Fortgeschritten: Die Gläsernen Archive von Rihn 6

„Wie symbolisch eigentlich“, sagt der junge, blonde, feingliedrige Tramar zu Wongin während er die großen weißen Marmortreppen mit ausgreifenden, selbstbewussten Schritten überwindet und deutet dabei auf den Strom von schlicht gekleideten Abgeordneten, der – nur durch eine transparente Wand aus dünnem Kristall von ihnen getrennt – die einfache, raue Steintreppe zum Rat der Unwissenden hinabsteigt.

„Ja, Abwasser fließt immer nach unten“, antwortet der etwas ältere Wongin mit seinen graue-schwarzen Locken und seinem gepflegten Spitzbart in seinem edlen mit mathematischen Symbolen und Formeln bestickten Gewand, der die Augen förmlich auf das Display mit seinen Forschungsergebnissen geheftet hält, aber natürlich trotzdem weiß, worauf sein geschätzter Kollege Bezug nimmt, „dennoch haben diese schlichten Gemüter dieselbe Stimmgewalt wie wir.“

„Theoretisch“, sagt Tramar, dessen Umhang aus halb spiegelndem, blauen und äußerst seltenem Kristall besteht, den er höchstselbst in seinem Labor gezüchtet hat, „sie sind so schwach im Willen wie im Geiste und lassen sich deshalb leicht lenken. Und das ist nicht nur bloße Vermutung. Diverse Studien belegen das, von denen ich selbst einige durchführte. Dennoch ist es natürlich eine Schande. Zum Glück halten die Welthüter gemeinsam mit uns ihre Hand über den Pöbel und seine lächerlichen Launen.“

„Umso unverständlicher, dass sie diese Gesetzesvorlage ernsthaft einbringen konnten. Die Archive offenlegen, ich bitte dich. Allein darüber nachzudenken, diesem niederen Leben alles Wissen des Multiversums ungefiltert zur Verfügung zu stellen. Schlimm genug, dass sie überhaupt Zutritt zu diesen ehrwürdigen Hallen erhalten haben. Eigentlich ist es nur zu ihrem eigenen Schutz, solche Torheit zu verhindern. Ihre schlichten Gehirne würden unter der Last des Wissens kollabieren. Ich meine, sogar die Geister von klügeren Personen würden das vielleicht.“

„Zum Glück eine reine Formsache“, entgegnet Wongin und rückt seine Brille zurecht, die ihm zu dem Geschriebenen und auch sonst zu allen Dingen, die er sieht, Fußnoten und Hintergrundinformationen einblendet, „der Dumme gefällt sich manchmal darin, den Verständigen zu spielen und seine Grenzen auszutesten. Er spürt instinktiv die eigene Beschränktheit, doch statt sie zu akzeptieren, kämpft er plärrend dagegen an. Aber die Mehrheit innerhalb unserer Kammer gegen diese Initiative steht felsenfest. Und um uns und die Welthüter zu überstimmen, bräuchten diese Tölpel eine Dreiviertelmehrheit in ihrem eigenen Viehstall. Derart einig wird sich das Vieh auf keinen Fall. Wenigstens manche von ihnen sind schlau genug, den eigenen Platz anzuerkennen. Oder zumindest schlau genug, die üppigen Bestechungsgelder anzunehmen.“

„Ja, Geld und Kristalle. Die Leinen des Pöbels“, sagt Tramar kichernd.

„Das hast du absolut recht“, meint Wongin, „neben der guten alten Strenge natürlich.“

„Oh ja. Wenn ich an die Zeiten denke, als man die Ungebildeten noch für ihr kindisches Benehmen züchtigen konnte und … was ist das?“, fragt Tramar verblüfft.

Wongin schaut widerwillig von seinen Notizen auf als die Treppe, die sich eigentlich noch eine ganze Weile fortsetzen sollte, jedoch unvermittelt vor ihnen endet. Und das in Form einer pechschwarzen, massiven Fläche aus undurchdringlicher Dunkelheit.

„Äußerst bemerkenswert“, stellt Tramar bemüht nüchtern fest, auch wenn seiner Stimme eine gewisse Nervosität nicht abzusprechen ist. „Irgendein Experiment von Grimara vielleicht?“, überlegt er, „ich meine, sie hätte erwähnt, dass sie zur Frage der Lichtbrechung forscht.“

„Unfug“, widerspricht Wongin, „selbst, wenn das der Fall wäre, würde sie keine unangekündigte Vorführung veranstalten. Die Frau mag genial sein. Aber sie hat nicht den geringsten Anflug von Humor im Leib und für Spontanität oder radikale Aktionen ist sie erst recht nicht bekannt. Nein, ich glaube, das muss eine Anomalie sein.“

„Ein Naturereignis also? Ernsthaft?“, fragt Tramar skeptisch.

„Nicht unbedingt. Es könnte auch ein Anschlag sein. Eine Waffe vielleicht oder ein Versuch uns vom Abstimmen abzuhalten. Aber ich will es besser nicht herausfinden“, bemerkt Wongin.

„Anscheinend haben wir kaum eine Wahl“, sagt Tramar missmutig, als er sich umdreht und zeigt dabei auf das, was er dort vorfindet, „wenn wir nicht verbrannt werden wollen, müssen wir da durch.“

Diese Behauptung kommt nicht von ungefähr. Hinter ihnen befindet sich ebenfalls eine Barriere. Jedoch nicht pechschwarz, sondern glühend rot wie geschmolzener Stahl und sie strahlt eine nicht zu verachtende Hitze aus.

„Unsinn“, befindet Wongin stirnrunzelnd, „ich habe mich lange genug mit Illusionen und holografischen Projektionen beschäftigt, um das zu erkennen. Diese Farce soll uns nur dazu bringen, in die Falle zu tappen. Sieh her!“

Um seine These zu demonstrieren, streckt Wongin kühn seine Hand aus, greift in den vermeintlichen Feuerstrudel hinein und beginnt bestialisch zu schreien als seine Haut Feuer fängt.

„Ich hab es dir gesagt“, kommentiert Tramar kühl, während sich Wongin auf dem Boden windet und versucht die Flammen zu ersticken, „manchmal ist es ein Zeichen von Dummheit, der Schlaueste sein zu wollen.“

„Halt dein loses Mundwerk und hilf mir lieber auf“, sagt Wongin mit vor Wut lodernden Augen und hält sich seine schwer verbrannte, wenn auch zumindest nicht mehr brennende Hand.

„Von mir aus“, sagt Tramar schulterzuckend und hilft seinem Kollegen aufzustehen. Dann treten sie gemeinsam in die Schwärze.

~o~

„Seltsam. Das ist die Ratshalle“, sagt Tramar als sie auf der anderen Seite der Barriere wieder herauskommen. Tatsächlich gleicht dieser Ort dem ihnen so wohlbekannten Gebäude praktisch bis aufs letzte Detail. Die mit purpurnem Glanzkäferblut in den weißen Kristall getriebenen Sinnsprüche. Die halbkreisförmigen Reihen aus hochlehnigen, miteinander verbundenen Stühlen von denen jeder ein kleines Kristallterminal besitzt, auf dem Informationen, Ergebnisse und Abstimmungsoptionen eingeblendet werden können. Die geflügelte, zweigeschlechtliche Statue von Nektrava, der Alt-Rihnnischen Gottgöttin der Weisheit.

Eine augenzwinkernde Hommage an vorlaizistische Zeiten als die Gewinnung von Wissen in den Nadelwelten noch als frommer Dienst an den Göttern betrachtet und betrieben wurde. Daneben das erhöhte Redepult, dessen zahlreiche, aus Saphir geformte Säulen sich wie Orgelpfeifen in die Höhe schrauben und jeden Redner wie ein surrealistisches Gemälde einrahmen. Das Einzige was der Szenerie fehlt, ist das helle, freundliche Licht, das für gewöhnlich von der goldenen Deckenbeleuchtung diffundiert. An seiner statt dominiert ein grünlich-graues Zwielicht, das dort, wo es sich aus den Schatten wagt, wie ein maligner Nebel über der Ratshalle hängt. Zudem sind die Plätze allesamt leer. Jedenfalls soweit sie es beurteilen können.

„Hallo?! Jemand hier?!“, ruft Tramar und seine Stimme hallt weit durch die leere Ratshalle, aber keine Antwort erklingt.

„Hier ist niemand“, stellt er kurz darauf fest.

„Welchen Sinn würde das ergeben?“, fragt sich Wongin, „wenn man uns töten will, hätte man uns gleich in einen Raum voller Flammen und Säure schicken können. Und wenn man uns erpressen oder etwas von uns fordern möchte, dann müsste hier jemand sein, der mit uns redet. So aber …“

„Vielleicht will man uns nur kurzzeitig aus dem Weg haben und wir werden irgendwann automatisch zurückteleportiert. Zum Beispiel, wenn die Abstimmung vorüber ist. Oder aber … sie wollen, dass wir hier verhungern und uns letzten Endes gegenseitig konsumieren“, schlägt Tramar weitere Erklärungen vor.

„Hat mein gegrilltes Fleisch etwa Gelüste in dir geweckt?“, fragt Wongin säuerlich, „aber deine Morbidität in allen Ehren. Ich könnte mir nicht vorstellen, dass jemand uns so sehr hasst und diesen Aufwand betreibt, nur um uns zu quälen. Wenn überhaupt wäre ich eher bei deiner ersten Theorie.“

„Du solltest eine Utopie verfassen, mein Freund“, bemerkt Tramar spitz, „ein Fantasieland, in dem alle nett zueinander sind, das Essen einem zufliegt, Feuerstrudel nicht heiß sind und interdimensionale Fallen nur einen harmlosen Umweg bedeuten.“

„Mach dich ruhig lustig“, antwortet Wongin genervt, „vielleicht kannst du ja eine Karriere als Unterhalter anstreben, wenn es mit der Forschung weiterhin so mies läuft.“

„Einen Fan hätte ich schon mal. Oder wie nennt man jemanden sonst, der einen ständig um die Hilfe bei der Lösungen komplexer Gleichungen bittet, anstatt sich selbst damit auseinanderzusetzen oder die Weisheit der Archive zu konsultieren“, sagt Tramar lachend, wobei das Lachen in dem unnatürlichen Raum so verzerrt und falsch klingt, dass es eher an ein krankhaftes Husten erinnert.

„Ich nutze die Wege, die mich am schnellsten zum Ziel führen. Wie jeder intelligente Mann. Aber lass uns nicht streiten“, schlägt Wongin versöhnlich vor, „lass uns lieber herausfinden, ob es hier nicht doch jemanden gibt, der uns beobachtet oder gar einen Ausweg.“

Tramar nickt und gemeinsam suchen sie die leeren Sitzreihen ab, wobei sie sich beständig umblicken, um nicht von irgendjemandem oder irgendetwas aus den allgegenwärtigen, tiefen Schatten heraus überrascht zu werden.

Nun, das stimmt nicht ganz. In Wahrheit ist es vor allem Tramar, der seine Umgebung genau im Blick behält, während Wongins Aufmerksamkeit sich vor allem in seinem Inneren konzentriert. Das liegt jedoch nicht daran, dass er ein Fantast oder Tagträumer ist. Nein, aber er versucht sich an etwas zu erinnern. Etwas, dass er einst von einem Bravianischen Mystiker namens „Loiren“ gelesen hatte, der in der Lage gewesen sein soll, durch bloße Willenskraft und spezielle Meditationstechniken zwischen Dimensionen und Daseinssphären zu wechseln. Was auf viele wie Humbug wirken mag, hat durchaus empirische Evidenz, die auch von einigen respektablen Autoren bestätigt wird. Wongin hat sogar selbst schon damit experimentiert und zumindest einige Indizien gesammelt, die dafür sprechen. So hat er sich tatsächlich in begrenztem Umfang durch den Raum teleportieren können und sogar ein Zeitsprung von einigen Minuten war ihm einmal gelungen. Allerdings hatte er diese vielversprechenden Experimente irgendwann abgebrochen und – so absurd das auch ist -, er weiß gerade nicht einmal mehr genau warum. Er weiß nur, dass es an dem Verfahren irgendeinen Haken gibt. Einen ziemlich üblen Haken sogar. Dennoch kann er sich nicht vorstellen, dass dieser Nachteil so groß ist, dass er ihn jetzt nicht für eine Flucht in Kauf nehmen würde. Leider bringt ihm diese mutige Einstellung nicht allzu viel, denn er kann sich buchstäblich ums Verrecken nicht mehr an die dazu benötigte Methode erinnern.

Tramar scheint bei seiner Suche in der äußeren Wirklichkeit mehr Erfolg zu haben.

„Hey, Wongin, komm mal her“, ruft er aufgeregt, „das solltest du dir ansehen!“

Tramar, der nur wenige Reihen entfernt ist, folgt dem Ruf, dankbar dafür, sich für einige Momente auf etwas anderes konzentrieren zu können als auf das fruchtlose Wühlen in seinen verdrängten Erinnerungen.

„Eigenartig“, urteilt Wongin als er die Entdeckung seines Kollegen in Augenschein nimmt, die sich auf die an den Sitzen befestigten Kristallterminals bezieht, „nur zwei dieser Displays sind beleuchtet. Komisch, dass sie uns vorher nicht aufgefallen sind.“

„Die Lehnen verdecken viel. Und besonders hell sind diese Monitore ja nicht“, antwortet Tramar.

„Stimmt. Und erhellend erst recht nicht“, sagt Wongin mit zusammengekniffenen Augen, „das ist keine Rihnnische Schrift, falls ich nicht plötzlich unter selektiver Amnesie leide.“

„Nein, das nicht“, bestätigt Tramar, „aber sie kommt mir dennoch vage bekannt vor. Warte, lass mich nachschauen.“

Tramar setzt sich auf den Stuhl hinter sich und nimmt etwas aus seinem bronzefarbenen „Moyen“, einer traditionellen, um die Hüfte getragenen Stofftasche, die verschiedene Forschungsgerätschaften beinhaltet. Darunter auch Hilfsmittel zur Übersetzung und Interpretation alter und seltener Texte.

„Gleich sind wir schlauer“, verspricht Wongin, während er in den Tiefen der Tasche wühlt.

„Tramar, pass auf!“, ruft Tramar und er weiß nicht einmal genau, was ihn zu dieser Äußerung veranlasst. Ist es das Flimmern in der Luft, der leichte Windzug, den er auf seiner Haut fühlt oder doch eher das kaum merkliche Pulsieren in Bezug von Tramars Stuhllehne?

So oder so kommt seine Warnung zu spät. Zumindest für Tramar, dessen Stuhl sich in eine graue, humanoide Masse mit grobschlächtigem Gesicht verwandelt, die den Gelehrten mit starken, grauen Armen an sich presst, während sie die Identität aus Wongin trinkt wie ein Neugeborener aus der Brust seiner Mutter.

„Wongin, hilf mir! Bitte!“, fleht Wongins langjähriger Freund und Kollege, dessen Augen von blankem Entsetzen erfüllt sind. Nicht, weil er nicht weiß, wie ihm geschieht, sondern gerade weil er genau weiß, dass er es hier mit einem der berüchtigten Laarmaschk zu tun hat.

Doch nicht nur Tramar ist dieser Fakt bewusst, sondern auch Wongin. Und deshalb weiß dieser, dass jede Hilfe zu spät kommt. Just in diesem Moment entsinnt er sich an den Luftzug, den er gespürt hat, und erzittert vor Grauen, als er hinter sich eine ganz ähnliche Gestalt wahrnimmt, die nach ihm greifen will. Aber Wongin ist schneller. Eine entscheidende Winzigkeit schneller. Wie ein glitschiger Fisch flutscht sein von diversen Forschungsexpeditionen zumindest mäßig trainierter Gelehrtenkörper durch die schlammige Faust des Gestaltwandlers. Und mit einem unsicheren, stolpernden Sprung überwindet er auch den armen Tramar, dessen aschfahles und konturloser werdendes Gesicht realisiert, dass sein Freund geschätzter Freund ihm nicht helfen wird. Zuckend, wimmernd und mit von Angsthormonen getränktem Speichel um den strichdünnen Mund ergibt sich Tramar seinem Schicksal.

Dieser Anblick schmerzt Wongin durchaus. Er ist vielleicht ein Mann des Verstandes, nicht des Herzens, aber kein komplettes Ungeheuer. Dennoch blendet er das Schicksal seines Freundes notgedrungen aus und prescht weiter durch die Sitzreihen, deren meiste Stühle sich nach und nach als weitere Gestaltwandler entpuppen, von denen einige noch immer mit dem Kopieren und Konsumieren ihrer kürzlich gefangenen Opfer beschäftigt sind. Sie müssen den gesamten Rat auf diese Weise eingefangen haben.

„Bleib stehen!“, verlangt die Stimme der Kreatur in seinem Kopf, „wir sind füreinander geschaffen!“

„Wie Raubtier und Beute was?“, antwortet Wongin ohne innezuhalten, „glaub nicht, dass ich nicht wüsste, dass ihr Laarmaschk keine Symbiose anbietet.“

„Oh es gibt keine perfektere Symbiose als die zwischen Raubtier und Beute. Wille und Essenz. Trieb und Energie werden eins und jede Opposition löst sich auf im entspannenden Augenblick völliger Hingabe“, schwärmt der Laarmaschk, dessen schleifende, aber schnellen Schritte Wongin immer lauter hinter sich hören kann. Unter anderen Umständen hätte Wongin den Laarmaschk locker abhängen können. Jedoch ist es hier viel zu eng und auch wenn sich die anderen Laarmaschk zumindest vorerst nicht für ihn interessieren, schränken ihre massigen Körper, mit denen er nicht in Berührung kommen will, jedoch seine Bewegungsfreiheit ein. Sein gieriger Verfolger macht dadurch einiges an Boden gut. Hinzu kommt, dass es für Wongin aus dieser Ebene ohnehin kein Entkommen geben wird, falls ihm diese verfluchte Technik nicht endlich wieder ins Gedächtnis kommen will.

Dennoch rennt Wongin weiter. Denn die Alternative steht ihm in Form von dutzenden leergelutschten und kopierten Hüllen, bei denen es sich wahrscheinlich um andere Mitglieder des Rats der Wissenden handelt, deutlich vor Augen. Genau einer dieser Ratsmitglieder ist es, der ihm letztlich zum Verhängnis wird. Denn genau in dem Moment, als er endlich das Ende der Sitzreihen erreicht, übersieht er die Überreste eines mittlerweile gesichtslosen Abgeordneten und sein Fuß gleitet auf dessen schleimigen Überbleibseln aus. So unglücklich, dass er nicht nur umknickt, sondern sich auch noch in den Sitzen verfängt und sich beim Aufschlagen auf dem harten Boden die Nase bricht.

Der Schmerz ist heftig. Doch zugleich, ist er seine Rettung. Denn er hilft seinem Gedächtnis auf die Sprünge. Schmerz und Angst, so erinnert er sich, sind die großen Geheimnisse hinter der Reisemethode von Loiren. Und sie sind auch der Grund gewesen, aus dem er seine Forschung eingestellt hat und warum sich die Methode nie in der Breite durchgesetzt hat. Doch das kümmert Wongin im Moment nicht. Seine Optionen sind begrenzt und sein Vorrat an Schmerz und Angst ist ausreichend hoch, nicht zuletzt, weil die klatschenden Schritte des Laarmaschk beunruhigend nah in seinen Ohren dröhnen und er dessen gehässige Stimme wie giftiges Eis in seinem Verstand spüren kann.

„Keine Angst. Ich schreibe deine Geschichte fort, Gelehrter. Mit meiner eigenen Tinte, versteht sich. Und ich bin nicht undankbar. Auch wenn es unhöflich von dir ist, mir einen so versehrten Körper darzubieten. Es kostet Kraft solche Brandwunden zu heilen. Kraft, die ich lieber nicht verschwenden würde.“

Wongin vernimmt die drohenden und höhnischen Ausführungen der Kreatur jedoch nur am Rande. Denn nun fallen sie ihm endlich wieder ein: die Worte, der Schlüssel zur Teleportation mit Loirens Methode.

„Zirmafin drong Englessador il Tormin“, wispert er schwach. Und Wongins Schmerzen und seine lähmende Angst weichen einer warmen Erleichterung, die wie euphorisierender Honig durch seine Adern rauscht, als er begreift, dass es funktioniert und sich die düstere Ratshalle um ihn herum auflöst. Die drückende Wärme dieser verfluchten Gefängnisebene verschwindet und es wird merklich kühler.

Erleichtert will Wongin aufatmen, froh, diesem Albtraum schließlich entkommen zu sein. Doch es geht nicht. Und während seine vom Druckverlust geweiteten Augen die endlose Schwärze des Alls um ihn herum registrieren und das Lebensblut in seinen Adern zu kochen beginnt, erinnert er sich an den zweiten Nachteil des von Loiren entwickelten Verfahrens. Man kann damit gigantische Distanzen überwinden und an die wundersamsten Orte gelangen, wenn man bereit ist, den Preis zu bezahlen. Aber dieser Preis besteht nicht allein in Schmerz und Angst. Es besteht vor allem im Ungewissheit. Denn ein genaues Ziel bestimmen, nein, das kann man mit dieser Methode leider nicht.

~o~

„Sie haben unseren Gesetzesvorschlag einstimmig angenommen? Du willst mich doch verarschen“, meint Zinga verblüfft, nachdem Norin ihr die Nachricht übermittelt hat, die gerade über ihren Kristallkommunikator hereingekommen ist. Die beiden sind beinahe zu spät zur Abstimmung über das Archivöffnungsgesetz gekommen, die schon in wenigen Minuten beginnen wird. Anders als beim Rat der Wissenden verfügten die schlichten Stühle aus mattem Bergkristall im Rat der Unwissenden nicht über eine solche ausgefeilte Technik.

Norin, die kurzhaarige, blonde Frau, die in der praktischen, groben, grauen Kluft einer Technikerin steckt, hat sich dieses Gerät selbst zusammengebaut. Denn auch wenn sie keine Gelehrte nach Rihnnischen Standards ist und selten neue Erfindungen erschafft, ist sie gut darin, Dinge zu konstruieren. Davon profitierte nun auch Zinga, deren landwirtschaftliche Tätigkeit man ihrem zwar einfachen, aber hübschen, weißen, mit Bergkristall bestäubten Kleid kaum ansieht. Denn andernfalls hätte sie von der Entscheidung der anderen Kammer erst viel später erfahren.

„Tja, nicht ganz“, erwidert Norin, „Die Vertreter der Welthüter haben dagegen gestimmt. Aber der Rat der Wissenden hat sich tatsächlich geeinigt und dafür ausgesprochen.“

„Das bedeutet also, dass nur unsere eigene Kammer noch das Gesetz verhindern kann“, schlussfolgert Zinga aufgeregt, die sich inzwischen recht gut mit der Funktionsweise der rihnnischen Politik auskennt, auch wenn sie in ihrem bürgerlichen Leben ihre eigene kleine Farm am Fuße des Nadelgebirges bewirtschaftet.

„So ist es“, stimmt Norin, die schon länger Teil des Parlaments ist, zu, „zumindest, wenn wir eine Dreiviertelmehrheit für ein Gegenvotum erreichen, wonach es jedoch eher nicht aussieht. “

„Das ist doch großartig!“, freut sich Zinga, „Ich hätte niemals gedacht, dass diese Betonköpfe so aufgeschlossen sind.“

„Das sind sie auch nicht. Du weißt so gut wie ich, dass die meisten von ihnen für uns gewöhnliche Leute nichts als Verachtung übrighaben. Wenn sie uns überhaupt registrieren, dann wenn es darum geht, ihnen Forschungsutensilien zu liefern oder als Versuchskaninchen zu fungieren. Und selbst die Wohlmeinenderen untern ihnen begreifen sich als unsere Hirten. Mag sein, dass es mal den ein oder anderen Abweichler gibt, der sich besonders weltoffen zeigen will. Aber ein fast einstimmiges Votum für die Öffnung der Archive? Niemals“, wendet Norin ein.

„Dennoch ist es passiert“, erwidert Zinga euphorisch, „manchmal geschehen eben doch Wunder in dieser glitzernden Einöde. Weißt du überhaupt was das bedeutet? Es gäbe keine Zugangsbeschränkungen mehr. Keine Türkontrollen. Keine verbotenen Abteilungen, keine Zwangsbetreuung oder zeitliche Beschränkungen. Wir können endlich alles in Erfahrung bringen, was wir wollen, wann immer wir wollen. Wir sind keine Rihn-Ha zweiter Klasse mehr. Endlich wären wir alle Wissende und jeder kann über sein Leben so entscheiden, wie er möchte.“

Norin wirkt nicht annähernd so begeistert. Im Gegenteil, ihr Gesicht ist wie versteinert. „Nein, du bist es, die es nicht versteht“, sagt sie tonlos, während ihre Augen wie festgeschweißt auf den Kommunikator gerichtet sind, „wie solltest du auch? Das hier ist nicht der Gesetzesentwurf, den wir eingebracht haben.“

„Wie meinst du das?“, fragt Zinga verwirrt.

„Es geht hier nicht um den bloßen Wegfall der Zugangsbeschränkungen und Privilegien. So wie ich diesen Text verstehe, soll eine Art atmosphärischer Sender in den Archiven errichtet werden, der uns beständig mit Wissen versorgt. Selbst ohne unser aktiven Zutun. Tag und Nacht. Ohne jede Unterbrechung“, antwortet Norin.

„Du willst mich verarschen, oder?“, meint Zinga, „dich über das dumme Bauernmädchen lustig machen? Nicht nur, dass so eine spontane Gesetzesänderung vollkommen unzulässig wäre. Wenn sie uns so mit Infos vollballern würden, würden unsere Köpfe platzen. Das wäre kein Segen. Im Gegenteil. Das wäre Gedankenterror! Das kann nicht dein Ernst sein.“

„Über so etwas würde ich keine Scherze machen, Zinga“, sagt Norin ernst, „genau das steht hier schwarz auf weiß.“

„Das werden die Ratsmitglieder nie im Leben akzeptieren“, sagt Zinga energisch, „auch wenn die Gelehrten uns dafür halten, sind wir nicht dumm.“

„Das sehe ich auch so“, stimmt Norin zu, „wenn sie den aktuellen Inhalt des Gesetzes kennen würden, würden sie es wahrscheinlich ablehnen. Aber sie kennen ihn nicht. Die wenigsten haben einen Kommunikator, so wie ich. Sie werden denken, dass sie über das ursprüngliche Gesetz abstimmen. Aber Abstimmung ist Abstimmung. So ist unser Gesetz. Leider.“

„Dann müssen wir es ihnen sagen“, fordert Zinga und wartet nicht erst auf Norins Zustimmung. Sie fackelt nicht lange, reckt sich hoch und legt die Hände wie einen Schalltrichter an die Lippen.

„Hey, hört alle mal zu …“, beginnt sie und spricht dabei so laut wie sie kann, aber ihre Worte gehen in einem lauten Gongschlag unter, der nicht nur die Abstimmung einläutet, sondern auch auf magischem Wege alle Stimmen verstummen lässt. Diskussionen sind an diesem Punkt unerwünscht. Anders als die Wissenden, die ihre Entscheidung niederschreiben und begründen dürfen und sogar müssen, haben sie jetzt nur noch eine Aufgabe. Ihre Hand auf den vor ihnen angebrachten Rubin für Ablehnung oder auf den Saphir für Zustimmung zu legen. Mehr traut man dem Pöbel nicht zu. Und dafür haben sie lediglich wenige Sekunden. Also gibt sich Zinga geschlagen und legt die Hand auf den roten Kristall. Norin tut es ihr gleich und beide hoffen dadurch einen Unterschied zu machen. Auch wenn diese Hoffnung nicht groß ist.

Fünf Sekunden später ist die magische Stille vorrüber und eine körperlose Stimme verkündet das Ergebnis der Abstimmung. „Euer Wille wurde eins mit dem Kristall. Und dieser Wille hatte heute eine tiefblaue Farbe. Das Gesetz zur Archivöffnung wurde mit einer Mehrheit von dreiundachtzig Prozent der Stimmen von diesem Rat angenommen. Danke, dass ihr euren Beitrag geleistet habt. Das Abstimmungsergebnis des ehrwürdigen Rates der Wissenden wird euch in Kürze mitgeteilt. Habt alle einen produktiven Tag.“

„Fuck!“, flucht Zinga, „wir müssen das rückgängig machen!“

„Wir können es versuchen“, meint Norin, „aber sage mir eins: Wann haben die je auf uns gehört?“

~o~

„Und wo ist jetzt diese Aventuringeweihte, von der du gesprochen hast?“, fragt Lyon nachdem sie beide den Schutz des Hauptquartiers verlassen haben. Natürlich nicht ohne vorher noch einen Happen zu essen und – in Sandras Fall – sich ein paar weitere Informationen über Rihn, Pendula und Astrera bei Runno anzueignen.

„Sie kann nicht weit sein“, antwortet Sandra und sieht sich nervös um, kann jedoch ebenfalls keine Spur von Aninga entdecken. Vielleicht hat sich die Steingeweihte ja ein anderes Ziel gesucht, um ihre Rechtschaffenheit auszuleben. Aber irgendwie glaubt sie nicht, dass sie dermaßen viel Glück hat. Außerdem wäre es doch auch irgendwie schade, wenn sie ihren Einfluss auf Lyon nicht austesten könnte. Dass er ihrer Bitte, sie zu begleiten tatsächlich zugestimmt hat, ist schon überraschend genug gewesen. Doch ob das mehr als ein Lippenbekenntnis war, muss sich noch zeigen.

„Ich frage mich immer noch, wie es dir gelungen ist, eine sprichwörtliche Verkörperung des Heroischen gegen dich aufzubringen“, sinniert Lyon skeptisch.

Sandra überlegt, ob sie die Wahrheit ein wenig verbiegen kann, aber entscheidet sich dann doch dagegen. Lyon ist naiv und gutmütig, aber er ist nicht dumm.

„Ich war bislang kein sehr guter Mensch, Lyon“, gesteht Sandra ein, „auch wenn ich versuche, mich zu ändern. Schon allein in meiner Rolle als Sahkshah habe ich viele harte Entscheidungen treffen müssen. Etwas in ihr wird das erkannt haben. Aber du weißt ja, wie diese Moralhüter sind. Schnell im Urteilen, aber sehr langsam im Vergeben. Deshalb brauche ich deine Unterstützung.“

„Ich bin kein besonders guter Kämpfer“, wendet Lyon ein und streicht unsicher über die kurzläufige Strahlenpistole in seiner Hand.

„Und dennoch stehst du hier an meiner Seite“, entgegnet Sandra, „das zeigt, dass du ein echter Freund und ein zuverlässiger Verbündeter bist. Ich meine, immerhin hast du mich aus diesem verfickten Spiegelknast befreit. So jemand ist mir lieber als ein psychopathischer Hitzkopf wie Norvur. Außerdem mag ich dich, Lyon. Du bist eine sehr angenehme Gesellschaft.“

Sandra wirft ihm eine Kusshand zu und merkt sofort, wie Lyon errötet, auch wenn er selbst ja bislang eher weniger Zurückhaltung bei seinen Zuwendungen gezeigt hat.

„Schön zu hören, dass du das so siehst“, gibt er lächelnd zurück. Sandra ist sich fast sicher, dass sein Verstand ihre Schmeichelei als eine solche enttarnt, aber etwas in Lyon ist geradezu süchtig nach Aufmerksamkeit und Freundlichkeit. So süchtig, dass seine Ratio dagegen nicht wirklich ankommt. Dennoch versucht sie es tapfer.

„Eigentlich wolltest Du doch die Maßnahmen gegen Pendula leiten“, erinnert Lyon sie. Der Bravianer scheint sich zunehmend unwohl zu fühlen und streichelt immer wieder Halt suchend über seine Waffe, die ihm gegen die Aventuringeweihte wahrscheinlich einen Scheiß helfen wird.

„Das tue ich ja auch“, erklärt Sandra, „Und dabei ist es entscheidend, dass die Übernahme der Archive gelingt. Leute die alles wissen kann Pendula nur schwer versklaven. Die Laarmaschk leisten ihren Teil. Ich den meinen. Oder hältst du mein Vorgehen etwa für dumm?“

„Nein“, widerspricht Lyon, „nur für … unkonventionell.“

„Deswegen bin ich ja hier, oder?“, antwortet Sandra schelmisch, „weil ich anders denke als ihr alle.“

„Du bist hier, um dein Urteil zu empfangen. Euer aller Urteil, um genau zu sein“, schallt Aningas Stimme über die Kristallfelder. Die Aventuringeweihte steht über ihnen auf einem Rubinfelsen wie ein Bild des Heldenmuts selbst, das glänzende Kristallschwert in beiden Händen. Sie ist ein Stück entfernt, aber Sandra weiß genau, dass sie schnell bei ihnen sein wird, wenn sie will. Verflucht schnell.

„Ich bringe was du verlangt hast. Lyon, ein repräsentatives Mitglied von Astrera“, eröffnet Sandra mit fester Stimme, auch wenn der Anblick der Geweihten abwechselnd Abscheu und Angst in ihr hervorruft. Abscheu vor diesem laufenden Klischee und Angst davor, selbst zu so etwas zu werden.

„Du sagtest, du bräuchtest Rückendeckung, nicht dass ich deine Opfergabe bin“, flüstert ihr Lyon leicht verärgert zu.

„Das bist du nicht“, antwortet Sandra leise, „du bist nur mein Musterbeispiel an Tugend. Nimm diesen wütenden Ausdruck aus deinem Gesicht und sei einfach der Schnuckel, den ich so schätze, dann kannst du nicht nur dich und mich, sondern auch den Rest von Astrera vor dem Zorn dieser Frau bewahren.“

Lyon antwortet mit einem verblüfften Blick, der noch irritierter wird als sich die Geweihte so schnell auf ihn zubewegt, dass es an Teleportation grenzt. Nun sieht sie ihm direkt in die Augen und Lyons Waffe rutscht ihm vor lauter Panik aus der Hand und poltert lautstark auf den Kristallboden.

„Ihr seid hoffentlich freiwillig hier, oder?“, sagt Aninga zu ihm und Sandra rutscht das Herz in die Hose. Eine falsche Antwort kann sie jetzt ernsthaft in Schwierigkeiten bringen.

Lyon sieht der bewaffneten Kristallkriegerin ziemlich verschüchtert in die Augen, strafft dann aber seine Schultern und ringt sich zu einer erstaunlich selbstsicheren Antwort durch. „Natürlich, ich gehe nirgendwo hin, wo ich nicht hingehen will“, sagt er, „das ist der ganze Sinn von Astrera. Freiheit und Glück für jeden zu erreichen.“

„Ich hörte, der Sinn eurer Organisation sei es, Chaos und Bosheit zu verbreiten“, erwidert die Steingeweihte, die einst auf den Namen „Aninga“ gehört hatte.

„Wir sind nicht böse“, antwortet Lyon mit einem warmherzigen, einnehmenden Lächeln, „Chaos und Bosheit sind nicht dasselbe. Wir stehen für Freiheit, Selbstentfaltung und den Kampf gegen Unrecht und Diktatoren. Wenn du wirklich für die Sache der Gerechtigkeit einstehen willst, solltest du an unserer Seite kämpfen, nicht gegen uns.“

„Eure Freundin hat sich nicht gerade wie eine Freiheitskämpferin verhalten“, sagt die Geweihte streng, „aber es ist wahr. Es ist nicht gerecht, Viele aufgrund der Taten von Wenigen zu verdammen. Seid ihr damit einverstanden, dass ich euch prüfe?“

Sandra entgeht nicht, wie nervös Lyon innerlich ist, aber seine Selbstbeherrschung ist bemerkenswert. „Das bin ich“, sagt Lyon, „unter einer Voraussetzung.“

„Und die wäre?“, fragt die übermenschlich schnelle Frau mit dem langen, scharfen Schwert, die Lyon um einen ganzen Kopf überragt.

„Ich will eine zweite Chance für Sandra“, verlangt Lyon, „was immer sie auch getan hat. Vergib es ihr!“

„Helden bekämpfen Monster“, sagt die Geweihte ernst, „sie lassen sie nicht in Frieden ziehen.“

Mit einem Mal wird Sandra ganz anders. Sie ist fest davon ausgegangen, dass die Geweihte sie laufen lassen würde, wenn sie mit Lyon zufrieden ist. Doch offensichtlich ist ihr rechtschaffener Zorn längst nicht verraucht. Aber noch ehe sie sich hektisch einen Fluchtplan zurechtlegen kann, überrascht Lyon sie erneut.

„Monster können sich nicht ändern. Sie folgen ihren Trieben. Aber Wesen mit Verstand haben die Wahl und Sandra gehört zu letzterer Kategorie. Tot kann sie nichts wiedergutmachen. Lebendig jedoch kann sie noch eine Menge Gutes in der Welt bewirken. Wenn sie jemand anleitet“, sagt Lyon.

„Und Ihr haltet euch für denjenigen, der dies vermag?“, fragt die Aventuringeweihte.

„Ja, ich denke schon“, sagt Lyon tapfer, „seht einfach in mein Herz, dann wisst ihr es. Ihr seid doch dazu in der Lage, oder?“

„Ja, solches vermag ich ich“, sagt die Geweihte. Sie hebt ihr Schwert, jedoch langsam und zeremoniell und nicht wie bei einem Angriff, „bewegt euch nicht und lasst die Klinge auf euren Schultern ruhen. Wenn mir gefällt, was ich sehe, werde ich euch beide gehen lassen, wohin ihr wollt. Darauf habt ihr mein Wort.“

Lyon nickt und die ehemalige Aninga legt ihre Kristallklinge wie angekündigt auf Lyons Schulter ab. Lyon zuckt nicht das kleinste Bisschen als der kühle Kristall seine Haut berührt. Erst zeigt erst eine Reaktion als das Schwert ein winziges Stück in sie eindringt, gerade genug, um in Kontakt mit seinem Blut zu kommen. Doch auch dann bewegt er sich nicht wirklich.

„Hey, tu ihm nicht weh“, entfährt es Sandra, „und vor allem verseuche ihn nicht.“

„Eine Infektion über mein Schwert ist unmöglich. Und keine Angst, der Schnitt wird sich schließen“, beruhigt die Steingeweihte sie, „aber erst wird sich sein Geist für mich öffnen.“

Dann verdrehen sich Lyons Augen nach hinten, sodass das Weiße seiner Augäpfel zu sehen ist und der Glaskörper nimmt eine regenbogenartige Färbung an. Sandras Unruhe nimmt kaum noch erträgliche Ausmaße an. Sie ist bisher davon ausgegangen, dass Aninga vielleicht in der Lage sein würde, Lyons Gutmütigkeit zu erkennen, seine idealistischen Absichten zu ergründen, aber was war, wenn sie mehr konnte als nur das? Was wenn sie in seinen Erinnerungen lesen würde? Wenn sie dort Leute sehen würde wie Novrur, die Laarmaschk oder die anderen Abscheulichkeiten des chromatischen Rates.

Der Tag entschied jedoch, sie ein weiteres Mal zu überraschen.

Denn als die Aventuringeweihte ihr Schwert von Lyons Schulter hebt, stehen echte Tränen im steinernen Gesicht des wandelnden Helden-Klischees. Was immer sie in Lyon gesehen hat, musste ein Herz berührt haben, von dem Sandra nicht mal gewusst hat, dass es noch existiert.

„Lässt du uns gehen?“, fragt Sandra noch immer etwas unsicher.

„Nein“, entgegnet Aninga, „ich gehe mit euch. Pendula muss das Handwerk gelegt werden.“

„Das ist großartig“, sagt Sandra freudestrahlend, überglücklich darüber, eine solch fähige Verbündete gewonnen zu haben. Dieses Gefühl der Erleichterung und des Glücks ist intensiv. So intensiv, dass es ihr schwindelgleich zu Kopf steigt, dann ihre Beine hinabrauscht, sie einknicken lässt und sich in einem Schwall von glasigem Erbrochenem auf dem glitzernden Kristallboden entlädt.

~o~

„Alles in Ordnung?“, fragt Lyon besorgt als Sandra sich zitternd in die Höhe stemmt.

„Ja, es geht schon“, antwortet sie und tatsächlich ist das sogar eine Untertreibung. Sandra fühlt sich sogar außerordentlich gut, obwohl die weißen Gewebebröckchen, die in einer Pfütze blass-roter Flüssigkeit vor ihr liegen ziemlich beunruhigend aussehen und sieh ein zwar nicht schmerzhaftes, aber spürbares Ziehen in ihren Gelenken fühlen kann.

„Das bezweifle ich“, beharrt Lyon, „niemand, dem es gutgeht, kotzt sich buchstäblich die Eingeweide heraus.“

„Mir geht es gut“, wiederholt Sandra und sieht zu der Aventuringeweihten, die ihren Zusammenbruch überraschend gefühlskalt verfolgt hat. Sie ist ein Stein, erinnerte sich Sandra, keine Person. Nicht mehr zumindest. Egal, wie tugendhaft sie sich gibt, „ich hab nur was schlechtes gegessen, das rausmusste. Jetzt ist der scheiß raus und alles ist in Butter.“

„So ein Unfug“, sagt Lyon kopfschüttelnd, „ich akzeptiere, dass du gerade nicht darüber reden willst. Aber ich lasse mich nicht belügen. Dein Gesundheitszustand geht uns alle etwas an. Nicht nur dich. Fürs Erste werde ich das akzeptieren, aber wenn wir wieder im Hauptquartier sind, wirst du dich untersuchen lassen.“

„Ist gebongt“, antwortet Sandra knapp, schon allein um Lyon zu beruhigen. Natürlich macht ihr dieser Vorfall ebenfalls Angst, ganz gleich ob das nun eine Nebenwirkung des Delimiters ist oder nicht. Aber sie weiß auch nicht, ob sie wirklich lust darauf hat irgendeinen halb irren Astrera-Arzt an sich herumdoktern zu lassen, der es vielleicht für eine gute Idee halten könnte spontan ihre Organe neu anzuordnen, um zu schauen, ob sie so besser funktionieren.

„Wir können gehen“, sagt sie zu der Geweihten und verschiebt diese Überlebung auf einen späteren Zeitpunkt, „Ich weiß, wo wir unseren Schlag gegen Pendula führen können. Du stehst zu deiner Entscheidung, auf unserer Seite zu kämpfen?“

„Ich stehe auf der Seite des Guten“, stellt die Steingeweihte klar, „wo immer ich sie gerade ausmache.“

Das muss ausreichen, denkt Sandra. Wir müssen einfach nur sympathischer erscheinen als unsere Feinde. Mit Lyon an meiner Seite, sollte mir das gelingen.

~o~

„Nie im Leben gewähre ich euch Zutritt“, schreit Welthüter Kangra, ein muskulöser, glatzköpfiger Mann in einem roten Umhang zornig, „die Archive bleiben unangetastet.“

„Es ist die Entscheidung des Rates“, erinnert ihn Arngo, der Anführer der Kristallgarde, die sich rund um die Archive eingefunden hat und die in Rihn gleichermaßen die Funktion von Polizei und Militär übernimmt. Ihre Truppenstärke vor Ort entspricht ungefähr der eines kleinen Belagerungsheers und sie alle sind in Rüstungen aus Kristallkomposit gehüllt. Gefertigt aus Saphiren bei den einfachen Truppen und aus Smaragde bei ihren Anführern. Zudem trägt jeder von ihnen ein Kristallkarakt am Gürtel, das binnen kürzester Zeit gegen die renitenten Welthüter zum Einsatz kommen kann, sollte es nötig werden. Das jedoch hofft kaum jemand von ihnen. Die meisten Soldaten sind mit großer Ehrfurcht vor der sagenhaften Institution aufgewachsen und Arngo bildete da keine Ausnahme. Dennoch gilt ihnen ihre Pflicht etwas und die Entscheidungen des Rates respektieren sie ebenfalls. Letzterer wird durch mehrere Abgeordnete beider Kammern repräsentiert, die gleich hinter den Soldaten Stellung bezogen haben.

„Jeder kann eintreten, wenn er ein legitimes Anliegen hat“, versucht es die zierliche Welthüterin Rynven, die ein weißes, mit Salzkristallen bedecktes Gewand und einen langen Zopf trägt, etwas diplomatischer, „aber es gibt Wissen, das wir aus gutem Grund verborgen halten. Es gefährdet den Verstand einfacher Leute.“

„Mein Verstand ist nicht geringer als deiner. Und was ich mir zumute, ist nicht deine Entscheidung. Nicht mehr. Wir holen uns jetzt den Schatz, auf dem ihr so lange eifersüchtig gesessen habt!“

Die Worte stammten aus dem Mund von Jofin, einem streitbaren Mitglied des Rates der Unwissenden, an deren wettergegerbtes, faltigem Gesicht man deutlich die Freude über den überraschenden Erfolg der Gesetzesinitiative ablesen kann.

„Der Welthüter hat recht“, meint Zinga, die es endlich geschafft hat, sich aus der Gruppe der Abgeordneten nach vorne zu kämpfen.

„Verräterin!“, sagt Jofin wütend.

„Das bin ich nicht“, entgegnet Zinga, „ich will genauso freien Zutritt zu dem Wissen der Archive wie wir alle. Aber nicht so. Das alle geht nicht mit rechten Dingen zu. Das Gesetz, über das wir abgestimmt haben, wurde in letzter Sekunde verändert. Es ist nicht länger ein Anliegen der Gleichberechtigung, sondern eines des Wahnsinns. Es erteilt den Archiven die Befugnis in unseren Köpfen herumzupfuschen. Das dürfen wir nicht zulassen. Unter keinen Umständen!“

„Sie hat Recht“, bestätigt Norin die Aussage ihrer Freundin, „und ich meine, denkt doch mal nach. Warum bei der Schwärze des Onyx sollte der Rat der Wissenden einem solchen Gesetz zustimmen? Noch dazu einstimmig. Sie verachten uns. Das tun sie schon immer. Wenn es nach einigen von ihnen geht, wollen sie uns sogar jeglichen Zutritt zu den Archiven verwehren. Woher also sollte solch ein Sinneswandel rühren, wenn nicht daher, dass irgendjemand die Abstimmung manipuliert oder die Ratsmitglieder … ersetzt hat?“

Ihr Blick wandert demonstrativ zu den gelehrten Abgeordneten, die den Disput bislang auffallend stoisch und teilnahmslos beobachtet haben.

„Eure wirren Verschwörungstheorien verfangen bei mir nicht“, erwidert Jofin, auch wenn Zinga an ihrem Gesicht ablesen kann, dass sie die Wahrheit in Zingas Worten zumindest nicht gänzlich leugnen kann und mehr aus Prinzip widerspricht, „und selbst wenn es so ist. Gesetz ist Gesetz. Und bei Gott, ich werde kein Gesetz ablehnen, das uns einmal, nur ein einziges mal etwas Gleichberechtigung ermöglicht. Ganz egal, wie es zustande gekommen ist oder welche Nachteile es hat. Diese so genannten Welthüter müssen sich dem Prozess beugen. Wir sind die Entscheider. Nicht sie!“

Das zustimmende Raunen aus den Reihen der Mitglieder des Rats der Unwissenden zeigt, dass Jofin mit dieser Auffassung nicht alleine steht.

„Das ist ein Fehler“, sagt Norin hilflos, „ein Riesenfehler!“

Doch die meisten der Anwesenden lassen sich davon nicht beeindrucken.

„Es ist gewiss ein Fehler“, sagt Zinga nachdenklich und das nicht zur Menge, sondern leise zu ihrer Freundin, „aber vielleicht können wir ihn noch verhindern. Diese Abgeordneten sind keine echten Mitglieder des Rats der Wissenden. Davon bin ich inzwischen überzeugt. Sie sind viel zu ruhig. Sie disputieren nicht miteinander oder mit uns. Sie lassen keine überheblichen Schmähungen ab. Sie stehen nur dort wie zufriedene Aasfresser vor einer fetten Mahlzeit. Das hier sind Spione. Agenten einer fremden Macht. Womöglich nutzen sie irgendeinen Tarnzauber. Vielleicht auch eine fortschrittliche Technologie. Wenn wir sie enttarnen und allen klar wird, dass die Entscheidung nicht auf legitimem Weg zustande gekommen ist, müssen sie das alles hier abblassen und zur Vernunft kommen.“

„Da könntest du recht haben. Zumindest hoffe ich es“, meint Norin, „aber wie sollen wir das beweisen?“

„Wir müssen die Betrüger aus der Reserve locken“, schlägt Zinga kampflustig grinsend vor, „komm mit!“

~o~

„Na großartig“, sagt Tarena seufzend, „wie sollen wir uns den Weg durch diesen Tumult kämpfen?“

„Wenn wir lange genug warten, löschen sie sich gegenseitig aus“, kommentiert Andy süffisant, „das könnte ein hübsches Massaker werden.“

„So viel Zeit hat Pingo leider nicht“, sage ich besorgt, „und wir vielleicht auch nicht, wenn Any ungeduldig werden sollte.“

„Bist du dir da sicher, was Pingo betrifft?“, erkundigt sich Tarena, „immerhin hält sein Zustand doch schon sehr lange an. Es gibt doch keinen Grund anzunehmen, dass er sich so plötzlich komplett in Stein verwandeln wird.“

„Woher willst du das denn wissen?“, frage ich zurück, „du weißt doch rein gar nichts über ihn.“

Tarenas Reaktion auf diese Worte ist anders, als ich es erwartet habe. Ihre Blick wird kurz abwesend, so als würde er sich nach innen richten und sie flüstert etwas, dass ich nur durch genauestes Hinhören verstehen kann.

„Oh doch …“, sagt sie wehmütig, „… es ist … war fast, als hätten wir uns getroffen. Als hätte ich sie alle getroffen.“

Erst begreife ich nicht, woher ihr Stimmungswechsel rührt. Dann jedoch macht es Klick. Mein Alter-Ego muss ihr von meinen Abenteuern erzählt haben. Er hat ihr eine Brücke aus Worten gebaut. Eine Brücke zu Pingo, zu Korf, zu Garwenia und all den anderen Personen aus meiner Vergangenheit. Vor meinem geistigen Auge entstehen schmerzhaft schöne Bilder von lauschigen Nächten in einer fremden Welt, in der die Diplomatin einem Adrian an den Lippen hängt, der mir äußerlich bis aufs Haar gleicht. Wie sie ihn im Arm hält oder er sie. Und wie die Worte seiner Erzählung sich in die Weite exotischer Ebenen verlieren. Fast verspüre ich ein Deja-Vu. Eine Wehmut und Sehnsucht nach Momenten, denen ich nie beiwohnen konnte.

Sie hat ihn geopfert, erinnere ich mich und das seltsame, magische Gefühl verfliegt beinah vollständig.

„Du könntest das Pendel von Any verwenden, um die Zeit anzuhalten“, schlägt Tarena noch immer etwas abwesend vor.

„Das wäre eine Möglichkeit“, antworte ich, „… aber ich weiß nicht, wie sich das auf die Archive auswirken wird. Immerhin sind sie von Magie durchdrungen. Und diesen Welthütern traue ich durchaus zu, gegen die Auswirkungen des Pendels immun zu sein. Wenn das so ist, könnte uns das erst recht in Schwierigkeiten bringen.“

„Es ist rührend, wie viel Sorge du für andere aufbringen kannst“, wirft Andy ein und klingt dabei zugleich sarkastisch und anerkennend, „dem Original ist es deutlich schwerer gefallen, sich um irgendwen zu kümmern, außer um sich selbst.“

„Ich bin das Original und ich tue mein Bestes“, sage ich und absurderweise fühlte es sich gut an, von diesem seltsamen Jungen gelobt zu werden, so verklausuliert dieses Kompliment auch ist, „leider bringt mich das hier aber auch nicht weiter.“

„Vielleicht kann ich helfen“, überlegt Tarena.

„Das nehme ich sehr gerne an. Was schwebt dir denn vor?“, frage ich sie.

„Nun, ich kann ganz gut reden“, sagt Tarena selbstbewusst.

„Willst du sie etwa überreden, uns dort reinzulassen, während sie sich gerade fast an die Gurgel gehen?“, frage ich überrascht, „obwohl sie dich und Andy nicht mal bei unserem ersten Besuch in den Archiven dulden wollten?“

„Nun, damals bin ich es vielleicht nicht auf die richtige Weise angegangen. Ich bin eine Krebsbotin. Das muss doch zu etwas gut sein“, erwidert Tarena mysteriös.

„Dann lass es uns versuchen“, sage ich dankbar und ein wenig neugierig auf das, was Tarena geplant hat, „ehe Any noch an meiner Leine zieht und mich zurück zu ihrem Hauptquartier schleift.“

~o~

„Ich möchte euren Disput ungern stören“, wendet sich Sandra an die Welthüter, nachdem es ihr schließlich gelungen ist ins Zentrum des Geschehens vorzudringen. Ihre Stimme – obgleich sanft – übertönt selbst das Gezänk der zerstrittenen Parteien mühelos, „doch ihr müsst mir dringend Einlass in die Archive gewähren.“

„Wir müssen gar nichts. Du bist eine verfluchte Krebsbotin“, echauffiert sich Welthüter Torro zugleich verärgert und amüsiert, „du stinkst förmlich nach der Verseuchung deines bösen Meisters. Wenn wir nicht einmal den Rat willkommen heißen, werden wir bei Abschaum wie Dir wohl kaum eine Ausnahme machen. Sklavin!“

Tarena schluckt die Kränkung tapfer herunter und antwortet ausnehmend freundlich. „Nicht immer können wir uns unsere Herren aussuchen, Welthüter“, sagt sie, „aber ich bin keine blinde Dienerin. Meine Loyalität gilt in erster Linie dem Multiversum, in dem wir alle leben. Auch ich. Und das ist in Gefahr.“

„Ja, durch Abscheulichkeiten wie dich und deinen Herren“, bemerkt Welthüter Kangra.

„Da habt ihr Recht. In gewisser Weise“, stimmt Tarena unterwürfig zu, „aber es ist nicht mein Herr, von dem die größte Gefahr ausgeht. Es ist ein anderer Planetenkrebs. Ein Feind meines Herren, der nach dem gegriffen hat, was uns allen heilig ist. Nach den Archiven höchstselbst. Ich hatte seine Präsenz schon bei meinem ersten Besuch hier bemerkt, aber erst jetzt den Mut gefunden euch darauf hinzuweisen. Verzeiht dies bitte.“

Nicht nur die Welthüter blicken Sandra schockiert und ungläubig an.

„Ein Planetenkrebs in den Archiven? Das ist absurd. Geradezu lachhaft“, protestiert Torro, „eine ungeheuerliche Unterstellung. Wir hätten so etwas doch längst bemerkt.“

„Ihr seid äußerst intelligente Personen“, schmeichelt Tarena, „die Klügsten im Multiversum womöglich. Aber Augen, die in Aufzeichnungen und Forschungen gefangen sind, kann manches entgehen, gerade wenn sie nicht mit der Gefahr rechnen. Leute wie ich hingegen wissen, wenn ein Planetenkrebs in der Nähe ist.“

„So etwas habe ich tatsächlich schon gelesen“, meint Welthüterin Rynven nachdenklich, „Digomandra hat eine interessante Abhandlung zu den Fähigkeiten von Krebsboten verfasst. Und die von der Dienerin beschriebenen sollte seinen Untersuchungen zufolge dazugehören. Vielleicht spricht die Botin ja die Wahrheit.“

„Digomandras Schrift basierte auf Befragungen, nicht auf wirklicher Empirie“, wirft Kangra kritisch ein.

„Selbst wenn sie mit ihren Fantastereien recht hat, können wir uns sehr gut selbst darum kümmern“, springt ihm Welthüter Morengo, ein kleiner Mann mit wirrem schwarzen Haar und strengen Augen, der bisher eher still gewesen war, bei.

„Das könnt ihr nicht“, widerspricht Tarena, „nur ich allein weiß, wo ihr suchen müsst. Wenn ihr auf eigene Faust versucht das Übel ausfindig zu machen, könnte das Wochen oder gar Monate in Anspruch nehmen. Monate, in denen sich der Parasit weiter ausbreiten und das kollektive Wissen von Generationen verderben und für seine finsteren Zwecke nutzen kann. Wollt ihr es so weit kommen lassen?“

„Es wäre immer noch besser, als eine Krebssklavin unsere geschätzten Hallen verunreinigen zu lassen“, kommentiert Torro angewidert.

„Was glaubt ihr, was mit euren ehrwürdigen Hallen passiert, wenn das Wissen darin befreit wird und ein Planetenkrebs Zugang zu den Köpfen eurer Bevölkerung bekommt?“, entgegnet Tarena.

„Das stimmt“, überlegt Kangra laut und ziemlich schockiert, „das Risiko wäre viel zu hoch.“

Dennoch scheinen die Welthüter noch nicht gänzlich überzeugt. Tarena kann immer noch die Zweifel sehen, die sich in ihren Gesichtern verstecken. Aber vielleicht besitzt sie ja das richtige Werkzeug, um sie daraus zu befreien.

„Eines solltet ihr bedenken“, spricht Tarena in die nachdenkliche Stille hinein, „falls ihr mich der Verseuchung nachgehen lassen wollt, müssten die Archive geschlossen bleiben. Ratsbeschluss hin oder her.“

Die Gesichter der anderen Welthüter – mit Ausnahme von Torro – werden bei dieser Überlegung schlagartig aufgeschlossener und Tarena weiß, dass sie gewonnen hat.

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Sandra mag ihren Ohren und Augen kaum trauen. Und das nicht allein, weil beide Sinnesorgane ihr mit einem Mal deutlich besser zu funktionieren scheinen als noch vor einer Stunde. Ihre Verblüffung gilt auch dem, was sie sieht. Dieser Volksauflauf spricht dafür, dass das Gesetz zur Öffnung der Archive angenommen worden ist und das noch dazu im absoluten Rekordtempo.

Vor allem aber hat sie Adrian am Rand der der Menge entdeckt. Natürlich. Wann immer sie in ihrem Leben irgendetwas erreichen will, ist dieser Unruhestifter nicht weit. Warum diesmal, darüber kann sie nur spekulieren. Wenn sie das gehörte richtig interpretiert, hat es aber in jedem Fall etwas mit Pingo zu tun. Dieser wandelnden Goldgrube von einem Glücksbringer, der sich offenbar auch in den Archiven versteckt. Ein Grund mehr ihnen einen Besuch abzustatten. Doch zuerst warten andere Herausforderungen auf sie.

„Dein Plan schient funktioniert zu haben“, bemerkt Lyon, „diese Leute gehören den Räten der Unwissenden und der Wissenden an. Und zumindest letztere sind ausnahmslos Laarmaschk. Die ursprünglichen Ratsmitglieder sind tot.“

Diese letzten Worte klingen ein wenig wie eine Anklage in Sandras Richtung, aber sie beschließt sie zu ignorieren. Selbst wenn sie Mitleid mit den Ratsmitgliedern hätte – was sie nicht hat, zumal die meisten von ihnen nach allem sie so gehört hatte keine netten Zeitgenossen gewesen sind – kann sie jetzt nichts mehr daran ändern.

„Woran erkennst du das?“, fragt Sandra stattdessen neugierig, „immerhin haben sie sich doch verwandelt.“

„Erfahrung“, meint Lyon, „wenn man lange genug mit solchen Wesen zusammenlebt, hat man einen Blick für so etwas. Außerdem hast du ihnen doch befohlen, den Rat aufzumischen. Und wenn sie nicht erfolgreich gewesen wären, gäbe es diesen Eklat hier überhaupt nicht. Aus freien Stücken hätten sie unserem Gesetzesentwurf garantiert nicht zugestimmt.“

„Ihr seid nicht der Einzige, der derlei erkennen kann“, meint die Aventuringeweihte mürrisch, „auch ich spüre die dunkle Aura dieser Kreaturen. Die Erinnerungen von der, die einst war, sagen mir, dass die Laarmaschk Mitglieder des berüchtigten Dunklen Dorns gewesen sind. Und damit zweifelsfrei böse Wesen. Wenn ihr mit solchen Kreaturen im Bunde seid …“

„Nichts als Vorurteile“, unterbricht sie Sandra, „Leute wegen ihrer Rasse, Hautfarbe oder Herkunft zu verurteilen ist nicht heldenhaft. Das weiß sogar ich. Was zählt, sind allein ihre Taten.“

„Haltet ihr mich etwa für dumm? Ihre Taten stehen ihrem Ruf in nichts nach. Wenn ich Euch richtig verstanden habe, haben diese Wesen andere Personen ersetzt und sie noch dazu ermordet. Vertreter eines legitimem Rates. Und das alles, um eine Wahl zu manipulieren und eine Entscheidung zu bewirken, die in eurem Sinne ist. Wie sonst, wenn nicht als boshaft kann man solches bezeichnen?“, meint die Geweihte und ihre Stimme nimmt dabei fast die Schärfe ihrer Klinge an.

Der plötzliche Zorn der ehemaligen Aninga beunruhigt Sandra durchaus. Aber vor allem nervt er sie. Das Letzte, was sie jetzt gebrauchen kann, ist jemand, der sie ständig in Frage stellt und ihr vielleicht sogar in den Rücken fällt.

„Genug!“, sagt Sandra herrisch und sogar Lyon zuckt erschrocken zusammen, aufgrund der Schärfe in Sandras Stimme, „wenn du das Böse jagen willst, dann habe ich ein lohnenderes Ziel für dich als mich oder diese Gestaltwandler!“

Sie deutet auf Adrian, der mit seiner Bewaffnung deutlich aus der Menge hervorsticht, „dieser Mann hat an meiner Seite geherrscht in Konor. Deshalb kenne ich ihn und seine Untaten. Er hat Millionen auf dem Gewissen. Er hat die Rebellen verraten, die gegen die Herrschaft der schrecklichen Gesunder in Hyronanin kämpfen, das heldenhafte Volk der Jyllen ausgelöscht, gute Freunde im Stich gelassen und sogar den Planeten Uranor, einen Ort des Glaubens, des Lichts und der Harmonie, zum Untergang verdammt. Er ist eine Geißel des Multiversums. Ein Schlächter und Tyrann, der seinesgleichen sucht und der seinem gerechten Urteil schon viel zu lange entgangen ist.“

Lyon wirft ihr angesichts dieser demagogischen Ausführungen einen mehr als nur irritierten Blick zu, aber zum Glück besitzt er genügend Vernunft, um die Klappe zu halten.

„Wie soll ein einzelner Mann so etwas zuwege bringen?“, fragt die Geweihte skeptisch, erscheint jedoch durchaus interessiert.

„Er ist ein Fortgeschrittener“, erklärt Sandra, „und ein kolossales Arschloch.“

„Und all das soll ich dir glauben?“, fragt die Steingeweihte.

„Das musst du gar nicht“, meint Sandra, „lass dein Schwert sprechen. Dann siehst du mit eigenen Augen, dass ich nicht lüge.“

Sandra weiß, dass das Wahnsinn ist. Wenn sie der Steinschlampe ihren Geist öffnen würde, könnte sie dort Dinge sehen, die sie dazu bringen würden, ihr Schwert sofort durch Sandras und nicht nur durch Adrians Hals zu schlagen. Aber das ist eine rein rationale Angst. Wirklich fühlen kann sie diese Furcht nicht. Ja, tatsächlich spürt sie im Moment ein ziemlich unerschöpfliches Selbstvertrauen, dem solche kleingeistigen Befürchtungen kaum etwas anhaben können.

„Wie Ihr wünscht“, sagt die Aventuringeweihte und legt die Kristallklinge auf Sandras Schulter, so wie sie es vorhin bei Lyon gemacht hat.

Kaum da das Kristallschwert der ehemaligen Aninga Sandras Körper berührt hat, verschwindet die Welt um sie herum und sie beide stehen plötzlich in einem langen Gang mit vielen Türen. Jede dieser Türen trägt eine Beschriftung, die auf eine bestimmte Erinnerung verweist. Sandra kann jede davon lesen, selbst die noch so weit entfernten und diese Tatsache verschafft ihr nun doch ein mulmiges Gefühl.

Eine Tür führt zu dem Moment als sie gemeinsam Scavinee gedemütigt haben. Eine andere zu ihrem vereinten Kampf gegen die Rilandi, noch eine zu den von ihnen befohlenen Hinrichtungen von ungehorsamen Rorak-Rebellen und viele weitere zu nicht minder verfänglichen Augenblicken, während die Steingeweihte stumm und ernst ihren Rundgang durch Sandras Bewusstsein macht, wie eine Gefängniswärterin im Hochsicherheitstrakt, bereit einen Blick in jede noch so dunkle Zelle zu werfen und die Untaten der Insassen zu bestrafen.

Und das nicht nur in der Theorie. Die Geweihte, wie sie gerade in ihrem Kopf existiert, stellt sich nämlich ausgerechnet vor eine Tür mit jenen Momenten, in denen sie mit Adrian die absolute Versklavung der Jyllen geplant hat und in denen sie weit mehr als nur eine Komplizin gewesen war. Ja, in Wahrheit erinnert sie sich noch sehr gut daran, dass Adrians Entschlossenheit in dieser Sache an genau jenem Tag ein wenig ins Wanken geraten war. Sie war es gewesen, die ihn wieder auf Kurs gebracht hat, auch wenn das natürlich nicht sonderlich schwierig gewesen war, denn moralisch waren sie zu diesem Zeitpunkt weitgehend auf einem Niveau gewesen. Aber dennoch: es wird sie in ernste Schwierigkeiten bringen, wenn die Steingeweihte diese Szene betrachtet und nachher noch zu dem Schluss kommt, dass Adrian der weniger Verachtenswerte von ihnen beiden ist.

Aber genau das kann und wird vermutlich gleich passieren. Die Projektion von Aninga holt bereits mit ihrer Klinge aus, um die Tür einzuschlagen als eben diese Tür … verschwindet und nichts außer einer glatten Wand zurücklässt. Vor lauter Erleichterung dauert es einige Augenblicke, bis Sandra begreift, dass das keine glückliche Fügung ist, sondern allein ihr Werk. Dann aber nutzt sie diese Erkenntnis schamlos aus. Sie lässt weitere Türen verschwinden, schafft neue Gänge, verwischt Beschriftungen und lässt der Projektion der Aventuringeweihten keine andere Wahl als genau die Erinnerungen anzusteuern, die Sandra sie sehen lassen will: ein erlesenes Potpourri aus Adrians schlimmsten Momenten. All seinen kleinen sadistischen Taten, Beleidigungen, düsteren Schilderungen, geringeren und größeren Grausamkeiten und Allmachtsfantasien, natürlich nur in jenen ausgesuchten Momenten, in denen Sandra ihnen passiv oder sogar kritisch gegenübersteht.

Eine vordefinierte, geführte Geisterbahnfahrt, an deren Ende für die Steinschlampe eigentlich nur eine Erkenntnis stehen kann: Adrian ist das schlimmste Monster, welches je gelebt hat oder leben wird.

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„Ihr hattet recht“, sagt die Aventuringeweihte ernst, als sie wieder in die Realität zurückkehrt, in der nur wenige Momente verstrichen sind, „bitte entschuldigt meine Zweifel. Dieser Mann ist eine Ungeheuerlichkeit. Ein Feind der Gerechtigkeit. Wir müssen ihn auslöschen! Es kann kein dringenderes Anliegen geben als das.“

„Wir haben wohl keine Wahl“, stimmt Sandra nüchtern mit einem Hauch von gespieltem Bedauern zu. Doch in ihrem Innersten lächelt sie breit.

„Am besten wir …“, beginnt Sandra ihren Plan zu formulieren, doch ehe sie auch nur diesen einen Satz zu Ende sprechen kann, ist die Steingeweihte bereits nicht mehr zu sehen.

~o~

„Du bist unglaublich!“, lobe ich Tarena über die protestierenden Stimmen der Abgeordneten hinweg, „ich hätte nie gedacht, dass sie uns freiwillig Einlass gewähren würden.“

„Danke“, sagt Tarena nicht ohne Stolz.

„Allerdings wird es schwierig, wenn sie erst bemerken, dass …“, beginne ich leise.

„Halt den Mund, Dummkopf!“, weist Andy mich zurecht und ich muss zugeben, dass er es zurecht tut. Egal, wie leise ich spreche und wie laut der Trubel um uns herum ist, man kann nicht gänzlich ausschließen, dass jemand unser Gespräch mitverfolgt. Außerdem wird sich Tarena sicher schon gut überlegt haben, was sie tun wird, wenn die Welthüter mitbekommen, dass es gar keine Planetenkrebs-Infektion in den Archiven gibt. Mein Alter-Ego hat sich sicher nicht in eine Idiotin verliebt. Eigentlich gehört die Wahl meiner Geschlechtspartner mit wenigen Ausnahmen sicher nicht zu den größten Kritikpunkten, die man gegen mich vorbringen kann.

Das Wichtigste ist ohnehin, dass ihre Strategie funktioniert hat. Nicht nur, dass man uns dreien Einlass gewährt, nein man bildet sogar eine Gasse für uns, durch die wir wie sehnlichst erwartete Staatsgäste schreiten können. Auch wenn diese Ehre etwas davon geschmälert wird, dass die Gesichter der Welthüter mürrisch und skeptisch und die der Abgeordneten geradezu hasserfüllt auf uns Blicken.

Tja, zumindest damit, Abgeordnete zu verärgern, kenne ich mich aus, oder nicht? Die Mitglieder des Jyllat, die damals vergeblich gegen mich und ihren eigenen Untergang gestimmt haben, waren auch nicht gerade gut auf mich zu sprechen gewesen.

Interessant ist jedoch vor allem, dass die Soldaten, die bisher noch die Entscheidung des Rates hatten durchsetzen wollen, genau diesen jetzt davon abhalten, sich wütend auf die Welthüter und die anderen Angestellten der Archive zu stürzen. Die Untersuchung des Wahrheitsgehalts der von Tarena aufgestellten Behauptungen scheint auch ihnen momentan dringlicher zu sein. In der Menge allerdings hält sich das Verständnis für diese Entscheidung aber offenbar in Grenzen.

„Verräter!“, „Tyrannen!“, „Das ist ein Staatsstreich von oben!“, und weitere Äußerungen durchaus nachvollziehbaren Unmuts fliegen aus den Reihen der Abgeordneten und vieler gewöhnlicher Rihn-Ha wie Geschosse gegen die Soldaten, die Welthüter und uns. Doch zumindest bleibt es vorerst bei einem verbalen Bombardement.

Dabei kann ich die Leute wirklich sehr gut verstehen. Dass der Großteil des gesammelten Wissens des Multiversums von einer privilegierten Klasse gehütet wird, gefällt auch mir nicht sonderlich. Aber auf solche Dinge kann ich leider keine Rücksicht nehmen, wenn Pingos Gesundheit auf dem Spiel steht.

Inzwischen trennen uns nur noch wenige Meter vom Eingang zu den Archive, der diesmal nicht von der Torwächterin versperrt wird. Man hat die bedauernswerte Frau samt ihrem Türgefängnis bereits hochgefahren, vermutlich auch, weil sie Tarenas Präsenz andernfalls wohl nicht akzeptiert hätte.

Nervös spiele ich mit dem Turaxit in meiner Hand und hoffe sehr, dass seine Magie wirklich in der Lage sein wird, Pingo zu helfen.

Ja, diese Ungewissheit nagt dermaßen an mir, zerrüttet meine Nerven so sehr, dass sich meine Nackenhaare augenblicklich aufrichten.

Zumindest glaube ich, dass das der Grund ist. Solange, bis ich das Surren einer Klinge unmittelbar hinter meinem Ohr vernehme.

Erschrocken drehe ich mich um und sehe Andy, seine Klaue hochgereckt und die Klinge eines Kristallschwerts umfassend, das von einer wütenden Steingeweihten geführt wird. Eine Klinge, die ohne Andys Eingreifen wahrscheinlich den Kopf von meinem Schultern geschlagen hätte.

„Warum …? Was soll das?“, frage ich verwirrt, während ich meine Kompasskanone auf die Angreiferin richte und rings um mich herum blanke Panik ausbricht. Nicht wegen des Attentats auf meine unbedeutende Person freilich, sondern wegen der blutigen Schneise, die die Frau auf ihrem Weg zu mir durch die unbeteiligte Menge geschlagen hat, wie eine Sense durch Getreide.

„Ein Monster, beschützt von Monstern und Krebsdienern“, sagt die Unbekannte mit heiligem Zorn, der ein wenig lächerlich wirkt, wenn man ihren eigenen gerade zur Schau gestellten Bodycount begutachtet.

„Monster halten zusammen“, bemerkt Andy, drückt die Klinge nach unten, lässt sie los und setzt überraschend zum Gegenangriff mit seinem scharfen Klauen an.

Die Fremde aber dreht sich mit einem geschickten Manöver von Andy weg, dessen zuschlagenden Klauen gehen ins Leere und die Geweihte schwingt ihr Schwert direkt gegen meinen Kopf. Praktisch im selben Moment schlagen meine Nadeln auf ihrem Körper ein, an dem sie fasts vollkommen wirkungslos abprallen. Lediglich ein paar unbedeutende Splitter werden von ihrem harten Körper abgesprengt. Weit wirksamer sind die Kristallkarakte der umstehenden Soldaten, die zumindest genügen, um die Angreiferin viele Meter zurückzustoßen und zu Fall zu bringen, obgleich auch sie nicht in der Lager sind sie ernsthaft zu verletzen.

„Schnell!“, fordert uns Tarena auf, die erst jetzt bemerkt hat, was geschehen ist, „bevor sie uns wieder angreift oder die Welthüter uns nicht mehr durchlassen.“

Ihre Befürchtungen erscheinen mir durchaus berechtigt. Also folge ich Tarenas Aufforderung, nicht jedoch ohne mich zuvor noch an Andy zu wenden.

„Danke!“, sage ich zu ihm und sehe ihm direkt ins Gesicht, auch wenn sein unansehnlicher Wasserkopf mit den großen Facettenaugen mich noch immer auf einer ganz basalen Ebene abstößt.

„Wir brauchen dich noch“, wiegelt Andy ab, fügteaber nach einem Moment noch hinzu: „und für einen Adrian bist du gar kein so übler Kerl. Nicht übel genug, um sterben zu müssen, jedenfalls.“

Ich grinse und spüre, wie sich eine eigenartige Wärme in meiner Brust ausbreitet. Dann rennen wir auf den Eingang zu, in der Hoffnung, dass die Welthüter vollauf damit beschäftigt sind, das herrschende Chaos zu verarbeiten und sich um uns keine Gedanken machen.

~o~

„Was hast du angerichtet!“, meint Lyon erschüttert zu Sandra, während sie auf das Massaker aus zerdrückten und zermatschten Leibern und gequälten Gesichtern hinabblicken, welches die Aventuringeweihte veranstaltet hat.

„Hast du keine Augen im Kopf?Ich habe gar nichts getan. Das war die verrückte Steinschlampe“, verteidigt sich Sandra.

„Stell dich nicht dumm. Du hast vorher mit ihrem Kopf rumgespielt“, entgegnet Lyon.

„Mach dich nicht lächerlich“, antwortet Sandra empört, „Sie war in MEINEM Kopf. Nicht umgekehrt. Dort hat sie wohl genug über Adrian erfahren, um ihn so sehr zu hassen, wie ich es tue. Für ihre Methoden kann ich nichts. Außerdem kann ich so etwas nicht. Niemand kann das.“

„Bist du dir da sicher?“, fragt Lyon zweifelnd, „du hast dich verändert, Sandra. Du strahlst eine Macht aus, die mir absolut nicht gefällt. Und du bist irgendwie … größer geworden.“

„Die Luft in euren Höhlen muss mit irgendwelchen psychoaktiven Pilzsporen gesättigt sein. Anders kann ich mir diesen Unsinn, den du von dir gibst, nicht erklären“, schmettert Sandra seine Bedenken barsch ab, „ich bin eine große Frau. Und das schon immer. In mehrfacher Hinsicht.“

„Wie du meinst. Aber wer zur Hölle ist dieser Adrian überhaupt? Und warum ist dir sein Tod so wichtig?“, fragt Lyon ohne das sein Argwohn gänzlich verschwunden ist.

„Seltsam, dass du das nicht weißt“, sagt Sandra ehrlich überrascht, „der Chromatische Rat hat uns doch Unterstützung nach Deovan geschickt, um ihn und seine Leute zu besiegen.“

„Zu diesem Zeitpunkt war ich noch nicht im Rat“, antwortet Lyon.

„Tja, dann muss ich dir wohl die Kurfassung geben“, erwidert Sandra seufzend, „Adrian ist ein Fortgeschrittener so wie ich. Ein Reisender zwischen den Welten im Besitz eines Katalogs von Endless Horizons. Und er ist ein ziemlich mieser Pisser, der eine Menge Dreck am Stecken hat. Mehr musst du erstmal nicht über ihn wissen. Außer, dass wir ihn und seine Begleiter zur Strecke bringen müssen. Sie sind Feinde von Astrera. Feinde, der Freiheit, die wir anstreben. Und offenbar wird die Steinschlampe nicht alleine mit ihnen fertig. Wenn wir Pech haben, schließen sie die Archive direkt vor unseren Augen und all unsere Bemühungen um diesen verfickten Gesetzesentwurf sind vergebens gewesen.“

„Sollen wir dann Verstärkung anfordern?“, fragt Lyon.

„Nein, nicht nötig“, meint Sandra, „wir haben uns und einen Haufen Laarmaschk. Das sollte ausreichen. Wir geben den Gestaltwandlern ein Angriffssignal, brechen jeden Widerstand und töten Adrian. Dann verschaffen wir uns Zugang und befreien wir die Archive von ihrer jahrhundertelangen Knechtschaft. Und läuten eine neue, bessere Ära ein.“

Bei den letzten Worten schwindet die Skepsis von Lyon und weicht der grimmigen Entschlossenheit eines Idealisten, der die Chance sieht, seine ferne Utopie ein Stückchen weiter in Richtung Wirklichkeit vorrücken zu lassen.

„In Ordnung“, sagt Lyon, „lass uns gehen!“

~o~

„Übrigens. Deine Abhandlung über die Wirkung von Smaragden auf die Entwicklung von Jugendlichen ist ein schlechter Witz. Das erkennt sogar ein Bauerntölpel wie ich! Ja, sogar auf den Feldern und in den Schankstuben macht sich jeder darüber lustig.“, schleudert Zinga dem Abgeordneten Ronjen entgegen, der gemeinhin für sein besonders verletzliches Ego bekannt ist.

Doch der Mann, der nur eine Handbreit von ihr entfernt steht, reagiert nicht im geringsten auf die Schmähung. Nicht einer seiner Gesichtsmuskeln verzieht sich auch nur eine Winzigkeit.

„An diese Art von Provokation habe ich eigentlich nicht gedacht“, sagt Norin und holt ein Universalwerkzeug aus ihrer Seitentasche. Dann zieht sie es dem vermeintlichen Gelehrten quer übers Gesicht und für einen winzigen Moment verwandelt sein Antlitz sich in eine schattenhafte und zugleich schlammartig anmutende Substanz, die ein boshaftes Grinsen präsentiert, bevor sich die Verletzung binnen Augenblicken wieder schließt. Es ist ein grauenhafter Anblick und doch in gewisser Weise genau das, was sie erwartet hat.

„Habt ihr das gesehen!“, ruft Norin in Richtung der Soldaten, „Sie sind Betrüger! Und dieses Gesetz ist eine Farce. Die Abstimmung muss wiederholt und neue Mitglieder in den Rat der Wissenden berufen werden.“

Einige der Soldaten sehen sich tatsächlich um, schütteln dann aber nur müde den Kopf, als sie die scheinbar völlig unverdächtigen Ratsmitglieder erblicken.

„Ich glaube dir, Süße!“, hörte sie die Stimme einer unbekannten Frau mit geheucheltem Verständnis rufen, „Und der Rest wird das auch bald tun. Nur wird es dann leider zu spät sein. Laarmaschk! Greift an!“

Und noch ehe Norin wirklich realisiert, was geschieht, lassen alle vermeintlichen Abgeordneten vom Rat der Wissenden ihre adaptierte Erscheinung fallen und verwandeln sich in das was sie in Wahrheit längst gewesen waren. Kreaturen des dunklen Dorns.

„Lauf!“, ruft Norin Zinga zu, während sie selbst auch die Beine in die Hand nimmt. Doch die Warnung für ihre Freundin kommt zu spät. Im Kopf der Landwirtin steckte bereits die amorphe, dunkle Faust einer der Kreaturen, die ihr fröhliches Gesicht in einen blutigen Klumpen verwandelt hat. Norin will schreien vor Frust und Mitgefühl, aber es will ihr nicht gelingen. Zu groß ist ihre Panik. Also tut sie das einzige, was ihr einfällt. Sie rennt, springt, schlägt Haken, mit dem Ziel, es irgendwie ins Kristallgebirge zu schaffen.

„Lasst das Mädchen laufen!“, befiehlt Sandra, die keinen Sinn darin sieht, ihre Ressourcen zu verschwenden, noch dazu wenn sie so vielleicht gegenüber Lyon in einem etwas besserem Licht dastehen kann, „schaltet die Soldaten, die Welthüter und Adrian samt seiner Freunde aus. Das ist alles, was zählt. Aber vermeidet unnötige Opfer, wo ihr nur könnt.“

Die Laarmaschk sehen sie missmutig an und für einen winzigen Augenblick befürchtet Sandra sogar, dass ihr die Wesen die Gefolgschaft verweigern könnten. Doch ein paar Lidschläge später setzen sie sich in Bewegung und gehorchen ihrem Befehl. Nun, zumindest was den ersten Teil davon betrifft. Besonders viel Rücksicht im Kampf lassen sie nicht erkennen. Sandra hat nichts anderes erwartet.

„Ich weiß deine Bemühungen zu schätzen“, meint Lyon während er die Horde der Laarmaschk beobachtet, die wie eine finstere Brandung über die Rihnnischen Ordnungshüter hinwegbraust, „aber die Laarmaschk werden keine Gefangenen machen oder moralische Bewertungen vornehmen. Das liegt für gewöhnlich nicht in ihrer Natur.“

„Ich muss mit dem arbeiten, was ich habe“, antwortet Sandra, „und jede Revolution in der Geschichte hat ihre Opfer gefordert. Das gehört leider dazu.“

„Vielleicht ist das so“, überlegt Lyon und sieht auf die tote Freundin der von Sandra verschonten Unwissenden hinab, deren Gesicht nur deshalb keine Überraschung zeigt, weil kaum noch etwas davon zu erkennen ist, „eines hat sie gewiss gefordert. Und viele Weitere werden folgen. In solchen Momenten frage ich mich, ob wir das Richtige tun.“

„Sei ehrlich, Lyon“, kommentiert Sandra lächelnd, „das fragst du dich doch die ganze Zeit. Und das ist gut so. Ich brauche jemanden, der so denkt, an meiner Seite. Ich bin es gewohnt, wie eine Herrscherin zu handeln. Wie die Herrscherin eines gnadenlosen Volkes. Aber ich möchte das Richtige tun, Lyon. Das will ich wirklich. Doch wenn wir Pendula gewinnen lassen, können wir solche moralischen Entscheidungen überhaupt nicht mehr treffen. Dann gibt es richtig und falsch nur noch als ein gedankenloses, binäres System, das überhaupt nichts bedeutet, weil jeder seinem festgelegten Weg folgen muss. Willst du das etwa?“

„Nein“, sagt Lyon mit einem energischem Kopfschütteln, „gewiss nicht. Aber es ist nicht egal, auf welche Weise man gewinnt. Wer Grausamkeit als Weg beschreitet wird sie nicht abschütteln können, wenn er angekommen ist. Und dasselbe gilt für Lügen. Es war keine gute Sache, die Abstimmung zu manipulieren. Es war Unrecht. Und ich schäme mich nun dafür.“

„Man könnte es als Unrecht betrachten“, antwortet Sandra, „wenn Rihn eine Demokratie wäre. Aber nach allem, was ich darüber weiß, ist eure Welt das nicht. Es gibt Abstimmungen, ja. Aber das Sagen haben letztlich die Gelehrten. Wir haben den Spieß nur umgedreht. Das ist alles. Wir haben den einfachen Leuten zu ihrem Recht verholfen. Endlich einmal.“

„Da ist etwas dran“, gibt Lyon widerwillig zu.

„Natürlich“, sagt Sandra, „es kommt ja auch aus meinem Mund.“

Während sie das sagt, folgt sie einem spontanen Impuls, zieht Lyon zu sich und rubbelt ihm freundschaftlich mit dem Faust über den Haarschopf, wie eine Tante es bei ihrem Neffen machen mochte.

Lyon wirkt daraufhin ziemlich verdutzt, kann sich aber ein amüsiertes Lächeln nicht verkneifen.

~o~

Unsere Hoffnung auf einen reibungslosen Zutritt erweist sich leider als übertrieben, als ausgerechnet Welthüter Torro sich uns in den Weg stellt.

„Niemand kommt hier mehr rein!“, sagt er entschlossen und über den Kampfeslärm hinweg, „unter keinen Umständen. Weder Unwissende, noch Krebsgeschwüre oder herumreisendes Fortgeschritten-Pack.“

„Aber der Planetenkrebs …“, antwortet Tarena.

„Kann sich gerne in meinem Arsch ausbreiten“, entgegnet Torro kalt, „solange unsere Tore sicher sind.“

„Das ist ein Fehler“, bemerke ich.

„Das habt ihr nicht zu beurteilen“, sagt der Welthüter, „dafür fehlen euch ohnehin die geistigen Kapazitäten. Ich besitzen derartige Mängel jedoch nicht. Deshalb weiß ich auch, dass eure blumigen Geschichten nichts weiter als ein fadenscheiniges Lügenkonstrukt sind. Meine Kollegen magst du täuschen, Krebsbotin. Mich nicht. Also schleich’ dich und freu’ dich deines korrumpierten Lebens bis ein anderer die Ehre hat, es zu beenden.“

„Wir müssen aber hinein!“, beharre ich, „nicht nur wegen des Krebses. Ich habe ein Heilmittel für Pingo Dellagrahn. Oder zumindest eine dazu notwendige Komponente, die Welthüter Pongras für die Entwicklung des Mittels benötigt.“

„Dann hat Welthüter Pongras eben Pech gehabt. Und dein Steinliebchen auch“, sagt Torro gehässig und berührt eine Stelle an der Wand zu seiner linken, woraufhin sich das Tor langsam absenkt.

„Könnt ihr ihm diese Stein hier wenigstens überreichen?“, frage ich verzweifelt und mit mühsam aufgebrachter Beherrschung und zeige ihm den Turaxit in meiner Hand, auch wenn ich eher vermute, dass der unsympathische Kerl sich das wertvolle Artefakt unter den Nagel reißen wird, als dass er es zu Pingo bringt.

„Ich würde nicht mal Brot von dir nehmen, wenn ich am verhungern wäre“, antwortet Torro arrogant auch wenn seine Augen etwas anderes sagen, „du hast deine staubverdreckten Füße schon einmal auf unseren wertvollen Boden gesetzt. Das ist mehr als genug.“

Scheiße, denke ich und frage mich, was wir nun noch tun können. Diesen Dickkopf zu überzeugen scheint schier unmöglich und wenn das Tor einmal geschlossen ist, kann ich Pingos Heilung endgültig vergessen. Früher hätte ich solche Art von Widerstand wahrscheinlich schlicht aus dem Weg geblasen. Aber so bin ich nicht mehr. So darf ich nicht mehr sein. Ich habe gesehen, wohin solch ein Verhalten führt. Selbst, wenn es für einen guten Zweck ist. Pingo würde das auch nicht wollen. Ich wechsle einen fragenden Blick mit Tarena und Andy, die jedoch auch nichts unternehmen können, um meinen inneren Zwiespalt aufzulösen oder diesen Typen zur Vernunft zu bringen.

„Komm, lass uns gehen. Vielleicht können wir zurückkehren, wenn sich alles beruhigt hat oder Any hat eine Idee wie …“, sage ich resigniert und vom schlechten Gewissen geplagt und mein Mund bleibt einfach offen stehen, als Tarena ihre Peitsche schwingt, die sich sofort um den Hals des überrumpelten Welthüters schlingt und ihm einfach die Kehle aufreißt, bevor sie sich so schnell zurückzieht als wolle sie ihre gerade begangene, brutale Tat leugnen. Der Welthüter fasst sich panisch an die Wunde und versucht sie absurderweise weiter aufzureißen, so als könnte er mehr Sauerstoff in seine Lungen zwingen, wenn er sie nur groß genug macht. Doch schließlich sieht er die Vergeblichkeit seines Handelns ein und bricht tot auf dem Boden zusammen.

„Ich hab deinen Zwiespalt in deinem Gesicht gesehen, Adrian“, erklärt sich Tarena, während Andy lässig die Stelle an der Wand berührt, die der Welthüter zuvor aktiviert hatte und das Absenken der Tür damit stoppt, „und deine Skrupel sind zu wertvoll, um sie zu überwinden. Sie stehen dir wirklich gut. Für solche Taten gibt es Kreaturen wie mich.“

„Danke“, sage ich unsicher und fühle mich dabei ziemlich eigenartig, „aber hättest du ihn nicht einfach außer Gefecht setzen können?“

„Manche der Welthüter verfügen über Magie“, meint Tarena, „da darf man kein Risiko eingehen.“

„Also gut“, sage ich, „dann lass uns reingehen, bevor sie noch bemerken, was wir getan haben.“

„Gebongt“, antwortet Andy und hämmert seine Klaue erneut auf den Türmechanismus, um das Tor hinter uns zu schließen, während wir zum ersten mal alle gemeinsam die Archive betreten.

~o~

„Du hast mich dazu gebracht Unrecht zu tun“, sagt die Steingeweihte mit zitternder, anklagender Stimme. Sie ist eine der letzten an diesem Ort, die noch sprechen kann. Ein Großteil der Soldaten ist geflohen oder tot. Dasselbe gilt für die Passanten, die Ratsmitglieder und die Welthüter. Wobei Sandra sich eingestehen muss, dass wohl den wenigsten die Flucht gelungen ist. Die Laarmaschk, die ihrerseits nur wenige Verluste erlitten haben, sind gründlich gewesen. Sehr gründlich. Ein paar der Welthüter hatten die Angriffswelle zwar aufzuhalten versucht, indem sie Schutzschilder aus Kristallen erzeugt, die Bewegungen ihrer Gegner verlangsamt oder einen Sprühregen scharfer Splitter aus ihren Stäben und Händen entfesselt hatten. Aber die Übermacht der Laarmaschk war einfach zu groß gewesen und der Angriff schlicht zu überraschend gekommen, um eine wirksame Gegenwehr formieren zu können.

Warum sie sich nicht an der Aventuringeweihten ausgetobt haben, vermag Sandra nicht zu sagen. Womöglich liegt es aber daran, dass sie ihnen nicht als Bedrohung erschienen war. Obwohl körperlich augenscheinlich unversehrt, wirkt die Steingeweihte zutiefst resigniert und verzweifelt.

„Dein Angriff auf Adrian war kein Unrecht. Er hat all die Verbrechen begangen, die du in meinem Geist gesehen hast“, sagt Sandra, „jedes Einzelne. Er hat den Tod verdient.“

„Die Leute, die ich im Wahn niedergemäht habe, aber nicht“, entgegnet die Geweihte und Sandra kann nicht mal sagen, ob dieser Schmerz aus dem Stein entspringt oder ein ferner Widerhall von Aninga ist. Mit Erstaunen stellt sie fest, dass der Körper der Geweihten seine Farbe ändert. Aus dem kräftigen Grün wird ein dunklerer, blinder Farbton, fast als würde die Frau vor ihrer Zeit ergrauen oder vertrocknen, „ohne den Zorn, den du in mir entfacht hast, hätte ich sie verschont. Ohne deinen Einfluss wären sie noch am Leben.“

„Das redest du dir nur ein“, sagt Sandra, „aber der Hammer des Richters trifft immer auch Unschuldige. Das liegt in der Natur der Sache.“

Die Steingeweihte oder besser der Stein in ihr will etwas erwidern, will zumindest der zynischen Logik von Sandra Widerstand bieten, aber ihr Blick geht immer wieder zu den Toten, die sie auf dem Gewissen hat. Zu ihren erschrockenen, leblosen Gesichtern und herausquellenden Eingeweiden. Und mit jedem dieser Blicke wird sie matter. Rauer. Rissiger. Schließlich bewegt sie sich gar nicht mehr, ist ein gänzlich lebloses, erstarrtes Ding. Für einen flüchtigen Moment schleichen sich Erinnerungsbilder an die scharfsinnige, streitbare Aninga in Sandras Kopf, mit der sie immerhin eine kurze Wegstrecke geteilt hat, bevor sie selbst diesen Weg beendet hatte. Aber sie verschließt ihren Geist, ehe diese unangenehmen Gedanken dort Wurzeln schlagen können.

„Du hast eine Heldin getötet“, kommentiert Lyon nachdenklich und mit hörbarem Bedauern.

„Nein. Ich habe einen Stein zerstört. Wenn überhaupt“, widerspricht Sandra, „mehr war sie längst nicht mehr. Aber es ärgert mich dennoch, dass wir sie nicht mehr auf unserer Seite haben. Vor allem, da dieses verdammte Tor verriegelt ist. Die Laarmaschk haben bei seiner Öffnung versagt. Mit ihrem Schwert hätte sie es vielleicht zerstören können.“

„Wir könnten versuchen, um Einlass zu bitten“, schlägt Lyon vor, „die Torwächterin ist intelligent.“

„Ich glaube kaum, dass sie uns einlassen würde“, meint Sandra skeptisch.

„Möglich, aber wir können es zumindest versuchen. Immerhin ist sie nicht freiwillig an ihrem Platz“, bemerkt Lyon und obwohl er diesen Umstand in völliger Unschuld ausspricht muss Sandra seine intrigante Denkweise innerlich lobend anerkennen.

„Wir versuchen es“, entscheidet Sandra und blickt zu den Laarmaschk, die noch immer in jener abstoßenden Gestalt verharren, die ihnen die Natürlichste ist.

„Achtet darauf, dass wir nicht überrascht werden“, befiehlt sie ihnen, „es ist nicht auszuschließen, dass jemand von denen, die wir haben entkommen lassen, Verstärkung ruft oder sonst etwas Dummes tut. Und versagt diesmal nicht, wie zuvor bei der Schonung der Zivilisten.“

Die Kreaturen sehen sie finster an wie eine Meute intelligenter Raubtiere und unter anderen Umständen hätte Sandra es vielleicht nicht gewagt, so herrisch mit diesen furchtbaren Wesen umzuspringen. Aber sie fühlt sich ihrer Befehlsgewalt gerade sehr sicher. Sicherer als je zuvor.

Lyon hat womöglich recht. Sie IST größer geworden und das nicht nur rein physisch. Die Gestaltwandler scheinen das ähnlich zu sehen. Trotz ihres harschen Tons begehren sie auch diesmal nicht gegen ihren Befehl auf und nicken lediglich bestätigend. Sogar in dieser Form sind sie der Sprache theoretisch mächtig, wie Sandra aus Uranor weiß, aber sie reden nicht gern. Sie genießen es wahrscheinlich sogar, einmal nicht mit fremden Stimmen sprechen zu müssen und bevorzugen die Stille.

Sandra wendet sich von den Laarmaschk ab und der Torwächterin zu. Die mit dem Kristall verwachsene Rihn-Ha betrachtet sie und Lyon mit der Neugier eines Raubvogels, der mehr unter Langeweile als unter Hunger leidet.

„Was wollt ihr von mir?“, fragt sie.

„Einlass“, eröffnet Sandra ihr geradeheraus.

„Zuletzt gab man nicht viel auf meine Meinung, was das betrifft“, sagt die Wächterin verschmitzt, „sie fahen mich hoch und runter wie es ihnen gerade passt.“

„Ich bin da anders“, behauptet Sandra, „ich bin an wirklicher Kooperation interessiert. Nicht an Unterwerfung.“

„So wie bei all den Leuten, bei all den ZIVILISTEN, die deine Schergen getötet haben?“, erwidert die Wächterin provokant. Doch Sandra erkennt in ihren Worten keine wirkliche Empörung. Keine aufrichtige Wut und Anteilnahme. Da ist eher Zynismus und mit dem kennt sie sich aus.

„Im Kampf sterben Leute. Schuldige und Unschuldige. Schon seit Anbeginn der Zeit. Aber das ist nicht die einzige Form von Ungerechtigkeit, die passiert, oder nicht? Ich finde es zum Beispiel auch sehr ungerecht, dass du diesen Posten einnehmen musst. Gegen deinen Willen, wie es scheint“, sagt Sandra und im Gesicht der Wächterin hallt ein fruchtbarer, nützlicher, alter Schmerz wieder, genau wie sie gehofft hat.

„Ich habe eine Pflicht gegenüber den Archiven“, entgegnet die Wächterin halbherzig.

„So wie ein Sklave gegenüber seinem Sklavenhalter. Ist seine Versklavung deshalb gerecht? Manche Pflichten sind dazu da, auf sie zu pissen“, antwortet Sandra hart.

Die Wächterin lacht amüsiert auf und ist plötzlich nicht mehr das ernste, enigmatische Wesen, welches sie schon so lange mimen musste. „Deine Zuckerzunge hat mich überzeugt, Fremde“, sagt sie, „oder besser, sie hat mich an das Ergebnis meiner eigenen, lange gereiften Überlegungen erinnert. Scheiß auf meine Pflichten und meine Strafe. Ich werde euch helfen. Wenn ihr den Welthüter Fornael sucht und tötet. Er leitet die „Kammern der Zerweiteten“ und er war es auch, der mich an diesen Ort verbannt hat. Mit seinem Tod sollte meine Gefangenschaft beendet sein. Das zumindest hoffe ich.“

„Einverstanden!“, sagt Sandra ohne mit der Wimper zu zucken, „ich töte diesen Fornael für dich. Das verspreche ich dir. Also öffne ruhig das Tor.“

„Das kann ich nicht!“, antwortet die Torwächterin.

„Was soll das bedeuten?“, fragt Sandra verwirrt und verärgert. Sie ist erwägt, den Laarmaschk zu befehlen, sich irgendwie mit Gewalt Zutritt zu verschaffen, schon allein, damit die Torwächterin hautnah erlebt, was es ihr einbringt, ihr falsche Versprechungen zu machen. Sandra lässt sich nicht gerne verarschen. Erst recht nicht von Schlampen, die in Türen eingegossen sind.

Aber etwas hält sie davon ab, diesem dunklen und wahrscheinlich dämlichen Impuls zu folgen. Ein Instinkt. Eine Gelegenheit womöglich.

„Ich bin magisch gebunden und kann nicht gegen die Direktive der Welthüter und der Archive verstoßen“, erklärt die Torwächterin ihre vermeintliche Weigerung, „selbst, wenn ich es noch so sehr möchte. Wenn mir allerdings einer der Welthüter persönlich die Erlaubnis erteilen würde. Nun, dann lägen die Dinge anders. Praktischerweise haben wir jemanden von ihnen ganz in unserer Nähe. Harborad, die vermeintliche Leiche zu deiner Rechten, stellt sich lediglich tot und hofft, das alles hier auf diese Weise heil zu überstehen. Er ist feige, schwach und rückgratlos. Und damit ein idealer Kandidat.“

Sandra grinst breit. Sie muss ihre Haltung überdenken. Im Grunde mag sie diese Frau doch. Sollte sie zufällig eine Methode finden, sie zu befreien, würde sie es wahrscheinlich tun und wenn sie ihr Versprechen erfüllen konnte, ohne ihre eigenen Absichten zu gefährden, warum nicht?

Aus dem Augenwinkel heraus bemerkt Sandra eine rasche Bewegung als der Welthüter einen Kristallstab aufhebt, um ihr damit irgendetwas entgegenzuschleudern, sei es ein Zauber oder die Pisse, die er in seiner Angst vor den Laarmaschk womöglich auf dem Stecken verteilt hat. Doch es ist Lyon, der das unterbindet. Der Bravianer, dessen Bewegungen überraschend flink sind, nimmt den vermeintlich Toten kurzerhand in den Schwitzkasten und verhindert damit nicht nur, dass der Mann Sandra Schaden zufügt, sondern auch, dass die Laarmaschk ihren Blutdurst an ihm ausleben. Nun, zumindest fürs Erste.

„Lass mich los, Kastenmensch!“, beschwert sich Harborad und streckte die Hand trotzig nach seinem hinabgefallenen Stab aus.

„Ich lehne die Ungleichheit meines Volkes ab“, widerspricht Lyon, der gelassen und mühelos verhindert, dass sich der Mann aus seinem Griff herauswindet oder seine Waffe zurückerlangt „ganz im Gegenteil zu dir. Also sei lieber still!“

„Nein, er kann ruhig reden“, widerspricht Sandra, „er kann mit der Torwächterin reden und ihr erlauben. uns den Weg zu ebnen.“

„Ich werde nichts dergleichen tun“, verspricht Harborad arrogant und mit einem Mut den er nun doch irgendwo gefunden haben muss, „ich lasse keinen weiteren Pöbel in die Archive.“

„Ja, der wahre Pöbel ist schon dort drin, nicht wahr?“, meint Sandra, „ein verachtenswerter Fortgeschrittener, samt einer Krebsdienerin und ihrem potthässlichen Sohn zum Beispiel. Eine Herrscherin und ihren Adjutanten einzulassen wäre da eine deutliche Verbesserung, wie mir scheint. Vor allem, wenn sie das Ziel verfolgen, diesen Abschaum auszulöschen.“

„Ihr habt den Rat der Wissenden in eine Versammlung von Ungeheuern verwandelt“, sträubt sich der Welthüter, „dafür gibt es keine Rechtfertigung und der einzige Ort, an den man euch beiden Zutritt gewähren sollte, ist ein tiefer, stinkender Kerker.“

„Tja, ich kann dich in eine Leiche verwandeln und in so ziemlich alles andere, was meine Fantasie oder die meiner dunklen Freunde hergibt. Und ich kenne auch einen Ort wo einige Andrin und Scyonen sind, die in dieser Hinsicht sogar noch viel kreativer sind als ich oder die Laarmaschk. Willst du diese Kreativität wirklich herausfordern?“, fragt Sandra drohend.

Im Gesicht des Mannes kann sie ablesen, dass ihm tausend heroische Sätze des Widerstands und der hehren Philosophie durch den Geist rauschen. Aber seine Antwort auf ihre Ankündigen lauten nicht viel anders als bei allen feigen und sogar den meisten mutigen Personen, die solche Drohungen vernehmen. „Wenn ich mich beuge, lasst ihr mich dann laufen?“, fragt er hoffnungsvoll und endlich herrlich unterwürfig.

„Ja, das wird sie“, verspricht Lyon und macht damit seinen Punkt klar. Sollte Sandra seiner Bedingung nicht nachkommen, wird sie es auf einen Kampf mit ihm ankommen lassen müssen. Oder auf irgendeine Weise Lyons Willen brechen, sofern ihr das inzwischen möglich ist. Aber beides würde ihr sehr widerstreben. Sie gesteht es sich nicht gerne ein, aber sie braucht jemanden wie Lyon. Er ist eine Stimme der Vernunft und noch dazu gute PR auf zwei Beinen. Solche Aktivposten sollte man sich nicht verderben.

Also nickt sie Lyon zu, um ihm klarzumachen, dass sie mit seinen Bedingungen einverstanden ist. Und auch Harborad scheint dieses Signal als Ermutigung zu begreifen. Er tritt ein Stück vor. Zitternd und nervös, aber er tut es immerhin und spricht die gewünschten Worte.

„Öffne das Tor für diese … Leute“, sagt Harborad knapp zur Wächterin.

„Ganz wie ihr wünscht, Welthüter Harborad“, erwidert die Torwächterin, und setzte damit den Öffnungsmechanismus in Gang „ich hoffe, wir sehen uns wieder.“

Diese Worte sind nicht an Harborad, sondern an Sandra gerichtet und mögen sowohl als Drohung als auch als Hoffnung zu verstehen sein. Immerhin können sich Türen ja auch wieder schließen. Diesen Fornael zu erledigen, ist sicher nicht ihre oberste Priorität, aber wenn sie einfach jeden in den Archiven töten, werden sie ihn wahrscheinlich miterledigen. Doch auch wenn nicht, wird sich bestimmt eine Lösung finden. Die fand sich für Sandra immer. Auf die ein oder andere Weise.

„Es ist ordinär und barbarisch mit Folter zu drohen“, beschwert sich Lyon, während das Tor langsam hochfährt und die glitzernden Tiefen der mysteriösen Archive offenbart.

„Nein“, widerspricht Sandra verschmitzt, „vielleicht ist barbarisch sie anzuwenden, so kann man zumindest argumentieren. Aber sie anzudrohen … kann Türen öffnen.“

2 thoughts on “Fortgeschritten: Die Gläsernen Archive von Rihn 6

  1. Ahhhhhhhhhhhh

    Jetzt fängst du aber an in nem mega Tempo immer mehr neuen Stuff zu bringen. Ich komme schon gar nciht mehr hinterher xD

    Aber Danke für deine Arbeit an fortgeschritten.

    Ich könnte mir das ganze auch als Artstyle Serie vorstellen so wie es bei den animierten Blizzard Zwischensequenzen in WoW der Fall ist.
    Oder das ganze als total dystopisch düsteres aRPG.

    Ich kann gar nicht davon genug bekommen.

    Danke Danke Danke

    Liebe geht raus

    LG Deniz

    1. Hey Deniz,

      ja, ich tu mein Bestes :D. Bin auch schon mitten in Teil 7. Kann gut sein, dass der Ende des Monats kommt. Ja, eine Serien-Umsetzung fände ich in jedem Fall Hammer. Entweder so im Castlevania-Stil oder tatsächlich in diesem Blizzard-Look, auch wenn ich den mehr aus Starcraft 2 kenne, da ich WoW nicht gezockt habe. Aber der Look ist schon super. Ach ja. Man kann ja mal ein wenig träumen :D. Vielen Dank für deine Treue jedenfalls und ich hoffe, du wirst weiter gut unterhalten.

      LG Chris

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