihn nicht entdecken konnte.
Dummerweise gab es hier weder herumliegende Steine noch Äste oder sonst etwas, das sich als improvisierte Waffe gegen den Verräter eigenen würde. Mit der Ausnahme eines Astes an einem der Bäume über ihm, der so spitz zulief und so stabil aussah, dass er selbst schon fast einem Speer glich. Leider hatte dieser Ast den Schönheitsfehler, dass er noch fest an besagtem Baum hing. Es war ein schöner, stark verzweigter Laubbaum, der wie die meisten Bäume in Cestralia blau und von einem silbernen Schimmer umgeben war. Jedoch besaß er mehr Stofflichkeit als die meisten seiner durchscheinenden Geschwister.
Thomas legte die Hand an den Ast und zog daran. Als er jedoch das erste, leise Knirschen unter seinen Fingern spürte und glitzerndes Baumblut seine Hand benetzte, konnte er nicht weitermachen. Er kam sich wie ein Ungeheuer vor und ließ den Ast sofort wieder los. Er FÜHLTE es vielleicht nicht, aber er WUSSTE, dass das nicht richtig war. Fuck, dachte er, ich kann dem Bastard nicht mit bloßen Händen gegenübertreten.
„Das musst du nicht“, hörte er eine flüsternde Stimme, die von überall zu kommen schien, „wir helfen dir, den Diener des Parasiten zu vernichten.“
Thomas vermutete, dass die Bäume zu ihm sprachen. Aber vielleicht war es auch die gesamte Tier- und Pflanzenwelt von Cestralia, die unter dem Befall des Planetenkrebses litt und ihre Gelegenheit zur Rache nutzen wollte. Ausgerechnet mit ihm als Werkzeug.
Für einen Moment fragte sich Thomas was genau das für ihn bedeuten würde. Doch noch ehe er diese Frage an die Bäume richten konnte, sah er, wie sich die Erde vor ihm bewegte und sich etwas aus dem Erdreich hob. Es war eine Waffe. Ein Schwert geformt und gewachsen aus Wurzeln, das ganz offenbar ihm dargeboten werden sollte. Der Griff der Waffe war gepolstert mit feinem, weichem, purpurnen Moos. Die scharfe, glatte Schneide besaß einen bläulichen, halbdurchsichtigen Kern und war besetzt mit feinen Kristallen, auf denen winzige Härchen wuchsen, die sich aus eigener Kraft zu regen schienen wie Lebewesen.
„Wie in der beschissenen Artus-Saga“, sagte Thomas leise vor sich hin und fand es fast etwas albern, übertrieben, deplatziert. Dann aber erinnert er sich daran, dass dieser Ort durchdrungen war von Geschichten. Seit unzähligen Jahren erklangen hier die Worte von Mentravias und gingen wie Regen auf die Pflanzen und Tiere nieder. Symbolik und Theatralik musste diesen Geschöpfen vollkommen normal erscheinen. Narration floss durch ihre Kapillaren wie Chlorophyll oder Zucker.
Thomas legte seine Hand um die Waffe und spürte das Leben darin. Das war kein totes Ding. Nein, es war sogar deutlich lebendiger als er.
„Kann ich das wirklich nehmen?“, fragte Thomas unsicher, „ich will euch nicht schaden oder euch bestehlen.“
Thomas hielt diese Höflichkeit für durchaus angemessen. Er verspürte kein Bedürfnis seine immer noch grimmige Laune an den Stimmen auszulassen. Nicht aus Angst, sondern aus Respekt.
„Nimm es“, hörte er die Bäume sagen, „wir werden es überstehen. Und das Leid des Krebses ist uns jedes Opfer wert.“
Thomas nickte, auch wenn er unsicher war, ob die Bäume das mitbekamen und zog an der Waffe. Sie war einfach zu lösen. Die Wurzeln waren an ihrem Griff und Heft so verdünnt, dass sie ganz leicht brachen, so wie die dünnen Stäbchen an den Plastikrahmen, aus denen Thomas als Kind die Bauteile für seine Modellbausätze gelöst hatte. Thomas wog das Schwert in seiner Hand, spürte ein lebhaftes Kribbeln in seinem Arm und hätte beinah gelächelt als er die Spitze betrachtete, die mit ihrem Spalt tatsächlich etwas an einen Füller erinnerte. Endlich also würde er wieder schreiben können. Zumindest auf gewisse Weise. Nun hatte er nur noch halb so viel Angst vor dem Krebsboten.
„Danke“, sagte Thomas noch knapp, dann trat er hinter den Bäumen hervor und nahm Torans Spur auf.
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„Könnt ihr das hören?“, fragte Nartial.
„Was denn? Deine zum Himmel schreiende Heuchelei?“, fragte Callan, der inzwischen nicht mehr neben Makras, sondern Clarys Hand hielt, in der Hoffnung ihr so etwas Beistand leisten zu können. Er hatte zuerst befürchtet, dass die renitente Andrin ihm das übel nehmen würde. Aber das tat sie nicht. Im Gegenteil zeigte sie sich überraschend verständnisvoll und mitfühlend.
„Sehr witzig“, sagte Nartial, „nein, ich meine natürlich etwas anderes. Ein dunkles Sirren und Murmeln, das das Herz schwer macht und es zu sich zieht.“
„Diese Schwingung liegt schon länger in der Luft“, meinte Scynra, „ich spürte sie bereits kurz nach meiner Ankunft in Cestralia und seitdem ist sie immer schlimmer geworden.“
„Ich weiß, was du meinst“, sagte Nartial, „aber das hier ist etwas anderes. Diesmal trägt die Stimme Worte.“
„Was für Worte?“, erkundigte sich Makra.
„Genau kann ich sie leider nicht verstehen“, sagte Nartial, „aber sie erscheinen mir eindringlich. Kompromisslos, fast wie ein Befehl.“
„Moment“, sagte Callan, „jetzt höre ich es auch. Es klingt wie …“
„Hinter dir!“, warnte Makra, während sie ihre Dornenpeitsche gegen eine Cestral-Soldatin schwang und ihr einen großen Klumpen Fleisch aus dem Bein riss. Ächzend bricht die Soldatin in die Knie, ohne jedoch ihre Schusswaffe gegen sie zu verwenden. Gleichzeitig jedoch knistert und knarrt es überall in den Büschen als eine große Gruppe von Cestral den Weg betrat, auf dem sie sich befanden. Sie wirkten wie besessen. Fanatisch und zielstrebig als stünden sie unter Drogeneinfluss oder befänden sich im Griff einer Massenhysterie. Doch allein ihre Leidenschaft unterschied sie von Robotern oder Untoten. Sie waren auf ihre Art sogar verdammt lebendig.
Callan zog seinen Pinpointer, wobei seine andere Hand Clarys fest umklammert hielt. Doch er war unschlüssig, welches Ziel er auswählen sollte und ober er überhaupt abdrücken sollte, während er beiläufige Tritte, Fausthiebe, Ellenbogen und versprengte Speere in den Rücken bekam, die es ihm fast unmöglich machten, seine Waffe ruhig zu halten.
„Tut ihnen nichts!“, schrie Nartial, „sie sind friedlich.“
Nun das stimmte in gewisser Weise. Auch wenn ihre Gesichter vor Wut fast auseinandergerissen wurden, brachten sie ihre Speere und Schusswaffen nicht gegen sie zum Einsatz. Aber sie waren auch alles andere als rücksichtsvoll. Sie rempelten und traten und drängten brutal und gnadenlos nach vorn und beschleunigten ihr Tempo dabei zusehends. Und es wurden immer mehr. Waren es erst dutzende, so mussten es nun hunderte sein. Tausende womöglich. Und bald waren es nicht mehr nur Soldaten, sondern auch ganz normale Leute, die nicht so aussahen als hätten sie in ihrem ganzen Leben auch nur zum Spaß eine Waffe in den Händen gehalten.
„Sie werden nicht so ‚friedlich‘ bleiben“, vermutete Makra, die sich entgegen Fiennas Anweisung mit ihrer Peitsche Bewegungsfreiheit verschaffte, Zähne Ausschlug, Augen zerfetzte, Arme und Beine versehrte oder sogar Gliedmaßen abschnitt wie es sich ergab. Sie tötete niemanden, zumindest nicht mit Absicht, aber sie brachte so einige Cestral dazu, nur noch vorwärts kriechen zu können.
„Deine Leute sind nicht so nett wie du glaubst, Fienna“, sagte sie, „sie haben einfach ein anderes Ziel als uns. Ich würde meine Peitsche darauf verwetten, dass sie zur Lichtung unterwegs sind, um sich diese Magiesonne zu schnappen. Welchen Grund sollte diese Massenpsychose sonst haben.“
„Fienna!“, rief Nartial entsetzt, „sie wird ihnen ganz allein gegenüberstehen!“
Der Werone wurde blass vor Schreck bei diesem Gedanken.
„Sollen wir ihr zur Hilfe eilen?“, fragte Scynra, die sich inzwischen auch mit ihrem Skalpell zur Wehr setzte, jedoch anders als Makra sehr genau darauf achtete, keine lebensgefährlichen Verletzungen oder bleibenden Schäden bei den Cestral zu verursachen.
„Nein“, sagte Callan entschlossen, „so leid es mir tut. Aber wir können Clary nicht im Stich lassen. Das würde auch Fienna nicht wollen! Die Lichtung wird sie schützen. Das hat sie selbst uns doch gesagt. Dass niemand dort hineinkommt.“
Das Gesicht des Weronen war von Zweifeln, Ängsten und Gewissensbissen zerrissen. Für einige Momente stand er nur ratlos da. Dann löste sich seine Starre, er schrie seinen Schmerz in die Nacht hinaus und veränderte noch im selben Augenblick seine Form. Er faltete sich auf wie ein Blatt Papier und erweiterte sich in ein dickes, robustes, lebendiges Netzt, welches sich quer über die Straße spannte und den Zustrom der Cestral-Soldaten unterbrach.
Doch nicht nur das. Er unterbrach auch die Verbindung zwischen Clary und Callan, als die Fäden des Netzes so schmerzhaft gegen Callans Hand schlugen, dass er sie zurückziehen musste, um sich und Clary nicht zu verletzen. Hilflos beobachtete Callan, wie seine Freundin in der heranrückenden Masse unterging.
„Was soll die Scheiße!“, fluchte Callan, „verwandel dich sofort zurück oder ich zerfetz deinen hässlichen Körper in mikroskopisch kleine Stücke!“
Doch Nartial hörte nicht auf ihn. Und Callan brachte es nicht übers Herz, den Abzug zu drücken und seine Waffe gegen die Kreatur einzusetzen, die die Cestral genauso effektiv aufhielt wie sie Clary von ihm fernhielt. Noch nicht, jedenfalls.
„Du verräterisches Drecksding“, fluchte auch Makra und zerfetzte einer sie passierenden Cestral-Soldatin einfach so das Gesicht, um ihrer Wut Luft zu machen, „ich hätte dir lieber die Fresse polieren sollen, anstatt mir dir zu spielen. Und ich tu’s noch, wenn du dich nicht sofort zurückverwandelst!“
Doch der Werone hörte nicht auf sie.
„Das wird ohnehin nicht ewig gutgehen“, bemerkte Scynra nüchtern. Die Gesunderin hatte sich, nun, wo sie nicht mehr von Leibern erdrückt wurde, etwas abseits positioniert und blickte skeptisch auf Nartials Netzform, welche sich unter der Last der anstürmenden Soldaten bereits gefährlich bog.
Sie sollte recht behalten, wie sich schon Augenblicke später zeigte.
Denn auch wenn es Nartial erstaunlich gut gelang, den Ansturm der verblendeten Cestral zurückzuhalten, der sich wie eine Flut vor ihnen staute, galt das nicht für die acht Traumschlangen, die sich plötzlich wie rötliche Giftwolken vor den Sternen materialisierten und dann im Tiefflug raketengleich in das von Nartial gebildete Netz einschlugen. Seine umgeformten Glieder zerrissen und zerbarsten einfach unter der Wucht und bläulich schimmerndes Blut ergoss sich daraus wie Wasser aus geplatzten Rohrleitungen.
Callan gab noch einen hektischen Schuss aus seinem Pinpointer ab, der wirkungslos in der Nacht verglühte, bevor er sich genau wie der Rest von ihnen flach auf den Boden drückte. Zu ihrem Glück genügte das, um ihr Überleben sicherzustellen. Sowohl die Traumschlangen als auch die Cestral-Soldaten ignorierten alles, was ihnen kein Hindernis war und so überspülten sie sie zwar wie eine lebendige Welle, verursachten jedoch keine Verletzungen, die über ein paar blaue Flecke, leichte Quetschungen und harmlose Schnitte hinausgingen.
Als der Sturm vorüber war, stemmten sie sich in die Höhe und besahen sich die Katastrophe. Neben ein paar dutzend toter oder sterbender Cestral, die entweder durch Makras Peitschenhiebe oder durch ihre eigene Rücksichtslosigkeit ihr Ende gefunden hatten, fanden sie einen Haufen zerrissener Gewebestücke und Blutpfützen, aus denen nicht einmal eine hochentwickelte KI den Körper von Nartial hätte rekonstruieren können.
„Dieser kuschelige Idiot “, sagte Makra wütend und traurig zugleich, „warum musste er sich so sinnlos opfern? Es war ja nicht mal heldenhaft. Im Gegenteil. Trotzdem hatte er so ein Schicksal wohl nicht verdient. Wenn ich diesen Fanatikern nochmal begegne, werde ich ihre Gliedmaßen noch gründlicher auseinandernehmen.“
„Sei nicht albern, diese Leute konnten nichts dafür!“, bemerkte Scynra.
„Ich auch nicht“, sagte Makra mit blitzenden Augen, „ich bin eine Sklavin meiner Gefühle.“
Die erzürnte Andrin beließ es nicht bei Worten und suchte sich einen Cestral-Mann, der zwar aus einer Wunde in seinem Bauch viel Blut verloren hatte, aus dem das Leben aber noch nicht gänzlich gewichen war.
Ohne lang zu fackeln, nahm sie den Unterschenkel des Mannes und drehte ihn im Kniegelenk, so hart, dass seine Bänder rissen und die Knochen knirschten und splitterten. Der Mann schrie auf und wirkte für einen Moment wieder wie er selbst, dann jedoch kehrt der hypnotisierte Ausdruck in seinen Augen zurück.
„Makra, lass den Scheiß“, verlangte Scynra, „sinnlose Gewalt ist nicht dein Stil. Er wird ohnehin sterben. Kein Grund ihn zu quälen. “
„Ich habe einen Grund“, sagte Makra, band ihre Peitsche so um ihre Hände, dass die Stacheln zwischen ihren Fingern herausragten und führte sie nah an die Augen des Mannes, „Was wollt ihr? Was sind eure Befehle? Warum tut ihr das alles?“
Der Mann blieb still, auch wenn sein Atem heftiger ging, was ihr zeigte, dass er durchaus Angst um sein Augenlicht hatte. Nahender Tod hin oder her.
„Er wird nicht antworten“, ermahnte Scynra, „erlöse ihn und lass uns keine weitere Zeit …“
Doch die Lippen des Mannes öffneten sich. Erst in einem kaum hörbaren, zitternden Brabbeln, dann um klar verständliche, aber unheilvoller Worte auszuspucken.
„Zur Lichtung geht, wo Sterne glüh’n,
und ihr verzaubernd’ Licht versprühen.
Wo Bäume böse Ketten tragen
Die leichten Zugang uns versagen
Auf auf, erhebt die müden Glieder
Und reißt die glitzernd’ Schranken nieder
Die morschen Wächter müssen fallen.
Denn dieses Licht gehört euch allen.“
sagte er, bevor er wieder verstummte und sich seiner Qual ergab.
„Sprich Klartext du Penner!“, sagte Makra wütend.
„Seine Worte sind klar genug“, meinte Scynra, die inzwischen an Makra herangetreten war und ihr beruhigend ihre Hand auf die Schulter legte, „und sie bestätigen lediglich unsere Vermutungen. Der Krebs kontrolliert diese Leute. Er gibt ihnen Wahngedanken ein!“
„Scheiße!“, fluchte Makra und rammte ihre Faust mit der Peitsche in den Boden, knapp neben dem Gesicht des gequälten Mannes. Doch dann kehrten Vernunft und sogar ein Funken Mitleid in ihre Augen zurück als sie sah, wie sehr dieser Mann litt. Nicht nur wegen des von ihr zerstörten Knies oder der grauenhaften Bauchwunde, sondern auch wegen des Zwangs, unter dem er stand.
„Es tut mir leid“, sagte sie sanft und drückte ihm einen Kuss auf die bebenden Wangen, bevor sie ihm mit einem der Peitschenstacheln die Kehle öffnete. Noch einmal bäumte er sich auf. Dann war er still.
„Gut“, sagte Scynra auch wenn ihr hartes Gesicht diesmal gleichermaßen voller Anteilnahme und Abscheu war, „wir müssen Fienna zur Hilfe kommen. Wenn sie oder besser gesagt der Planetenkrebs an diese Magiequelle gelangen, war es das mit dieser Welt.“
„Nein!“, widersprach Callan ungewohnt autoritär. Er hatte sich bis jetzt aus der Diskussion der beiden Frauen herausgehalten und stattdessen in dem Chaos nach Clarys Leiche gesucht. Anscheinend ohne Erfolg, „wir sind nur zu dritt und wir haben gerade gesehen, wie wenig wir ausrichten können. Außerdem lebt Clary womöglich noch. Wir müssen ihr folgen!“
„Glaubst du etwa wir drei haben mehr Chancen gegen diesen Parasiten? Ernsthaft?“, fragte Scynra zweifelnd.
„Das vielleicht nicht“, sagte Callan, „aber wir können Clary retten. Sie ist schon lange genug benutzt worden. Wenn wir sie mitnehmen und dieses sinkende Schiff verlassen müssen, ist das eben so. Es lohnt sich nicht für ein Paradies zu kämpfen, wenn andere dafür durch die Hölle gehen müssen.“
„Mit so einer Einstellung wirst du immer nur vor Despoten kriechen müssen“, bemerkte Scynra.
„Keine Sorge“, sagte Makra lachend, aber mit todernstem Gesicht, „Callan wird vor niemandem kriechen, außer vor mir. Und wo wir gerade dabei sind: Wir werden diesem Krebsbastard in den Arsch treten UND Clary retten. Das ist ein verfluchter Befehl, mein kleiner Mensch. Und wage es ja nicht, dich ihm zu verweigern.“
„Ich gebe mich geschlagen“, sagte Callan schmunzelnd, „lieber lege ich mich mit einem Planetenfresser an als mit dir. Versuchen wir es wenigstens. Mehr als scheitern können wir auch nicht.“
„Das ist ein guter Punkt“, gestand Scynra schmunzelnd ein, „und als Medizinerin muss ich daran erinnern, dass selbst kleinste Lebewesen, Pilze, Würmer ja sogar Mikroben zum Fall von Giganten führen können. Vielleicht ein aufheiternder Gedanke.“
Callan nickte und lächelte demonstrativ, während er wieder Makras Hand ergriff.
Ja, dachte er bei sich, ohne es laut auszusprechen, das mag stimmen. Nur sind diese Mikroben meist um ein Vielfaches in der Überzahl.
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Clary hätte nie im Leben gedacht, dass sich eine Mentravia so körperlich anstrengend und bedrohlich anfühlen könnte. Natürlich hatte sie diese mentalen Abenteuer immer als intensiv und realitätsnah erlebt und nach allem, was sie darüber wusste, liebten es die Cestral manchmal auch sehr düster und dramatisch. Aber es gab immer diese Sicherheitsleine, dieses Halteseil, das einem klarmachte, dass jede noch so schreckliche Gefahr nicht mehr war als schlimmstenfalls ein zwar übler, aber harmloser Albtraum. Hier war es anders. Hier spürte sie kein Sicherheitsleine – obwohl sie sprichwörtlich die abartige Version einer solchen in den Händen hielt. Hier sah sie ungesichert dem Abgrund entgegen. Und der kranke, unangenehm riechende Schweiß, der in Strömen aus ihren Poren floss, machte ihr wirklich Sorgen. Nicht nur um ihrer selbst willen, sondern auch wegen des kleinen Comforters, der ihr diesen Schweiß beständig und tröstend von der Hand ableckte.
„Das musst du nicht tun, Golly“, sagte Clary sicher schon zum zehnten Mal. Sie hatte dem Comforter diesen Namen gegeben, weil sie meinte, dass er einen verdient hatte. Auch er war zwar nicht originell – stammte er doch von einer Bravianischen Sagengestalt, die Kinder, die sich draußen verirrt hatten, vor nächtlichen Monstren beschützte – aber deutlich origineller als ein Gattungsbegriff oder gar ein deovanischer Markenname.
Sie war sich ziemlich sicher, dass Golly sie verstand, aber sein Wunsch danach Trost zu Spenden war nun einmal größer als sein Selbsterhaltungstrieb und auch als sein Gehorsam. Immer, wenn sie es verlange, hörte er kurz auf ihre Hand zu lecken und entfernte sich ein Stück, kam dann aber sofort wieder näher und kuschelte seine weiche Schnauze an sich bevor er mit seiner Pflege fortfuhr. Und das, obwohl ihr Schweiß den kleinen Kerl inzwischen einen guten Teil seines flauschigen Fells gekostet hatte, das einfach von ihm abfiel wie verwelktes Laub. Sie hatte keine Wahl. Sie musste deutlicher werden.
„Verdammt nochmal!“, sagte Clary wütend, beinah schon böse, „halt dich endlich fern von mir!“
Diese Worte auszusprechen zerriss ihr das Herz. Nicht nur, weil Gollys Zuwendung ihre eigene Angst und auch den Schmerz dämpfte, der sich langsam wie ein Krampf in ihren Muskeln ausbreitete, sondern auch weil die treuen Augen sie so unfassbar enttäuscht ansahen. Doch der Comforter gehorchte und entfernte sich tatsächlich ein ganzes Stück von ihr, ohne sich wieder zu nähern, wobei er niedergeschlagen zu ihr aufsah.
„Hey!“, sagte sie versöhnlicher, „du musst nicht gleich weglaufen. Du sollst dich nur nicht in Gefahr bringen, indem du dieses Gift aufleckst. Das ist alles, was ich will. Es ist schon Trost genug, dass du bei mir bist.“
Etwas in ihrem Tonfall musste Gollys Herz erreicht haben, denn seine Enttäuschung verringerte sich merklich und nach kurzem Zögern kam er ihr wieder näher, ohne jedoch ihren Schweiß aufzulecken, der nun ungebremst auf den Boden tropfte.
Sie hatte keine Ahnung wo dieser Schweiß herkam. Wobei … nein, das war nicht wahr. Sie hatte durchaus eine Ahnung. Aber wenn sie damit recht hatte und es mit der Ader des Planetenkrebses zu tun hatte, wenn dieses Ding sie krank und schwach machte, dann konnte das so übel für sie ausgehen, dass sie sich ungern Gedanken darüber machte.
Trotzdem hatte sie natürlich darüber nachgedacht. Auf ihrem Weg, der sie nicht etwa zu dem Schloss, sondern zu dem kleinen Dörfchen führte, das sie aus der Ferne gesehen hatte, hatte sie diesen Gedanken schon aus allen Richtungen betrachtet. Und sie hatte ihm sogar schon Taten folgen lassen, indem sie probiert hatte die Ader für einen Augenblick loszulassen. Das hatte zu ihrer großen Erleichterung sogar funktioniert. Es schien nicht so zu sein, dass der Krebs sie dazu zwang Kontakt zu halten – das konnte ja eigentlich auch nicht in seinem Interesse sein. Aber als sie das widerliche Fleisch losgelassen hatte, war nicht nur eine gewaltige Last von ihr abgefallen, das Ding hatte auch sofort damit begonnen sich in der Erde einzugraben und seinen Verlauf zu ändern. Hätte sie nicht schnell reagiert, das widerliche Teil erneut ergriffen und ihre eigene Folter fortgesetzt, wäre es ihr vielleicht nicht möglich gewesen, es wiederzufinden. Das zumindest befürchtete sie. Dennoch war es nicht leicht, diese Bürde zu tragen. Und jetzt, wo nicht einmal mehr Golly sie aufmuntern konnte, war es nur noch schwerer geworden.
Was, wenn ich zusammenbreche, bevor ich mein Ziel erreicht habe, dachte Clary. Haben Callan und die anderen dann überhaupt eine Chance den Krebs zu finden? Tief in sich hoffte Clary, dass sie nach ihrem Tod in dieser Welt einfach wieder in ihrem gewöhnlichen Körper aufwachen würde und neu beginnen könnte. Doch dieses Gefühl, dieses ekelhafte, haltlose Gefühl sagte etwas ganz anderes.
„Vorher finde ich das Mistvieh“, versprach sie sich, während sie ihren Blick stur auf die langsam größer werdenden Gebäude heftete, „wenn ich kollabiere, dann direkt vor seinem abscheulichen Körper, damit Callan ihm mit seinem Pinpointer das Gehirn wegblasen kann.“
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Es dauerte zum Glück nicht allzu lang, bis Clary das Zentrum der kleinen Stadt erreicht hatte. Aus dieser unmittelbaren Nähe wirkte sie längst nicht mehr so modern wie aus der Ferne. Die Strukturen bestanden in Wahrheit aus Holz oder baufälligem, altem Stein auf dem lediglich kunstvoll bemalte Fassaden die Illusion von Glas, Stahl und Kunststoff schufen, wenn man weit genug entfernt war. Die Luft hier war feucht, dick und stickig und in den Innenräumen, diesen unheilvollen Rechtecken gestaltloser Schwärze, die sich hinter den zumeist geöffneten Türen verbargen, schien sie nur noch schlechter zu sein.
Es war kein guter, kein angenehmer Ort. Und noch dazu erschienen ihr die Wände und Türen schräg, gewölbt und verbogen, was aber auch an ihrem Schwindel und ihrem generellen schlechten Gesundheitszustand liegen mochte. Zu allem Überfluss hörte sie ihr Herz pochen wie bei einem hundert Meter lauf, ihre Schritte waren unsicher und schwer und ihr Schweiß stank noch schlechter als die miese Luft, die aus den Gebäuden hervordrang. Selbst Golly rümpfte von Zeit zu Zeit seine Nasenflügel und hielt ganz von selbst mehr Abstand von ihr als noch vor einigen Minuten.
Immerhin schien ihr Weg klar, denn die Ader lief auf ein großes, flaches Gebäude zu, das mit der Beschriftung, „Innocence down“ versehen war und dessen bemalte Front ein Café zeigte, in dem lächelnde Deovani einander ihre heißen Getränke ins Gesicht schütteten. Sogar die Brandblasen und schweren Verbrühungen auf der Haut waren detailliert nachgebildet, selbst wenn an einigen Stellen schon die Farbe abblätterte.
Diese Szene vergrößerte Clarys Unwohlsein und sie wollte noch viel weniger in diesen speziellen Eingang eintreten als in jeden anderen in dieser komischen, falschen Stadt. Aber sie wusste, dass sie kaum eine Wahl hatte, wenn sie ihre Mission zu Ende bringen wollte. Also tat sie es trotzdem. Der Raum, in sie sich zusammen mit Golly wiederfand, war stockdunkel. Mit einer Ausnahme. Es gab ein winziges, oranges Glühen, direkt zu ihrer Rechten. Ohne lange darüber nachzudenken, löste sie schwerfällig ihre rechte Hand von der Ader und legte sie auf das kleine leuchtende Rechteck. Kurz darauf erwachte flackernd eine staubige, elektrische Deckenlampe zum Leben, so wie sie in Deovan vielleicht vor einigen Jahrhunderten Mode gewesen war. Das diesige Licht enthüllte einen hässlichen Raum, dessen Boden, Möbel und Wände mit dicken Platten von Schimmel überzogen waren, nur unterbrochen von einer schlammigen, schleimigen Substanz, die Clary sogar noch unangenehmer war. Noch viel widerlicher war aber das Einzige in diesem Raum, das nicht gänzlich von Schimmel überzogen war. Es war eine Gestalt mit dünnen, grauen, strähnigen Haaren, einem ausgezehrten, faltigen, eiterverkrusteten Gesicht, einem papierdünnen, finsteren Mund und Augen, die so tief in den Höhlen lagen, dass man glauben konnte, sie müssten jeden Moment hineinfallen. Und diese Gestalt sah sie direkt an.
Trotzt ihrer Schwäche wäre Clary beinah vor Schreck weggerannt oder hätte nach den ausgestreckten dürren, grotesken Händen geschlagen bevor sie ihr etwas antun könnten. Aber dann erkannte sie, dass das kein Ungeheuer war, das vor einer leidlich sauberen Glastür stand. Die vermeintliche Glastür war ein Spiegel und das Ungeheuer war sie selbst.
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Paradoxerweise war es der Gestank, der sie davon abhielt angesichts dieser Erkenntnis in Ohnmacht oder zumindest in vollständige Katatonie zu versinken. Der Gestank ihres eigenen Körpers, die Miasmen des vergammelten Raumes und der widerliche fleischig-blutige Duft des Planetenkrebses. Das war kein Ort, um sich selbst zu bemitleiden, kein Ort um das zu verarbeiten, was sie in dem Spiegel gesehen hatte. Es war nicht einmal ein Ort, an dem man sterben wollte. Nur aus diesem Grund gab Clary nicht auf, hielt die kostbare, eklige, pulsierende Ader umfangen, die ihr Leben und Schönheit aussaugte und suchte nach einem Weg hinaus aus diesem Albtraum, der sie dennoch an ihr Ziel führen würde. Die Ader half ihr dabei nicht weiter. Sie führte direkt vor ihr in den Boden, aber an einer Stelle wo er aus hartem, undurchdringlichen Stein bestand.
Taumelnd und fahrig tastete sie den schmierigen Boden ab, die abscheulichen Wände, selbst die Decke, während sie um jeden Preis vermied noch einen Blick in den Spiegel zu werfen. Das waren nur Oberflächlichkeiten, könnte man meinen und wenn überhaupt sollte ihr Gesundheitszustand ihre eigentliche Sorge sein. Aber so ein Anblick machte etwas mit einem. Sich selbst hässlich, unansehnlich, abstoßend zu finden, traf einen tief im eigenen Selbstbild, ganz besonders, wenn man es nicht so kannte. Natürlich, man definierte sich auch über das, was man tat, was man wusste, was man konnte und schuf, aber all das musste ständig unter Beweis gestellt werden, benötigte einen komplizierten, bewussten Akt oder Erinnerungen, die schnell an emotionalem Wert einbüßten. Um sich am eigenen Aussehen zu messen, reichte ein Blick in den Spiegel. Und wenn der einen verurteilte, hängte er an jeden Gedanken ein nagendes „ja, aber“. Ihre Mutter hätte sie sofort wie Müll entsorgt, wenn sie so ausgesehen hätte. Und vielleicht hätte sogar deren freundlicheres Urselbst ihren Anblick nicht ertragen. Was, wenn es so bleibt, dachte Clary, was, wenn ich das hier überlebe und zu so einer Abscheulichkeit werde? Was, wenn das bereits der Anblick ist, den Callan und die anderen in der wahren Welt ertragen müssen?
Es war Golly, der sie aus dieser ungesunden gedanklichen Fixierung befreite. Nicht indem er ihre Hand leckte, sondern mit einer aufgeregten, lauten Melodie, deren Dringlichkeit Clarys Aufmerksamkeit forderte. Sofort erkannte sie, worauf der Comforter sie hatte aufmerksam machen wollen. Er hatte eine Falltür gefunden, die Clary in ihrer Verzweiflung wohl übersehen haben musste. Sie befand sich direkt neben der Stelle wo die Ader in der Erde verschwand. Und nicht nur das. Offenbar hatte der treue Comforter sie sogar geöffnet, sodass eine Leiter darin zu erkennen war. Clary war sich ziemlich sicher, dass das der Weg war, den sie nehmen musste. Es gab dabei nur zwei Probleme. Das eine war, dass sie nicht wusste, ob sie die Ader von dort aus würde erreichen können. Das andere war, dass sie das Ding zumindest kurz loslassen müsste, um die Falltür zu erreichen. Beides machte es ihr praktisch unmöglich, diesen Pfad zu beschreiten.
„Wenn ich das Scheißding nur fixieren könnte“, überlegte Clary laut und war erschrocken wie brüchig und zittrig ihre Stimme klang. Genau wie die einer alten, hässlichen Frau. Golly schien sie trotzdem zu verstehen. Denn er ging sofort auf die Ader zu, öffnete sein Maul und entblößte seine kurzen, aber spitzen Zähne.
„UNTERSTEH DICH!“, zwang Clary ihre Stimme zu rufen und war dabei so nachdrücklich, dass der Comforter irritiert zurückzuckte und sein Maul wieder schloss. Das war gut. Sie wollte nicht, dass sich das arme Wesen vergiftete. Wer wusste schon, was das Blut dieser Kreatur anrichten konnte, wenn sie gefiltert durch ihren Schweiß schon so toxisch wirkte?
„Das ist nicht nötig, mein Kleiner“, sagte sie sanft, „es muss eine andere Möglichkeit geben.“
Und nachdem sie ihre zerstreuten Gedanken für einige Momente auf Linie gezwungen hatte, erschloss sich diese Möglichkeit ihr auch.
Clary stand auf, straffte ihren krummen Rücken und hangelte sich an der Ader entlang bis sie direkt vor dem Spiegel stand, den sie so lange gemieden hatte.
„Bring dich in Sicherheit, Golly“, verlangte sie und der Comforter gehorchte und ging sogar bis zum Türrahmen zurück.
Dann nahm Clary all ihre körperliche und mentale Kraft zusammen und blickte direkt in den Spiegel. Selbsthass stieg in ihr auf wie eine Flut, doch sie richtete ihn nicht gegen sich selbst. Nicht direkt jedenfalls. Stattdessen trat sie so fest sie konnte gegen den Spiegel. Sofort verlor sie den Halt und fiel hin, aber trotz ihrer Schwäche hatte sie ihr Ziel erreicht, wie sie feststellte, als sich ein Splitterregen auf sie ergoss und ihr viele kleine und größere Schnitte beibrachte. Zitternd wuchtete sie sich hoch, klaubte einige der größten Spiegelscherben auf und schleppte sich zu der Stelle, an der die Ader im Boden verschwand. Sie wusste nicht, was passieren würde. Aber sie wusste, dass die Bruchstücke lang genug waren für das, was sie vorhatte.
„Ich hoffe du genießt das!“, sagte sie böse als sie den ersten Splitter durch das dicke Blutgefäß rammte.
Graubraunes, scharf riechendes Blut sickerte heraus und das Ding wand sich unter Qualen, aber die Scherbe verschloss die Wunde größtenteils wieder, sodass sich kein womöglich gefährlicher Blutregen auf sie und Golly ergoss. Mit einem sadistischen Grinsen trieb Clary zwei weitere Scherben in das Ding hinein. Von irgendwo aus der Ferne erklang ein dunkler, wütender aber auch hilfloser Schrei und Clary traute sich endlich ihre Verbindung zu der Abscheulichkeit zu lösen.
Sofort versuchte die Ader zu entkommen, aber die dicken Spiegelscherben sorgten dafür, dass sie nicht durch das Loch passte. Für wie lange, das wusste Clary natürlich nicht. Deshalb wagte sie es nicht, das Gefühl, endlich nicht mehr ausgesaugt zu werden, zu genießen, sondern erklomm schnellstmöglich die Leiter, wo sie die Abscheulichkeit direkt neben sich verlaufen sah. Nur wenige Augenblicke bevor sie seufzend und widerwillig ihre linke Hand wieder darauflegte, hörte sie ein Klirren, das ihr verriet, dass die Sperre nachgegeben hatte. Doch das konnte ihr nun egal sein. Sie hatte zumindest einen kleinen Sieg über das Monster errungen und über sich sah sie das süße, fröhliche Hinterteil des Comforters, der ihr mit einer heiteren Melodie auf den Lippen in die Dunkelheit folgte. Clary lächelte.
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Wie sehr es Navin hasste, für Trogenzar unterwegs zu sein. Auch Porneck war ein Monstrum. Da machte Navin sich keine Illusionen. Aber sein Alter und seine Macht verliehen ihm eine gewisse Würde. Und vielleicht war es auch mehr als das. Porneck war in Deovan herangewachsen. Einer Welt, in der der Kampf ums Überleben genauso an der Tagesordnung war, wie – zumeist – gute Umgangsformen. Kein Wunder, dass er Ausstrahlung und echte Autorität besaß, während Trogenzar, der in diesem naiven Freiluftkindergarten heranreifte, sich sicher nicht allein deshalb wie ein bockiges Kind verhielt, weil er so jung war. Nein, wahrscheinlich steckte ihm das in seinen stinkenden Genen.
Von seinem Vater hatte er jedenfalls wenig. Ja, je länger er darüber nachdachte, für desto logischer hielt Navin es, dass ein Planetenkrebs von der Welt beeinflusst wurde, die er verdarb. Aber diese Theorie half ihm wenig. Ein Dienstverhältnis blieb ein Dienstverhältnis. Hier genauso wie in Deovan, und seine Befehle waren eindeutig. Zum Glück hatte ihm Trogenzar wenigstens einen Teil der Arbeit abgenommen. Die Masse an hasstrunkenen Cestral, die ihn vor einiger Zeit passiert hatte, würde ausreichen, um ein kleines Rorak-Heer auszulöschen. Vor allem zusammen mit diesen hässlichen Albtraumschlangen, deren Angriffskraft ihm bei aller Verachtung für die hiesige Bevölkerung durchaus Respekt abnötigte.
Seine sogenannten Gefährten würden eine schöne Überraschung erleben, wenn sie dieser Sturm beim seligen Ficken, Schlafen oder Lustwandeln hinwegfegen würde. Navin würde anschließend nur noch die Zerstörung begutachten und Trogenzar Bericht erstatten müssen. Wenn diese Welt endlich gefallen war, würde Porneck vielleicht auch nicht mehr taub für seine gedanklichen Rufe sein und ihn endlich an einen neuen Einsatzort schicken.
Zugeben, so schlimm war Cestralia gar nicht. Unter anderen Umständen hätte Navin sich durchaus vorstellen können hier noch ein wenig zu verweilen. Zwar gingen ihm diese verträumten, unreifen Cestral mit ihrem Gehabe auf die Nerven, aber der Frieden und die Schönheit jener Welt wirkten selbst auf ihn als Krebsboten verlockend. Ein solches Paradies, befreit von den Cestral, ihrem enervierendem Getratsche und ihrem kindlichen Kitsch, wäre ein wunderbarer Ort um etwas zu entspannen. Aber das war natürlich undenkbar. Sobald Trogenzar alle Bewohner, vom mächtigsten Cestral bis zum winzigsten Tier, in sich integriert haben würde, würde sich auch die Umgebung gravierend verändern. Davon abgesehen wollte Navin keinen Moment länger in Trogenzars Herrschaftsgebiet verweilen als unbedingt nötig.
So tief in seinen Gedanken versunken, war Navin ziemlich überrumpelt als plötzlich Clary vor ihm auf dem Waldweg auftauchte. Die Deovani trug beschädigte, schmutzige Kleidung. Ihre Schritte waren unsicher, ihre Pupillen stark geweitet und ihr Blick abwesend. Aber sie lebte und war weitgehend unverletzt.
Wie ist das möglich, fragte sich Navin. War sie doch schon früher aufgewacht als die anderen? Aber wie hatte sie es dann heil durch die Masse der von Trogenzar aufgestachelten Cestral geschafft? Und wenn sie Begleiter gehabt hatte, wo waren diese dann?
All diese Fragen beschäftigten Navin durchaus, aber er wusste, dass sie momentan irrelevant waren. Das kleine Mentravia-Naturtalent hier mochte für Trogenzar keine ernsthafte Bedrohung darstellen, aber der Bengel würde dennoch schwer angepisst sein, wenn Navin sie passieren ließ. Zum Glück ließ sich dieses Problem ganz einfach aus der Welt schaffen. Mit einer schlafwandelnden Frau hätte er es schon mühelos aufgenommen als er noch kein Krebsdiener gewesen war.
Mit entschlossenen Schritten ging er auf Clary zu und gab sich dabei keine Mühe leise zu sein. Ihre Trance war sicher ohnehin zu tief und wenn sie erwachte würde das den Spaß höchstens vergrößern.
Noch ehe er jedoch die Hälfte der Strecke hinter sich gebracht hatte, spürte er einen scharfen Stich in seinem Rücken. Verblüffung wuchs auf seinem Gesicht, als er bemerkte, dass die federförmige Spitze eines glitzernden Holzschwerts aus seiner Brust herausragte. Als gewöhnlciher Deovani wäre dies sein Todesurteil gewesen, denn der Angriff war genau dort erfolgt, wo früher sein Herz geschlagen hatte. Zum Glück aber hatten sich die Dinge geändert, hatten IHN geändert. Navin biss die Zähne zusammen, ließ sich nach vorne fallen, sodass die Waffe aus der Wunde glitt, rollte sich trotz der Schmerzen elegant ab und brachte seine Hände in Kampfposition, wobei er seine Fingerkuppen wie Schleusentore öffnete und dort glänzende, mit Fleisch, Horn und Metall verkleidete Röhrenknochen offenbarte.
„Du?“, sagte er überrascht, als er seinem Angreifer zum ersten Mal in die Augen sah, „der talentlose Dichter?“
„Vielleicht habe ich ja ein Talent zum Töten“, bemerkte Thomas kurz angebunden und stürmte ein weiteres Mal auf Navin zu. Thomas verstand in der tat wenig vom Kämpfen, aber das Schwert gab ihm Sicherheit und seine wilde Entschlossenheit brachte Navin durchaus in Bedrängnis. Nur knapp konnte der Deovani einem weiteren Stoß entgehen. Das lag auch daran, dass die Wunde in seiner Brust nicht heilte, sodass er weiterhin Blut und Kraft verlor. Er war nicht unverwundbar oder gar unsterblich. Aber eigentlich war er es gewohnt, dass ihm Pornecks Verbesserungen an seinem Organismus eine hervorragende Wundheilung verliehen. Doch was für eine Waffe dieser Schmierfink auch hatte, sie blockierte seine Fähigkeiten. Was bedeutete, dass jeder weitere Treffer zu viel sein konnte, selbst, wenn Thomas seine Organe weiterhin verfehlte.
„Ein Zufallstreffer. Genau wie bei allem Guten, was du je zu Papier gebracht hast“, behauptete Navin, um sich die eigene Schwäche nicht anmerken zu lassen, „ich werde besser treffen.“
Noch während er das sagte, schwenkte er seine Hand in Thomas’ Richtung und entfesselte eine feine Wolke kochenden Eiters aus seinen offenen Fingerkuppen.
Thomas aber entging seinem Angriff. Zumindest größtenteils. Das gelang ihm aber nicht durch die eigenen Reflexe, sondern weil sein seltsames Schwert das heiße Sekret absorbierte als wäre es köstlicher Nektar.
Aber ein Teil der feinen, kochend heißen Tröpfchen gelangte dennoch in Thomas’ Lunge und ließ ihn so kräftig Husten, dass er auf die Knie sank.
Siegesgewiss ging Navin auf den außer Gefecht gesetzten Thomas zu. Er schlug ihm das Schwert aus der Hand, hob es auf und brach es mit einem beherzten Tritt entzwei wie einen dünnen Zweig, noch bevor sich Thomas von dem Angriff erholen konnte. Navin war froh, dass dieser Kampf so schnell zu seinen Gunsten entschieden war. Dieses spezielle Talent, das ihm Porneck erst kurz vor seiner Abreise offenbar hatte, kostete ihn viel Kraft und setzte seinen Körper unter hohen Entzündungsstress. Er würde es so schnell nicht nochmal einsetzen können, wenn er sich nicht die Eingeweide herauskotzen und mit extremen Muskelschmerzen bezahlen wollte. Aber ein Genick brechen konnte man auch auf die altmodische Weise.
Navin packte Thomas’ Kopf. „Na, du Paladin der Natur? Sieht aus als hättest du dich an deinem Heldenmut verschluckt“, konnte sich Navin eine letzte Spitze gegen den Dichter nicht verkneifen, bevor …
… ihn irgendetwas aus dem Gleichgewicht brachte. Erschrocken ließ Navin Thomas’ Kopf los und fiel seitlich auf den Boden wo er spürte, wie sich sofort etwas um ihn schlang und ihn festhielt. Es waren Wurzeln. Aber nicht Trogenzars Wurzeln, sondern die feinen, schimmernden Wurzeln und Ranken der Pflanzen, die diese Welt schmückten.
Navin bäumte sich auf, wollte aufstehen und sich losreißen und erst dachte er, es würde ihm gelingen. Aber bereits nach wenigen Zentimeter warfen ihn seine lebendigen Fesseln zurück wie gespannte Gummibänder. Als er hart zurück auf den Boden knallte, sah er Clary gleichgültig an sich vorbeiziehen. Sie würdigte ihn keines Blickes, schien nicht aus ihrer Trance erwacht zu sein, aber dennoch war sich Navin fast hundertprozentig sicher, dass sie es gewesen war, die ihn zu Fall gebracht hatte. Hätte er diese unselige Blue Mind nur schneller erledigt. Noch einmal versuchte Navin sich hochzukämpfen, doch das Ergebnis blieb dasselbe wie vorhin. Seine miese Laune verschlechterte sich weiter, als er mit Erschrecken beobachtete, dass Thomas seinen Hustenanfall inzwischen größtenteils überwunden hatte und sich schadenfroh zu ihm umdrehte. Navin überlegte Trogenzar um Hilfe anzurufen, aber der junge Planetenkrebs würde einen Scheiß auf ihn geben. Ganz besonders, wenn er zu schwach war, sich selbst zu helfen. So konnte er nur hilflos verfolgen, wie der Dichter aufstand, sein auf magische Weise wieder intaktes Schwert aufhob und damit genüsslich auf ihn zuschritt.
„Das Glück ist oft mit den Unfähigen“, ätzte Navin als sich Thomas zu ihm herunterbeugte.
Aber dieser lächelte seinen Spott weg. „Eine gewagte Hypothese für jemanden, der aus Deovan stammt“, bemerkte er und weidete sich ganz offensichtlich an Navins hilfloser Wut.
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Dann jedoch änderte sich sein Gesichtsausdruck. Er wurde müde, beinah resigniert. Das aber auf eine gefährliche, nihilistische Weise.
„Warum hast du das getan?“, fragte Thomas ihn, „warum hast du die Unschuld dieser Welt verdorben und dich mit diesem Ding eingelassen?“
Navin lag eine weitere schnippische Bemerkung auf der Zunge. Warum auch nicht, immerhin blickte er seinem Tod ins Auge. Aber irgendwie konnte er sie nicht über seine Lippen bringen.
„Es war ein Job“, sagte Navin stattdessen, „ein Job wie jeder andere. Wir alle haben unsere Zwänge. Unsere Verträge und Verpflichtungen. Und Stärkere als wir, denen wir dienen.“
Navin rechnete nun damit, dass Thomas ihm eine Predigt über freien Willen halten würde. Aber da täuschte Navin sich. Thomas hatte zu lang mit den Einschränkungen einer zerschossenen Hirnchemie gelebt, um an solche Märchen zu glauben.
„Hast du also aus Angst gehandelt?“, fragte er, „aus Angst vor deinem Herren? Oder aus Angst vor wirklicher Freiheit?“
Erneut widerstand Navin seinen zynischen Reflexen. Dieses Gespräch bereitete ihm auf eine seltsame Art Vergnügen.
„Ja“, sagte Navin, „womöglich habe ich das. Spielt das eine Rolle?“
„Die Angst ist der Riegel vor dem Himmelstor“, zitierte Thomas.
„Das klingt fast nicht Scheiße. Aber nur fast. Ist das von dir?“, fragte Navin.
Thomas schüttelte den Kopf. „Nein, du kannst es also ruhig als Wahrheit anerkennen.“
Navin lachte und kam sich dabei komisch vor. Was taten sie hier eigentlich? Sie sollten kämpfen. Auf Leben und Tod. Stattdessen philosophierten sie.
„Was ist nun?“, fragte Navin ungeduldig, „wirst du mich töten oder freilassen?“
„Weder noch“, sagte Thomas, „jedenfalls noch nicht jetzt. Ich werde deinen Herren vernichten, mein Seelenleben wiederherstellen und dann womöglich hierher zurückkehren. Vielleicht habe ich dann eine Entscheidung getroffen was dich betrifft. Wenn der Planet selbst sich nicht schon vorher entschieden hat.“
„Große Worte“, sagte Navin schmunzelnd, „große LETZTE Worte um genau zu sein. Trogenzar ist vielleicht ein elendes Rotzblag. Aber er ist tausendmal stärker als du. Der Planetenkrebs wird dich in Stücke reißen, ehe du es auch nur kommen siehst.“
„Ich habe keine Angst vor dem Tod“, sagte Thomas bevor er Navin den Wurzeln überließ und Clarys Spur aufnahm, „ich habe nur Angst davor, so weiterzuleben wie bisher.“
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Thomas hatte in seinem Gespräch mit Navin nicht gelogen. Er war inzwischen fest entschlossen es mit dem Planetenkrebs aufzunehmen. Natürlich war dieses Unterfangen vollkommen wahnsinnig und aussichtslos, da hatte der Krebsdiener recht. Aber die Literatur seiner Welt war voll von Geschichten von Menschen, die sich tapfer gegen übermächtige Bedrohungen stellten. David gegen Goliath, Odysseus gegen den Zyklopen oder Fingolfin gegen Morgoth. Nun, letzterer war dabei zwar draufgegangen, aber es ging ums Prinzip, oder nicht? Je mehr er darüber nachdachte, desto poetischer erschien ihm der Gedanke an so eine Heldentat. Wenn er schon keine vernünftigen Worte mehr zu Papier bringen konnte, wollte er wenigstens etwas Bedeutendes ins Fleisch des Planetenkrebses ritzen.
Da kam es ihm gelegen, dass es nicht allzu lange dauerte, bis er Clary wieder eingeholt hatte. Das war schon aus praktischen Gründen wichtig. Allein hätte er seinen Feind niemals aufspüren können. Aber es passte auch zu seiner Vorstellung von einer guten Geschichte. Was wäre eine solche ohne Magierin, Jungfrauen und Prophetinnen? In Clary hatte er alles drei. Dass er sie nicht sonderlich leiden konnte, spielte dabei eine untergeordnete Rolle.
Da Thomas der einzige war, der im Moment für Clarys Schutz sorgen konnte, hielt er die Umgebung genau im Blick und nach möglichen Bedrohungen Ausschau. Doch das war schnell erledigt. Hier am Fuß des Gebirges, an dem sie sich befanden, war alles gut einsehbar. Der Mond und die Sterne strahlten hell vom wolkenlosen Himmel und das hellgraue, fast weiße Gestein des Berges reflektierte das Licht zusätzlich. Vor allem jedoch wurde die ewige Nacht erleuchtet von den fluoreszierenden Nebeln, die von dem riesigen Baum ausgingen, der auf der Bergspitze stand.
Wie betörende Schwaden duftenden Räucherwerks umkreisten sie den Berg und kleine, spatzengroße Flugkreaturen tauchten hinein oder hinaus wie ein elektrisches Flimmern. Wieder einmal bedauerte Thomas, dass sein Herz nicht offen war für solche Schönheit, so sehr er es sich auch wünschte. Doch das näherte nur seine grimmige Entschlossenheit, es dem Verderber dieser Schönheit so richtig zu zeigen. Er spürte, dass der Krebs ganz in der Nähe war. Das war nicht nur logisch, weil sich genau hier, am Fuße dieses gewaltigen Baumes die köstlichste Nahrung für solch einen Parasiten befand. Vor allem vernahm Thomas einen Gesang, der alles andere als wirklich klangvoll, aber dennoch sehr hypnotisch war. Wie jene Songs, die im Radio liefen und die sich in Gehörgängen niederließen wie aufdringliche Wespen und die dort ungefähr genauso willkommen waren. Es war äußerst schwer, sich dieser Melodie zu entziehen. Thomas ertappte sich sogar dabei wie er sie leise mitsummte. Aber darüber hinaus ließ sie sein kaltes Herz unberührt. Und Thomas der für einen Menschen zwar sehr gut informiert, aber dennoch kein echter Gelehrter war, wusste nicht, was für ein verdammtes Glück er damit hatte. Denn nur so erreichte er klaren Verstandes und zusammen mit Clary, deren Trance sie schützte, den Fuß des Berges.
„Wo ist die Höhle des Drachen, Mylady?“, flüsterte Thomas Clary zu, wobei er natürlich nicht wirklich mit einer Antwort rechnete. Die Deovani schien aber auch keine solche Aufforderung zu brauchen. Zum ersten Mal seit langem interagierte sie aktiv mit der äußeren Welt und tastete den zerklüfteten Felsen ab.
Schließlich wurde sie fündig. Ohne auf Thomas zu warten, begann sie in ein enges, vielleicht einen Meter im Durchmesser messendes Loch hineinzusteigen, das mit rosafarbenem Fleisch verkleidet war und aus dem es bestialisch stank. Thomas jedoch hielt sie davon ab. „Tut mir leid, Mylady, aber die Führung übernehme lieber ich“, sagte er, zog sie so sanft wie möglich aus dem Tunnel heraus und drängte sich vor. Wie ein Insekt kroch er durch die fleischige Dunkelheit, den Stachel seines Wurzelschwertes, der praktischerweise einen schwachen Lichtschein abgab, immer schützend vor sich gereckt.
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Der Gestank war so übermächtig, dass Thomas sich direkt nach den ersten paar Metern übergab. Er versuchte dabei aber so leise wie möglich zu sein. Aus irgendeinem Grund hatte der Planetenkrebs die Eindringlinge wohl noch nicht bemerkt, vielleicht weil seine Aufmerksamkeit gerade woanders lag, und Thomas hatte nicht vor, ihn auf ihre Anwesenheit zu stoßen. Immerhin fiel der Geruch des Erbrochenen, das er sich in dem engen Tunnel nicht einmal aus dem Gesicht wischen konnte, in dieser Umgebung nicht weiter ins Gewicht. Schwerer zu ertragen war da schon das raue, zottige Fleisch, das an seiner Haut rieb wie ein aus Sandpapier geformtes Kondom. Es gab ihm das Gefühl, durch einen Dünndarm zu kriechen, auch wenn er vermutete, dass dies kein Verdauungstrakt im engeren Sinne war. Vor allem aber machte ihm die Ungewissheit zu schaffen. Das Licht des Schwerts enthüllte kaum mehr als das, was unmittelbar vor ihm lag und es konnte jederzeit passieren, dass der Parasit ihn zerquetschte, mit irgendwelchen Tentakeln durchbohrte oder ein giftiges Gas zu seiner Verteidigung freisetzte. Clary, die sich von hinten gegen ihn drängte so als wäre er ein unbelebtes Hindernis, das sie aus dem Weg schieben wollte, machte es nicht besser.
Aber bizarrerweise fühlte sich Thomas auch befreit. Gerade konnte er nichts anderes tun, als weiterzugehen und dieser Mangel an Optionen war auch eine Erleichterung, wenn es einem sonst so schwerfiel Entscheidungen zu treffen.
So robbte er einfach nach vorne, immer weiter bis sich die Enge vor ihm endlich öffnete und ihn in eine größere Kammer entließ. Thomas atmete auf als er aus dem Tunnel trat. Endlich wischte er sich das halb getrocknete Erbrochene aus dem Gesicht und kletterte aus der Röhre hinaus. Er nutzte sein Schwert wie eine Taschenlampe und leuchtete seine Umgebung aus. Die Kammer war kleiner als er zunächst gedacht hatte. In der Breite maß sie vielleicht fünf Meter, bevor sie sich in drei weitere Tunnel verlor. Diese waren nicht ganz so eng wie der, durch den sie gekommen waren. Ihre gähnend schwarze Leere beunruhigte ihn aber schon auf den ersten Blick.
Er wandte seinen Blick ab und konzentrierte sich stattdessen auf das, was direkt vor ihm lag. Die Decke der Kammer war zwar hoch genug, um darunter stehen zu können, endete jedoch nicht mal ganz einen halben Meter über seinem Kopf in einer rötlichen, beinah durchsichtigen, feuchten Membran. Hinter dieser Membran bewegten sich dürre, weiße Schemen, die sowohl Muskelstränge als auch Würmer oder Tentakel sein konnten. Thomas blieb fast das Herz stehen als er das bemerkte. Vor allem, da er sich zu allem Überfluss auch noch beobachtet fühlte. Nun … vielleicht noch nicht ganz. Eher so als wäre er an den Rand einer Wahrnehmung geraten, die bald erwachen konnte. Wie bei einem Schlafenden, der spürte, dass sich jemand über ihn gebeugt hatte, es aber fürs Erste noch für einen Traum hielt.
Zum ersten Mal seit langer Zeit spürte Thomas einen schwachen Abklatsch von Angst, so als würde diese Extremsituation die Taubheit von seiner Seele absprengen. Aber diese Angst steigerte sich noch nicht zu wirklicher Panik. So war es ihm möglich, halbwegs ruhig darüber nachzudenken, was er als nächstes tun sollte. Bislang hatte er sich darüber noch keine Gedanken gemacht, vielleicht auch, weil er nicht wirklich damit gerechnet hatte, überhaupt so weit zu kommen. Jetzt aber, wo er darüber nachgrübelte, fiel ihm auf, dass er erschreckend wenig über die Anatomie des Ungeheuers wusste, in dessen Inneren er sich befand.
Andererseits musste jedes komplexe Lebewesen so etwas wie ein zentrales Nervensystem oder sogar ein Gehirn haben. Wenn es ihm gelang, genau das zu zerstörten, sollte das eigentlich reichen, um den Krebs zu besiegen. Natürlich konnte er sich irren, aber es war die beste Vermutung, die er gerade hatte. Die Frage war nur, wie er dorthin gelangen würde. Schüchtern und sorgsam darauf bedacht, den Lichtkegel des Schwertes nicht noch einmal auf die unheilvolle Decke fallen zu lassen und damit aufzuwecken, was immer dort unruhig schlief, leuchtete er in die gähnenden Gänge hinein. In ihrer Gleichförmigkeit lieferten auch sie ihm jedoch wenig brauchbare Anhaltspunkte.
Stattdessen schienen sie lediglich zurückzustarren, ja sogar förmlich in ihn hineinzusehen und Informationen zu sammeln. Dieses Gefühl und der Gedanke an das wimmelnde Chaos über ihm trieben Thomas langsam aber sicher in den Wahnsinn. Er spürte die lähmende Verzweiflung nach sich greifen, hörte von irgendwoher Organe pulsieren und die stickige, stinkende Luft lag so giftig und schwer wie Blei in seinen Lungen. Was hatte er nur getan? Er war blind in das Zentrum der Hölle marschiert und das ganz allein, wenn man die schlafwandelnde Clary einmal beiseite ließ. Noch einmal rief er sich zur Vernunft und konzentrierte sich auf die Reste seines logischen Denkens. Die meisten Lebewesen waren symmetrisch aufgebaut. Also wäre es sicher eine gute Idee den gegenüberliegenden Gang zu nehmen … auch diese Strategie würde ihm zwar keine Gewissheit bieten, aber ….
Thomas Überlegungen endeten jäh und sein Blut gefror zu Eis, als Clary neben ihm zu weinen anfing. Und das nicht etwa still und leise, sondern so herzzerreißend laut, dass es nicht mal einem schwerhörigen Greis entgangen wäre. Geschweigedenn einem Planetenkrebs.
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Die letzten Sprossen der Leiter waren Clary förmlich durch die Finger geglitten. Sie war am Ende. Die Eile, die Kletterei und der Tritt gegen den Spiegel hatten ihre letzten Kraftreserven aufgebraucht. Jetzt lag sie hier. Zerrissen, zerstört und kaum noch in der Lage aufzustehen, während die gierige Ader des Planetenkrebses auch noch das letzte bisschen Kraft aus ihr heraussaugte. Wie sie jetzt aussah, wollte sie sich kaum vorstellen. Wie eine Mumie? Wie ein Kinderschreck aus den bravianischen Sagen? Wie ein Haufen Müll, den jemand mit einem Skelett und ein paar Augen ausgestattet hatte? Gut möglich. Aber selbst das war ihr inzwischen gleichgültig, genau wie die Prellungen und blauen Flecken, die ihr der Sturz beschert hatte. Am ehesten kümmerte sie noch der Hunger, der in ihrem Bauch rumorte. Er war so schlimmer, dass sie das Gefühl hatte, ihr Magen würde sich selbst verdauen. Und nach allem, was sie erlebt hatte, war das wahrscheinlich mehr als nur ein Gefühl.
Würden ihre Arme nicht so abscheulich, eitrig, verkrustet und mager aussehen, hätte sie längst hineingebissen und es sich schmecken lassen. Doch diese Hemmschwelle würde auch bald fallen. Fienna, Callan, ihre Mission: all das wirkte längst wie ein ferner, alberner Traum. Ihr Körper war fast bereit alles zu tun, um zu überleben. Sie aber wollte sterben. Sie wollte, dass das hier einfach nur vorbei war. Es gab aber zwei Umstände, die sie davon abhielten diesem Wunsch zu folgen. Das eine war Golly. Der Comforter tat alles, um ihr beizustehen und sie zu ermutigen. Er drückte sie an sich, stupste sie mit der Schnauze an und sang seine Lieder, von denen sie einige sogar wiedererkannte. Rihnnische Chorale, rorakische Kampfgesänge, luth-nomorische Klagelieder und deovanische und terranische Popsongs, die sie in ihrer Kindheit und Jugend gehört hatte und die nicht nur zeigten, dass der Comforter mehr war als ein bloßes Tier das zufällig neben ihr herlief, sondern ihr tatsächlich auch einen winzigen Hauch von Trost schenken konnte.
Der andere Grund war weniger erfreulich. Es war die Befürchtung, dass sie ein Selbstmord nicht zurück in die stoffliche Wirklichkeit und auch nicht in ein geistloses, friedliches Nirwana, sondern direkt in den weglosen Raum katapultiert hätte. Den von Wahn erfüllten Abfallhaufen des Multiversums. Die saugende, unstete Wildnis seelischer Leere. Sie konnte seine Berührung hier beinah spüren. Wie eine gierige Hand, die die Intimsphäre ihre Seele betatschte und missbrauchte. Sie mochte diesen Ort über eine Mentravia betreten haben. Aber sie war nicht mehr in ihrem Kopf, nicht mehr in der Sicherheit ihres Geistes. Hier galten nicht ihre Regeln. Hier galten die Regeln der Wildnis. Und diese Wildnis glotzte direkt in Clary hinein.
Sie hob den abgemagerten Kopf, der für ihre kümmerlichen Muskelreste schwer war wie ein Driggdonn-Panzer und besah sich das, was vor ihr lag. Es war ein Säulengang, geformt aus Säulen und Säulenbögen der verschiedensten Baustile und Epochen, die sich erstreckten nicht unter Erde oder Gestein, sondern unter einem offenen Himmel. Wortwörtlich, denn dieser Himmel war zwar zu großen Teilen dunkelblau, aber auch übersät mit schwärenden Wunden aus denen farbige Spiralen und schwarzweiße Strudel bluteten. An einigen Stellen sahen sogar schemenhaft erkennbare Gestalten auf sie hinab. Wie neugierige Augen, die durch ein Elektronenmikroskop blickten.
Dieser Gang hier gehörte vielleicht noch nicht zum weglosen Raum, aber er war so verdammt nah dran, dass ihr allein von dem Gedanken, ihn zu durchschreiten, übel wurde. Das einzige reale, ja fast schon normale – so seltsam dieser Ausdruck hier auch anmuten mochte – war der Planetenkrebs, dessen Ader sich am Ende des Weges, in einen rot-leuchtenden, wabernden Klumpen Fleisch verlor. Alles, was sie tun musste, war dorthin zu gehen und diese Bestie auszuschalten. Dann, so hoffte sie zumindest, wäre der Albtraum vorbei. Aber genauso gut hätte sie zu Fuß durch den Weltraum spazieren können. Sie hatte einfach keine Kraft mehr, noch einen einzigen Schritt zu tun. Sie hatte nicht einmal die Kraft ihre Hand von der parasitären Ader zu lösen. Es war, als wäre sie am Fleisch der Bestie festgeklebt.
Clary wollte weinen, aber ihre Augen waren dafür zu trocken. Golly schob sich in ihr Gesichtsfeld, lächelte sie an und zwitscherte eine Melodie, die ihr vage bekannt vorkam. „Danke mein Kleiner, dass du mich tröstet“, sagte sie und es klang wie ein verzerrtes, trockenes Flüstern das jemand einen Raum weiter über einen uralten Lautsprecher abspielte. „Wenigstens bin ich nicht allein“, sagte Clary, während ihre Skeletthand über sein weiches Fell streichelte.
Doch zu ihrer Überraschung schüttelte Golly den Kopf, kam näher, sah ihr direkt in die Augen und brachte seine Schnauze so nah an sie heran, dass sich ihre Münder berührten. Dann sang er erneut dieselbe Melodie. Und sie erkannte sie endlich. Sie gehörte zu einem deovanischen Rocksong, den sie in ihrer Naivität lange für ein obskures, frivoles Liebeslied gehalten hatte, auch wenn sie inzwischen eher dachte, dass er eine dunklere Bedeutung hatte. Der Titel des Liedes war „Eat me alive“. Und Clary verstand.
„Nein!“, wollte sie schreien, brachte jedoch nur ein müdes Krächzen heraus, während sich zähe Tränen aus ihren Augen drückten, die durchdringend nach Eiter stanken. „Auf keinen Fall werde ich das tun. Eher verrecke ich!“, sagte sie trotzig.
Golly sah sie weiterhin an. Unnachgiebig, voller Verständnis für ihre Gefühle, aber nicht für ihren Wunsch, ihn zu verschonen. Golly war geboren um zu dienen, um zu gefallen, um selbstlos zu sein. Und gerade deshalb widerte Clary der Gedanken, dem armen Tierchen, ihrem einzigen, treuen Gefährten in dieser Albtraumwelt, auch nur ein Haar zu krümmen so sehr an. Aber ihre Gedanken waren sich in dieser Hinsicht leider nicht einig.
„Du wirst sonst sterben“, behaupteten sie. „Du musst den Krebs besiegen“, „Golly will es so“ und „Das hier ist nicht real. Er ist nicht real“, flüsterten sie ihr ein. Das mochten alles stichhaltige Argumente sein. Doch sie fühlten sich an wie Hohn. Wie grausames verräterisches Geschwätz, das einer Barbarei das Wort redete, die so schlimm war, dass sie die meisten Rorak und Andrin schockiert hätte. „Nein“, brachte Clary noch einmal mühsam hervor und kroch ein winziges Stück zurück. Dann ging ein Ruck durch ihren Leib und sie hörte ein Schlürfen, so als würde jemand mit einem Strohhalm die letzten Reste aus einer Saftpackung saugen. Dann schmeckte sie Blut und etwas Hartes, glattes fiel auf ihre Zunge. Ein Zahn. Ein Schneidezahn. Panisch fuhr sich Clary über ihr Gebiss. Die meisten Zähne saßen noch fest. Aber sie wusste, dass es nicht mehr lange so bleiben würde. Wie immer sie sich jetzt entschied, die Entscheidung war endgültig.
Erneut ein Schlürfen. Ein Tsunami aus verzehrendem Hunger vergewaltigte ihren Magen und ihren Kopf und fegte ihr Zögern davon. Weinend und vor Schuld schreiend biss sie in Gollys Hals und spürte das kräftigende Blut des Comforters in ihrem Mund. Golly hielt vollkommen still, so als würde Clary ihn lediglich streicheln. Er sang ein weiteres Lied, diesmal von einer eher unbekannten, melancholischen Band von der Erde, deren Alben sie immer geliebt hatte. „It was good to know you“, hieß das Lied und etwas in Clary zerbrach. Doch ihr Körper wurde vitaler, kräftiger und fast beiläufig löste sie sich von der Ader des Planetenkrebses, dessen Spur sie nicht länger folgen musste, während Gollys Gesang immer leiser und leiser wurde, bis er schließlich unter Clarys Schlürf- und Fressgeräuschen verschwand.
~o~
Clary hatte rein gar nichts von Golly zurückgelassen. Es mochte an den seltsamen Regeln dieser Welt liegen, aber sie hatte selbst ihre Knochen und ihre Fell ohne Probleme verschlingen können. Nun fühlte sie sich gut, wenn man von unermesslichem Selbsthass einmal absah. Ihre Haut war wieder glatt, ihre Muskeln kräftig und ihr Wille eisern und allein darauf ausgerichtet jene Kreatur in Stücke zu reißen und leiden, leiden, leiden zu lassen, die all das in Gang gesetzt hatte. Erfüllt von bitterer Entschlossenheit erhob sich Clary und betrat den unheilvollen Säulengang.
~o~
Es kam genau, wie Thomas befürchtet hatte. Die Reaktion des Planetenkrebses ließ nicht lange auf sich warten. Und wären Thomas Sinne nicht so angespannt und geschärft gewesen, wäre ihm vielleicht die Bewegung über ihm entgangen. So aber schnellte er zurück und durchbohrte den herabfahrenden Tentakel mit seinem Pflanzenschwert. Stinkendes Blut spritzte daraus hervor und kurz wunderte sich Thomas über seine Zielgenauigkeit, die er eigentlich nicht besitzen konnte, schon gar nicht unter diesen Bedingungen. Es gab nur eine Erklärung dafür. Das Schwert selbst oder die Mächte, die es ihm gegeben hatten, schien ihm wieder zu helfen, so wie sie es schon beim Kampf gegen Toran getan hatten.
Doch die Freude darüber hielt nicht lange an. Schon Sekundenbruchteile später schoss der nächste Tentakel aus der Decke herab. Und diesmal zielte er genau auf die schreiende Clary. Eigentlich war Thomas nicht der Heldentyp. Aber dennoch reagierte er instinktiv und fing die schleimige Extremität ab, bevor sie sich in Clarys Schädel bohren oder sie auf andere Weise verletzen konnte. Jedoch tat er das nicht mit seinem Schwert, wie eigentlich geplant, sondern mit seinem bloßen rechten Unterarm. Der Angriff streifte ihn zwar nur seitlich, aber es reichte aus, um seine Muskeln, seine Haut und seine Sehnen so zu quetschen, dass sie sich in einen regelrechten Brei aus Schmerz und Blut verwandelten.
„Fuck!“, rief Thomas, aber noch während er das tat, drehte er sich herum und schlug mit seiner Waffe so fest zu, dass er die Spitze des Tentakels abtrennte, die zuckend und warmen, stinkenden Lebenssaft spuckend auf dem Boden landete. „Warum tue ich mir das eigentlich an, Clary? Während du keinen Finger krumm machst?“, beschwerte sich Thomas und behielt den intakten Rest der Extremität im Auge, die sich mit einem glitschigen, leisen Geräusch gleich einer Schlange, die ihr Nest aufsuchte, in das wimmelnde Chaos über ihnen zurückzog. Thomas bezweifelte, dass dies der letzte Angriff gewesen war und auch, dass er einen weiteren überstehen würde. Gerade wollte er Clary am Arm packen und mit sich ziehen, um sie aus der Gefahrenzone zu bringen, als diese sich beruhigte, aufstand und mit ordentlichem Tempo denselben Weg einschlug wie er: direkt auf den mittleren der drei dunklen Gänge zu.
Kaum da sie diesen Pfad betreten hatten, hörte Thomas wie direkt hinter ihnen mit einem schleimigen, peitschenden Geräusch nicht nur einer, sondern wahrscheinlich gleich ein Dutzend der Tentakel aus der Decke hervorbrachen und versuchten, nach ihnen zu angeln. Als er sich kurz umdrehte, und seinen Lichtstrahl in diese Richtung schickte, bemerkte er mit Entsetzen, dass die Abscheulichen Greifarme nur wenige Zentimeter von ihnen entfernt waren. Ihre ekelhaften Spitzen zuckten und streckten sich gierig, hatten aber offenbar nicht die ausreichende Länge, um sie zu erreichen. Clary schien diese Bedrohung selbst in ihrer Trance noch zu spüren, denn sie war ihm bereits ein Stück vorausgeeilt, sodass Thomas sich bemühen musste, zu ihr aufzuschließen. Das war auch gut so, denn hätte er es nicht getan und sie zurückgehalten, wäre sie direkt in das entsetzliche Geschöpf hineingerannt, was sich aus der Dunkelheit vor ihnen materialisierte.
Es war humanoid, ja erinnerte von schlanken, filigranen Form seines Körpers sogar ein wenig an einen Cestral, auch wenn dieser Körper gänzlich aus dem rohen, roten Tumorgewebe seines Herren bestand. Trotzdem hatte es Arme, Beine und sogar einen Kopf. Jedoch waren diese Gliedmaßen nicht mit Füßen oder Händen ausgestattet, sondern direkt mit den Wänden und dem Boden verbunden und im Fleisch des Krebses festgewachsen. Sie bewegten sich wie auf Schienen und versprühten dabei aus ihren Poren eine scharf riechende Flüssigkeit, die schon jetzt in Thomas Lunge brannte. Das war jedoch nicht die einzige Bedrohung, die von dem Wesen ausging. Der Kopf der Kreatur war so unproportional groß, dass sein Körper ihn nicht halten konnte. Wie ein Medizinball hing er an einem dürren, langen Hals auf dem Boden und ging dem Albtraumgeschöpf wie eine Standarte voraus. Nun, zumindest, wenn Standarten mehrere Reihen von messerscharfen Zähnen und einen mit kochendem Eiter gefüllten Mund besessen hätten.
„Tja“, sagte Thomas zynisch als er sein Schwert resigniert fallen ließ, „wenigstens können wir uns aussuchen, wie wir sterben wollen, Mylady.“
~o~
Der lähmende Ekel, der Clary vor kurzem noch ausgefüllt hat, war verschwunden. Wahrscheinlich würde er schon sehr bald zurückkehren. Aber gerade waren ihre Sinne vollkommen auf ihre momentane Gegenwart konzentriert. Mit festen Schritten ging sie den Säulengang entlang und hielt ihre Augen möglichst auf den Boden oder auf ihr Ziel am Ende geheftet, selbst wenn die reißenden und matschigen Geräusche an ihren Nerven zerrten. Anfangs hatte sie einmal den Fehler gemacht, zu lange auf eines der Augenpaare zu starren, die durch das schwache Realitätsgewebe hindurchblickten. Dabei waren ihm derjenige, dem sie gehörten, immer nähergekommen. Schließlich so nah, dass sie die Struktur des Augapfels und der bleichen, runzligen Haut, die ihn umgab, fast hatte fühlen können. Vor allem aber war das Ding immer realer geworden. Es für sie genau, wie sie für es. Nicht mehr nur eine Möglichkeit, sondern ein ganz konkretes Phänomen. Ein Phänomen, das man untersuchen musste, das einen geradezu dazu einlud.
Clary hatte eine Hand gesehen, die durch die Öffnung gegriffen hatte. Nur als Andeutung zwar, aber unzweifelhaft mit der Absicht SIE zu holen. Clary hatte keine Ahnung was diese Wesen waren. Wer sie waren. Ob Götter, extradimensionale Wesenheiten oder Manifestationen des Wahnsinns selbst. Aber, bei allen Dominanten, sie hatte gewusst, dass sie von ihnen nicht berührt werden wollte. Doch zugleich hatte sie Neugier verspürt. Eine überwältigende Neugier auf diese Wesen und ihre Welt, die beinah hypnotische Ausmaße angenommen hatte. Hätte sie sich da nicht an Golly erinnert, und daran, dass sie sein unvorstellbares Opfer damit so vollkommen wertlos gemacht hätte, hätte sie dem Drang vielleicht sogar nachgegeben. So aber hatte sie den Blick abgewandt und sich ganz klein gemacht, bevor sie es wagte weiterzugehen. Wie ein Kind, das sich unter der Bettdecke versteckte. Am liebsten wäre sie jetzt gerannt um weiteren solcher Begegnungen zu entgehen. Aber das war leider unmöglich. Denn der auch der Boden barg Gefahren. Kochende Pfützen von scharfen Säuren und heißen und kalten Flüssigkeiten unklarer Zusammensetzungen übersäten ihn wie Schlaglöcher und aus kleinen Geysiren sprudelten manchmal schimmernde, regenbogenfarbene Pyramiden, Kugeln, Würfel und Polygone, die Clary noch viel suspekter waren.
So wurde jeder Schritt zur Zitterpartie, aber immerhin schien das Interesse der „Beobachter“ abgenommen zu haben, so als könnten sie sich ihr nur widmen, wenn sie ihre Existenz auch zur Kenntnis nahm. Trotzdem nahm sie manchmal ein elektrisches Knistern in ihrem Nacken wahr, eine Veränderung des Luftdrucks oder einen plötzlichen Luftzug, so als würden sie noch immer blind aber manisch nach ihr stochern. Clary blendete das aus, so gut es ihr nur möglich war. Auch bildete sie sich ein, ein paar mal ihren Namen zu hören, auch wenn es so klang als wüssten die Wesen nicht, wie man ihn richtig ausspricht.
Doch bald wurden diese Stimmen ohnehin übertönt. Verdeckt vom plötzlich einsetzenden Gesang des Planetenkrebses. Schrill, dissonant, wortlos und doch irgendwie faszinierend. Er setzte so jäh ein, dass Clary stolperte. Zwar gelang es ihr noch mit einer hektischen Bewegung der größten Pfütze aus silbergrüner, metallischer Flüssigkeit auszuweichen, die sich direkt vor ihr ausbreitete, aber sie streifte dabei mit ihrem linken Arm einen der schillernden Würfel. Die Berührung war so kalt, dass ihre Nerven brannten und sie spürte ein heftiges Ziehen als ihr Arm sich binnen Sekunden transformierte. Ab der Schulter, bis zum Ellenbogen wurde er dünn, weiß und flach wie Papier. Besagter Ellenbogen hingegen schwoll auf Melonengröße an, während ihr Unterarm sich in einen dicken Klumpen aus warzigem Narbengewebe verwandelte und ihre Hand nicht nur knallrot wurde, sondern an den Fingern in einen mal flüssigen und mal fast gasförmigen Zustand überging, der dennoch irgendwie seine Form bewahrte.
Clary schüttelte sich vor Abscheu, ließ sich aber nicht davon aufhalten. Zumal sie zwar eine gewisse Unwucht beim Gehen spürte, aber immer noch in der Lage war ihr Gleichgewicht zu halten. Außerdem hatte es immerhin nicht ihren rechten Arm getroffen. Das war wichtig, denn in dessen Hand hielt sie den abgenagten Oberschenkelknochen von Golly, dessen geschärfte, gebrochene Spitze an einen Speer erinnerte. Er war das letzte Stück von Golly, das sie nicht verschlungen hatte. Und leider war es ihre einzige Waffe, so makaber und widerlich sie auch war. Trotz erwachte in Clary. Sie war durch einen Albtraum gegangen, hatte eine Existenz als lebendes Skelett ertragen und ihren einzigen Freund in dieser WElt gefressen. Von einer lächerlichen Mutation ließ sie sich bestimmt nicht aufhalten.
Der Gesang jedoch war da schon schwerer zu ignorieren. Er trug, obwohl keine Worte zu vernehmen waren, einen Befehl. Den unmissverständlichen Befehl sich einfach hinzulegen und sich zu ergeben. Clarys Schritte wurden langsamer. Doch sie hielt nicht an. „Fick dich, du arroganter Zellhaufen“, sagte sie, umklammerte ihre Waffe fester und legte die letzten Meter des Säulengangs zurück.
Dann – endlich – stand sie vor dem Ungeheuer, dessen bloßer Anblick ihr Schmerzen bereitete und blickte auf den wabbeligen, matschigen Sack direkt vor sich. „Zeit zu operieren!“, sagte sie, hieb mit Gollys Knochen auf den Hautsack ein und schnitt sich durch das weiche Fleisch. Die Blase platzte und ein Schwall ätzender Flüssigkeit ergoss sich auf Clarys gesamten Körper.
~o~
Fienna hatte die Aggression gespürt, lange, bevor sie die wütenden Gesichter ihrer einstigen Nachbarn und Freunde auf sich zurennen sah. Dazu hatte es eigentlich keiner besonderen Fähigkeiten bedurft. Die vom Krebs geschürte Wut lag so greifbar in der Luft wie Smog und sie selbst konnte sie immer noch in sich spüren, wie ein lästiges Jucken, wie ein Kratzen in ihrem Kopf. Diese Aggression war schon sehr lange dagewesen. Seit Wochen, ja Monaten war sie schleichend gewachsen und hatte ihr reales Trauma in einen albtraumhaften Fieberwahn verwandelt. Aber etwas war nun anders. Die drückende Atmosphäre stand nicht mehr still, wuchs nicht mehr unbewegt und heimlich wie pralle reife, stinkende Trauben, die darauf warteten aufzuplatzen. Sie war in Bewegung, war ein Sturm geworden. Ein Sturm, den der Planetenkrebs entfesselt hatte und dessen Zentrum jetzt genau hier lag.
Inzwischen konnte sie sie sehen. Ihre Gesichter blitzten durch Schutznetze hindurch, die die Bäume um die Lichtung spannten. Sie kannte nicht jeden von ihnen – das war auch in einer eher spärlich besiedelten Welt wie Cestralia schwer. Aber sie kannte viele. Zu ihnen gehörten Noringat, ein großartiger Handwerker und Architekt und eine herzensgute Person, die bei seinen Entwürfen für neue Bauwerke immer die Wünsche aller zukünftigen Bewohner miteinbezog und beim Bau immer fleißig mit anpackte. Trivella, eine fantastische Zuhörerin und Seelenheilerin mit einem Herz größer als der Nebelbaum. Oder auch Rroivana, eine umtriebige Forscherin, die in ihrem großen von Leben wimmelnden Kuppel-Labor ein komplexes digitales Archiv über die Tier- und Pflanzenwelt Cestralias geschaffen hatte, dessen literarische Qualität einem Roman in nichts nachstand und in deren Einträgen man in jeder Zeile das Staunen und die Liebe zu allem, was lebte, spüren konnte.
Sie alle waren verkommen zu Masken ordinärer, zorniger Gleichförmigkeit, aus denen – obgleich noch immer lebendig – beinah jegliche Individualität gebrannt worden war. Nicht durch die übernatürliche Kraft magischer Gedankenkontrolle, sondern durch das willige Feuer des Hasses. Geformt und gelenkt durch das Etwas, dessen Wurzeln Fienna im Bauch des Planeten graben hören konnte. Sie schritten voran. Nicht träge und taumelnd wie Zombies oder unkontrolliert wie wilde Tiere, sondern entschlossen wie ein Heerwurm auf einer Mission, die nur eines beinhalten konnte: die Kontrolle über die Magiesonne, die ihren parasitären Demagogen noch davon abhielt, sich Cestralia gänzlich einzuverleiben.
Ob Nartial, oder Clary und die anderen Besucher noch lebten, wusste sie nicht. Doch selbst wenn, waren sie nicht hier. Alles, was noch zwischen dieser Menge und diesem Ziel stand, war Fienna. Ihre widerwillige Herrscherin, die selbst alles andere war als eine strahlende Heldin.
Schon waren die ersten von ihnen heran. Sie trieben ihre Speere krachend in die Bäume und feuerten auf die Netze, die die halb-ätherischen und doch nicht minder tödlichen Geschosse vorerst noch scheinbar mühelos auffingen. Doch dieser Eindruck täuschte. Fienna konnte ihre Schreie hören. Sie konnte spüren, wie die stummen Wächter der Lichtung ein winziges Stück ihrer Widerstandskraft einbüßten, während die langen Arme des Krebses prüfend und begehrlich an ihr Wurzelgeflecht hämmerten, auf der Suche nach der entscheidenden Schwachstelle.
Schon rollte die nächste Welle heran. Die Angreifer, nun so kurz vor ihrem Ziel vergaßen ihre gerade noch gezeigte militärische Disziplin. Sie drängten sich vor, quetschten sich rücksichtslos aneinander vorbei, stapelten sich wie panische Käfer übereinander und schossen und hieben auf die Bäume und ihre Schutznetze ein, ließen sie erzittern und splittern, schneller als sie sich regenerieren konnten. Fienna hatte keine Wahl. Sie musste handeln, bevor ihre Vorbereitung vergeblich war, unabhängig von den Konsequenzen.
Fienna konzentrierte sich, spürte eine frische, kühle Brise an sich vorbeiziehen, die die Grenzen zwischen Fantasie und Realität passierte und sich als mächtige Windböe gegen die Angreifer entlud. Das vom Krebs gesteuerte Heer wurde wie ein Haufen Spielzeugsoldaten zurückgeworfen. Sie stolperten, krachten ineinander, überschlugen sich und Fienna bildeten sich ein, dass sie Knochen und sogar Genicke brechen hören konnte. Dass viele Augen sich für immer schlossen. Und es war mehr als Einbildung. Tatsächlich standen so manche ihrer Leute niemals wieder auf.
Fienna verscheuchte diese Erkenntniss. Ja, sie lächelte sogar und bemühte sich, sich zu entspannen und an etwas Schönes zu denken. Denn ihre besondere Magie, die Möglichkeit die Mentravia in die Wirklichkeit zu bringen, hatte zwei Schwächen. Man konnte kein Ereignis zweimal erschaffen und sie funktionierte nur, solange man glücklich und entspannt war und wurde schwächer mit jedem Leid, das man empfand.
Fienna dachte nicht an diese bittere Ironie. An die Unmöglichkeit dieser Voraussetzung. Sie dachte an Abende an Lagerfeuern, an harmonische Liebesnächte, an philosophische Erkenntnisse in anregenden Diskussionen und an bewegende, lyrische Höhenflüge, während sie tiefe Gräben aushob, schwarze Löcher erschuf und das Fleisch ihrer Freunde und Nachbarn mit Flammen röstete.
Irgendwann öffnete sie die Augen, unfähig die Schreie und Gerüche weiter zu ignorieren. Vor ihr stapelte sich ein Leichenberg, der sich von den Tiefen der Grube bis zur halben Höhe der Bäume erhob. Hunderte Tote, hunderte Namen, Trilliarden Gedanken und nun nicht mehr als ein Haufen schimmernden Fleisches. Fiennas Beherrschung zerbarst. Ihre Entspannung explodierte in einen Splitterregen aus Tränen und verzweifelten Schreien, während schon wieder die ersten Nachzügler über den wachsenden Hügel aus Toten kletterten.
Ihre besondere Macht war dahin, das fühlte sie. Doch das war nicht ihr größtes Problem, wie ein plötzliches, schrilles Kreischen am Himmel bewies. Ihr müder Blick wanderte nach oben und traf auf ein paar dutzend Traumschlagen, die sich langsam und siegessicher auf den Landeanflug vorbereiteten. Dort, wo kein schützendes Netz sie davon abhalten würde, sich die Magiesonne zu holen.
~o~
„Geht in Deckung, das kann ungemütlich werden“, rief Callan, als er mit seinem Pinpointer auf die von Tentakeln wimmelnde Membran zielte. Er hatte keine Ahnung, welche Wirkung ein Schuss hier drin entfalten würde, aber es wäre wohl besser, wenn er kein Risiko einging. Makra und Scynra gehorchten, zogen sich schnell zurück und drückten sich flach auf dem harten Planetenkrebsgewebe nieder.
Dann schoss Callan und seine Vorsicht erwies sich als gute Idee, denn die verbesserte Waffe riss nicht nur ein gewaltiges Loch in die Membran, sondern erzeugte auch eine große Menge an Hitze und eine beachtliche Druckwelle, die Callan, wenn er ein Geber oder Have-Non gewesen wäre, direkt an die Wand gepresst und ihm vielleicht den Schädel zerdrückt hätte. Makra und Scynra entgingen der Wirkung größtenteils, während die aus der Decke ragenden Greifarme im heißen Feuer des Pinpointers verschmort wurden.
„Fuck, Yeah!“, keuchte Callan triumphal. Doch seine Freude währte nur kurz als sich aus den Resten der Kammer, die sich hinter der Membran verborgen hatte, ein ganzer Haufen schlangenartiger, gelblich-schleimiger Wesen mit flachen, spitzen Köpfen und verdickten, grünlichen Schwänzen ergoss. Es waren dutzende, hunderte womöglich. Eine zweite, widerliche Verteidigungslinie, die sofort auf ihn, Makra und Scynra zukroch. Und das verflucht schnell.
„Steht auf! Jetzt gleich!“, gelang es Callan noch die beiden Frauen zu warnen, dann begannen die Wesen bereits mit ihrem Angriff. Instinktiv wollte Callan zu seiner Waffe greifen, doch die Gefahr, damit eine der beiden Frauen zu treffen, war zu groß. Also beschränkte er sich darauf, mit dem Lauf zuzuschlagen und sich mit Händen und Füßen Luft zu verschaffen, während die Kreaturen um jeden Preis versuchten, sein Gesicht zu erreichen.
Callan ahnte, warum sie das taten, doch selbst mit seinen schnellen Reflexen gelang es ihm nur mühsam sie davon abzuhalten, sich in Mund oder Nase zu schieben. Immer wenn er ein Schlangengeschöpf wegschleuderte, es zerriss oder seinen Kopf zerquetschte, nahm ein anderes seinen Platz ein. Er mochte sich gar nicht vorstellen, wie es Scynra und vor allem Makra erging. Sicher, beide Frauen konnten sich durchaus verteidigen. Aber das konnte er auch und dennoch machte er keine sonderlich gute Figur.
Zu spät sah er seinen Fehler ein. Schon der kurze Gedanke, den er seinen Gefährtinnen gewidmet hatte, hatte ihn abgelenkt und nun steckte eines der Wesen mit dem dürren Kopf in seiner Nase. Die Kreatur schob, drückte, presste und wühlte als hinge ihr Leben davon ab. Callan spürte Blut in seine Nase schießen, fühlte den Knorpel unter dem Druck ächzen und taumelte unter dem heftigen Schwindel, der ihn befiel. Panisch versuchte er das Ding herauszuziehen, doch er riss dabei lediglich die Schwanzspitze ab, was das Vorankommen der Kreatur kein bisschen verlangsamte. Während er darum kämpfte, sich zu befreien, sprang ein weiteres Wesen in das andere Nasenloch und versperrte den letzten Weg auf dem noch etwas Luft in seine ausgehungerten Lungen gelangte, da er seinen von weiteren Schlangen belagerten Mund fest verschlossen hielt.
Panik befiel Callan. Er wusste seit seinen Untergrund-Abenteuern in Deovan, dass er lange ohne Sauerstoff auskam, aber er bemerkte auch, dass die Schlangen den Atem aktiv aus seinen Lungen heraussaugten. Sein Schwindel wurde schnell heftiger und als sein Nasenknorpel schließlich brach und die Haut aufriss, brachte ihn der Schmerz dazu, den Mund zu öffnen. Game Over, dachte er, als er bemerkte wie sich die bislang ausgesperrten Geschöpfe auf die begehrte, feuchte, dunkle Höhle stürzten. Aber just in diesem Moment ließen die Wesen von ihm ab. Sogar die, die bereits halb in ihn eingedrungen waren, zogen sich zurück, was Callan trotz aller Erleichterung vor Schmerzen aufschreien ließ.
„Wie ist das möglich?“, fragte er sich verblüfft, kurz bevor er die Antwort selbst sah. Makra stand aufrecht in der Mitte der Kammer und trieb die Schlangenwesen wie eine Beschwörerin mit ihrer Peitsche zusammen.
Dabei entging ihr keineswegs Callans fragender Blick. „Ich bin mir auch nicht sicher, warum das funktioniert hat“, antwortete sie, „wir Andrin haben eine Verbindung zu Schlangen und mit ihnen verwandten Arten. Ich schätze, dass dieser Krebs diese Tiere aus der Umgebung rekrutiert, verändert und als Wächter in sich integriert hatte. Aber ein Teil ihres ursprünglichen Erbes muss erhalten geblieben sein.“
„Das oder dir kann einfach keiner widerstehen“, sagte Callan schelmisch und verzog das Gesicht als seine ruinierte Nase ihn für ein angedeutetes Lächeln bestrafte.
Bevor Makra etwas darauf antworten konnte, gab Scynra, die neben Makra auf dem Boden kniete einen ächzenden Schmerzenslaut von sich. „Sie sind in mir“, wimmerte sie, „ich kann es fühlen. Sie suchen einen Weg zu meinem Gehirn, und …“
„Sei still und öffne deinen verdammten Mund“, brüllte Makra herrisch.
Scynra gehorchte und einen Augenblick später krümmte sie sich in spastischen Zuckungen und würgte hustend zwei von Magensaft benetzte Schlangen aus, die Makra auf den Haufen dirigierte, auf dem sich die anderen bereits tummelten.
„Gib den Dingern den Rest, Callan!“, sagte Makra angestrengt, „sie sind nur zu einem Bruchteil Tiere. Ich kann die Kontrolle nicht mehr lange halten.“
„Mit Vergnügen“, sagte Callan, richtete seinen Pinpointer auf das Gewimmel und verursachte ein hübsches, knuspriges Schlangenragout. Einen Moment blieb er triumphal stehen, während Makra Scynra auf die Beine half. Dann hörte er ein beunruhigendes Geräusch aus dem mittleren Tunnel kommen.
„Clary“, sagte Callan hoffnungsvoll, „dort muss sie sein!“
Falls sie noch lebt und das kein weiteres Ungeheuer ist, flüsterte eine zweifelnde Stimme in seinem Kopf, die Callan nach Kräften ignorierte.
~o~
Thomas fühlte sich erbärmlich. Sogar noch erbärmlicher als sonst. Nicht nur, dass ihm die Fähigkeit abhandengekommen war, sein Leben aktiv zu gestalten, nun konnte er sich nicht einmal entscheiden, welchen Tod er wählen sollte. Immerhin hatte er es fertiggebracht Clary zu sich zu ziehen, damit sie nicht sofort von dem Ungeheuer verschlungen wurde. Irgendwie hatte er das Gefühl, ihr Trost spenden zu müssen und wohl auch sich selbst.
Er würde nicht allein sterben. Das stand auf der Haben-Seite. Nein, nicht allein, sondern Arm in Arm mit einer Frau, die er nicht sonderlich mochte, die kein Interesse an ihm hegte, die nichts von seiner tröstenden Berührung mitbekam und ihn weder hören noch sehen konnte. Der Traum eines jeden Incels.
Thomas lachte, damit er nicht weinen musste. Immerhin war das heranrückende Ungeheuer langsamer geworden. Es kroch voran auf seinen Fleischschienen. Schleifend, pirschend und genüsslich, da es wusste, dass sein Opfer ihm nicht entkommen würde. Im Grunde hatte Thomas seine Wahl durch seine Untätigkeit bereits getroffen. Dass es aber die Richtige gewesen war, bezweifelte er. Schon allein angesichts der scharfen Dämpfe, die seine Augen entflammten und seine Haut zum Jucken brachten. Wie musste es erst sein in diesem Säuremund zerrissen und verdaut zu werden? Nein, dachte Thomas. Das war wirklich keine gute Entscheidung gewesen. Aber das traf so ziemlich auf jede Entscheidung zu, die er getroffen hatte. Angefangen mit der Entscheidung, mit wachem Geist und offenem Herzen durch die Welt zu gehen, anstatt sich das Hirn wegzuballern und sich zu betäuben bis er dumm genug war, diese Welt für lebenswert zu halten.
„Zurück!“, hörte er eine Stimme rufen, die wie das Rascheln von Blättern und das Knarzen von Ästen klang. Die Stimme kam aus dem Schwert, das er gerade erst wieder aufgehoben hatte, in der Hoffnung, dieses Monstrum wenigstens etwas zu ärgern, wenn es sie beide holte.
Zuerst wollte er die Stimme ignorieren, war er doch viel zu resigniert und katatonisch um auf das besserwisserische Flüstern eines außerirdischen Waldes zu hören. Dann jedoch drang exakt dasselbe Wort erneut an seine Sinne. Diesmal in einem herrischen, aber weiblichen Tonfall. Dass er diesmal sofort gehorchte und zusammen mit Clary rückwärts taumelte, dorthin wo er die Tentakel des Planetenkrebses vermutete, mochte an der Autorität dieser Stimme liegen. Oder am bloßen Schreck, da die Kreatur sich plötzlich wieder viel viel schneller auf sie zubewegte.
Thomas rechnete mit dem Schlimmsten, doch sein Tod kam weder von hinten noch von vorne. Stattdessen rasten drei Schemen an ihm vorbei, direkt auf das Wesen zu. Schemen, die er durchaus kannte. Es waren Callan, Makra und Scynra und sie waren eindeutig auf Streit aus. Doch nicht mit ihm. Stattdessen warfen sie sich auf die Kreatur. Trotz der Säure, trotz ihrer Hässlichkeit und Abscheulichkeit gingen sie auf sie los und wüteten dabei wie eine Naturgewalt.
Makra riss ihr die Zähne und Muskeln mit ihrer tückischen Peitsche ab, Scynra trennte ihre Verbindung zu Wand und Boden mit ihrem Skalpell und die mächtigen Geschosse von Callans unscheinbarer Waffe stanzten ein Loch in die groteske Visage die mitsamt des langen Halses in einem Regen aus Blut, Säure und schmierigem Gewebe nach hinten geschleudert wurde. Während all dies geschah, tat Thomas nichts, außer staunend zuzusehen und Clary davon abzuhalten in das tödliche Inferno hineinzumarschieren.
Schließlich war es vorbei. Vorerst zumindest. Und außer einigen kleineren Säurewunden hatten die Angreifer keine nennenswerten Schäden davongetragen.
Es war Callan, der sich zuerst aus seiner triumphalen, aber erschöpften Starre löste und auf ihn zukam. Ein kräftiger Mann mit den Bewegungen eines Straßenkämpfers aber dem Selbstbewusstsein eines Konzernbosses. Thomas forschte in seinem Gesicht. Würde er ihn hassen, weil er seine beste Freundin hierhin entführt hatte? Weil er sich von ihnen getrennt hatte? Weil er sie nicht zurück in Sicherheit gebracht hatte? Das noch immer vom Kampf gerötete, harte Gesicht des Deovanis, der sich in Thomas’ Augen gerade erschrecken wenig von Toran unterschied, ließ diesen Schluss durchaus zu.
Aber dann streckte Callan ihm die Hand entgegen. „Danke“, sagte er, „Danke, dass du auf Clary aufgepasst hast.“
„Ich habe sie an einen der schlimmsten Orte Cestralias geführt“, widersprach Thomas zu seiner eigenen Überraschung und vermutete pure Lebensmüdigkeit hinter diesem unnötigen Schuldeingeständnis.
„Du hast sie dorthin begleitet“, stellte Callan fest, „das ist ein Unterschied. Sie wäre auch ohne dich hierhergekommen oder hätte es wenigstens versucht. Und wahrscheinlich hätte sie es nicht geschafft. Du hast sie beschützt. Vor den Angriffen des Planetenkrebses und womöglich auch vor weiteren Gefahren. Vor Toran vielleicht sogar? Wir haben gesehen, was mit ihm passiert ist. Haben sein Schreien und Flehen gehört und ihn den Wurzeln überlassen. Bist du dafür verantwortlich? Er hat dich jedenfalls lautstark verflucht.“
„Ja“, sagte Thomas, „Toran wollte Clary aus dem Weg schaffen. Er ist ein Diener des Planetenkrebses.“
„Dann hast du alles richtig gemacht“, sagte Callan, „wirklich bewundernswert. So wie du dich uns gegenüber bisher verhalten hast, hätte nicht ich gedacht, dass du dich so für andere einsetzen würdest.“
„Hätte Ich auch nicht“, sagte Thomas, „aber ich bin kein böser Mensch, Callan. Das war ich nie. Ich bin einfach nur verdammt müde.“
Und das stimmte sogar in doppelter Hinsicht. Es war nicht allein die seelische Erschöpfung, die Thomas zusetzte. Auch sein Körper kam langsam an seine Grenzen.
„Müde sind wir wohl alle auf die ein oder andere Weise“, sagte Callan, „deshalb sollten wir den Krebs schnellstmöglich schlafen schicken. Dann können auch wir uns Ruhe gönnen. Ich denke, er ist ganz in unserer …“
„Vorsicht!“, warnte Thomas, der den anschwellenden, befehlenden Gesang noch vor den anderen bemerkte. Doch seine Warnung kam zu spät. Callan, Makra und Scynra blieben stehen, lauschten andächtig den Worten des Planetenkrebses und bewegten ihre Lippen Synchron zu einem Befehl, dessen Inhalt sich geändert hatte.
„Kommt heim, kommt heim, seid nicht allein
Wenn meine Stimme euch begleitet
Verteidigt mich und bringt euch ein
Für euch mein Leib sich herzlich weitet
Löscht alle Feinde meiner Sache
Und alle, die mich nicht verehr’n
Findet euch ein und haltet Wache
Gemeinsam sollen wir uns weh’rn“
Anders als vorher verstand Thomas, die Worte nun, auch wenn sie ihn – genau wie Clary – immer noch kaltließen. Doch bei den anderen verfehlte der Befehl seine Wirkung nicht. Seine Begleiter sahen Thomas jetzt ganz genau an. Noch abschätzend zwar, ein wenig widerstrebend, aber mit einer Beherrschung die mit jedem Atemzug sichtlich abnahm. Callan begann bereits träge seinen Pinpointer zu heben und Scynra strich nachdenklich mit der Hand über sein Skalpell. Thomas überlegte fieberhaft, was er jetzt tun konnte. Er erwog sogar, ihre Trommelfelle zu durchstechen und hätte es um ein Haar getan. Aber dann fiel sein Blick auf die Überreste der kürzlich bezwungenen Kreatur und eine noch verzweifeltere Idee nahm in seinem Kopf Gestalt an.
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„Das ist abbsolut widerlich“, beschwerte sich Makra als sie das stinkende Tumorfleisch in ihrem Ohr betastete.
„Ich hatte keine andere Wahl“, sagte Thomas, „nicht, wenn du nicht taub oder die Sklavin dieses denkenden Tumors sein solltest. Das dürfte einer Andrin doch besonders zuwider sein, oder? Von anderen kontrolliert zu werden.“
Man konnte sehen, dass Makra eine schnippische Erwiderung auf der Zunge lag. Doch sie entschied sich dagegen, sie auszusprechen und wurde stattdessen versöhnlich. „Guter Junge“, sagte sie und strich Thomas mütterlich über den Kopf.
„Thomas hat richtig gehandelt“, bestätigte Scynra, „und uns wahrscheinlich vor schlimmerem bewahrt. aber jetzt ist keine Zeit für Heldenverehrung. Wir müssen uns beeilen. Der Einfluss des Planetenkrebses nimmt zu. Ich kann ihn selbst jetzt immer noch den Einfluss spüren. Schwach zwar, aber das kann sich ändern. Und das Gewebe in unseren Ohren gehört letztlich immer noch zu ihm. Niemand weiß, über welche Einflussmöglichkeiten er verfügt. Wir müssen den Kern dieser Abscheulichkeit finden. So schnell es nur geht.“
„Ehrlich gesagt bin ich mir fast sicher, dass Clary den Weg finden wird.“, sagte Thomas und ließ Clary endlich los, „selten habe ich eine so zielstrebige Frau erlebt. Wir müssen nur dafür sorgen, dass sie ihr Ziel auch erreichen kann.“
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Und genau das taten sie. Der junge Planetenkrebs, dessen Hauptaugenmerk wohl noch immer auf seiner Expansion lag, statt auf seinem eigenen Innenleben, warf ihnen überraschend wenig Widerstand entgegen, während sie sich ihrerseits wie Parasiten in seine übergroßen Eingeweide bohrten. Ein paar mal begegneten sie ähnlichen Kreaturen wie denen, die sie bereits besiegten hatten. Versklavten Tiere wie Flugkreaturen, Säugetiere und Reptilien oder seltsame Monstrositäten – gleich überdimensionaler Immunzellen –, die versuchten sie auszuschalten. Doch jedes Mal gelang es ihnen, die Oberhand zu behalten. Vor allem, da Callan den Großteil dieser Kreaturen bereits aus der ferne mit seinem Pinpointer neutralisieren konnte.
Endlich aber kamen sie zu einer großen Kammer, die gleichermaßen erstaunlich und furchteinflößend aussah. Sie wurde dominiert von einer riesigen, gallertartigen, halbdurchsichtigen Kuppel. Im Inneren dieser Kuppel lag – hell pulsierend – ein amorphes, vage kugelförmiges Etwas, das von einer ganzen Heerschar kleiner Helfer mit weißlichen Nahrungsbrocken versorgt wurde. Diese Helfer erinnerten an ein laufendes Ypsilon und bestanden nur aus zwei rudimentären Beinen und einem Kopf, der eher wie eine Hand funktionierte. Mit traumwandlerischer Sicherheit bewegten sich diese vollkommen identischen Geschöpfe über kleine, enge Brücken, von denen dutzende mit der Kuppel verbunden waren. Diese Brücken wiederum erstreckten sich über einem dunklen, gewaltigen Abgrund, der bis in die Tiefen der Erde führen mochte. Die Y-Wesen wirkten auf den ersten Blick harmlos und schienen lediglich daran interessiert ihre Fracht durch die transparente Hülle hindurch zu ihrem Ziel zu bringen, was ihnen so mühelos gelang, als könnten sie durch Wände gehen.
„Beeindruckend“, befand Makra, „ich weiß, Nartial hat uns davon berichtet. Aber es fiel mir dennoch schwer, mir vorzustellen, dass das Zentrum des Krebses ein sprichwörtlicher Zellkern ist. Eigentlich hätte ich eher an ein Gehirn oder etwas in dieser Richtung gedacht.“
„Diese Annahme ist verständlich“, sagte Scynra, „die meisten höheren Geschöpfe sind so aufgebaut. Doch Planetenkrebse sind im Grunde keine komplex aufgebauten Lebewesen. Eigentlich sind sie eine einzelne riesige, entartete, extrem adaptive und flexible Zelle, die alles in ihrem inneren zentral lenkt. Sie kann sich teilen, etwa wenn sie ihre Infektion verbreiten will, aber ein Gehirn besitzen sie nicht. Ihre Intelligenz ist eher metaphysischer Natur. Trotzdem sitzt ihr Bewusstsein in diesen Zellkernen. Wenn man sie ausschaltet, schaltet man auch den Krebs aus. Theoretisch jedenfalls.“
„Theoretisch?“, fragte Thomas skeptisch.
„Die Forschung ist in diesem Bereich nicht sehr weit gediehen“, sagte Scynra, „sie war zwar eines meiner Spezialgebiete in Hyronanin, aber weder an die existierende Sekundärliteratur noch an die Untersuchungsobjekte konnten wir leicht gelangen. Nicht einmal mithilfe der Portalmaschine. Einen vollständigen Planetenkrebs zu entführen ist kein Kinderspiel. Und in den Archiven waren wir nie gerne gesehen. Wir wissen deshalb nicht, ob jeder Planetenkrebs bei der Zerstörung seines Zellkerns auf dieselbe Weise reagiert. Es ist sogar zu erwarten, dass sie es nicht tun, da sie auch bei anderen Merkmalen genügend Unterschiede zueinander aufweisen. Das ist auch der Grund, aus dem ich dieses Wissen bislang für mich behalten habe. Für meinen Geschmack gibt es dabei zu viele Variablen.“
„Finden wir es doch einfach heraus“, sagte Callan und bevor ihn jemand davon abhalten konnte feuerte er mit seinem Pinpointer direkt auf die schützende Hülle des Zellkerns. Callan sah sich bestätigt als vier der Y-Männchen, die direkt in der Flugbahn des Geschosses lagen, förmlich auseinandergerissen wurden, samt ihrer nahrhaften Fracht.
Doch Callans zufriedenes Lächeln verschwand sofort, als das Geschoss sein eigentliches Ziel erreichte und ihn Sekundenbruchteile später die Druckwelle von den Beinen fegte. So heftig, dass er um ein Haar in den Abgrund gestürzt wäre, hätte Makra ihn nicht geistesgegenwärtig an den Händen gepackt und mit der Hilfe der anderen wieder hochgezogen.
„Das war ein kompletter Reinfall, Süßer“, sagte Makra.
„Offenbar“, gab Callan zu, „aber wer hätte das ahnen können.“
„Ich“, sagte Scynra schmunzelnd, „meine Versuche mit diversen Proben hatten ergeben, dass das Schutzgewebe des Zellkerns nicht gut auf Whe-Ann-Technologie reagiert. Wahrscheinlich ein Überlebensmechanismus aus ihren hartnäckigen Versuchen sich in Anntrann anzusiedeln. Aber auch die meisten anderen Energiewaffen haben ihre Schwierigkeiten mit diesem speziellen Gewebe. Die Zellhülle kontrolliert sehr genau, wer oder was sie passieren kann. Allerdings muss ich zugeben, dass ich nicht damit gerechnet habe, dass die Wirkung vollkommen ausbleibt. Nicht bei dieser Energiemenge. Das ist ungewöhnlich. Aber leider müssen wir es wohl akzeptieren. Kinetische Projektile funktionieren für gewöhnlich etwas zuverlässiger. Leider haben wir keine hier.“
„Könnten wir uns nicht an diese Dinger heften und uns mit ihnen gemeinsam hereinschleichen? Sie immerhin können doch passieren, oder?“, überlegte Makra.
„Das könnte gelingen“, sagte Scynra, „oder wir werden dabei in Scheiben geschnitten. Wahrscheinlich letzteres.“
„Wenn wir ihm seine Versorgung abschneiden, müsste er doch verhungern“, sagte Callan und zeigte auf den Schaden, den seine Waffe an den Y-Kreaturen angerichtet hatte, „wir müssen nur seine Lieferboten ausschalten und seine Versorgungswege abschneiden.“
„Ein guter Ansatz“, lobte Scynra, „aber das wird wahrscheinlich zu lange dauern.“
„Was ist mit Nahkampfangriffen?“, fragte Makra, „können wir ihm nicht mit deinem Skalpell oder meiner Peitsche die Scheiße mit aus dem Leib prügeln?“
„Leider nein“, sagte Scynra, „die Regenerationseigenschaften des Parasiten sind dafür wahrscheinlich zu stark. Selbst wenn es uns gelänge, ihn zu verletzen. Damit das von Dauer wäre, müssten wir viermal so viele sein.“
„Was sollen wir denn sonst tun?“, fragte Callan frustriert, „wenn du all das geahnt hast, warum hast du uns dann nicht gewarnt, dass unsere Mission vollkommen sinnlos ist? Und komm mir jetzt nicht mit deinen verschissenen Variablen.“
„Hätte ich euch all das vorher erzählt, hättet wir es nie ausprobiert“, verteidigte sich Scynra, „und ich hätte mich durchaus irren können. Das kann immer noch der Fall sein. Probiert gern alles aus, was ihr ausprobieren wollt. Ihr solltet nur wissen, dass es mit Risiken verbunden ist.“
„Na fantastisch“, fluchte Callan.
„Clary scheint einen Plan zu haben“, bemerkte Thomas als sich die bislang untätig dastehehende Frau plötzlich wieder ganz zielstrebig auf den Zellkern zubewegte.
„Geben wir ihr doch die Chance“, sagte Makra, „Nartial und Fienna wollten sicher nicht ohne Grund, dass sie uns begleitet. Nartial ja sogar gesagt, dass sie sich dem Krebs stellen muss, damit wir ihn bezwingen können. Vielleicht kann sie in ihrer Mentravia etwas erreichen, was uns hier unmöglich ist. Callan, Du solltest mit ihr gehen. Pass auf sie auf und vertreib dir ruhig die Zeit damit diese Y-Wichser auszuschalten. Schaden kann es ja nicht.“
„Ist gebongt“, sagte Callan und heftete sich sofort an Clarys Fersen.
„Und was tun wir solange?“, fragte Thomas.
Seine Antwort erhielt er prompt, als hinter ihnen ein schleimiges Geräusch ertönte und sich eine wahre Phalanx aus assimilierten Tieren und monströsen Auswüchsen des Krebses durch das Tor quetschte, durch das sie hereingekommen waren. Neben den bekannten Schlangenwesen, dicken warzigen Tentakeln und den großköpfigen „Fresserwesen“ gab es unter anderen rot glänzende Flugkreaturen mit spitzen Mäulern, die wie Lenkdrachen an dünnen Schnüren befestigt waren, kleine käferartige Geschöpfe mit langen Beinen und Fühlern, die sich wahnsinnig schnell bewegten und sogar einige vierbeinige, gesichtslose Kolosse, die in ihrer Monstrosität und Trägheit, aber auch in ihrer Form an lebendig gewordene Driggdonn-Panzer erinnerten. Umso mehr, da sie kochendes Fleisch und heißen Eiter aus ihren rüsselförmigen Körperöffnungen verschossen.
„Wie wär’s damit um unser Leben zu kämpfen“, antwortete Makra und zückte ihre Peitsche.
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Clarys gerade erst regenerierte Haut stand in Flammen, schmolz geradezu von den Knochen und das ohnehin schon verbogene, verzerrte Bild, das ihr ihre Augen lieferten, verwandelte sich binnen Sekunden in vollkommene Schwärze. Sie versuchte sich die Säure abzuwischen, aber ihre Muskeln gehorchten ihr kaum noch und die ätzende Flüssigkeit klebte an ihr wie Teer. Sie fraß sie von außen nach innen. Dennoch ging Clary voran, den spitzen Knochen fest umklammert.
Kurz bevor sie blind geworden war, hatte sie nämlich noch etwas gesehen. Direkt vor sich, nur wenige Meter von ihr entfernt. Es hatte ausgesehen wie ein Baby in einem organischen Brutkasten. Falls das der Kern des Planetenkrebses war und sie ihn erstach, würde sie das alles beenden können. Probeweise hieb sie mit ihrer improvisierten Waffen in die Luft ohne auf Widerstand zu stoßen. Clary tastete sich weiter voran, unsicher, was sie noch wirklich ertastete und was nur die sensorischen Schreie ihrer sterbenden Nerven waren. Sie ging einen Schritt voran. Noch einen. Dann brach sie zusammen. Der Knochen fiel aus ihrer Hand und sie würgte förmlich ihre Eingeweide durch ihren brennenden Hals. Sie war gescheitert. Nach all ihren Mühen und Leiden war sie dennoch gescheitert.
Plötzlich meinte sie etwas zu spüren. Eine Berührung womöglich oder der kribbelnde Abschiedsgruß ihres verendenden Tastsinns. Letzteres, sagte sie zu sich selbst. Es muss letzteres sein. Dann löschte eine Welle von Schmerzen ihre Gedanken aus.
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Fienna handelte ohne nachzudenken. Da sie keine eigene Macht mehr besaß, zapfte sie die kleine Magiesonne an und entfesselte damit einen regelrechten Sturm aus Energie. Der Himmel über ihr verdunkelte sich augenblicklich und zog sich wie ein zerknülltes Stück Papier zusammen, bevor er in einer Kaskade blendenden Lichts explodierte. Einige der Traumschlangen verdampften sofort. Andere wurden schwer verwundet und zugleich viele Kilometer weit fortgeschleudert. Als der Zauber endete, war die Bedrohung aus der Luft Vergangenheit. Erst als Fienna einen erschöpften Atemzug nahm und sich langsam in die Höhe stemme, begriff sie, was sie getan hatte. Die Sonne war kleiner geworden und weniger hell. Nur ein kleines Stück zwar, aber doch genug, dass es ihren erfahrenen Augen nicht entging.
Sie hatte sie begangen, die größte Dummheit, die überhaupt möglich war. Sie war tatsächlich so egoistisch gewesen, ihr eigenes Überleben zu sichern, indem sie das, was sie beschützen vorgab, verzehrte. Nun, mancher mochte argumentieren, dass sie keine Wahl gehabt hatte. Dass andernfalls die korrumpierten Traumschlangen den letzten Widerstand zerschlagen und sich die Sonne geholt hätten. Aber das änderte nichts daran, wie elend sie sich fühlte und dass sie sich schwor, lieber zu sterben als diese Energiequelle noch ein einziges Mal anzurühren. Doch ihre Gewissensbisse waren nicht das einzige Problem, das sie hatte. Es gab noch ein viel größeres, handfesteres, wie sie erkannte, als ihr Blick zur Baumgrenze schweifte. Das Netz, das die Lichtung bisher geschützt hatte, war verschwunden. Nicht gänzlich, zum Glück, wie ein feines Flimmern über dem Erdboden bewies. Wenigstens die Wurzeln der Bäume sollten weiter vor dem Zugriff des Krebses geschützt sein und verhindern, dass der Parasit selbst sich die Sonne einverleibte. Aber das Netz stellte nicht länger eine Barriere für ihr wahnsinnig gewordenes Volk dar.
Schon trauten sich die ersten vorzupreschen, gingen ungehindert zwischen den Stämmen hindurch, direkt auf die begehrte Magiequelle zu. Noch waren es nur wenige. Eine handvoll vielleicht. Aber in wenigen Minuten würden es dutzende von ihnen sein. Mehr als sie ohne eine externe Kraftquelle bewältigen könnte. Wie sehr sie sich doch wünschte, dass Nartial an ihrer Seite wäre. Aber das war er nicht. Grimmig ergriff Fienna ihren Speer, um sich den Angreifern zu stellen. Sie würde bis zum letzten Augenblick kämpfen, selbst wenn das am Ende bedeutete, unschuldiges Blut zu vergießen. Vielleicht geschah noch ein Wunder, und die anderen bezwangen in der Zwischenzeit diese Pest, die ihre Welt befallen hatte. Fienna glaubte nicht wirklich daran, doch es war die einzige Hoffnung, die sie noch hatte.
Plötzlich registrierte sie eine Bewegung aus dem Augenwinkel. Instinktiv wollte sie zuschlagen, doch sie erkannte gerade rechtzeitig, dass es kein weiterer, irre gewordener Cestral war, sondern eine mit einer schwarzen, klobigen Schusswaffe bewaffnete Bravianerin, die sie vor vielen Wochen, bei ihrer Ankunft in der Stadt begrüßt hatte.
„Wilbella“, sagte sie überrascht, „was machst du hier?“
„Dir beistehen“, sagte sie und gab sofort einen Schuss auf die heranstürmenden Angreifer ab, der einen von ihnen so ungünstig am Oberschenkel traf, dass es ihn wortwörtlich von den Beinen riss und die Schmerzen ihn fürs Erste vom Vorrücken abhielten, „ein paar deiner Leute, die sich noch im Untergrund aufhalten, haben mir von eurer Notlage berichtet. Und ich bin nicht allein.“
Sie sprach die Wahrheit, wie Fienna kurz darauf feststellte. Hinter ihr kamen dutzende vom „Dunkelweltlern“ aus dem Tunnel hervor und stürzten sich in den Kampf. Andrin, Bravianer, Rorak, Deovani, Scyonen, Gesunder und Angehöriger weiterer Völker stürmten an die Frontlinie und warfen der krebsgesteuerten Masse alles entgegen, was sie hatten.
„Ich danke euch“, sagte Fienna erleichtert, bevor sie sich selbst wieder mit frischem Mut in den Kampf stürzte, „aber versprecht mir eins: falls ihr könnt, dann lasst meine Leute am Leben, wenn ihr sie bekämpft. Es hat schon genug Tote gegeben.“
„Wir versuchen es“, sagte ein kräftiger, dunkelhäutiger Rorak. Demonstrativ verstaute der Koloss die wuchtige Gräberkanone in seinen Pranken in seinem Armeerucksack und tauschte sie gegen eine zielgenauere Strahlenwaffe aus, „aber versprechen kann ich nichts.“
Dann eröffnete auch er das Feuer und konzentrierte sich dabei zu Anfang tatsächlich nur auf die Füße und Beine der hypnotisierten Cestral. Doch als der Ansturm massiver wurde, und die rund dreißig „Dunkelweltler“ sich einer vielfachen Übermacht gegenübersahen, die ihnen nicht nur mit Nahkampf-, sondern auch mit ihren Schusswaffen zusetze, versank auch er im blinden Kampfesrausch. Schon kurz darauf tat Fienna es ihm gleich.
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Es war die plötzliche Stille, die Fienna aus ihrer Trance riss. War da vorher noch das laute Schnauben und Knurren der Rorak, dass Knallen von Andrin-Peitschen oder die Kampfschreie der Bravianer gewesen, hörte sie nun überhaupt nichts mehr. Die vom Planetenkrebs aufgestachelten Cestral kämpften wütend, aber leise. Fast gespenstisch leise. Und offenbar waren sie außer ihr die letzten, die sich noch am Kampf beteiligten.
Der kräftige Rorak lag durchlöchert auf dem Boden, den martialischen Kampfanzug mit Blut getränkt. Die Glieder der Andrin waren so oft gebrochen, dass sie – obgleich lebendig – nicht mehr ins Geschehen eingreifen konnten. Viele weitere ihrer Verbündeten waren ebenfalls gefallen. Nur Zahlen, nur Verfügungsmasse in der geistlosen Maschinerie des Abschlachtens. Fienna fühlte sich schuldig. Hätte sie Widerstand leisten dürfen um diesen Preis? Hätte sie nicht einfach fliehen und die letzten Momente in Freiheit ohne Schmerz genießen sollen? Genau wie jene ihrer Unterstützer, die sich – meist schwer verwundet – wieder in die temporäre Sicherheit des Tunnels zurückgezogen hatten. Geborgen und beruhigt von harmonischen Erinnerungsfetzen und sanften Traumnebeln bis sie ihr düsteres Schicksal schließlich ereilen würde? Wäre es nicht besser gewesen, all diese Leute dem Schoß des Planetenkrebses zu überantworten anstatt den kalten Händen des Todes und einem ungewissen Nachleben?
Diese Frage schwebte einen Moment in Fiennas Geist, während die Übermacht sie unerbittlich einkreiste. Langsam, entspannt, vollkommen siegesgewiss und mit einer geradezu sadistischen Freude. Doch ein Blick in die Augen ihrer einstigen Vertrauten und Freunde genügte, um die Frage mit einem klaren „Nein“ zu beantworten. Schon jetzt, obwohl der Parasit sie noch nicht besetzte wie eine Handpuppe, sondern lediglich an den Fäden ihres Hasses zupfte, war da nur unsägliches Leid und grenzenlose Unzufriedenheit zu erkennen. Der Krebs brachte keinen Frieden. Kein Vergessen. Nur unsäglichen, grenzenlosen Hass und Selbsthass. Das allein war sein Geschenk. Und darauf konnte sie dankend verzichten. Die Überlebenden mochten keine Wahl mehr haben, keinen Ausweg aus diesem Schicksal, aber sie schon.
„Zeit für meine letzte große Mentravia, meine Freunde“, sagte sie zu sich selbst als die Speere gehoben und die Schusswaffen durchgeladen wurden, um ihr Blut zu kosten, „wo immer sie mich hinführen mag.“
Dann hörte sie eine Stimme unter sich. Sie war Dunkel, grimmig, aber auch schwach und gebrochen. „Duck dich!“, befahl sie.
Und Fienna gehorchte. Sie kauerte sich zusammen, machte sich klein, wie das Kind das einst mit seinen Freunden verstecken gespielt und sich mit angehaltenem Atem unter dem Tisch verborgen hatte.
Dann wurde es hell und laut als der Rorak explodierte. Die Körper der umstehenden Cestral nahmen der Druckwelle die größte Wucht. Aber dennoch spürte Fienna die Explosion wie einen harten Schlag gegen den Rücken, zusammen mit der Hitze, die ihre Haut rötete und ihre Haare versengte. Dann begannen die Schreie. Laute, gequälte, panische Schreie, zu schrecklich um durch bloßes Feuer verursacht zu werden. Fienna blickte auf und verstand, warum. Es war nicht nur die Hitze oder die Explosion, die ihre Leute heimsuchte. Es waren kleine, rattenartige Wesen, die sich in ihre Körper fraßen, ihre Nerven zerfetzten und ihre Gehirne verspeisten. Der Rorak musste eine ganz besondere Bombe gezündet haben. Eine Gräber-Bombe. Doch das Entsetzlichste waren nicht einmal die Schreie oder das Leid, die Fienna beobachtete. Das Schlimmste war, dass ihre Leute im Moment dieser Qualen wieder ganz sie selbst wurden. Sie riefen nach ihr. Flehten um Hilfe.
„Fienna, hilf uns“, „Es tut uns leid“, „Wir wollten das nicht“, „Es tut so weh“, schallte es ihr tausendfach entgegen, während die Gesichter von Schuld und Schmerz zerrissen wurden. Doch es war zu spät. Das wusste sie genau. Nicht ein einziger von ihren Leuten würde das hier überleben. Nicht einmal die, deren Eingeweide nicht zu großen Teilen in der Explosion verdampft waren.
Fienna wollte ihnen etwas sagen, wollte sie wenigstens trösten, aber sie bekam ihre Lippen nicht auseinander. Jedes Wort, das sie hätte sagen können, kam ihr in diesem Moment lächerlich vor. Zudem beherrschte eine bohrende Frage ihr denken: „Warum lebe ich noch?“, raunte sie in die blutgetränkte Nacht. Die Antwort auf diese nicht philosophisch, sondern ganz praktisch gemeinte Frage gaben ihr die Gräber am Boden. Einige von ihnen krochen auf sie zu, schnupperten, bleckten die Zähne, doch sobald sie ihr und dem geisterhaften Schein vor ihren Füßen zu nahe kamen, drehten sie sofort um.
Die Magiesonne, begriff sie, sie schützt mich. Also blieb sie in der feigen Sicherheit des Artefakts zurück und genoss seinen unsichtbaren Schutz, während ihre Leute qualvoll verendeten. Als sie alle tot waren, rückte bereits die nächste Reihe heran. Erwachsene, aber auch einige Kinder, was Fienna noch mehr mit Entsetzen erfüllte. Sie wurden begrüßt von einer Horde ausgehungerter Gräber, die nur wenige Exemplare eingebüßt hatte. Die lebenden Geschosse krochen ihnen entgegen. Augenscheinlich wie eine Phalanx zu Fiennas Schutz, doch in Wahrheit allein getrieben von ihrem Hunger und ohne Rücksicht auf Fiennas Wünsche. Lieber wäre sie gestorben, als noch mehr Cestral so grausam dahinscheiden zu sehen.
Doch so kam es auch nicht. Plötzlich nämlich ging ein Ruck durch ihre überlebenden Freunde. Sie alle drehten sich um und rannten genauso eilig von der Lichtung weg, wie sie hierhergekommen waren. Für einen kurzen Moment fragte Fienna sich, ob der Krebs seine Puppen auf diese Weise beschützen wollte. Aber so richtig glaubte sie das nicht. Es musste einen anderen Grund für diesen plötzlichen Sinneswandel geben.
„Clary“, kam ihr eine mögliche Erklärung in den Sinn und sie schöpfte einen winzigen Funken Hoffnung. Ja, so musste es sein. Sie und die anderen mussten den Krebs schwer in Bedrängnis gebracht haben. Sonst gäbe es keinen Grund für ihn, die fast schon sichere Beute so kurz vor dem Ziel aufzugeben. Fienna kämpfte sich hoch und folgte ihren Leuten. Sie hatte keine Ahnung, ob sie den anderen würde helfen können, ob ihr geschundener Körper und ihre wunde Seele irgendeinen Unterschied in dieser Schlacht machen könnten. Aber sie würde es zumindest versuchen müssen, wenn sie nicht wollte, dass ihr schlechtes Gewissen sie in den Wahnsinn trieb.
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Eigentlich hatte Thomas seinen Mut fast verloren. Aber nun, wo die Kreaturen wie eine Welle aus Fleisch auf ihn zurollten, hatte er ihn wiedergefunden, so paradox das auch schien. Vielleicht lag es auch daran, dass seine Rettung so nah war. Er war jahrelang durch eine solche Hölle der Leere, der Sinnlosigkeit und des ständigen Selbstzweifels gegangen, hatte Tag für Tag gegen so viele untragbare Lasten angekämpft, dass ihm diese Höllenbrut geradezu wie ein Witz erschien. Er packte sein Schwert fester und die besondere Waffe gab ihm noch einmal zusätzliche Kraft. Und die brauchte er auch. Zwar waren die panzerartigen Wesen so langsam, dass noch nicht einmal ihre vorausgeschickten Geschosse bei ihm angekommen waren und die Flugwesen schienen sich vor allem Makra und Callan als Ziel auserkoren zu haben. Aber das bedeutete nicht, dass er unbehelligt blieb. Die ersten der flinkeren Kreaturen, wie der Schlangen und der Käfer, suchten bereits nach möglichen Opfern und auch die „Fresser“, jene Kreaturen mit ihren riesigen Köpfen, deren Glieder auch hier am Boden festgewachsen waren und ihn wie Treibsand durchschwammen, hatten Thomas bereits erreicht.
Bei seiner ersten Begegnung mit den Abscheulichkeiten hatte er sie aus lauter Furcht nicht einmal angegriffen. Aber jetzt war es anders. Schon allein, weil er in dem großen Raum mehr Bewegungsfreiheit hatte. Zwar verzweigte sich die große Plattform, auf der er stand schon einige Meter hinter ihm in jene kleine Brücken, auf denen sich die Y-Wesen und auch Clary und Callan befanden, doch hier hatte er noch jede Menge Platz.
Und diesen Platz nutzte er aus. Noch ehe ihn das riesige, wabblige Maul erfassen konnte, sprang er zur Seite und hieb mit aller Kraft gegen den weichen Körper der Kreatur. Ein rissiger Riss entstand und stinkendes, ätzendes Blut spritze aus der Wunde, während sich das Vieh in Qualen wand. Normalerweise hätte ihm das hervorspritzende Zeug mindestens das Gesicht verätzen sollen, aber die Waffe, die er von Cestralia selbst geschenkt bekommen hatte, saugte das Gift für ihn auf, ohne dabei Schaden zu nehmen.
Ich bin fucking unverwundbar, dachte Thomas sich, entzog sich den verzweifelten Abwehrbissen des Wesens und vergrößerte die Wunde, bis sich eine Reihe von „Pseudo-Organen“ offenbarten, die allesamt aus gewöhnlichem Muskelfleisch bestanden. Thomas ignorierte den Gestank, trat einige zudringliche Käferwesen zur Seite und sprang nach vorn. Furchtlos flog er durch die stickige Luft, während seine Waffe weiterhin die giftigen Körperflüssigkeiten wie süßem Nektar trank, und stieß sein Schwert in das, was er für das Herz des Wesens hielt. Er schien sich nicht zu täuschen. Der „Fresser“ bäumte sich noch einmal auf und blieb dann still und regungslos liegen. Doch nur ein paar Atemzüge später nahm schon die nächste Kreatur seinen Platz ein und kroch über die zermatschten Überreste ihres Vorgängers hinweg. Aber Thomas ließ sich nicht beirren. Er wiederholte seine Erfolgsstrategie und hinterließ auf diese Weise zwei weitere Leichen von Geschöpfen, die eigentlich nie wirklich eigenständig gelebt hatten.
„Ein Kinderspiel“, sagte Thomas und gluckste beinah vergnügt. Sein Herz blieb zwar so taub und leer wie eh und je, aber sein Selbstbewusstsein stieg dennoch gewaltig an. Er war mächtig, bedeutend, unverwundbar. „Kommt nur her!“, sagte er provozierend zu den „Fressern“, die diesem Befehl schon ganz von allein nachkamen. Er fürchtete sie nicht, fürchtete nicht mal die nachrückenden, eiterspuckenden Panzergeschöpfe, die sich langsam in Schußposition brachten.
Dann spürte er einen Stich in seinem Bein, gefolgt von einem Spannungsgefühl in der Haut. Er sah herunter. Sein Unterschenkel war angeschwollen, glasig und bis zum Zerplatzen gespannt. Eine dicke, bleiche Schlange, die ein wenig den Tentakeln ähnelte, die er am Eingang dieses lebenden Albtraums gesehen hatte, hing daran fest. Hastig hieb Thomas mit seinem Schwert auf das Ding ein. Solange, bis es schlaff wie ein toter Fisch an seinem Bein hing, und zog den Kopf der Kreatur aus der Wunde. Kaum, da er das getan hatte, ergriff ihn ein heftiger Schwindel. Sein Bein knickte weg und schmerzte zugleich wie die Hölle. Mit trüben Augen sah er auf die nahenden Fleischpanzer, die klickend ihre organischen Kanonen auf ihn ausrichteten.
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„Was hast du nur vor, Clary?“, fragte Callan und sah verwirrt dabei zu, wie seine Freundin über die Zellhülle strich, so als müsse sie mit den Fingerkuppen eine Blindenschrift entziffern. Manchmal bewegten sich ihre Lippen und flüsterten unendlich leise etwas völlig Unverständliches. Doch mehr geschah nicht, und das machte ihn zunehmend nervös. Bisher hatten sie Glück gehabt. Das Kampfgeschehen hatte sich vor allem auf der Plattform abgespielt. Das war für sich genommen natürlich schlimm genug, da er nicht hatte eingreifen können, um die anderen – allen voran Makra – zu unterstützen. Aus dieser Entfernung hätte jeder seiner Schüsse einen Verbündeten Treffen können. Auch seine Versuche, die Hülle mit einem Skalpell zu durchstoßen, welches ihm Scynra ausgeliehen hatte, hatte wie vermutet nicht viel bewirkt. Zwar gelang es ihm, die dünne Haut zu durchdringen, aber sie wuchs praktisch augenblicklich wieder zu. Deshalb hatte er sich vor allem damit beschäftigt, die Straßen und Versorgungskreaturen in seiner direkten Nähe unter Feuer zu nehmen, selbst wenn er bezweifelte, dass ihnen das in ihrer Situation helfen würde.
Inzwischen aber war es mit der Ruhe vorbei. Immer mehr der Lenkdrachenwesen „verirrten“ sich zu ihnen und beschossen sie mit Stacheln, Säure oder ihren langen Zungen oder versuchten sie mit ihren Klauen von der Straße in die Tiefe zu stürzen. Zweimal, ganz zu Anfang, als Callan noch nicht mit den Angriffen gerechnet hatte, wäre ihnen das fast gelungen. Doch inzwischen war Callan aufmerksam und zielsicher genug, um die Flugwesen bereits im Anflug auszuschalten. Der große Explosionsradius seiner Geschosse, der in anderen Situationen eher ein Fluch gewesen war, kam ihm dabei zugute. Dennoch wurde es immer schwieriger, mit den immer zahlreicheren Angriffen, die von allen Seiten kamen, mitzuhalten. Schon jetzt stand Callan der Schweiß auf der Stirn und manchmal ertappte er sich dabei, wie sein Finger am Abzug zitterte. Ewig würde auch er diese Tortur nicht durchhalten. Es wurde höchste Zeit, dass Clary tat, was auch immer sie tun musste.
Plötzlich fuhr Callan ein gewaltiger Schreck durch die Glieder, als er beobachtete, wie Makra in Bedrängnis geriet. Die Andrin, die sich nach Kräften mit ihrer tückischen Peitsche zur Wehr setzte, war inzwischen von den Flugkreaturen regelrecht umzingelt. Eine von ihnen hatte sich sogar auf ihren Rücken gesetzt und verlangsamte ihre Bewegungen, während sie vergeblich versuchte sie abzuschütteln. „Hey, Makra braucht Hilfe“, rief Callan zu den anderen, aber er niemand schien ihn zu hören oder wenigstens nicht auf seine Warnung zu reagieren. Das verwunderte ihn nicht, denn sie waren in ihre eigenen Kämpfe verwickelt. Makra würde keine Hilfe bekommen. Außer natürlich von ihm. Callan überlegte hin und her. Er konnte Clary nicht im Stich lassen, aber wenn er Makra nicht half, würde sie ganz sicher …
Plötzlich hörte er hinter sich das Rascheln von Flügeln. Er fuhr herum und erblickte eines der Flugwesen. Es war direkt zwischen ihm und Clary gelandet. Auf zwei seiner dürren Beinen stakste es voran, bereit seine Flügelenden auf den Rücken der wehrlosen Frau zu legen und öffnete dabei seinen tödlichen Mund.
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Scynra betrachtete das Schlachtfeld. Jedoch nicht mit den Augen einer Kriegerin oder Militärstrategin, sondern mit denen einer geübten Chirurgin mit profundem Wissen über verschiedenste Spezies. Die seltsamen Abwehrkräfte dieses speziellen Planetenkrebses waren ihr zwar unbekannt, aber wenn sie eines aus ihrer moralisch oft fragwürdigen, medizinischen Tätigkeit in Hyronanin gelernt hatte, dann, dass sich die meisten Lebewesen doch ähnlicher waren, als es auf den ersten Blick schien. Das galt auch für die Carziden, die dazu neigten, andere biologische Strukturen nachzuahmen. Aus diesem Wissen leitete sie eine Hypothese ab und bewaffnet mit dieser Hypothese und ihrem Skalpell, stürmte sie direkt auf einen der widerlichen Eiterpanzer zu. Mit mehr Glück und Verbissenheit als mit Geschick wich sie diversen Angriffen von Schlangen, Fressern und versprengten Flugkreaturen aus und widerstand dem Brechreiz wann immer die kochenden gelblichen Geschosse in ihrer unmittelbaren Nähe detonierten. Zum Glück war sie solche – und schlimmere – Miasmen aus ihrer Heimat gewöhnt. Genau wie ein gewisses Maß an körperlichen Schmerzen. Denn immerhin gehörte es zum Initiationsritus der Gesunder, eine Vivisektion ohne Betäubung durch die älteren Gesunder zu erdulden. Insofern setzten ihr die Eiter-, Fleisch- und Säurespritzer, die sie gelegentlich abbekam, kaum zu. Überhaupt lief alles erstaunlich glatt für sie. Solange jedenfalls, bis sie über eine dicke Käferkreatur stolperte, die unvermittelt zwischen ihren Füßen auftauchte.
Zwar entging sie deren Beißzangen, war jedoch zu einem unglücklichen Ausfallschritt gezwungen. Der wiederum ließ ihren Fuß leicht umknicken und brachte sie der sie direkt vor der Eiterkanone eines der Panzer zum Stehen. Scynra hörte ein unheilvolles Schmatzen und spürte die sich bildende Hitze in ihrem Gesicht, während sie realisierte, dass ihr ein rechtzeitiges Ausweichen unmöglich war.
Nicht bereit, ihr Leben mit einem blankgekochten Schädel auszuhauchen, tat sie das einzig mögliche. Sie zielte mit ihrem Skalpell direkt auf den oberen Rand der konvulsierenden Eiterschleuder, wo sie das Spiel der Muskeln beobachten konnte und warf ihr Skalpell. Das feine Messer drehte sich in der Luft, so schnell, dass es zu einem Klingenwirbel wurde und schnitt mitten durch den Muskel. Der Panzer gab einen blubbernden, kreischenden Laut von sich, während das tödliche Rohr erschlaffte. Statt ihren Triumph zu genießen, kletterte Scynra an dem matschigen Fleischhaufen hoch, wobei sie sich mehr auf ihre kräftigen Arme verließ als auf ihren verletzten Fuß. Zunächst rutschte sie ab, doch dann gelangte sie nach oben und überlegte ihren Plan direkt bei diesem Exemplar umzusetzen.
Nein, dachte sie, das Ding ist nun nutzlos. Stattdessen nutze sie den Panzer als Sprungbrett, ignorierte das fiese Reißen in ihren Bändern und landete ungeschickt auf dem Rücken des nächsten Panzers. Mit vor Schmerzen zusammengekniffen Lippen kramte sie eines ihr Ersatzskalpelle hervor und suchte den Rücken der Kreatur genau ab. Schließlich fand sie, wonach sie gesucht hatte. Eine wulstige Verdickung kurz hinter den Eiterkanonen. Sie kniete sich hin, schnitt behutsam und wartete das Toben und Zittern des Wesens ab. Dann wischte sie den – zum Glück nicht kochenden – Eiter, der aus der Wunde lief, mit einem Tuch weg und legte eine Reihe von Nervensträngen frei.
Jackpott, dachte sie. Sie hatte sich an ähnlichen Experimenten mit Insekten-Humanoiden beteiligt, bei denen die Anatomie höchstwahrscheinlich vergleichbar gewesen ist. Die kognitiven Funktionen konnte man über so ein System wahrscheinlich nicht kontrollieren. Sicher nicht einmal bei einer so vergleichsweise einfach aufgebauten Kreatur wie dieser. Die Motorik hingegen … Scynra zupfte an einer der äußeren Stränge und der Biopanzer bewegte sich nach links. Nicht ganz das, was sie brauchte. Aber nach zwei weiteren Versuchen hatte sie den Dreh raus und konnte sogar die verschiedenen Kanonen drehen und betätigen. Ab und zu hatte sie das Gefühl, dass das Wesen – oder sein Herr – einen Gegenimpuls losschickte, aber das war nicht mehr als ein kleines Ärgernis. Sicher noch nicht virtuos, aber mit nicht zu leugnendem Talent steuerte und feuerte sie die Geschosse auf die anderen Panzer, die sich erfreulich anfällig für das Bombardement zeigten. In einem wahren Massaker sprengte die Eiter- und Fleischprojektile Kanonen ab, rissen große Löcher in die Körper der Panzer und zerschmolzen einige der motorischen Steuerzentralen. Und das alles ohne nennenswerte Gegenwehr. „Das macht Spaß“, flüsterte Scynra glucksend zu sich selbst. Und Makra hätte sich sicherlich über ihren naiv-unbeschwerten Gesichtsausdruck amüsiert, den die ernste Gesunderin sonst so gut wie nie zur Schau trug.
„Ach, hat es dir Spaß gemacht, mit mir zu spielen?“, fragte plötzlich eine fast kindliche, böse Stimme, direkt in ihrem Kopf, „dann spiele ich jetzt mal mit DIR.“
Scynra riss vor Entsetzen die Augen auf, als sich die Nervenfasern wie von Geisterhand aus dem schleimigen Steuerelement lösten, und sich direkt in ihr Rückenmark bohrten. Sie spürte ein Ziehen und Drücken in ihren Nerven. Dann sah sie zu, wie ihr Körper sich bewegte. Ganz ohne ihr Zutun.
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„Eine waschechte Drachenreiterin, fürwahr“, alberte Thomas herum, dessen Gehirn sich bereits unter dem Einfluss des Schlangengiftes vernebelte. Trotzdem stand echte Bewunderung für Scynra hinter seinen Worten, die ihm nicht nur davor bewahrt hatte in kochendem Eiter zu enden, sondern dieses ekelhafte Monstrum auch so spielend beherrschte wie eine Dompteurin, „wie schade, dass ich mein Talent verloren habe. Sonst müsste ich ein Epos darüber verfassen. Die Heldentaten von Scynra, der Schleimpanzerreiterin.“
Dümmlich und seltsam euphorisch gemacht von einer Quelle, die nicht aus ihm selbst entstammte, sah er auf sein Schwert, dessen Spitze ja immerhin einem Schreibwerkzeug ähnelte. „Vielleicht sollte ich doch etwas schreiben“, brabbelte er wie angetrunken, während er mit der Feder über den organischen Boden kratze und diese tatsächlich blaue, leuchtende Linien darin hinterließ, wie von fluoreszierender Tinte.
„Oh Engel kommt hinab vom Firmament, seht den Kampf, der hier entbrennt“, schrieb er surreal beschwingt, während ihm das Gift zugleich die Todesangst und die Übelkeit durch den Körper trieb.
Doch es waren weder Gift noch Angst, die ihn aus seiner albernen Stimmung rissen, sondern das Eitergeschoss, das weniger als einen halben Meter neben seinem Kopf einschlug. Und mehr noch das leere, aber konzentrierte Gesicht von Scynra, die ihn diesmal ganz genau ins Visier nahm.
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So eine Scheiße, fluchte Makra innerlich. Anfangs hatte es ziemlich gut für sie ausgesehen. Ihre Peitsche war praktisch die ideale Waffe gewesen und sie hatte die Flugkreaturen nicht nur effektiv auf Distanz gehalten, sondern auch etliche von ihnen verwundet oder getötet. Doch gegen ihre schiere Anzahl konnte sie nicht ankommen. Auch wenn sich einige der Kreaturen trotzdem auf den Weg zu Callan und Clary gemacht hatten, hatte sie ihr Möglichstes getan, sie zu sich zu locken, um den beiden Luft zu verschaffen. Nun hatte sie die Quittung dafür erhalten. Erst in kleinen und dann in immer größeren Gruppen hatten die Biesgter die Schwächen ihrer Verteidigung ausgenutzt und sich an sie herangeschlichen, sodass sie inzwischen von ihnen umzingelt war, wie von einer Traube tödlicher Luftballons. Nur dadurch, dass sie ihre Peitsche wie einen stacheligen Schlagring um ihre Hand geschlungen hatte, konnte sie die Schnäbel davon abhalten ihr Gesicht zu zerfetzen, auch wenn sie dennoch schon einige Bisse und Schnitte davongetragen hatte. Lange würde sie das nicht mehr durchhalten. Es war ohnehin ein Wunder, dass die Viecher nicht ihre Säureattacken anwendeten. Wahrscheinlich lag das nur daran, dass sie über eine Art basalen Selbsterhaltungstrieb verfügten und wussten, was die Flüssigkeit aus dieser Distanz auch mit ihnen und ihren Artgenoßen anrichten würde.
Dennoch brauchte Makra einen Ausweg, einen Plan, egal wie wahnsinnig er auch sein würde. Sie wollte nicht sterben. Schon gar nicht jetzt, wo sie dieses interessante Lust-, Liebes- und Versuchsobjekt kennengelernt hatte. Doch Eigennutz war nicht der einzige Grund. Sie wollte Callan Schmerzen zufügen. Natürlich. Eine Menge davon sogar und auf viele kreative Weisen. Aber nicht den Schmerz, sie zu verlieren. So grausam war sie nicht.
Makra schüttelte mit einer gewaltigen Kraftanstrengung endlich jene besonders zudringliche Kreatur ab, die es sich auf ihrem Rücken bequem gemacht hatte und tastete mit ihrem Fuß in den Abgrund hinter sich, auf den sie sich mit voller Absicht zubewegt hatte.
„Fuck it“, sagte sie, ließ sich abrupt fallen, entrollte ihre Peitsche und schwang sie exakt in die Richtung, wo sie den hübschen Strauß „Schnüre“ vermutete, der diese „Lenkdrachen“ kontrollierte. Sie hatte gut gezielt. Ihre Dornenpeitsche fand Halt, sie gab ihr einen Ruck und mit einem dämonischen Kreischen zerriss die Lebensader dutzender Kreaturen.
Ein stiller Triumphschrei wuchs in Makra. Doch er wurde zu einem lauten Angstschrei, als ihre Peitsche, die sie Halt suchend in den Boden geschlagen hatte, durch das glitschige stinkende Blut, das aus diesen „Nabelschnüren“ sprudelte, einfach abrutschte. Hilf- und Haltlos fiel sie hinab in den tiefen, tödlichen Abgrund.
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Fienna war schweißgebadet. Zwar hatte sie festgestellt, dass sie sich schnell bewegen konnte als die gleichgeschalteten Cestral. Dennoch hatte es sie viel Mühe gekostet, nicht nur die restlichen Gräber zu umgehen, sondern sich an die Spitze des Mobs zu setzen. Zum Glück hatten sich ihre Leute abgesehen von ihrer bloße, körperliche Anwesenheit nicht aktiv daran gehindert sich an ihnen vorbeizudrängen. Außerdem hatten das Rennen und die totale körperliche Verausgabung sie selbst davon abgehalten, der lockenden Stimme des Krebses Gehör zu schenken. Nun stand sie vor dem engen Tunnel, der ihr gewiss Einlass in das Innere des Ungetüms gewähren würde. Sie hätte es sich gleich denken können, dass der Hauptsitz des Planetenkrebses hier lag. Direkt unterhalb der Wurzeln des Nebelbaumes.
Doch wahrscheinlich hatten ihre Naivität und die Ungeheuerlichkeit dieses Gedankens ihr Urteilsvermögen getrübt. Und jetzt spielte es auch keine Rolle mehr. Der Baum konnte sich selbst verteidigen, selbst gegen solche Parasiten. Zumindest dann, wenn er noch jung war, und tatsächlich verzweifelt genug, das Einzige liegenzulassen, was es ihm ermöglicht hätte, diesen Widerstand zu brechen. Das war vollkommen irrational wenn der Krebs nicht um sein nacktes Überleben rang. Clary und die anderen mussten ihn gerade bekämpfen und vielleicht sogar gewinnen. Das war die einzige Erklärung, die für sie Sinn ergab. Aber noch konnte dieser Kampf nicht entschieden sein. Denn die Stimme des Ungetüms erklang unvermindert laut. Ja, vielleicht sogar noch lauter in ihr und um sie herum. So richtig verstand sie die Worte nicht. Aber wenn sie etwas genauer hinhören würde … Fienna schlug sich buchstäblich die Faust ins Gesicht, um ihre Gedanken zu klären. Sie durfte diesem Locken nicht nachgeben. Sie wusste, was dann geschehen würde, hatte es selbst erlebt. Sie würde den anderen nicht helfen, sondern sogar zu einer Gefahr für sie werden. Selbst ohne ihre Kräfte. Vielleicht war es eine dumme Idee gewesen hierherzukommen? Immer war Fienna nicht mehr als eine Barriere aus Knochen, Muskeln und einem störrischen Geist. Das war alles, was sie aufbieten konnte. Erbärmlich geradezu. Aber sie konnte auch nicht nichts tun, oder?
Trotzig baute sie sich vor dem Loch auf, dass sie unzweifelhaft als Zugang zum Inneren des Parasiten erkannte und verschloss ihn mit ihrem Körper. Die Vorhut der Cestral erreichte sie schon wenige Sekunden später. Fienna rechnete mit roher Gewalt. Mit dem unbedingten Willen, sie aus dem Weg zu schaffen. Aber stattdessen hielten ihre Leute an. Sie wirkten irritiert. Ivenna, eine junge Abenteurerin, die sie flüchtig kannte, sprach zu ihr. Wütend, mit vor Zorn sprühenden Augen, aber immerhin verständlich und allein ihre Worte machten sie für einen Moment wieder zu einer realen Person, nicht zu einer abstrakten Bedrohung.
„Geh verdammt nochmal aus dem Weg, Fienna! Du verhinderst die Reinigung!“, polterte sie.
„Das ist eine Verseuchung, keine Reinigung“, protestierte Fienna.
„Nein, du irrst. Die Dunkelweltler verseuchen uns. Der Wurzelnde, der Umfangende, der weit Grabende und tief Suchende wird uns befreien. Von Schwäche. Von Zweifel!“, widersprach Ivenna mit einer seltsamen Mischung aus Zorn und Verklärung.
„Der Krebs belügt euch!“, versuchte es Fienna noch einmal, doch Ivenna schien sie nicht zu hören und die anderen hatten sie inzwischen umzingelt. Langsam, zögernd, kamen sie näher.
„Komm mit uns, ODER GEH UNS AUS DEM WEG!“, schrie Ivenna und diese letzten Worte brüllte sie so unnatürlich laut, dass Fienna förmlich hören konnte, wie die Stimmbänder der armen Frau rissen. Selbst wenn dies hier gut ausgehen sollte, würde sie stumm bleiben.
„Nein!“, beharrte Fienna traurig, aber entschlossen.
Die Antwort der Menge bestand jetzt nicht mehr aus Worten, sondern aus Taten. Nionret, ein eigentlich sanfter, gutmütiger Botaniker schlug ihr so heftig in den Bauch, dass sie sich Fienna übergab. Und es war nur der Auftakt. Es hagelte Tritte, Schläge und einige schreckten nicht einmal davor zurück, sie zu beißen. Darunter auch die Stimme, die beständig von hinten durch ihren Hinterkopf biss. Immer und immer tiefer fraß sie sich in ihre Hirnwindungen hinein. Doch Fienna widerstand. Wissend, dass womöglich jede Sekunde zählte, in der sie die Verstärkung für den Krebs zurückhielt.
Sie hielt durch, auch wenn es sie alle Beherrschung kostete. Solange jedenfalls, bis sie – in einer Atempause zwischen den Attacken auf ihren geschundenen Körper – zum Horizont aufblickte. Dort erhob sich eine geistlose Masse, nicht nur aus Cestral, sondern aus unzähligen, kleinen, großen, fliegenden, krabbelnden und springenden Tieren. Aus Neblern, Wunschwichten, Jantrallen, Wiederbringern, Netzschwimmern und anderen wunderbaren, friedlichen Kreaturen aus den Wäldern Cestrals. Vereint, getrieben von einer Welle des gehorsamen Hasses. Vielleicht waren es nicht alle Geschöpfe Cestralias, aber doch alle im näheren Umkreis. Fienna war eine Kämpferin. Aber als sie das sah, zerbrach etwas in ihr. Das Haus ihrer Seele stürzte ein. Und Trogenza zögerte nicht, diese Ruine zu besetzen.
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Nun, da Callan eine Entscheidung getroffen hatte, war sein Zögern Geschichte. Er war in Makra verknallt, liebte sie wahrscheinlich sogar. Aber Clary war seine Freundin. Schon lange. Er war für sie verantwortlich und noch dazu war sie direkt hier und nicht dutzende Meter entfernt von ihm. Sie konnte er retten. Callan handelte wie im Traum, ja fast wie ein Junkie auf High Rise. So als könnte er fliegen. Als wäre er ein Held. Als wäre der Tod überhaupt keine denkbare Bedrohung. Er sprang auf die Flugkreatur zu, legte seine Arme um sie und stürzte sich – getrieben von dem eigenen Schwung – mit ihr zusammen in die Tiefe. Während sich das Vieh unter seinem Gewicht in schwindelerregenden Flugmanövern wand und versuchte, wieder an Höhe zu gewinnen, zückte er seinen Pinpointer und richtete ihn auf sie beide. Callan fragte sich, ob Devell ihn für mutig gehalten hätte. Oder für dumm. Nun, vielleicht würde er das bald herausfinden.
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Manche behaupten, dass das eigene Leben kurz vor dem Tod an einem vorbeiziehen würde. Ob das stimmte, wusste Thomas nicht. Aber er wusste, dass er sich lieber diesen einen letzten Moment einprägen würde als den ganzen Rest. Sein Leben war zu großen Teilen beschissen gewesen. Und der Teil, der es nicht gewesen war, war sogar noch schlimmer. Um ihn zu trauern würde ihn härter treffen als die Eitergeschosse, die Scynra für ihn vorbereite.
Aber dieser eine Moment, den er gerade erlebte war groß. Er fühlte es noch immer nur schwach, wie durch staubiges Glas, aber wusste dennoch, dass er großes geleistet hatte. Er hatte einen Marathon beendet und das war verdammt viel für einen Typen, der einen tonnenschweren Rucksack an Verzweiflung hinter sich her zerrte. Dass er auf der Ziellinie starb, war da zweitrangig.
Thomas machte sich bereit abzutreten. Doch bei seinem letzten Rundumblick über die zwar hässliche, aber auch wundersame und herrliche exotische Umgebung der außerirdischen Zellkammer fielen ihm ein paar Dinge auf, die ihm seinen geplanten Heldentod verleideten. Zum einen beobachtete er, dass sowohl Callan als auch Makra in die Tiefe stürzten und Clary vollkommen schutzlos vor dem Zellkern des Planetenkrebses stand. Zum anderen entdeckte er zu seiner Verblüffung, dass zwei leibhaftige, verfickte Engel von der Decke herabschwebten. Thomas war ein Atheist wie er im Buche stand. Mit Flügeln, Muskeln, Heiligenschein, Schwertern und allem, was zu einem ordentlichen Klischee gehörte. Er glaubte nicht an ein göttliches Zeichen – welche Macht sollte eine Buchreligion vom anderen Ende des Multiversums hier auch besitzen – aber er glaubte an die Macht der Worte und er erinnerte sich an die albernen Zeilen, die er gekritzelt hatte. So schnell, wie er noch nie in seinem Leben etwas getan hatte, nahm er sein Schwert, nein, seine Feder und schrieb die Worte: „Rettet meine Freunde und mich“ auf den glitschigen Boden. Die Zeilen leuchteten auf. Und die Magie begann ihr Werk.
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„Was zum Bankrott, ich meine, was zur Unverkäuflichkeit ist hier gerade geschehen?“, fragte Callan, der fassungslos, aber geistig und körperlich weitgehend gesund neben Makra, Scynra stand, statt einen matschigen Fleck auf dem Boden zu bilden.
„Er muss es wissen“, sagte Makra, die nicht weniger überrascht war und zeigte dabei auf Thomas, „schau dir nur sein Grinsen an.“
„Du willst mir doch nicht erzählen, dass dieser Mensch aus dem Nichts heraus zwei terranische Sagengestalten heraufbeschwört, die zwei von uns vor dem sicheren Tod retten, mein Rückenmark sauberer von dem Einfluss des Planetenkrebses befreien, als es jeder Chirurg könnte, die gesamten Abwehrkräfte unseres Feindes zerlegen und sich dann einfach in Luft auflösen“, entgegnete Scynra zweifelnd.
„Ich kann so etwas auch nicht“, sagte Thomas bescheiden wenn auch leicht lallend von der Wirkung des Giftes, „aber mein Schwert kann es. Ich weiß nicht, wie es funktioniert, aber scheinbar wird alles, was ich damit schreibe, Wirklichkeit. Es ist unglaublich. Das ist vielleicht der mächtigste Gegenstand des gesamten Multiversums. Wenn wir das Schwert richtig einsetzen, können wir …“
„Von welchem Schwert sprichst du?“, fragte Makra, „etwa von dem erbärmlichen Stöckchen in deiner Hand?“
Verwirrt und verunsichert blickte Thomas zu der Waffe, die ihm so gute Dienste geleistet hatte und wollte sie gerade vor der gehässigen Andrin verteidigen als er feststellte, dass ihre Worte nicht nur sarkastischer, neidischer Spott über das mächtige Artefakt, sondern eine ziemlich zutreffende Beschreibung der Realität waren. Alles, was er noch in der Hand hielt, war ein mickriger, krummer, verkohlter Ast.
„Nein!“, sagte er bestürzt, „das kann nicht sein. Das ist es nicht …. ich hatte doch gerade noch …“
Verzweifelt kniete er sich hin und schrieb mit dem Stock Worte in den Boden. Doch der von Leichen übersäte Untergrund ließ sich nicht davon beeindrucken. Thomas gelang es lediglich, ihn mit Buchstaben aus schmieriger Asche zu verzieren, die rein gar nichts bewirkten.
„Kein Grund, sich verrückt zu machen“, sagte Scynra, „wir haben deine Waffe ja gesehen. Und ich glaube dir, dass sie so eine Wirkung hatte. Was sonst sollte diese Erscheinungen erklären? Wir alle sind dir dankbar für dein Eingreifen. Aber Magie ist nicht zuverlässig. Das ist einer der Gründe, aus denen ich Wissenschaft vorziehe. Wenn du mit ihr heute Wunder oder Schrecken erzeugen kannst, kannst du das auch morgen. Mit Magie hingegen … nun, das siehst du ja.“
„Aber dennoch hast du uns gerettet“, sagte Makra versöhnlich, „das ist doch die Hauptsache. Und nun, da uns das Vieh nicht mehr nach dem Leben trachten kann, kann Clary in Ruhe tun, was auch immer sie da gerade tut.“
„Das stimmt“, gestand Thomas hustend ein und legte seinen erbärmlichen Stock auf den Boden. Inzwischen hatte er sich daran gewöhnt, Hoffnungen zu begraben, „leider werde ich davon wohl nicht mehr lange etwas haben … das Gift dieser widerlichen Schlange ist in meinem Kreislauf. Und es kriecht auch schon durch mein Gehirn. Eigentlich hatte ich mich mit dem Artefakt heilen wollen, aber …“
„Dafür benötigst du kein Artefakt“, sagte Scynra und zauberte ein kleines Fläschchen aus ihrer Arzttasche hervor, „ich habe da eine viel bessere Methode.“
„Ist das Gesundheit?“, fragte Thomas skeptisch.
„Nein. Ich bin keine verfluchte Gesunderin mehr. Es ist ein recht potentes Universalantidot für Tiergifte. Es kann sie nicht alle neutralisieren, aber in den meisten Fällen wirkt es äußerst zuverlässig.“
„Danke“, sagte Thomas, nahm das Fläschchen entgegen und trank einen Schluck.
„Das schmeckt ja sogar gut“, sagte er überrascht.
„Glaub mir mein Lieber, ein paar gefällige Aromen in die Medizin zu mischen ist der kleinste Aufwand bei der Herstellung solcher Arzneien“, sagte Gesunderin lächelnd, „erwarte aber keine Wunderdinge. Es wird dein Leben retten. Mit sehr hoher Wahrscheinlichkeit. Aber es wird dauern, bis dein Körper die Auswirkungen der Vergiftung überwunden hat. Stunden, Tage womöglich.“
„Wissenschaft, keine Magie“, entgegnete Thomas mit hörbarer Dankbarkeit in der Stimme.
„Du hast es verstanden“, lobte Scynra.
„Ich sehe nach Clary“, sagte Callan, „vielleicht braucht sie Hilfe dabei, die Zellhülle zu knacken. Nun, wo sie mich nicht mehr als Geleitschutz braucht.“
„Tu das“, sagte Makra, während Callan sich bereits entfernte, um sich zu Clary zu gesellen, die den noch immer intakten Schutz des Zellkerns weiter wie in Trance abtastete, an ihm zupfte und ihn mit ihren Fingerkuppen eindrückte, „wir achten darauf, ob hier alles ruhig bleibt.“
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Als ihr bewusstes Denken zurückkehrte war Clary nicht länger in ihrem Körper, den sie als zerfressenes, verformtes Etwas neben sich liegen sah. Sich von außen zu betrachten war befremdlich. Vor allem, da ihre säureversehrte Leiche nicht das einzige Ebenbild von sich war, das sie erblickte. Direkt vor sich sah sie in ihr eigenes, höchst lebendiges Gesicht. Nur war es reifer, entspannter und erwachsener und so jung und unversehrt wie Clary sich seit Wochen nicht mehr gefühlt hatte.
„Bist du …“, begann Clary verwirrt.
„Dein Urselbst, ja“, antwortete ihr Ebenbild, „und ich kann dir nur mein tiefstes Mitleid aussprechen.“
„Für das, was ich erlebt habe?“, fragte Clary und fand es irgendwie tröstend das ihre Leiden wenigstens auf diese Weise gewürdigt wurden.
„Nein, für das, was du noch erleben musst, wenn du zu der stehst, die du bist“, erklang die verwirrende Antwort.
„Kryptischer ging es wohl nicht, oder?“, fragte Clary.
Ihr Urselbst lachte, doch es klang weder höhnisch noch verletzend. „Keine Angst, du wirst dir über dieses Rätsel nicht lange den Kopf zerbrechen müssen. Es läuft alles auf eine sehr konkrete Entscheidung hinaus.“
„Und die wäre?“, wollte Clary wissen.
Ihr Gegenüber zeigte auf das hässliche, verkrüppelte Kinderding, das hinter der Membram schlummerte. „Du willst ihn töten, oder?“, fragte es, statt Clary zu antworten.
„Ja, natürlich“, sagte Clary, „hast du etwa etwas dagegen?“
Ihr Urselbst schüttelte den Kopf. „Nein, absolut nicht. Jedenfalls nicht aus ethischen Gründen. Planetenkrebse sind verkommen. In ihnen gibt es nichts außer Dunkelheit. Da habe ich kein Mitleid. Aber so eine Tat hätte Konsequenzen. Das hat mit der Magie von Cestralia zu tun. Dieser Planet ist nicht irgendein Planet. Er ist etwas Besonderes. So besonders, dass sich selbst ein Parasit dem nicht verschließen kann. Deswegen ist dein Kampf und der deiner Begleiter auch so hart. Für gewöhnlich kann man Planetenkrebse einfach mit den richtigen Waffen ins Vergessen bomben, wenn man sie früh genug entdeckt. Das ist eine profane Angelegenheit, wenn sie so jung sind. Hier jedoch ist die Verbindung zu tief. Sie war es von Anfang an. Die Magie dieser Welt hat sie mit ihrem Parasiten verschmolzen. Stirbt er, stirbt auch sie. Und alle, die auf ihm leben.“
Clary wurde mehr als unwohl bei diesem Gedanken. Sollte wirklich alles umsonst gewesen sein. „Von welcher Entscheidung sprichst du dann überhaupt, wenn man diesen Wichser eh nicht töten kann?“, fragte Clary.
„Oh, du hast durchaus eine Wahl“, sagte die andere Clary, „du und deine Freunde, ihr könnt euch immer noch in Sicherheit bringen. Ich kann dir helfen aus dieser Vision zu erwachen und in deinen stofflichen Körper zurückzukehren. Dann könnt ihr euch gemeinsam aus dem Krebs hinauskämpfen und nach einem Weg in eine andere Welt, weit weg von Cestralia suchen. Auch dabei kann ich dir helfen, wenn du dich so entscheidest. Dann seid ihr in Sicherheit und müsst nicht miterleben, wie Cestralia sich gänzlich in einen Albtraum verwandelt und seine Bewohner für immer zu Sklaven werden.“
„Oder?“, fragte Clary, die dieses Angebot zwar für feige und grausam hielt es aber gleichsam verlockend fand.
„Oder du tötest den Krebs und nimmst seinen Platz ein“, schlug ihr Urselbst vor.
„Du willst mich verarschen, oder?“, fragte Clary, „ich soll zu einem Planetenkrebs werden?“
„Nein, du sollst nur seinen Körper übernehmen“, widersprach die andere Clary, „so könntest du diese Welt erhalten und stabilisieren und den Wesen im Multiversum weiterhin einen Ort der Hoffnung bieten, den alle von uns so dringend brauchen.“
Was für eine beschissene Wahl. Als die Wucht der Bedeutung dieser Entscheidung vollends in ihr Bewusstsein einschlug, fing Clary vor Zerrissenheit an zu weinen. „Hoffnung für alle, außer mir, was?“, fragte sie provozierend, „mir gebe ich damit die Hölle. Das kannst du nicht von mir verlangen. Das ist unmenschlich. Ich war mein Leben lang eingesperrt, hab nur gelebt, um andere zu unterhalten und jetzt soll ich schon wieder eine Gefangene werden? Ich will leben, verdammt! Ich will endlich etwas von meinem Leben haben, nicht in einer sprichwörtlichen Krebszelle verrotten.“
„Ich will dich nicht anlügen. Es wird sicher keine reine Freude“, sagte die andere Clary, „aber du wirst nicht gänzlich isoliert sein. Du wirst mit diesem Planeten und seinen Geschöpfen in Kontakt treten können und wenn du willst, übernehme ich deinen Körper und teile mit dir meine Erfahrungen. Meine Gedanken, meine Sinneseindrücke.“
„Was wäre das für ein Ersatz?“, echauffierte sich Clary, der bei diesem Gedanken regelrecht übel wurde. Umso mehr, da sie glaubte ein wenig Vorfreude aus den Worten ihres Gegenübers lesen zu können. „ich wäre eine reine Beobachterin ohne jede Entscheidungsgewalt. Ich müsste alles hinnehmen, was du tust.“
„So war es bei mir dein ganzes Leben über, Clary“, sagte ihr Urselbst, „du weißt nicht wie oft ich mir gewünscht habe, dass du aus deiner falschen Harmonie ausbrichst, mein armes, eingeschränktes Kind. All die Folgen deiner Entscheidungen absehen und die Entwicklung dennoch nicht aufzuhalten zu können. Aber man lernt, es zu akzeptieren. Und irgendwie ist es auch entspannend, sich nicht entscheiden zu müssen. Doch diesen Luxus hast du nicht. Noch nicht. Jetzt musst du dich noch einmal entscheiden, Clary. Aber warte damit nicht zu lange. In dieser Sphäre magst du alle Schutzmaßnahmen des Krebses überwunden haben. Doch dort draußen wird es für deine Freunde gerade sehr ungemütlich.“
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Es blieb tatsächlich ruhig in der Zellkammer. Zumindest eine Weile. Nach einigen Minuten nachdenklicher Stille aber, blickte sich Scynra misstrauisch um.
„Hört ihr das?“, fragte sie die anderen.
„Ja“, sagte Makra, „ich höre ein Summen. Vielleicht von einem Insekt?“
Ihre Vermutung bestätigte sich als kurz darauf drei kleine Wesen aus in der Kammer auftauchten, die man durchaus für Insekten halten konnte. Sie ähnelten Libellen, unterschieden sich aber vor allem dadurch von ihnen, dass sie weichere, freundlich wirkende Gesichter hatten und mit ihren sanften, braunen Augen eher an Füchse, kleine Bären oder andere Säugetier erinnerten als an Gliederfüßler. Lediglich ihre kreisrunden, mit dünnen, schneideblattartigen Zähnen bestückten Münder sorgten für einen Hauch von Fremdartigkeit.
„Das sind Livomen, wenn ich mich recht entsinne “, stellte Scynra fest, während die drei Wesen langsam auf sie zuflogen, “sie ernähren sich von Blüten – von den Blüten selbst, nicht nur von deren Nektar – und sollen böse Träume abhalten. Sie sind in Cestralia aber recht selten.“
„Warum sind sie dann hier?“, wunderte sich Thomas, „der Planetenkrebs scheint sie noch nicht assimiliert zu haben.“
„Ich weiß es nicht“, sagte Scynra nachdenklich und streckte einem der Livomen den Finger entgegen. Das Wesen näherte sich. Scheinbar neugierig und flog mit schnell schlagenden Flügeln und fröhlich blitzenden Augen auf ihre Hand zu.
„Sie sind hier, um zu töten“, antwortete eine Stimme, die mit ihrer schrillen Intonation sowohl von einer erwachsenen Frau als auch von einem Kind hätte stammen können und Fienna erschien, mit einem verdammt wahnsinnigen und wütenden Gesichtsausdruck und geschwollen, irgendwie verschobenen Lippen, so als würde sie jemand wortwörtlich als seine Handpuppe missbrauchen.
„Sie gehört wieder ihm“, erkannte Thomas, „und zwar noch viel mehr als beim letzten mal.“
Scynra begriff sofort, dass das auch für die scheinbar harmlosen Tiere gelten musste. Noch bevor sie aber ihre forschenden Finger zurückziehen konnte, preschten alle drei Livomen vor, nahmen ihre Fingerkuppen in den Mund und bewiesen, dass sie mit ihren scharfen Beißwerkzeugen nicht nur Blüten abschneiden konnte.
Brüllend vor Pein nahm Scynra ihr Skalpell in die andere Hand und stach auf die Insekten ein, die bereits ihre bis auf den Knochen abgenagten Fingerkuppen verließen, um sich um die andere Hand zu kümmern. Zwei von ihnen starben direkt beim ersten Stich unter offensichtlichen Qualen, der Dritte suchte das Weite und flog einen weiteren Bogen, wohl um aus einer anderen Richtung anzugreifen.
„Pfeif’ diese Viecher zurück“, verlangte Makra und knallte drohend ihre Peitsche.
Fienna lächelte nur. Gequält und entrückt. Dann ging ein Ruck durch ihr Rückgrat und sie begann auf sie zuzurennen. Kurz darauf gab es eine Explosion. Nicht ausgelöst von Feuer, sondern vom bloßen Druck tausender Leiber, als sich ein Schwall aus Tieren und Cestral in die Kammer ergoss. Vom Boden, bis zur Decke kroch, krabbelte, wimmelte und wogte es von Kreaturen, die es eindeutig auf sie abgesehen hatten. Eine Masse aus Fleisch, deren Individualität als nutz- und wirkungsloses Relikt unter ihrem allgegenwärtigen Hass schlummerte.
„So viele können wir nicht bekämpfen“, sagte Thomas, „nie im Leben.“
Makra wollte ihm widersprechen, wie sie es von Natur aus gerne tat. Aber dann nickte sie und rannte. Rannte dorthin, wo sie wenigstens in Callans Nähe sterben würde. Thomas und Scynra taten es ihr gleich, während sich die verschlingende Biomasse aus Kindern, Erwachsenen und Tieren, die ganze Pracht und Seele Cestralias, lawinenartig in Bewegung setzte.
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„Ich habe mich entschieden“, sagte Clary und der tiefe, resignierte Seufzer mit dem sie diese Worte aussprach, gab ihrem Gegenüber die Antwort, wie diese Entscheidung ausgefallen war.
„Gut“, sagte, Clarys Urselbst, „dann töte ihn und bring es zu Ende. Nutz’ die Chance eine wahre Heldin zu werden!“
Clary nickte, streckte dabei aber ihre Hand aus, „das werde ich tun. Aber ich bin zu schwach. Ich brauche deine Hilfe.“
Die andere Clary sah sie erst etwas irritiert an, ergriff aber ihre Hand und stützte Clary, während sie auf diese hässliche, metaphorische Version des Planetenkrebses zuging. Dieses Baby, so verbittert und böse wie ein gehässiger alter Mann. Ein Anblick, der nicht einen Funken Mitleid in Clary erzeugt. Sie hob den Knochen des armen Golly und stach zu. Immer und immer wieder.
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Callan war der Tumult natürlich nicht entgangen. Und auch er teilte die Resignation der anderen als er der gewaltigen Masse an Angreifern entgegenblickte. Natürlich, er hatte durchaus die Mittel, ihnen etwas entgegenzusetzen. Diese neuen Feinde besaßen wahrscheinlich noch nicht den übernatürlichen Schutz des Krebses und sein Pinpointer könnte wahrscheinlich einen Großteil von ihnen in den Tod reißen. Inklusive Makra, Scynra, Thomas und vieler unschuldiger Leben, die all das nicht freiwillig taten. Viele opfern, um womöglich noch mehr zu retten. Nein, Callan hasste solche Rechnungen. Er hatte sein ganzes Leben lang existenzielle Rechnungen und Kosten-Nutzen-Abwägungen anstellen müssen, selbst wenn sie meist nur über sein eigenes Leben entschieden hatten. Er war es leid. Es gab nun mal einen Punkt an dem weiterkämpfen alles nur noch schlimmer machte. Er würde einfach aufgeben, Makra in die Arme schließen, ein paar nette Worte zu den anderen sagen und dann den Arsch zukneifen.
„Tut mir leid“, sagte Callan und drehte sich zu Clary um, um sie zu trösten, auch wenn sie es wahrscheinlich nicht mitbekommen würde und … stutzte.
„Was zum …“, sagte er, als er beobachtete, wie Clary just in diesem Moment einfach durch die Schutzhülle hindurchging, so als wäre das für sie schon die ganze Zeit über kein Problem gewesen. Zielstrebig und mit festen Schritten bewegte sie sich direkt auf den Zellkern zu.
Callan war so verblüfft, dass er erst im letzten Moment dem Angriff eines vorauseilenden, gitterförmigen, glitzernden Flugwesens auswich und einen tiefen Kratzer von dessen silbernen Krallen davontrug. Kurz sah er weg, um das seltsame Tier mit einem Schuss seines Pinpointers ins Nirwana zu pusten. Als er seinen Blick danach wieder auf Clary richtete, verfolgte er mit einer Mischung aus Stolz und Entsetzen, wie sie ihre Finger in den leuchtenden Zellkern grub und ihn mit bloßen Händen auseinanderriss. Beeindruckend für eine Blue Mind, die noch vor kurzem mit einem Kopf voller naiver Träume auf die kalten Straßen Deovans gestoßen worden war.
Callan dachte an ihr erstes Treffen zurück. Daran, wie sie im Raumhafen beinah dem Sicherheitsdienst zum Opfer gefallen wäre. An ihre erste gemeinsame Mahlzeit, ihr Lachen und ihre erfrischende Unbekümmertheit. Daran, wie sie ihn ironisch „Meister“ genannt hatte und wie sie sie beide letztlich heil durch den Albtraum von Anntrann hierhergeführt hatte. Callan weinte, auch wenn er nicht recht wusste warum. Er weinte, als das Leuchten des Kerns erlosch und nur graues totes Gewebe zurückließ. Er weinte, als die Tiere und Cestral von ihrem unnatürlichen Hass und ihren erzwungenen Befehlen befreit wurden und den Angriff auf sie abbrachen. Und er weinte noch immer, als sich das sie umgebende Gewebe in Todesstarre verhärtete und die einst schier undurchdringliche, transparente Zellhülle sich in einen schlaffen, trübgrauen Vorhang verwandelte. Doch als Clary nicht etwa zurückkam, sondern in den toten Kern hineinstieg und sich in dessen toten Überresten einwickelte wie in eine gemütliche Bettdecke, weinte er nicht mehr. Er brüllte.
„Lass den Scheiß, Clary! Was machst du da? Wach auf! Hör sofort damit auf!“, schrie er panisch. Und als sie nicht auf seine Worte hörte, zerriss er den wabbeligen Gallert, den er nun endlich durchbrechen konnte, und eilte so schnell er konnte auf seine Freundin zu, bevor sie sich selbst ins Verderben stürzte.
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Ein wenig erwartete Clary, dass der Planetenkrebs nach ihrer Tat einfach zerbröseln würde, wie einer der Vampire oder Wiedergänger, von denen man sich Sagen und Geschichten quer durch das Multiversum erzählte. Doch ganz so war es nicht. Der Parasit vertrocknete lediglich, verlor alle Feuchtigkeit so wie es auch Clary ergangen war als sie an seiner verfluchten Lebensader gehangen hatte. Clary nahm die Überreste mit spitzen Fingern hoch und wunderte sich, wie leicht sie waren. Wie eine abgelegte Schlangenhaut lag der Körper des Wesens ins ihrer Hand. Entweder war sie hier drin viel stärker als sie dachte oder das Ding besaß kaum mehr Gewicht als ein Pappkarton. Clary schleuderte die Überreste davon und besah sich die Vertiefung, in der sie gelegen hatte. Sie war von dutzenden, ebenfalls vertrocknet erscheinenden Adern und Schläuchen umgeben. Doch auch wenn diese Zuleitungen verdorrt wirkten, spürte, hörte und sah Clary die knisternde Energie und das rote, giftige Leuchten welches in ihnen pulsierte. Sie hatte das Gefühl, dass diese Energie sich aufstaute wie Magma unter einem tödlichen Vulkan. Und sie konnte sich sehr gut vorstellen, was geschehen konnte, wenn all das explodierte.
„Ich bin stolz auf dich“, lobte sie ihr Urselbst, „du hast mehr aus deinen begrenzten Möglichkeiten gemacht als man erwarten konnte. Leg dich nun einfach hin und entspann dich. Nach all deinen Mühen hast du es dir redlich verdient. Du hast eine lange Reise hinter dir. Nun ist es ist Zeit für deinen Abschied von der Welt und ihren Mühen. Aber wie versprochen werde ich dich an meinem Leben teilhaben lassen und …“
Die Finger ihres Urselbst wollten sich von ihr lösen, aber Clary war schneller und schloss ihre Hand so fest darum, dass sie ein Knirschen in ihrer beider Gelenke spürte.
„Oh nein, Schätzchen. Du gehst nirgendwohin“, sagte sie voller Genugtuung zu ihrem Alter Ego, „wir stehen das zusammen durch.“
„Das ist absurd!“, protestierte ihr Urselbst und versuchte vergeblich, sich von ihr zu lösen, „du hast rein gar nichts davon, mich mit dir einzusperren.“
„Oh doch“, sagte Clary grimmig lächelnd. Dann zog sie ihr anderes Selbst mit einem Ruck zu sich, und nahm es fest in die Arme als wäre es ihre Liebhaberin, „ich habe Gesellschaft.“
Ihr Urselbst protestierte und unternahm einen weiteren Versuch zu entkommen. Es tobte, wand sich, kratze und schlug sogar nach Clary. Doch Clary hielt es erbarmungslos fest, zerrte es auf die Liege und schloss es in einer erstickenden Umarmung ein. Kaum da sie sich hingelegt hatte, erwachten die vertrockneten Versorgungsadern zum Leben, schossen nach vorn und bohrten sich in ihre feinstofflichen Körper. Nicht länger mit dem Ziel, sie auszusaugen, sondern mit der Absicht, sie zu ernähren. Und für sie beide begann ein neues, gänzlich anderes Leben.
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Callan kam zu spät. Gerade als er Clary endlich erreicht hatte, schloss sich das Gewebe gänzlich um ihren Körper, der sich dort entspannt eingerollt hatte, wie ein schlafendes Kind in seine Decke oder eine Raupe in ihren Kokon.
„Was tust du, Clary?“, fragte Callan noch einmal völlig verwirrt und versuchte verzweifelt den Zellkern wieder zu öffnen. Doch mit bloßen Händen gelang es ihm nicht und mit seinem Pinpointer würde er Clary höchstens töten. Gerade wollte er zu den anderen eilen und sie um Hilfe bitten, als Clarys Stimme durch das Gewebe zu ihm drang. Sie klang fern und entrückt. Aber nicht wie in Trance, sondern vollkommen wach und geradezu selbstbewusst.
„Es ist alles in Ordnung, Callan“, sagte Clary, „ich muss den Laden hier übernehmen. Es gibt keinen anderen Weg, wenn diese Welt nicht verrotten soll. Und das Multiversum und seine Bewohner brauchen einen Ort wie diesen. Das weißt du so gut wie ich.“
„Was redest du da für einen Mist?“, fragte er empört, „was auch immer der Krebs dir einflüstert, du musst nicht darauf hören. Wir befreien dich aus diesem Ding und dann …“
„Der Krebs ist tot. Ich habe ihn vernichtet. Und ich bin kein Kind mehr, Callan“, sagte Clary, „niemand flüstert mir etwas ein. Ich hab mir das hier nicht gewünscht. Ganz sicher nicht. Aber manchmal sind die Dinge nicht ideal. Um Adrian wirst du dich wohl leider selbst kümmern müssen. Ich kündige hiermit ganz offiziell. Ich fürchte, meine neue Nebentätigkeit wird mich gänzlich ausfüllen, aber ich werde unsere Zusammenarbeit wirklich vermissen. Und unsere Freundschaft. Pass auf dich auf, Callan. Lass dich nicht von deinem Geld beherrschen und werde nicht dieses Arschloch, dass manchmal durch dein großes Herz schimmert.“
Sie kicherte traurig, aber auch optimistisch und unheimlich erwachsen. Und dieses Kichern sollte noch lange in Callans Kopf nachhallen. Auch dann noch, als Clarys Stimme längst verstummt war.
Callan war wie versteinert. Stumm kniete er vor Clarys neuem Zuhause und wollte nichts sehen oder hören, bevor er Makras Hand auf seiner Schulter spürte. Ausnahmsweise war ihr Griff nicht fordernd und dominant, sondern sehr zärtlich.
„Sie hat dir viel bedeutet, nicht wahr?“, fragte Makra sanft und zum ersten Mal hob Callan seinen Blick.
„Sie bedeutet mir immer noch viel. Sie ist nicht tot“, antworte Callan und begann zu zittern. Makra nahm ihn in den Arm und drückte ihm einen Kuss auf, wodurch sich Callans Zittern zumindest ein wenig beruhigte.
„Aber sie steckt dort drin fest, oder nicht? Und ist für uns leider unerreichbar“, sagte Scynra, um deren verstümmelte Fingerkuppen bereits frische Verbände gewickelt waren. Sie sprach nüchtern, wenn auch mit einem Hauch von Mitgefühl in der Stimme, „wenn ich das richtig interpretiere hat sie die Kontrolle über den Krebs übernommen. Seht doch!“
Sie alle, inklusive Thomas, der sich gerade zu ihnen gesellt hatten, beobachteten, wie sich das wuchernde, wunde, stinkende, rote Fleisch beginnend vom Zellkern verwandelte. In das ekelhafte und teils nekrotische Gewebe kam Leben und aus rot, schwarz oder Grau wurde ein vitales Hellblau, das einen sanften, leicht zitronig-blumigen Duft verströmte. Gleichzeitig verflüssigten sich die grässlichen Leichen der assimilierten Tiere, der Flugdrachen, Eiterpanzer, Schlagen, Käfer, Y-Kreaturen und Fresser und sickerten wie geschmolzenes Eis in den Boden ein.
„Sie kontrolliert ihn nicht nur, sie hat seinen Platz eingenommen. Sie ist jetzt eins mit diesem Planeten. Er hat sie akzeptiert, als Freundin und Beschützerin. Das fühle ich“, sagte Thomas und die letzten Worte betonte er stolz und geradezu fröhlich. Ohnehin war von dem verbitterten, resignierten, eigenbrötlerischen Dichter kaum noch etwas übrig. Auch er war vollkommen verwandelt, vielleicht sogar mehr als selbst Clary.
„Ein schöner Gedanke“, sagte Callan schwermütig, „und es passt zu dem, was sie zu mir gesagt hat. Und wenn es so ist, ist sie wohl das beste, was dieser Welt passieren konnte.“
„Ohne Zweifel“, meinte Thomas fröhlich und atmete tief ein, „merkt ihr nicht auch, wie die Luft schmeckt. So rein und leicht. Selbst hier drin. Und dieses Gefühl. Wie ein schöner Morgen nach langem Ausschlafen.“
Callan spürte es. Trotz seiner Trauer um Clarys Transformation war auch eine Last von ihm genommen worden. Dieser gesamte Ort, ja die ganze Welt Cestralia fühlte sich endlich so an, wie sie sein sollte. Heilsam, sicher und wunderschön. Doch in dieser Harmonie wog Callans Schmerz nur umso schwerer.
„Nun mach’ doch nicht so ein Gesicht“, sagte Makra augenzwinkernd, „du bist nicht allein. Und wenn es eine Frau gibt, die dich zum Weinen bringen sollte, dann doch wohl ich.“
„Man kann nicht jedes Seelenleid fortprügeln oder wegkorpulieren“, bemerkte Makra.
„Das hab ich nie behauptet“, sagte Makra schmollend, „aber wenn es jemand könnte, dann ich.“
Callan entfuhr fast gegen seinen Willen ein prustendes Lachen und Thomas und schließlich sogar Scynra mussten darin einstimmen.
„Ob Clary wohl noch einmal mit uns reden wird?“, sinnierte Callan als ihr Lachanfall verklungen war.
„Schwer zu sagen“, meinte Scynra, „von vielen Planetenkrebsen ist bekannt, dass sie mit ihren Krebsboten kommunizieren. Außerdem können sie andere über ihre Gesänge manipulieren, wie wir ja alle gerade erst hautnah erlebt haben. Aber das geschieht wohl eher unterbewusst.“
„Ich denke, sie hat gerade erst einmal genug damit zu tun, sich einzuleben“, sagte Thomas, „aber wenn sie mit jemandem sprechen wird, dann sicher mit dir, Callan. Ich meine, du siehst nicht nur gut aus und bist schwer bewaffnet, du bist auch noch stinkreich.“
„Schmeichler“, antwortete Callan mit einem halben Lächeln.
„Kein Schmeichler, ein, Schriftsteller“, konterte Thomas, „aber gelegentlich kommt das wohl aufs selbe heraus.“
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Ihr Sieg über Trozengar war nicht wirklich triumphal gewesen. Dafür war die Zahl der toten und verwundeten Cestral, „Dunkelweltler“ und anderer Kreaturen einfach zu hoch. Genau wie die Zahl der Mörder und Gewalttäter, die sich nun, da der Einfluss des Planetenkrebses verstummt war, ihrer eigenen Untaten bewusst geworden waren. Aber die Erleichterung war dennoch allgemein spürbar. Nicht nur bei ihnen und Fienna, sondern auch bei ihrem Publikum aus Cestral, Besuchern und den nun deutlich freundlicher scheinenden Traumschlangen, die über ihnen schwebten. Und sicher auch bei den Tieren, die endlich in ihre verwunschenen Refugien in den Wäldern zurückkehren konnten.
Fienna für ihren Teil setzte gerade zu einer Rede an. Ausgerechnet auf jenem Podest, das vor nicht allzu langer Zeit noch der Hassprediger genutzt hatte, der seine Vorurteile gegen Clary, Callan und andere „Dunkelweltler“ ausgespien hatte. Die Anführerin der Cestral sah nicht mehr so zerrissen und erschöpft aus, wie bei ihrem Wiedersehen im Inneren des Planetenkrebses und gehörte wieder ganz eindeutig sich selbst. Aber ihr Schmerz war ihr dennoch anzumerken und obwohl es auf dem Platz voll war, schienen ihre Augen die unsichtbaren Lücken zu erspähen, die die Ereignisse gerissen hatten. Ganz besonders der Tod von Nartial. Als sie zu sprechen begann, zitterte ihre Stimme vor Trauer.
„Freunde, Träumer, Heilende“, begann sie, „es ist kein schöner Anlass, der uns hier zusammenführt. Unsere Welt, unser kleines, wunderbares Paradies hat eine weitere, unsägliche Katastrophe hinter sich. Geschehnisse voller unsäglicher Gräuel und Boshaftigkeit. Doch wo die anderen
Monster von außen kamen, in der Gestalt der Gesunder oder von Erntern wie Adrian, so kamen sie diesmal aus unserer Mitte.“
Manche der anwesenden Cestral senkten beschämt den Blick, doch bewies auch ein leises, empörtes Raunen, das nicht jeder hier so selbstkritisch war. Fienna schien das nicht zu entgehen.
„Es wäre einfach alles auf den Planetenkrebs zu schieben. Doch es wäre genauso falsch, wie uns ganz allein für unser Handeln verantwortlich zu machen. Das Wesen hat uns manipuliert, ja. Und es war ein Verräter aus einer anderen Welt, der es zu uns gebracht hatte. Aber wir waren nur zu bereit, ihm zuzuhören. Sein Hass hat in uns räsoniert. Weil wir hassen wollten. Weil wir Vergeltung wollten, um jeden Preis.“
„Aber ist das nicht fiar“, meldete sich eine Soldatin aus dem Publikum, „sollen wir uns etwa alles gefallen lassen? Sollen wir uns brav wie die Lämmer abschlachten lassen?“
„Nein, ganz und gar nicht“, antwortete Fienna, „wir müssen uns verteidigen. Aber wir müssen Hass und Notwendigkeit trennen, genau wie Wahnsinn und Vernunft. Und wir müssen unsere Waffen und unsere Wut auf jene richten, die sie verdienen. Nicht auf alle, die anders sind als wir. Es war ein Deovani, ein „Dunkelweltler“, der uns das Monster gebracht hat und der seine Strafe dafür erhalten hat, von unserem Planeten höchstselbst. Aber es waren auch Dunkelweltler, die uns gerettet haben. Ein Deovani, eine Andrin, ein Mensch vom Volke Adrians und ja, sogar eine Gesunderin. Helden, wie sie einer Mentravia würdig wären. Helden, die hier vor uns stehen und deren Völker manche von uns für von grundauf böse halten. Oder zumindest für fremd.
So wie die fremdgeborene Deovani, die ihr Leben geopfert hat, um unserer Welt zu dienen und sie und uns alle vor dem Zugriff des Krebses zu bewahren. Sie alle haben wir mit Vorurteilen gestraft. Zu Unrecht. Und sie sind bestimmt nicht die einzigen, bei denen wir uns irren. Wir Cestral können Tyrannen sein, wenn wir nicht aufpassen und die, die wir für Tyrannen halten, können in Wahrheit Helden sein. Völker sind Schall und Rauch. Alles was zählt, ist das Herz und in welchen Taten es sich ausdrückt. Doch es gibt echte Tyrannen. Tyrannen, die sich durch ihre Taten entlarven. Und die werden wir aufspüren und bestrafen. Bei Tagesanbruch schon. Gemeinsam mit allen, die sich uns anschließen wollen, egal, woher sie stammen. Morgen werden wir die Seuchenhöhlen reinigen. Aber nicht von den Geknechteten und Unschuldigen, die darin leiden, sondern von ihren verbrecherischen Herren. Morgen, nachdem wir uns alle ausgeruht haben, werden wir gemeinsam durch das Portal schreiten, direkt in diese verseuchte Hölle hinein. Und das werden wir tun als Freie, denn diesen Krieg anzuordnen, nein, ihn vorzuschlagen, soll meine letzte Amtshandlung gewesen sein. Wir Cestral brauchen keinen Führer. Auch nicht im Krieg. Alles, was wir brauchen ist unser innerer Kompass und die Kraft unserer Fantasie.
Jubel brandete auf und die letzten Zweifler schienen verstummt. Als Fienna die Bühne verließ, um demonstrativ mit der Menge zu verschmelzen, erntete sie nichts als Zuspruch, Schulterklopfer und kurze, aber herzliche Umarmungen. So sehr sich die Leute noch vor einigen Stunden nach einer Führungsfigur gesehnt hatten, so glücklich schienen sie jetzt, sie los zu sein. Diese Erleichterung und die mitreißende Stimmung wirkten sich aber nicht nur auf Fienna aus. Auch einige der Soldaten entschuldigten sich demonstrativ bei den anwesenden „Dunkelweltlern“ für das Leid, das sie und die anderen Cestral ihnen zugefügt hatten. Tränen flossen und nach einigen verschämten oder auch zornigen Worten kam es allenthalben zu versöhnlichen Umarmungen oder zumindest zu einem anerkennenden Kopfnicken.
„Da bin ich aber mal gespannt, wie sie ein kopfloses Heer zum Erfolg führen wollen“, überlegte Makra zweifelnd, während sie alle diese rührenden Szenen betrachteten.
„Die Rebellen in meiner Heimat sind sehr dezentral organisiert und leisteten uns lange Widerstand“, betonte Scynra.
„Das ist eine kleine Guerilla, kein riesiges Heer“, konterte Makra.
„Wir werden sehen, ob es funktioniert“, meinte Callan.
„Werden wir das denn?“, fragte Makra skeptisch.
„Ich zumindest werde es, falls du mich nicht mit Gewalt davon abhältst“, sagte Callan, „ich würde zwar gerne in Clarys Nähe bleiben. Aber sie hat sich gewünscht, dass ich mich an Adrian räche. Und bei Gott, das werde ich. Und wo soll ich sonst mit der Suche nach ihm beginnen, wenn nicht bei seinen ehemaligen Herren.“
„Ich werde dich nicht von dem abhalten, wonach dein Herz verlangt“, sagte Makra, „solche Art von Dominanz strebe ich nicht an. Und ich werde dich begleiten, wenn du willst. Ich wollte immer schon mal Hyronanin sehen. Die Krankheiten dort sind faszinierend und könnten einen Blick wert sein. Womöglich bieten sie Potenzial für einen spielerischen, zeitlich begrenzten Einsatz. Im richtigen Kontext und Maß könnte ein wenig Schwäche oder eine Paralyse …“
„Hör auf. Das ist ja krank“, tadelte sie Scynra angewidert, „aber ich werde auch mitkommen. Schon allein, um dich von irgendwelchen Dummheiten abzuhalten, aber auch, um meinen Leuten ihr schändliches Handwerk zu legen und herauszufinden, wer noch an das alte Erbe der Sanisa erinnert werden kann, und wer wirklich verloren ist.“
„Was ist mit dir, Thomas“, fragte Callan, „kommst du auch mit uns?“
„Nein“, sagte er, „ich erlange gerade erst meine seelische Gesundheit zurück, da bin ich nicht erpicht darauf, meine körperliche einzubüßen. Ich werde einfach die Ruhe genießen und ein wenig Schreiben und vielleicht auch einfach nur sein. Ihr wisst gar nicht wie erfrischend das ist, nach all den Jahren innerer Leere. Aber vielleicht sieht man sich ja irgendwann wieder und ihr habt mir ein paar Kriegsgeschichten zu erzählen.“
„Das lässt sich einrichten“, sagte Makra, „bis dahin hast du ja noch was Zeit zum Üben. Nutze sie gut. Du hast keine Ahnung, was ich mit Leuten anstelle, die Scheiße über mich schreiben.“
„Ich werde zurückkehren“, versprach Callan, „eines Tages zumindest. Das bin ich Clary schuldig. Oder dem, was auch immer sie jetzt ist.“
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„Genug geschlafen?“, hallte eine Stimme durch Torans Kopf. Sie war weiblich, so viel war sicher. Mehr konnte er im Moment noch nicht feststellen. Es war ohnehin ein Wunder, dass sein Gehirn noch funktionierte. Die Ranken und Wurzeln hatten ihn vollständig bedeckt und schon seit Stunden drang fast kein Sauerstoff mehr zu ihm vor. Lag es an den physischen Veränderungen, die Porneck an ihm vorgenommen hatte, als er in seinen Dienst getreten war? Das war möglich. Aber dann war es bittere Ironie, dass sie sein Ende lediglich verlangsamten, statt ihn zu retten. Denn befreien konnte er sich nicht und das letzte Mal, dass er etwas von der Außenwelt mitbekommen hatte, war gewesen, als Callan und seine Begleiter ihn ausgefragt und zum Sterben zurückgelassen hatten. Schon bei diesem Gespräch war es ihm schwergefallen sich verständlich auszudrücken oder zu konzentrieren. Vielleicht war das auch der Grund, warum diese Stimme für ihn so gedoppelt klang. Sein Hirn baute langsam aber sicher ab.
„Wer bist du?“, fragte Toran, nicht akustisch, sondern gedanklich, so wie er sonst mit Porneck oder Trogenza kommuniziert hatte.
„Deine neue Herrin. Wenn du willst“, antwortete die Stimme.
„Ich habe bereits einen Herren“, sagte Toran und plötzlich spürte er, wie ein bläulicher Tentakel über seine Brust strich. Tastend, erforschend, neugierig.
„Ich weiß“, sagte die Stimme, „du dientest einst Porneck, das habe ich in den Resterinnerungen von Trogenza gesehen. Aber er war dir kein guter Herr, oder nicht? Streng, unnachgiebig, rücksichtslos.“
„So sind alle Herren“, meinte Toran, „es gibt nur solche, die behaupten es nicht zu sein und solche, die zu ihren finsteren Absichten stehen.“
„Ist das so?“, fragte die Stimme, die Toran langsam bekannt vorkam, auch wenn er nicht genau wusste woher, „schauen wir doch, ob ich dich vom Gegenteil überzeugen kann. Ich brauche nämlich keinen Sklaven. Nur Augen und Ohren unter den Bewohnern dieser Welt, deren Beschützer ich sein will.“
„Beschützer ist auch nur ein anderes Wort für Herr“, sagte Toran, „denn Schutz kostet. Entweder Geld oder Gehorsam und Anbetung. So war es immer.“
„Wie gesagt“, beharrte die Stimme, „lass uns darüber reden und sehen, ob ich deine Meinung ändern kann.“
„Und wenn nicht?“, fragte Toran, „wirst du mich dann töten? Mich absorbieren? Mich foltern? Mich unterjochen?“
Glockenhelles Gelächter schlug Toran entgegen. „Nein“, sagte die Stimme, „dann werde ich dich freilassen. Ich meine, ich werde dich selbstverständlich zu Kleinholz verarbeiten, wenn du etwas unternimmst, um hier einen neuen Planetenkrebs anzusiedeln. Aber wenn nicht, kannst du deiner Wege gehen. Alles, was ich verlange, sind ein paar Minuten deiner Zeit. Und dafür bringe ich dir ein Geschenk. Guten, reinen Sauerstoff. Bist du damit einverstanden? Wenn ja, öffne einfach deinen Mund.“
Toran dachte kurz nach. Was hatte er schon zu verlieren? Falls sie log, lebte er zumindest noch ein paar Atemzüge länger. Falls sie die Wahrheit sprach, konnte er sie nach Belieben ausnutzen und sie an Porneck verraten oder sie tatsächlich benutzen, solange es ihm diente. So oder so gab es schlechtere Angebote. Insbesondere wenn einen der Sauerstoffmangel gerade an den Rand des Wahnsinns – und des Todes – brachte.
Toran öffnete seien Mund und empfing den Tentakel, der sich schlangengleich in seinen Mund und schließlich in seine Lunge schob, jedoch ohne auch nur ein Husten oder Würgen hervorzurufen, so als wüsste sein Körper, dass dieser Eindringling nichts Böses im Schilde führte. So war es auch. Denn alles, was er brachte, war klare, gute Atemluft, die seinen Körper flutete und seinen Kopf klärte. Ganz wie versprochen.
„Nun gut“, sagte Toran, „dann lass uns reden. Für den Anfang hätte ich gleich eine Frage: Wie lautet dein Name?“
„Du kennst ihn“, sagte die Stimme kichernd, „man nennt mich ‚Clary’.“