Selbst zwischen den megalomanischen Wolkenkratzern Deovans hatte sich Callan nie so klein und unwichtig gefühlt wie inmitten der gewaltigen, gläsernen blauen und türkisen Stämmen der Wälder von Cestralia, auf deren verschlungene Pfade sie sich nun bewegten. Diese ätherischen Riesen waren ansonsten nicht annähernd mit den Bauten seiner kaltherzigen Heimatwelt oder gar den wahnhaften Strukturen von Anntrann vergleichbar. Sie waren wunderschön, wirkten gütig, freundlich und weich. Aber dennoch sorgte irgendetwas dafür, dass sich Callans Nackenhaare aufrichteten und sein nervöser Blick hektisch jede Andeutung einers Bewegung verfolgte. Sei es das Wogen der Blätter, das Vorbeihuschen fluoreszierender, kleiner Flugwesen oder die schillernden Schemen leichtfüßiger Tiere im Unterholz, die dort miteinander Fangen und Verstecken zu spielen schienen, jedoch, ohne dass diese spielerische „Jagd“ je von einem blutigen Erfolg gekrönt gewesen wäre.
„Alles in Ordnung?“, fragte Clary, die im Gegensatz zu Callan mit einem unbekümmerten, federnden Gang durch den verzauberten Wald schritt und ihren kindlich anmutenden Blick staunend an jedes neue Wunder heftete. Gerade betrachtete sie eine kleine Blume, die irgendeine leise Melodie spielte, während winzigste, elfenhafte Insekten dazu tanzten und immer wieder sanft in ihre Blüte eintauchten, die daraufhin golden glitzernden Staub ausstieß.
„Ich denke schon …“, sagte Callan verlegen lächelnd, „wahrscheinlich kann ich es einfach nur nicht fassen, endlich hier zu sein.“
„Dann solltest du dich besser schleunigst daran gewöhnen“, bemerkte Clary neckend, „wenn die Einwohner dich mit diesem verkniffenen Gesichtsausdruck antreffen, könnten sie das durchaus als Beleidigung auffassen. Falls sie nicht davon ausgehen, dass du einfach nur Verstopfung hast.“
„Sehr witzig“, entgegnete Callan, fragte sich aber selbst, was mit ihm los war. Seine anfängliche Euphorie über die Entdeckung dieses Ortes war noch vorhanden, ja in der Tat hatte er sich noch nie irgendwo so wohlgefühlt. Aber sicher … nein, sicher fühlte er sich trotzdem nicht. Und er sah sich in seiner Unruhe bestätigt, als er eine rasche Bewegung aus dem Augenwinkel wahrnahm, die sich ihnen von hinten näherte.
Callan reagierte instinktiv. Sein Pinpointer ruckte herum und entließ augenblicklich seine tödliche, knisternde Ladung auf den mutmaßlichen Angreifer. Ohne Zögern, ohne nachzudenken.
„Hast du den Verstand verloren?“, fragte Clary ihn entgeistert, als sie wie hypnotisiert auf das Ergebnis von Callans Kurzschlussreaktion sah.
Aus irgendeinem Grund – vielleicht aufgrund der besonderen Magie dieses Ortes, vielleicht weil die Implantate aus Anntrann doch nicht so zuverlässig waren wie erhoffte, hatte Callans Schuss kein vernichtendes Inferno entfesselt und dabei den halben Wald entlaubt, sondern lediglich eine Zerstörungskraft entwickelt, die nur leicht über der des gewöhnlichen Pinpointers lag. Dennoch hatte es ausgereicht, um ein Opfer zu finden. Dieses Opfer bestand in einem kleinen, lemurenartigen Geschöpf, mit durchsichtiger, beinah zweidimensional erscheinender Gestalt, großen, mandelförmigen Augen, einem langen gekrümmten Schwanz und kleinen Stummelflügeln, welches zwei kleinere Wesen fürsorglich an seine muskulöse Brust gedrückt hielt.
In dem flauschigen Kopf der Kreatur, dessen minzgrün leuchtenden Haare an Zuckerwatte erinnerten, prangte ein daumengroßes Loch, aus dem silbernes Blut floss und seine Lider flatterten, während die feinen Stimmen seiner Kinder ein hohes, klagendes Fiepen erzeugten.
„Schau, was du angerichtet hast, du Monster!“, tadelte Clary und eilte zu dem verletzten Tier.
„Das … das wollte ich nicht“, sagte Callan und fühlte sich tatsächlich wie das größte Monster im gesamten Multiversum, „ich dachte, es will uns angreifen.“
„Du hast nicht gedacht, du hast getötet“, beschwerte sich Clary aufgebracht, während sie die Wunde des Tieres betrachtete, dessen Kinder sie so verzweifelt anblickten, als würden sie darauf setzen, dass diese Unbekannte dem Mittelpunkt ihres Lebens auf irgendeine Weise helfen könnte. Ja, eines von den beiden panischen Tierchen krabbelte sogar auf sie zu und ergriff flehend ihren Zeigefinger.
„Können wir irgendetwas tun?“, fragte Callan überfordert.
„Woher soll ich das wissen? Falls du zaubern kannst, vielleicht“, sagte Clary bitter, während sie selbst fieberhaft über eine Lösung nachdachte.
„Das vielleicht nicht“, sagte Callan nachdenklich, „aber ich habe einen Nehmerorganismus und auch Nanobots in mir. Mit etwas Glück kann ich mit meinem Blut …“
„Du wirst kein Lebewesen in Cestralia mit Whe-Ann-Technologie verseuchen“, warnte eine weiblich anmutige, bläuliche, halbtransparente Gestalt, die unvermittelt hinter einem der vielen Bäumen auftauchte. Sie war verhältnismäßig klein, nur etwas mehr als ein Meter fünfzig groß, aber sehr muskulös, mit wuscheligen Haaren, die ihr bis zu den Ohren reichten und mit einem strengen Ausdruck in einem eigentlich freundlich wirkenden Gesicht. Callan hatte in seinem harten Leben viele Personen kennengelernt, deren Lächeln ihre Augen nicht erreicht hatte. Hier war es umgekehrt. Die Augen der Fremden lächelten noch, aber ihr Gesicht war wie gepeinigt. So als gäbe es ein frisches Leid, das die lang gehegte Zuversicht noch nicht gänzlich vernichten konnte, aber durchaus ernsthaft daran arbeitete.
„Wäre es denn besser, das arme Ding sterben zu lassen?“, fragte Callan und bemühte sich gar nicht erst, irgendwelche Lügengeschichten zu stricken, immerhin wusste er ja auch nicht, was die Fremde von seinen Taten und ihrem Gespräch mitbekommen hatte. „Immerhin habe ich es durch meine Dummheit und Unachtsamkeit verletzt, also will ich auch zu ihrer Heilung beitragen. Ob nun mit Technologie oder nicht.“
„Oh, gegen Technologie an sich ist nichts einzuwenden“, meinte die unbekannte Cestral, “Sie ist Teil der Natur aller kreativen Völker und oft ein Quell von Segnungen. Aber die Whe-Ann-Schöpfungen haben für gewöhnlich ungeahnte Nachteile. Der vielleicht größte davon ist, dass sie meist nicht lange in Cestralia bestehen können. Genauso wenig wie diejenigen, die auf sie angewiesen sind.“
Callan wechselte einen raschen Blick mit Clary. Sie beide dachten an Terrin und sein grauenhaftes Schicksal. Doch Clary war nicht derjenige, deren Körper randvoll mit Whe-Ann-Technologie war. Schon allein, weil die Schlussfolgerungen, die sich aus dieser Tatsache ergaben, zu schrecklich waren, um auch nur darüber nachzudenken, bemühte sich Callan, sie noch ein paar Momente außer Acht zulassen.
„Kannst du denn etwas für dieses Wesen tun? Ich will wirklich nicht, dass es leidet“, sagte Callan.
„Das ehrt dich. Aber dafür ist es zu spät. Gelitten hat es bereits. Doch zu seinem Glück wird sein Leiden schon bald vorbei sein. Und das nicht auf die Weise, wie du vielleicht denkst“, entgegnete die Frau und präsentierte erstmals seit ihrem Zusammentreffen ein Lächeln auf ihren dünnen Lippen.
„Seine Wunde verschwindet“, sagte Clary euphorisch und als Callan genauer hinsah, konnte auch er die unglaublich rasante Heilung des Geschöpfs bezeugen.
„Nur wenig Leid ist in Cestralia von Dauer“, sagte die Cestral, doch es klang beinah zu bitter und traurig für eine so schöne Aussage, „das ist eine der angenehmen Lektionen, die auch ihre Kinder erst noch lernen mussten. Insofern hast du ihnen sogar einen Anlass zur Freude gegeben, je nachdem, wie man es betrachtet.“
Tatsächlich schienen die besagten Kinder überglücklich, als ihre Mutter sich wieder aufrichtete und sie mit freudigen Gluckslauten begrüßte.
„Das mag sein“, sagte Callan mit gesenktem Kopf, „aber auch für Schmerz und Sorge.“
„Auch das ist wahr“, sagte die Frau zustimmend.
„Kein Grund, Trübsal zu blasen“, meinte Clary, aufmunternd, die sich mit den kleinen Wesen freute und sogar ein wenig mit den nun wieder munteren und fröhlichen Zeitgenossen spielte, indem sie mit ihren Fingern harmlose Kitzelattacken vortäuschte, „Callan ist ein Nervenbündel und ein dummes, großes Kind. Aber er hat ein gutes Herz. Und wir sind alle lebendig und noch dazu am schönsten Ort, den man sich nur vorstellen kann. In einem wahren Paradies.“
Clary strahlte, doch ihr Lächeln verlor sich wie eine Kerzenflamme im Sturm als sie in das Gesicht der Cestral blickte.
„Das war es mal. Was es jetzt ist, weiß ich nicht“, sagte die Unbekannte kryptisch und trübsinnig, „genauso wenig, wie ich weiß, wer ihr seid.“
„Ich bin Callan und das ist Clary“, ergriff Callan das Wort, „wir stammen beide aus Deovan, aber hierhergelangt, sind wir über ein Tor in Anntrann.“
Zuerst hatte Callan diese Tatsache verschweigen wollen, aber an diesem Ort fiel es ihm schwer, Dinge geheimzuhalten oder Lügen zu erzählen, auch wenn er sich mit etwas Mühe sicher darüber hätte hinwegsetzen können.
„Torbesucher also“, stellte die Frau fest, „die werden heutzutage von manchen fast mit genauso viel Misstrauen bedacht wie Portalbesucher. Für gewöhnlich auch von mir, was das betrifft. Aber ich will nicht ungerecht sein. Trotz eures Angriffs auf die Lunin scheint ihr mir keine Schlächter zu sein. Und dieser Ort ist am Ende immer noch eine Zuflucht für alle Verzweifelten und Träumer. Wenn wir selbst daran nicht mehr festhalten, enden wir noch wie die Rilandi. Also seid willkommen, Callan und Clary. Mein Name ist Tianda. Und das hier ist das sagenumwobene Cestralia.“
„Danke, dass du uns willkommen heißt“, erwiderte Callan höflich, „doch was geschieht jetzt? Bringst du uns zu deinem Herrscher? Zu deinem Vorgesetzten? Zu irgendeinem Rat, der über uns urteilt?“
Tianda lachte mit dem traurigsten Lachen, das Callan oder Clary je gehört hatten, „vor nicht allzu langer Zeit hätte ich nicht mal gewusst, wovon du überhaupt redest. Noch vor nicht allzu langer Zeit hättet ihr hier tun oder lassen können, was ihr wollt. Ihr hättet überall hingehen könne, euch einen See zum Schwimmen, eine Höhle zum erkunden, Früchte zum Essen und weiches Moos zum Schlafen nehmen können, ganz nach belieben. Doch leider ist das heute etwas anders. Wir haben Übles erlebt und … nun, es ist kompliziert. Jedenfalls muss ich euch bitten, mich in unsere Hauptstadt zu begleiten. Dort findet ihr andere Neuankömmlinge und dort will auch ich wieder hin, da ich mir lediglich die Beine vertreten habe.„
„Und wenn wir nicht mitkommen wollen?“, fragte Callan
Der bedauernde Blick, den Tianda ihm schenkte, war Callan Antwort genug und er saß tiefer als jede Drohnung, selbst wenn er derjenige mit der Waffe war. „Kommt besser mit. Vor einem Urteil jedenfalls braucht ihr euch nicht zu fürchten. Ich werde niemandem etwas von diesem Vorfall berichten. Was mich betrifft, war es ein Unfall und es ist ja auch niemand ernsthaft zu Schaden gekommen.“
„Danke“, sagte Callan, auch wenn er sich seine Ankunft an diesem Sehnsuchtsort ganz anders ausgemalt hatte.
„Das klingt doch nach einer guten Idee“, sagte Clary fröhlich, auch wenn Callan nicht so recht wusste, ob sie nur gute Miene zum bösen Spiel machte, „ich bin ohnehin sehr neugierig darauf, wie die Cestral ihre Städte gestalten.“
„Dann lasst uns gehen“, sagte Tianda, “wir haben die Lunin schon genug gestört.“
~o~
Der weitere Weg durch den Wald kam für Clary einem Traum gleich, der sie schützend in ihre Arme nahm. Der unglückliche Zwischenfall mit den Lunin, die Gefahr, in der Callan schwebte, die mangelnde Bewegungsfreiheit, der unausgesprochene Drohung von Tianda, all das konnte sie nicht erreichen. Es wurde förmlich von den mal bläulichen, mal grünlichen und mal violett glitzernden Baumkronen aufgesogen, die sich aus eigenem Willen bewegten und raschelten. Biegend und wogend, wie von der Strömung getriebene Weichkorallen, selbst dann, wenn kein einziger Windhauch zu fühlen war.
Währenddessen nahm sie mal fruchtige, mal pflanzlich herbe Düfte wahr, die sich rauschhaft in ihre Nase schlichen und ihre Schritte zu einem gewichtslosen Schweben machten. Stammten die Aromen von den geisterhaften Blumen und Pilzen, die manchmal wie schüchterner Nachwuchs zwischen den Baumstämmen aufragten? Strömten sie aus den gelegentlich auftauchenden großen und kleinen Erdhöhlen, in denen sie von Zeit zu Zeit verstohlene Augen, forschende Gliedmaßen und wispernde Münder ausmachen konnte? Oder hingen sie einfach wie ein allpräsentes, willkommenes Hintergrundpanorama in der Luft?
Clary wusste es nicht. Sie wusste nur, dass es sich verdammt gut anfühlte. Dennoch fühlte sie sich nicht unangenehm betört. Ihre Gedanken blieben glasklar, wann immer sie sie brauchte. Trotzdem fiel es ihr schwer vorstellbar, wie man ernsthaft unglücklich sein konnte, wenn man in diesem Paradies lebte. Wenn man Tag für Tag diese Luft atmete und die von freundlichen, leisen Stimmen und sanften Geräuschen bereicherte Beinahe-Stille erfuhr.
Trotzdem brachte Tianda genau dieses Kunststück fertig. Ihre Schritte wirkten oft schwer und träge, fast ziellos. Dann wieder waren sie fast wütend und getrieben, so als wollte sie den Boden unter sich für irgendetwas bestrafen. War das so etwas wie Glücksmüdigkeit? Die Abstumpfung, die einen befiel, wenn man zu viele gute Zeiten erlebt hatte? Clary glaubte das nicht. Cestralia war kein ereignisloser Himmel mit gleichförmiger Glückseligkeit. Der Ort vibrierte vor Spannung und Abenteuern und dem Kitzel kleiner, flüchtiger Ängste und Herausforderungen. Außerdem erschien Tianda nicht gelangweilt oder überdrüssig, sondern eher verletzt zu sein. Das, was ihrer Andeutung nach in dieser Welt vorgefallen war, musste wirklich grauenhaft gewesen sein.
„Hast du zufällig etwas zu trinken dabei?“, fragte Callan, dessen Mund sich beunruhigend trocken anfühlte, unvermittelt, „ich könnte echt was gebrauchen.“
Tianda drehte sich reflexartig zu ihm herum. Aber ihre Augen schienen ihn für einige Sekunden überhaupt nicht wahrzunehmen. Dann endlich antwortete sie und wirkte dabei geradezu schuldbewusst.
„Es tut mir leid“, sagte Tianda ernsthaft zerknirscht, „ich hätte direkt daran denken müssen. Dein Körper reagiert auf den die Wechselwirkung der Whe-Ann-Implantate mit der Magie von Cestralia. Es ist nur natürlich, dass du durstig bist. Ich hätte mich gleich um dich kümmern sollen. Das tut mir aufrichtig leid.“
„Schon in Ordnung“, sagte Callan schief grinsend, „vielleicht können wir uns diese Mühe ja ohnehin sparen. Wie lang habe ich noch, bevor die Nanobots durch meine Adern brechen und ich auslaufe wie eine Gießkanne?“
„So muss es nicht kommen“, beruhigte Tianda ihn, „dein Körper könnte die Implantate auch auf andere Weise entsorgen. Solch einen Fall hatten wir hier zwar noch nicht, aber es ist durchaus möglich, dass sich die Naniten einfach zersetzen und über gewöhnliche Stoffwechselprozesse ausgeschieden werden.“
„Prinzip Hoffnung also, was?“, kommentierte Callan zynisch, „wobei ich auch dann am Arsch wäre.“
„Wieso?“, erkundigte sich Tianda.
„Callan ist schwerkrank“, erklärte Clary, die sich ein wenig schlecht dafür fühlte, dass sie sich um Callans Lage so wenig Gedanken gemacht hatte, „oder auch vergiftet. Genau wissen wir es nicht. Aber es ist der Grund, warum ich ihm diese blöden Nanobots überhaupt verabreicht habe.“
„Das ist wirklich tragisch“, sagte Tianda und diesmal schien ihre Trauer nicht allein ihr selbst zu gelten, „aber auch dafür finden wir vielleicht eine Lösung. Unter den anderen Gästen gibt es eine Heilerin, die kürzlich angekommen ist … sie ist … zwar … nun, wir haben nicht das allerbeste Verhältnis, aber sie ist sehr fähig und kennt sich auch mit Implantaten aus. Vielleicht kann sie dir helfen. Ich würde es selbst gerne tun, aber wir Cestral sind nur gut darin, den Geist und die Seele zu heilen, nicht den Körper.“
„Das macht doch Hoffnung. Aber du siehst selbst auch, als könntest du seelische Heilung gebrauchen“, sagte Clary geradeheraus, „besonders glücklich wirkst du jedenfalls nicht.“
Bei Clarys Worten zuckte Tianda zusammen. Ja, zuerst schien sie sogar geradezu erzürnt, doch ihre Züge wurden schnell weicher, so als würde sie diese Gelegenheit willkommen heißen, sich ihren Kummer von der Seele zu reden.
„Ich habe vorhin zwar etwas anderes behauptet. Aber die Wahrheit ist, auch hier kann nicht jeder Schmerz kuriert werden und diese besondere Art von Schmerz trägt fast jeder Cestral seit einiger Zeit in sich, auch wenn jeder anders damit umgeht“, sagte Tianda und seufzte tief, bevor sie fortfuhr.
„Vor etwa einem Jahr kam ein Mann zu uns. Ein böser Mann, der sich als ein Freund präsentierte und doch alles andere als das war. Wir hießen ihn willkommen, wie so viele vor ihm. Doch er dankte es uns schlecht. Statt unsere Gastfreundschaft zu würdigen, hat er viele von uns entführt, um sie grausamer Folter und ewiger Gefangenschaft an einem der schlimmsten Orte des Multiversums auszusetzen: den Seuchenhöhlen von Hyronanin. Er war nicht der Erste, der so etwas Schreckliches tat. Aber er war der Erste, der es ganz offen zugab.“
„Das ist ja grauenhaft“, sagte Clary voller Mitleid, „warum sollte jemand so etwas Gemeines tun?“
Tianda blickte zum sternenreichen Himmel hinauf als würde sie dort nach Rat suchen, doch die fernen Lichtpunkte gaben nur dieselbe kryptische Botschaft zur Antwort, die sie schon vor Jahrtausenden ins Firmament graviert hatten. „Eigentlich gibt es keine Antwort darauf, denn eine Rechtfertigung für so ein Verhalten gibt es einfach nicht. Und doch gibt es eine Erklärung, eine Kausalität, die zu all diesem Leid geführt hat. Dieser Mann war ein Ernter“, sagte Tianda seufzend, „ein Söldner im Auftrag der Seuchenhöhlen, auf der Suche nach der Lebenskraft unseres Volkes. Ein gewissenloser Diener von falschen Heilern.“
„Wie hieß dieses Ungeheuer?“, fragte Callan auch wenn er gar nicht recht wusste warum. Im Grunde spielte der Name des Mannes ja keine Rolle. Dennoch. Die Erwähnung von Hyronanin löste etwas bei ihm aus.
„Adrian“, antwortete Tianda nach einer kurzen Pause und Callans Augen wurden groß, „so viel fanden wir inzwischen heraus, auch wenn er uns seinen Namen nicht genannt hatte.“
„Ich kannte auch jemanden dieses Namens“, erinnerte sich Callan, „ich traf ihn in Deovan und er erzählte mir von Hyronanin. Von der Portalmaschine und … auch von Cestralia. Auch wenn diese falsche Schlange nicht mit einem Wort erwähnte, was er euch angetan hatte. Er schwärmte nur davon, in blumigen Worten. Jedoch … nun, er war kein wirklicher Mann. Eher ein dunkler, fremdartiger Koloss. Aber dennoch …“
„Hüllen können sich ändern“, sagte Tianda, deren Interesse geweckt war, „selbst bei grobstofflicheren Wesen.“
Ein zorniger, finsterer Schatten strich über Tiandas Gesicht und verlieh ihr etwas Beängstigendes. Fast als würde sich ein dunkler Zwilling unter ihrer Haut regen, bereit hervorzubrechen. Doch ihre Stimme blieb erstaunlich ruhig.
„Wahrscheinlich reden wir von derselben Person“, meinte Tianda, „und dieser Teufel lebt noch, was eine Schande ist. Aber ich danke dir, dass du mir das mitgeteilt hast. Zumindest wissen wir jetzt, wo Adrian sich ungefähr aufhält. Wenn wir Glück haben, können wir dieses Ungeheuer finden und bestrafen. Wir Cestral besitzen eine Menge Fantasie. Ja, wer weiß, vielleicht sogar mehr als die Andrin.“
Tianda nahm sich einen violett schimmernden Ast und brach ihn entzwei als handele es sich um Adrians Rückgrat. Doch es wirkte nicht wie ein demonstrativer, sondern eher wie ein unterbewusster Akt, der vor allem dazu diente, ihre angestaute Wut loszuwerden, was ihren Zorn noch greifbarer und beeindruckender machte.
„Rache ist kein guter Ratgeber“, entfuhr es Clary, der die Richtung, in die sich dieses Gespräch entwickelte, nicht gefiel. Gleichzeitig registrierte sie zu ihrem Erschrecken, dass sie einen Teil dieser Wut sehr gut nachvollziehen konnte.
„Fremde sind es auch nicht“, schoss Tianda in Clarys Richtung, bevor ihre Stimme wieder weicher wurde, da sie wohl selbst bemerkte, dass sie etwas übertrieben hatte, „vor allem, wenn sie kaum etwas über diesen Ort wissen.“
„Ich wollte nicht anmaßend sein“, entschuldigte sich Clary, „ich hätte so viel Dunkelheit nur nicht an einem so schönen Platz erwartet. Ich dachte, hier … “
„Leider verändern sich die Dinge manchmal. Und das nicht immer zum Guten“, sagte Tianda, „aber das ist kein Grund für mich, unhöflich zu sein. Ich war euch bislang eine miserable Gastgeberin. Das muss sich ändern.“
Mit diesen Worten ging Tianda auf einen Strauch zu, der mit silbernen, farnartigen Blättern bedeckt war und strich sanft mit der Hand darüber. Sofort zogen die Äste sich zurück und eine Art Brunnen kam zum Vorschein, dessen glitzerndes, buntes Wasser von einem Ring aus Wurzelwerk eingefasst war. Zwischen den Wurzeln waren kleine, steinerne Erhebungen, auf denen halbtransparente Becher standen. Tianda füllte sie mit der Flüssigkeit und reichte sie Callan und Clary.
Callan schnupperte daran und nahm ein fruchtiges Aroma wahr, das jedoch auch ein wenig in der Nase kitzelte wie eine Mischung aus Pollen und Sprudel.
„Das ist kein Gift“, sagte Tianda lächelnd und trank wie zum Beweis selbst von der Flüssigkeit, „das ist Baumblut. Das nahrhafteste und Erfrischendste, was ihr in unseren Wäldern finden könnt.“
Clary, die weniger misstrauisch war, nahm einen großen Schluck und gab einen befriedigten Laut von sich. „Wirklich köstlich. Auch wenn der Name ein bisschen grausam klingt. So als wäre man ein Vampir, ein Parasit, der die Natur ausnutzt. Und es schmeckt nach … nach …“
„Versuch am besten gar nicht, den Geschmack zu bestimmen“, meinte Tianda, „zum einen ist er jedes Mal anders, zum anderen schmeckt es nach vielem zugleich. Und der Name ist ein wenig irreführend. Es handelt sich um die Säfte von Sträuchern und Bäumen, ja. Aber sie geben sie freiwillig her und keiner von ihnen leidet dadurch. Sie verbinden sich vielmehr miteinander und bilden diese Brunnen, um uns und andere Wesen an ihren Kostbarkeiten teilhaben zu lassen. Dafür kümmern wir uns um sie, wenn es nötig ist. Doch das ist es nicht oft. Die Natur hier heilt sich selbst, wie du bereits gesehen hast.“
„Das klingt wunderbar“, sagte Clary verzückt.
„Das ist es auch“, wisperte Tianda wehmütig, „und es wäre eine Schande, diese Geschenke nicht zu nutzen.“
Sie blickte zu Callan, der noch immer zögerte.
„Na gut, dann weg damit!“, sagte Callan und leerte seinen Becher in einem Zug. Er bereute es nicht. Es schmeckte zwar etwas bitter und holzig, aber auch unwahrscheinlich süß, angenehm säuerlich, blumig, herb und … nun eben komplex und es sorgte dafür, dass die Trockenheit in seiner Kehle fast augenblicklich schwand. Zusammen mit einem Teil seiner Sorgen.
„Und? Du fühlst dich besser, oder?“, fragte Tianda.
Callan nickte und stellte seinen Becher ehrfurchtsvoll zurück zum Wurzelbrunnen.
„Leider wird der Effekt nicht von Dauer sein“, warnte Tianda, „wie gesagt, wir sind keine Heiler hier.“
„Trotzdem Danke!“, sagte Callan, „das ist weit mehr Gastfreundschaft als ich gewohnt bin. Ich komme aus einer Welt, in der rein gar nichts umsonst ist.“
„Auch das hier war nicht umsonst“, entgegnete Tianda augenzwinkernd, „es kostete dich einen Moment deiner Zeit. Und das ist ein gutes Stichwort. Denn es ist höchste Zeit, dass wir Niandor betreten, und dass ich dich mit den anderen bekannt mache.“
~o~
„Niandor“, wie Tianda die Siedlung der Cestral bezeichnet hatte, war ganz anders als Clary es sich vorgestellt hatte. Nun, nicht ganz anders vielleicht. Die Bauten waren ähnlich schillernd und andersweltlich, wie es die Pflanzen und Tiere im Wald gewesen waren. Und viele der Häuser verbanden sich so organisch mit der auch hier vorhandenen Vegetation, dass sie davon kaum zu unterscheiden waren. Auch die Bewohner wirkten größtenteils glücklich. Sie spielten, meditierten, übten sich an den exotischsten Instrumenten, erzählten sich Geschichten, schrieben, lasen, aßen, tranken oder vergnügten sich sexuell, was niemanden sonderlich zu stören oder zu beschämen schien. Jedoch war nicht alles so harmonisch und friedlich. Manche der Einwohner, deren durchscheinende Gewänder nicht bläulich, sondern rötlich koloriert waren, trugen schillernde Speere, Schwerter oder Schusswaffen, die zwar genauso ätherisch waren wie sie selbst, die deshalb aber nicht weniger tödlich wirkten. Und über ihnen, am Himmel über der Stadt, drehten finster aussehende, sphärische, rote Schlangen ihre Runden, die an flügellose Drachen erinnerten und deren riesige Augen eine hypnotisierende Wirkung besaßen, die beinah – aber nur beinah – von ihren gewaltigen, einschüchternden Mäulern ablenkte. Diese Wesen beobachteten jeden der Neuankömmlinge ganz genau und Clary konnte ihre misstrauischen, unerbittlichen Blicke wie eine tastende, schwere Hand auf sich spüren.
Um das militaristische Bild zu komplettieren, ragte eine massive Mauer um die Stadt auf, die, obwohl ebenfalls durchscheinend, hart wie Stahl war, wie Clary bei einer flüchtigen, prüfenden Berührung selbst festgestellt hatte.
„Das ist eine Stadt im Kriegszustand“, stellte Callan fest.
„Nicht die gesamte Stadt“, sagte Tianda beinah entschuldigend, „gerade im Stadtzentrum ist davon kaum etwas zu spüren. Wir haben nur dort Vorsorge getroffen, wo es unbedingt nötig ist.“
„Sind diese … Wesen …. gefährlich?“, fragte Clary und zeigte auf die Schlangenkreaturen, „sie erinnern mich fast an die Zrym der Jyllen. Ich hoffe, du verzeihst mir den Vergleich.“
„Es gibt sicher Schlimmeres, als mit den Jyllen verglichen zu werden“, erwiderte Tianda, „Sie haben ein gutes Herz. Aber in ihrer Lage sind wir noch nicht. Und ich hoffe, dass es nie so weit kommt. Eigentlich wollten wir uns – jenseits unserer Mentravia – nie um den Krieg Gedanken machen. Ja, der Gedanke wäre uns sogar regelrecht lächerlich erschienen. Aber das war vor Adrian.
Und ja, die Traumschlangen sind gefährlich. Sehr sogar, selbst wenn sie keinerlei Verwandtschaft mit den Zrym besitzen. Sie sind Produkte unseres Geistes, aber sie sind auch in der Lage zu töten, zu vergiften und zu zerstören. Aber habt keine Angst. Wer in Frieden kommt, hat von ihnen nichts zu befürchten.“
Clary war sich da nicht so sicher. Nicht nur, dass Tiandas Stimme bei diesen letzten Worten kaum merklich zitterte. Vor allem säten diese Wesen Angst in ihr Herz. Sie waren wie Schatten, die das Glück abschirmten, das der gütige Mond von Cestralia in die Seelen seiner Bewohner strömen ließ. Diese unheilvolle Wirkung war zwar nur da, wenn man zu ihnen aufblickte, aber auch wenn sie das nicht tat, wusste Clary immer noch genau, dass diese Kreaturen da waren. Und das allein reichte aus, um ihr Glück zu trüben. Den Cestral – davon war sie fast überzeugt – musste es ähnlich ergehen, selbst, wenn sie es sich nicht eingestanden.
„Das Lager der Neuankömmlinge befindet sich im östlichen Teil der Stadt. Dort werdet ihr auch die Heilerin finden, von der ich gesprochen habe“, erklärte Tianda.
„Ihr habt ein Ghetto für Fremde errichtet?“, fragte Callan provokant, „ich dachte eigentlich, sie würden frei unter euch leben.“
„So war es lange Zeit, ja“, meinte Tianda traurig, „das ist … einfach eine Vorsichtsmaßnahme. Wir sperren Fremde nicht ein. Natürlich nicht. Und sie haben alles, was sie zu ihrem Glück brauchen. Wir wollen nur im Blick behalten, ob sich jemand als Verräter entpuppt. Aber das ist natürlich nur vorübergehend. Sobald wir sicher sind, dass für Cestralia keine Gefahr von ihnen ausgeht, werden wir ihnen wieder erlauben, gänzlich frei durch unsere wunderschöne Welt zu wandeln. Das gilt auch für euch.“
Ob das je passieren wird?, fragte sich Clary missmutig, während sie sich durch die von bläulichen, wogenden Gräsern gesäumten, weitläufigen Straßen bewegten. Und ihr Zweifel erhielt neue Nahrung, als sie eine Bühne passierten, auf der ein dürrer, mittelalter Mann stand und eine laute Rede vortrug. Er trug das rote Gewand eines Soldaten und über seinem Kopf schwebten – wie eine extravagante Kopfbedeckung – drei kleine, aber sehr lebendige Traumschlangenköpfe, die im Takt seiner Worte kampflustig zuckten. Was Clary im ersten Moment für ein Theaterstück oder eine beginnende Mentravia gehalten hatte, entpuppte sich jedoch schnell als eine politische Rede mit ganz und gar nicht pazifistischem Inhalt.
„Schafe. Als Schafe haben sie uns betrachtet“, verkündete die wütende Stimme des Mannes zu einer recht zahlreichen Zuhörerschaft, die sowohl aus Erwachsenen als auch Kindern bestand, „als wehrloses Vieh, das traumwandlerisch wohlschmeckendes Gras auf seiner verzauberten Weide frisst. Und sie haben sich an unserem Fleisch gelabt. Haben unsere Gesundheit, unsere Seele gestohlen, das Privileg unserer Gastfreundschaft ausgenutzt und uns die Hand gebrochen, die wir ihnen gereicht haben. Sie haben sich in unserer Gemeinschaft ausgebreitet wie Krebs, haben sie von innen heraus zersetzt und uns jene Güte genommen, über die wir uns immer definiert haben. Und diese Güte ist etwas Wertvolles. In einer perfekten Welt. In einem perfekten Multiversum. Doch das ist nicht die Realität.
In der Realität sind wir eine Insel in einem Meer aus Bosheit. Futter für ein Heer von Raubtieren, das nach Belieben von unserem Fleisch gefressen hat. Das hier ist keine Mentravia meine Gefährten, meine Mitträumer. Das hier ist die bittere Wirklichkeit und wir müssen uns ihr gemeinsam stellen. Und wir müssen jene kaltstellen, die sich als falsche Freunde bei uns einschleichen, denn die allerwenigsten von ihnen sind harmlose Verlorene, die sich demütig nach unserer Welt gesehnt haben. Nein, meist sind es Betrüger und Agenten des Feindes aus verachtenswerten, düsteren Welten voller Hass, Intrigen und Gier.“
Er deutete zur Verdeutlichung auf Callan und Clary, was Clary sehr verletzte. Sie hatte nicht die geringsten bösen Absichten und hatte sich immer nur nach einem Ort der Ruhe gesehnt und sie war absolut davon überzeugt, dass es bei Callan nicht anders war. Etwas in ihr wollte diesem Agitator genau das sagen, wollte ihn überzeugen, dass er sich irrte, aber selbst sie erkannte, dass das nicht der richtige Augenblick dafür war. Solche Leute wurden erst richtig wild, wenn man auf sie einging und ihre Empörung hätte er ihr sofort als Bosheit ausgelegt. Also schwieg sie genau wie Callan und es war wohl die richtige Entscheidung, denn abgesehen von ein paar bösen Blicken blieb diese Bloßstellung folgenlos und der Redner wandte sich glücklicherweise wieder seiner Demagogie zu.
„Wir müssen unsere falschen Freunde stellen, oh ja. Aber vor allem müssen wir jene umstellen und ausrotten, die die Tore für Heerscharen von Ausbeutern und Spionen geöffnet haben und die sich von unserer Kraft ernähren. Jene, in deren Namen und Auftrag wir so viel Leid erfahren haben. Gehen wir dorthin. Gehen wir nach Hyronanin und reinigen wir die abartigen Seuchenhöhlen von ihrer Verseuchung und von allem widerlichen, bösartigen, herrischen Leben, das sich darin verkriecht. SOLANGE, BIS ALLEIN NOCH DAS LICHT VON CESTRALIA DARIN ERSTRAHLT!“
Die letzten Worte brüllte der Mann so energisch heraus, dass er wankte und die Traumschlangen über seinem Kopf zischten stumm mit. Im Gegensatz zu der Menge, die seine Worte mit euphorischem, kriegerischen Jubel quittierte. Einige von ihnen echoten: „DAS LICHT VON CESTRALIA!“, während andere riefen: „RACHE AN HYRONANIN!“ oder: „TOD DEN DUNKELWELTLERN!“
Vor allem bei der letzten Phrase lief Clary ein kalter Schauer über den Rücken.
„Lasst uns weitergehen“, sagte Tianda beschämt zu Callan und Clary, die angesichts dieser Hassrede wie gebannt stehen geblieben waren, „es tut mir leid, dass ihr das mitansehen musstet, wirklich. Nicht alle von uns sind so. Nein, die wenigsten sind so. Ich meine, auch ich will es Hyronanin heimzahlen und Adrian sowieso. Aber solcher Hass gegen Unschuldige und Hilfesuchende ist mir fremd. Das müsst ihr mir glauben.“
„Das tun wir“, sagte Callan diplomatisch, „niemand von uns verurteilt dich oder deine Leute.“
Tianda nickte dankbar, ging jedoch etwas schneller und wandte den Blick ab, was überdeutlich machte, wie unangenehm ihr das alles war.
„Das also soll die Oase sein, nach der wir uns so lange gesehnt haben?“, flüsterte Clary missmutig zu Callan.
„Ich glaube, sie war es“, antwortete Callan bitter, „ich spüre es immer noch. Es liegt in der Luft, knistert darin wie dieser wunderbare Geruch, nur subtiler. Aber Adrian hat diesen Ort zerstört. Er hat seine Unschuld in Trümmer geschlagen. Und es fehlt nicht mehr viel, bis es hier nicht mehr besser ist als irgendwo sonst. Wenn ich dieses Dreckschwein in die Finger bekomme, werde ich ihn auf die Größe eines Käfers zusammenfalten, bevor ich ihn zertrete.“
„So weit darf es nicht kommen und das wird es auch nicht. Es gibt noch Hoffnung für Cestralia. Die muss es geben. Wir müssen ihnen nur zeigen, dass man uns vertrauen kann, egal aus was für einer Welt wir kommen“, sagte Clary mit Tränen in den Augen, „aber was Adrian betrifft, hast du vollkommen recht. Was dieser Typ getan hat, muss bestraft werden. Gnadenlos und kompromisslos. Dabei helfe ich dir gerne.“
Bei diesen Worten loderten Clarys Augen mit einem Hass, wie ihn nur der Glaube an das Gute entfachen konnte.
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Das „Ghetto“ für die Gäste in Cestral war immerhin nicht so schlimm, wie Callan befürchtet hatte. Am Rande des Invisible Land hatte er einmal ein Modellprojekt gesehen, bei dem kurzfristig insolventen Besuchern von außerhalb, in denen die Geschäftspartner aber noch zu viel Potenzial gesehen hatten, um sie einfach auf den Endmärkten oder im Land verrotten zu lassen, eine Art Notbaracke zur Verfügung gestellt worden war.
Die hygienischen Bedingungen darin waren grauenhaft gewesen. Es hatte nach Kot und Erbrochenem gestunken und das Ungeziefer hatte sich dort förmlich gestapelt. Das hier hingegen war ein schöner und idyllischer Ort. Eine Art Park mit bequem aussehenden Bänken, einem kleinen See, vielen Bäumen, die reiche Früchte trugen und Feldern mit Blumen und aromatischen Pilzen. Es gab keine Zäune, Mauern oder Tore, jedoch eine wachsame Traumschlange, die am Himmel ihre beunruhigenden Bahnen zog und auch einige der rotgewandeten Soldaten, die immer wieder wie zufällig einen Blick auf die kleine Gruppe warfen. Eine Gruppe, die gemeinsam an einem reich mit Früchten und anderen Köstlichkeiten gedeckten Tisch saß und deren Mitglieder größtenteils genervt und gelangweilt wirkten.
Die Gruppe bestand aus vier Personen. Einem blasen, deovanischen Mann im extravaganten, roten Anzug mit blonden kurzen Haaren, einem menschlich anmutenden, braunhaarigen Kerl in einem blauen Satin-Hemd, der irgendetwas auf einen Block kritzelte, eine lächelnde, gutaussehende Andrin in einer weißen Lederkluft, die nur ihre von Narben verunstalteten Hände freiließ und eine feingliedrige, langhaarige Frau mit OP-Maske und sieben Fingern, in deren Händen ein stählernes Skalpell ruhte, mit dem sie gelangweilt an einer halb gegessenen Frucht herumschnitt.
„Ist das …“, begann Callan verblüfft, als er die letztgenannte Frau bemerkte.
„… ja, eine Gesunderin aus Hyronanin“, bestätigte Tianda, „wie gesagt, ich traue ihr nicht so recht und wir mögen uns nicht sonderlich, auch wenn ich eigentlich nichts gegen Gäste habe. Die meisten sind ja aufgrund ihrer übergroßen Sehnsucht zu uns gelangt oder haben einen der verborgenen Eingänge gefunden, so wie ihr. Es sind also im Kern gute Seelen, egal wie sie nach außen hin wirken mögen oder woher sie stammen. Sie jedoch … nun …. sie ist speziell… trotzdem steht außer Zweifel, dass sie sich mit Heilung auskennt.“
„Das allein macht sie für mich zur sympathischsten Person, die ich mir vorstellen kann“, antwortete Callan, woraufhin Tianda verständnisvoll lächelte.
„Das sind aber ziemlich wenige“, kommentierte Clary, „nach dem, was dieser wütende Mann erzählt hat, könnte man denken, dass halb Cestralia aus Gästen besteht.“
„Er übertreibt ja auch maßlos“, sagte Tianda, „aber dennoch gibt es noch weit mehr Besucher als ihr hier seht. Dies ist nur einer von etwa zwanzig Aufenthaltsbereichen, die wir eingerichtet haben. Und es ist der kleinste, weswegen ihr hier gut aufgehoben seid. Ich schätze, dass wir momentan knapp zweihundert Gäste bei uns beherbergen. Wobei der Begriff auch irreführend ist. Einige wohnen bereits seit Jahrzehnten oder gar Jahrhunderten hier.“
Jahrhunderte? So viel also zum Thema Vertrauen, dachte Clary enttäuscht, sagte aber nichts.
„Nun, am besten ist es wohl, wenn ihr euch einander vorstellt“, fuhr Tianda fort,“ich werde euch fürs Erste wieder verlassen, weil ich ein paar Angelegenheiten zu erledigen haben. Aber ich komme euch bald besuchen. Schon allein, um sicherzustellen, dass es euch gut geht. Versprochen!“
„Dürfen wir uns denn frei bewegen oder müssen hierbleiben?“, erkundigte sich Callan, während Tianda sich bereits sichtlich im Aufbruch befand.
„Ihr dürft innerhalb der Stadtmauern gehen, wohin ihr wollt“, sagte Tianda zum Abschied, bevor sie plötzlich sehr eilig den Platz verließ, „aber ihr werdet dabei nicht unbeobachtet sein.“
Und diese Aussage konnte Callan vollkommen nachvollziehen. Denn nun, da Tianda sie verlassen hatte, schienen dutzende Blicke auf ihnen zu ruhen. Die der rot gekleideten, mürrischen Soldaten, der Traumschlange, vereinzelter Passanten und vor allem die der Gruppe aus Gästen, die sie neugierig beäugten.
„Tianda hat recht“, sagte Callan zu Clary, „lass uns unsere neuen Freunde begrüßen.“
„Gerne!“, sagte Clary enthusiastisch, doch selbst ihre Begeisterung wirkte aufgesetzt, so als würde sie von den misstrauischen Blicken der Soldaten und den wachsamen Augen der Traumschlange aufgefressen.
Als sie nähertraten, begrüßte sie die dunkle, wenn auch zweifelsfrei weibliche Stimme der Gesunderin an deren Skalpell ein weißlich-schleimiges Fruchtfleisch klebte. „Noch mehr Mitgefangene. Anscheinend gönnen sie uns unseren Platz nicht und wollen uns jetzt auch noch wie Vieh zusammenpferchen.“
„Jetzt sei nicht so grob, Scynra“, kommentierte die Andrin mit einer glockenhellen, fast kindlichen Stimme, „es ist doch immer toll, wenn einem neue Leute begegnen. Erst recht an einem so wundervollen Tag.“
„Das stimmt“, pflichtete der Deovani bei, „vor allem, wenn diese Leute aus Deovan stammen. Es passiert nicht oft, dass jemand den Weg aus diesem düsteren Moloch hinaus ins Licht findet. Wie heißt ihr beiden denn?“
„Mein Name ist Clary“, stellte sich Clary vor, „ich bin eine Blue Mind. Und das hier ist Callan Nehmer …“
„Euer Statuts spielt hier keine Rolle mehr. Genauso wenig wie das Einkommen oder der Kontostand“, korrigierte der Deovani nüchtern, aber freundlich, „hier sind alle gleich.“
Der Gesunderin entfuhr ein beinah hysterisches, zynisches Gelächter. „Jetzt hör mit der Scheiße auf, Toran. Falls das Sarkasmus sein soll, bist du grauenhaft mies darin. Und wenn nicht und du dich langsam in eine zweite Makra verwandelst, werde ich euch beiden wohl die Münder zusammennähen müssen, damit ihr sie endlich haltet. Zwei von der Sorte halte ich nicht aus. Nimm dir lieber ein Beispiel an Thomas und verliere deinen Verstand in irgendeiner sinnlosen Aktivität. Dann hältst du wenigstens die Klappe.“
Toran, der Deovani runzelte angesichts dieser Worte lediglich die Stirn, so als hätte er solche Standpauken schon des Öfteren vernommen.
Thomas hingegen, der hochkonzentriert mit seinem Schreibwerk befasst war, antwortete auf die Beleidigung in betont arroganter Manier, jedoch ohne seinen Blick von seinem Werk zu nehmen. „Jedes Wort, das ich schreibe, ist zehnmal bedeutsamer als der Strom an Nonsens, den ihr durch eure Lippen defäkiert.“
„Es tut mir wirklich leid“, sagte Makra, die Andrin unangenehm berührt und im Tonfall einer Kindergärtnerin, die sich für den betreuten Nachwuchs schämt, „sie sind nicht immer so schlimm. Es gibt Tage, da kann man es sehr gut mit ihnen aushalten. Vor allem, wenn die Schlange woanders patrouilliert. Heute aber …“
„Mal ehrlich, was erwartest du von uns?“, fragte Scynra, „wir sind hier schon seit Wochen eingepfercht wie in einem Freiluftgehege. Ohne Privatsphäre, ohne Perspektive. Ohne Hoffnung auf Besserung. Schikaniert und verhöhnt von diesen Aushilfsaufsehern. Woher soll unsere gute Laune kommen?“
„Wenn es euch hier nicht gefällt, dann verpisst euch doch einfach!“, kommentierte einer der roten Soldaten, der – ob Zufall oder nicht – gerade an ihnen vorbeilief, „niemand braucht euch hier.“
„Wir können nicht weg!“, beschwerte sich Makra, „das weißt du ganz genau.“
„Oh doch, das könnt ihr“, meinte der Soldat, der eigentlich ein ziemlich sanftes, zierliches Gesicht besaß, böse lächelnd, „ich kenne eine Stelle in den Diadembergen. Wunderbare Aussicht. Klare Luft. Und eine Fallhöhe von ein paar Tausend Metern direkt in ein Feld aus hübschen, spitzen Kristallen hinein. Ich gebe dir gerne eine Führung. Und eine Starthilfe. Du stehst dich auf Schmerzen, nicht?“
Makras Gesicht verlor alle Farbe. Sie begann zu zittern. „Das … das ist so … wie kannst du nur…?“ Dann versiegten ihre Worte und Tränen flossen über ihr Gesicht.
„Wenn du Hand an sie legst, trenne ich dir diese Hand ab und nähe sie an deinem dümmlichen Maul fest“, drohte Scynra und stellte sich überraschend vor die Frau, über die sie sich eben noch beschwert hatte.
„So mögt ihr die Dinge in deiner Albtraumwelt regeln, Kurpfuscherin“, erwiderte der Mann kühl, „Hier nutzen wir die Macht der Fantasie, wenn jemand seine Worte nicht in Zaum hält.“
Er warf einen vielsagenden Blick zur Traumschlange über ihren Köpfen, zog sich dann aber glücklicherweise zurück auf seinen Posten.
Makra hatte noch immer nicht aufgehört zu weinen und Clary rührte der Anblick dermaßen, dass sie die Frau in den Arm nahm und fest an sich drückte. Das brachte ihr zwar ein paar irritierte Blicke ein, aber die Andrin schien durchaus dankbar für diese Geste und drückte sich ihrerseits enger an Clary, halb wie eine Liebende, halb wie ein Schutz suchendes Kind. „Ist schon gut“, sagte Clary sanft und strich Makra über die Haare, wie es Clarys falsche Mutter immer mit ihr getan hatte. Die Andrin schien diese Zuwendung sehr zu schätzen.
„Wie ist das nur möglich“, fragte Callan, „die Leute sind hier fast mitleidloser als in Deovan. So eine Verrohung kann doch nicht allein durch einige Entführungen geschehen, seien sie auch noch so grausam und schrecklich. Waren all die Erzählungen über diesen Ort nur Mythen?“
„Nein“, meldete sich Thomas zu Wort und hielt sogar kurz im Schreiben inne, „die Quellenlage ist eindeutig. Cestralia war einst ein schöner Ort. Irgendetwas Obskures muss hier vorgefallen sein, das die Substanz dieser Welt verdorben hat und es ist nicht allein der Verräter aus meiner Heimatwelt. Auch wenn ich nicht genau weiß, was passiert ist, sieht es meinem Glück ähnlich, dass ich gerade dann hier ankomme, NACHDEM es passiert ist.“
„Jammern hilft nichts“, mahnte Toran, „wir müssen es pragmatisch betrachten und uns den Soldaten gegenüber einfach möglichst diplomatisch verhalten. Irgendwann werden sie erkennen, dass wir keine Gefahr sind. Nicht jeder ist hier wie Kallendor, nicht mal alle Wärter. Und Tianda hat uns immerhin versprochen, ein gutes Wort bei Famtara Fienna für uns einzulegen. Und laut ihr ist diese Frau sehr vernünftig.“
„Falls man etwas auf Tiandas Wort geben kann. So etwas ähnliches erzählt sie uns schon eine Weile und alles was wir bekamen ist Essen und Krokodilstränen“, meinte Scynra mürrisch, „Wenn sie es ernst meint, sollte sie sich besser beeilen, sonst wird ihr gutes Wort bald niemandem mehr nützen.“
„Solche Dinge dauern. Verhandlungen. Politik. Verschiedene Interessen, die in Einklang gebracht werden wollen. Haben wir einfach ein bisschen Geduld“, sagte Toran, „bis dahin können wir die Zeit nutzen, um uns besser kennenzulernen. Wie habt ihr hierhergefunden, Callan, Clary? Wie lautet eure Geschichte?“
„Nun, die ist ziemlich lang“, sagte Callan vage, „und wir haben auf dem Weg einige Freunde verloren.“
„Freunde?“, fragte Toran, „die sind in Deovan seltener als Geschenke.“
„Wir fanden sie auch nicht in Deovan, sondern in Anntrann“, ergänzte Clary, „und ich weiß nicht mal, ob sie selbst sich als unsere Freunde bezeichnet hätten. Aber für mich waren sie es.“
„Für mich auch“, fügte Callan nach kurzem Zögern hinzu.
„Eine bemerkenswerte Einstellung“, sagte Toran, „nicht so sehr für eine Blue Mind vielleicht, aber für einen Nehmer gewiss. Du bist etwas sehr Besonderes, Callan.“
„Das sind wir wohl alle“, meinte Callan, „andernfalls wären wir nicht hier. Was auch immer dieser Ort jetzt sonst ist, schwer zugänglich ist er auf jeden Fall.“
„Man sagt, der Weg nach Cestralia öffne sich nur für jene, deren Sehnsucht nach ihm groß genug ist“, sagte Toran, „so war es auch bei mir. Ich habe mich in Deovan nie Zuhause gefühlt. Nicht während meiner flüchtigen Erfolgswellen und ganz sicher nicht im Elend des Invisible Land. Ich denke, da bin ich nicht der einzige. Wahrscheinlich träumt sich jeder Have-Non fort, der ein paar Nächte hoffnungslos und hungrig in Pisse und Kälte verbracht hat und sich die Erinnerungen an seine letzte, entwürdigende Arbeit aus dem Kopf zu kotzen versucht.
Und ich weiß auch nicht, warum ausgerechnet ich das Glück hatte, dem zu entrinnen. Aber gerade als ich meine Niere für eine Handvoll Dominanten und ein schäbiges Essen an einem Organhändler verschachert hatte, der im Ruf stand, sich manchmal über Gebühr bei seinen Lieferanten zu bedienen, ist es passiert. Ich lag schon auf dem Behandlungstisch und der Feinmetzger hatte sein Skalpell gezückt, als plötzlich eine Tür erschienen ist. Direkt über mir. Zum Glück war ich nicht gefesselt – die blasen einem einfach klassisch das Hirn weg, wenn man fliehen will – und so hab ich meine Hand ausgestreckt und sie geöffnet. Der Doc hat noch gefragt, was die Scheiße soll und hat gesagt, dass es für ’nen Rückzieher jetzt zu spät ist, wenn er mir nicht das Essen wieder aus dem Bauch schneiden soll. Der wird ziemlich dumm geglotzt haben als sein Lieferant plötzlich nicht mehr abkömmlich war. Wird sicher ein Spaß für ihn gewesen sein, das seinem Chef zu erklären. Vielleicht musste er ja selbst Ersatz leisten. Wünschen würde ich es ihm.“
„Eine Tür?“, fragte Callan neugierig, „wie sah sie aus?“
„Sie war Blau, mit kitschigen Wölkchen darauf. Ein wenig so wie wie aus einem Kinderbuch, wie manche Völker sie verwenden“, erwiderte Toran.
Clary und Callan sahen sich überrascht an.
„Genau so eine Tür haben wir auch gefunden. In Anntrann“, erklärte Clary.
„Diese Türen können überall auftauchen“, steuerte der schreibende Thomas bei, „selbst Mitten im Weltall. Sie sind nicht ortsgebunden, auch wenn manche meinen, dass es ein paar feste Zugänge gibt. Gut möglich, dass der in Anntrann dazugehört. Oder auch nicht. Aber ein vorzügliches Versteck wäre es.“
„Mag sein“, sagte Toran, „aber aus Anntrann nach Cestralia zu kommen ist schon ein erstaunlicher Ritt. Ich hoffe nur, ihr habt die Technik dort nicht angerührt. Da erzählt man sich wilde Geschichten drüber.“
Callan schwieg dazu, behielt aber seine Gesichtszüge mit Mühe im Griff, auch wenn Torans Worte seine ohnehin brodelnden Ängste noch mehr schürten. Er musste Scynra auf seine Heilung ansprechen. Er wusste nur noch nicht, wie.
„Wie ist deine Geschichte, Makra?“, fragte Clary, um die Stille zu vertreiben , „ich will dir auf keinen Fall zu nahe treten, aber soweit ich weiß, stehen die meisten Andrin eher nicht auf Harmonie.“
„So kann man es auch ausdrücken“, sagte Makra lachend, deren Tränen inzwischen getrocknet schienen, „und nein, du trittst mir nicht zu nahe. Man könnte durchaus sagen, dass ich pervers bin. Sowohl nach den Maßstäben meines Volkes wie nach denen anderer. Wie jede brave Andrin genieße ich es, anderen Schmerzen zuzufügen. Ich berausche mich an Unterwerfung und Macht und an den Schreien meiner Opfer. Doch ich verachte Zwang und seelisches Leid. Ich suche nach Hingabe, nach Hörigkeit, nach Liebe gar, wenn man ein so große Wort wählen möchte – und nicht nach widerwilliger Knechtschaft. Auch am Töten und Verstümmeln habe ich wenig Interesse. Mich reizt die Verschmelzung von Lust und Schmerz. Die feine Linie dazwischen. Aber ich respektiere Grenzen. Auch, wenn ich gerne helfe, sie zu verschieben.“
Sie lachte mädchenhaft, als sie die staunenden und peinlich berührten Gesichter von Clary und Callan sah.
„Ich sagte ja, ihr würdet mich für pervers halten“, fuhr Makra kichernd fort, „aber, beim Ministeriums, mein Volk tat das auch. Ich hatte kein leichtes Leben, so viel könnt ihr mir glauben. Und ich habe mir oft gewünscht, anderswo zu sein. Irgendwie einen Weg zu finden, um all dem zu entkommen. Doch selbst, wenn ich nicht missraten wäre, so gäbe es ja immer noch die Bedrohung des Ministeriums für Wesensentkernung, das mich einsammeln würde, wenn ich alt genug wäre, um mir meine kleine, aus der Art geschlagene Seele aus der wohlgeformten Brust zu pflücken.
Und die hätten natürlich auch nie zugelassen, dass ich mich einfach so aus dem Staub mache. Ich meine, manchen Andrin gelingt das. Mit Raumschiffen, Gerätschaften oder Kontakten ihrer Opfer und gelegentlich mit einem Reisekatalog von Endless Horizons, den unsere Besatzer übersehen haben. Aber für das eine fehlte mir die Rücksichtslosigkeit und für das andere das Glück. Jedenfalls habe ich vor einige Wochen – zumindest sagt mir das mein Zeitgefühl – eine sehr unangenehme Begegnung gehabt.
Ich hatte schon länger auf der Abschussliste von zwei anderen Andrin, namens Kron und Risani, gestanden, die mich für leichte Beute hielten. Ein Opfer, das sich nicht groß wehren würde und das sie sich zum höchsten Vergnügen aufteilen wollten.
Sie fanden mich, als ich das Ahminicum verließ. Eine Art Safe-Space, in dem Entführungen und schwere Folter verboten sind und in dem ich mich gerne aufhielt. Es war eigentlich ein schöner Abend gewesen. Leckeres Essen, nur wenige meiner rücksichtslosen Artgenossen, die mich mit ihrer Anwesenheit belästigt hatten und ein paar angenehme Stunden mit einem verirrten Bravianer, der sich freiwillig in meine Obhut begeben hatte, nachdem ich ihm die Alternativen vor Augen geführt hatte.
Aber es war nicht nur das gewesen. Der Mann hatte durchaus gewisse … Neigungen gehabt. Und als ich ihn verließ, war er sehr glücklich gewesen. Nicht unbeschadet, aber glücklich. Und auch ich war guter Stimmung. Ja, ich habe Garnenn – so hieß der Mann – wirklich gemocht. Ich war nicht verliebt, soweit würde ich nicht gehen, aber ich war durchaus an seinem Wohlergehen interessiert. Und es ging nicht nur um Schmerz und Vergnügen. Es war auch etwas Intellektuelles zwischen uns. Der Mann war in seiner Welt Biologe gewesen und sehr belesen, aber auf eine nicht angestaubte Art. In Gedanken hatte ich mir ausgemalt, dass wir uns in Andraddon eine Zuflucht schaffen könnten, dass wir eine Art seelische Symbiose erreichen könnten, während ich eigentlich nur vor die Tür gegangen war, um etwas Zubehör aus einem nahen Geschäft zu besorgen und das mit ihm anzustellen, um das er mich gebeten hatte.
Vielleicht war das der Grund gewesen, aus dem es meinen Häschern so leichtfiel, mich zu überrumpeln. Es war nicht unsere erste Begegnung gewesen und zweimal war es mir bereits gelungen, sie in die Flucht zu schlagen und ihnen ordentlich die Fresse zu polieren. Aber diesmal, berauscht und abgelenkt wie ich war … tja, sie haben mich völlig überrascht. Die Pisser haben Elektroschocks benutzt und meinen paralysierten Arsch in einem Sack in ihr Versteck geschleift.
Lustigerweise hat mein letzter bewusster Gedanke Garnenn gegolten und ich habe mich gefragt, was wohl aus ihm werden würde, nun wo er allein im grausamen Andraddon gestrandet war. Doch als ich im Heiligtum von Kron und Risani angekommen war, war diese Sorge erst mal vergessen. Die beiden verstehen sich gut auf den Einsatz von Säuren und sie haben sich nicht gescheut, mir ihre Sammlung hautnah zu präsentieren. Sie haben mit meinen Händen angefangen. Haben davon gesprochen, wie die Lösung sich langsam durch die Hautschichten fressen und die Finger sauber skelettieren würde. Es würde Stunden dauern, sagten sie. Und sehr schmerzhaft sein.
Sie haben meine Hände eingetaucht und dann beschissenen Smalltalk geführt, während sie mit einem Auge auf den Prozess gestarrt und Junkfood in sich reingefressen haben. Als die ersten Schäden an meinen Händen sichtbar gewesen waren, haben sie miteinander diskutiert. Kron wollte mich am ganzen Körper entstellen. Mich zur hässlichsten Andrin in ganz Andraddon machen und mich dann wieder freilassen, ausgestattet mit Überwachungstechnik, um meine seelischen Qualen zu verfolgen und vielleicht Wetten zu veranstalten, wie schnell ich mich umbringe. Risani hingegen war mehr daran interessiert, zu erfahren, mit wie wenig Muskelfleisch sich ein Leben noch aufrechterhalten ließ.
Der Disput wurde nicht ganz entschieden, aber ich glaube, Risani hätte gewonnen, denn dann sind sie angeregt durch meine Qual übereinander hergefallen und hätten mich sicher erst wieder bemerkt, nachdem mir das letzte Fleisch von den Handknochen gezischt wäre. Trotzdem war gerade das mein Glück gewesen. Denn während ich mich mit den Erinnerungen an Garnenn getröstet hatte und mein Artian-Re dabei aufloderte wie ein Sonnennachtfeuer, ist ein Tor erschien. Ganz ähnlich wie bei Toran.
Es hatte direkt vor mir geschwebt. So schön und kindlich naiv hat es ausgesehen. Und zunächst war sein Anblick selbst wie eine Folter gewesen. Denn ich konnte weder Hände noch Füße benutzen, um diese Tür zu öffnen. Aber dann habe ich schließlich meinen Kopf vorgestreckt und meine Zunge. Eigentlich albern, denn was sollte es schon bringen an einer Tür zu lecken, die man nicht öffnen kann. Aber irgendwie hat das gereicht. Der bloße Kontakt hat ausgereicht und die Tür hat mich eingesaugt. Mich eingesammelt wie eine verlorene Tochter. Und dann war ich hier.“
Damit beendete Makra ihre Erzählung und legte ihre verunstalteten Hände in ihren Schoß.
Clary war nicht entgangen, wie fasziniert Callan den Ausführungen der Andrin gefolgt war. Ja, sie war absolut davon überzeugt, dass er sich an Garnenns Stelle gesehen hatte, während sie erzählt hatte und sie hätte sicher ihrerseits gerade keine Schwierigkeiten damit gehabt, ihn auszuknocken und in einen Sack zu stopfen.
„Eine grausame, aber faszinierende Geschichte“, fand Callan, „du hast sogar noch mehr durchmachen müssen als ich. Ich wusste bislang nicht viel über die Andrin, außer, dass sie grausamer sind als jeder Deovani. Es ist schön, dass es von jeder Regel eine Ausnahme gibt. Und dann auch noch eine so sympathische. Es freut mich wirklich, dass du heil – oder zumindest beinahe heil – hierhergelangt bist.“
„Danke“, sagte Makra geschmeichelt und ihre Blicke ruhten nicht gerade desinteressiert auf Callan, während ihre vernarbten Finger zärtlich mit ihrer Peitsche spielten, „ich gebe mein Bestes, um mein dunkles Erbe im Zaum zu halten.“
„Du bist kaum besser als deine Artgenossen“, urteilte Scynra hart und verächtlich, entgegen ihrer noch vor kurzem gezeigten Fürsorglichkeit, „wenn dir das Wohlergehen deines teuren Garnenn wirklich wichtig gewesen wäre, hättest du versucht, ihm die Flucht zu ermöglichen, statt deine kranken Gelüste an ihm auszuleben, ob nun freiwillig oder nicht. Du hättest ihm diese Flausen ausreden müssen. Ein Lebewesen ist kein Spielzeug. Und ein Körper ist nicht dazu da, ihn zu verletzten. Körperliche Unversehrtheit ist ein hohes Gut.“
„Ist das nicht ein bisschen unfair“, sprang Callan Makra instinktiv zur Seite, „immerhin führt ihr Gesunder doch ebenfalls grausame Experimente an euren Opfern durch. Wie kannst du es dir da rausnehmen, das freiwillige Vergnügen von Erwachsenen zu tadeln?“
Du Idiot, dachte Clary und konnte nicht verhindern, dass sie sich aus lauter Fremdscham mit der flachen Hand vor den Kopf schlug.
„Schon amüsant, dass du der Schlangenfrau zugestehst, eine Ausnahme von der Regel zu sein, mich aber mit allen aus meinem Volk über einen Kamm scherst“, sagte Scynra stirnrunzelnd, „dabei bist du es, der dem Klischee über seine Herkunft zu vollen Ehren gereicht. Du bist voller Gier. Der Gier nach törichten Grenzerfahrungen, aber auch der Gier nach Heilung, nach Leben.“
Makra Kopf kam etwas näher und durch ihre Maske hindurch schnüffelte sie wie ein Raubtier, das Witterung aufnahm. „Du stirbst. Du löst dich auf. In diesem Moment. Ich rieche es. Ich rieche, den Verfall an deinem Körper. Du bist ein Todgeweihter und dennoch beleidigst du die einzige, die dein Leben vielleicht aus dem Griff des Todes zerren kann.“
„Es … es tut mir leid“, wimmerte Callan schockiert, als er begriff, was er getan hatte, „ich habe das nicht so gemeint … ich …“
„Hör auf!“, schrie Scynra schneidend wie das Skalpell in ihrer Hand, „quäle meine Ohren nicht mit deinem schleimigen Gestammel. Dass du es bisher nicht benutzt hast, ist das einzig lobenswerte an dir. Ein anderer Vertreter, deines Volkes, ja vielleicht sogar Toran, hätte seinen Charme spielen lassen, hätte verhandelt und mir das Blaue vom Himmel versprochen, damit ich ihm helfe. Doch das hast du nicht. Du bist zwar egoistisch, aber du hast zumindest noch etwas Authentizität in dir. Doch selbst, wenn es anders wäre, würde ich dir helfen. Ich bin nämlich nicht so, wie du es mir vorwirfst. Ich BIN keine Gesunderin, sondern eine Sanisa im ursprünglichen Sinn. Und mein Begehr ist die Heilung, nicht die Ernte. Also mach dich frei, unfreundlicher Mann und zeig der süßen Andrin, wogegen sie ihre Peitsche schwingen könnte.“
Callan wechselte einen beschämten Blick erst mit Clary, dann mit Makra und schließlich mit Scynra. „Ist das wirklich nötig?“, fragte Callan, „ich glaube nicht, dass meine Hautveränderung schon wieder sichtbar ist und …“
„… ich rieche sie“, beharrte Scynra, „und dein Schamgefühl solltest du dir hier schnellstens abgewöhnen. Wir alle haben unsere Notdurft und Körperhygiene bereits unter der Beobachtung der roten Soldaten durchführen müssen und das wird auch euch bevorstehen. Also runter mit deinem Hemd.“
Da Callan keinen Sinn darin sah, der Gesunderin weiter zu widersprechen, zog er sich tatsächlich aus und legte seine Scham zumindest etwas ab, als er Makras bewundernde Blicke auf sich spürte. Auch Clary schien zumindest nicht unbedingt abgestoßen vom Anblick seines halbnackten Körpers. Die Aufmerksamkeit der umstehenden Soldaten, von denen einige verächtlich kicherten, war da schon weit weniger angenehm.
Der Gesichtsausdruck der Gesunderin – oder Sanisa, wie sie sich selbst bezeichnete – blieb hingegen allein von wissenschaftlichem Interesse geprägt. Selbst, als sie begann ihn abzutasten. Das mochte daran liegen, dass sie sich zuvor Handschuhe angezogen hatte, wahrscheinlicher aber daran, dass sie schlicht kein Interesse an Callan hegte.
„Es ist noch nicht groß, das will ich eingestehen“, sagte sie, als ihr Finger eine Stelle direkt unterhalb von Callans linker Brustwarze ertastete und ihren Finger mühelos in die münzgroße, graue Öffnung steckte.
Callan zuckte dabei nicht mal mit der Wimper. Makra, Toran und selbst Clary war die Abscheu angesichts der Prozedur aber durchaus anzusehen.
„Ein schöner Schlamassel“, befand Scynra, „Progressive Zelldenaturierung verbunden mit dem Verlust sensorischer Fähigkeiten. Doch das ist es nicht allein. Es ist keine bloße Nekrose. Ich denke, hier ist ein Mikroorganismus involviert. Ein Einzeller vielleicht. Oder ein Pilz.“
Scynra zog den Finger heraus und betrachtete die schleimige Substanz. Dann öffnete sie mit der anderen Hand eine grauen-grüne Arzttasche, die neben ihr auf dem Boden lag und holte eine Art handtellergroßen Minicomputer mit einem Display und einer fingergroßen Öffnung hervor. Als sie ihren mit der Substanz benetzten Finger hineinschob, leuchtete es kurz hellgrün auf, bevor sie nickte, als hätte sich eine Vermutung bestätigt.
„Twollex-Sporen“, sagte Scynra, „ein Präsent aus den Pilzgärten von Qui Watsche, das wir versehentlich in Hyronanin über die Portalmaschine eingeschleppt hatten. Von dort muss es sich in andere Welten ausgebreitet haben. Zum Glück wächst der Twollex-Pilz nur unter speziellen Bedingungen. Denn andernfalls hätte er bereits das halbe Multiversum in einen geistlosen Superkomplex umgewandelt, gegen den selbst ein Planetenkrebs eine Schönheit ist. In den meisten Welten ist sein Wachstum jedoch extrem gehemmt. Doch in feuchten Gebieten mit genügend organischen Prozessen ist zumindest eine Infektion nicht undenkbar, auch wenn sie jedes nicht immungeschwächte Wesen eigentlich symptomfrei durchlaufen sollte. Hast du dich denn an einem solchen Ort aufgehalten, bevor du die Veränderungen das erste mal bemerkt hast?“
„Ja und nein“, sagte Callan, der spürte wie ihm die Nervosität den Schweiß auf die Stirn trieb. War ja klar, dass er sich irgendeinen exotischen Scheiß einfangen musste, „ich war in einer Sumpflandschaft gewesen, allerdings war sie holografisch. Nur eine Kampfarena im „House of Life“. Ein Todesparcours, der den Eindruck erwecken wollte, ein Sumpf zu sein. Auf meiner Flucht aus der Arena bin ich durch eine Reinigungsflüssigkeit geschwommen. Also selbst, wenn ich mir dort etwas eingefangen haben sollte, sollte es eigentlich verreckt sein. Aber es ist schon unwahrscheinlich, dass das überhaupt passiert ist.“
„Nicht unbedingt“, meinte Scynra nachdenklich, „die Augen sind leicht zu täuschen. Aber für glaubwürdige olfaktorische und sensorische Illusionen muss man oft tiefer in die Trickkiste greifen. Soweit ich weiß, werden für solche Zwecke häufig Extrakte aus der Atmosphäre und den Gegebenheiten der Orte verwendet, die simuliert werden sollen. Aerosole, Staub, Luftproben, vaporisiertes organisches Material. Es ist durchaus denkbar, dass die Sporen auf diesem Weg dorthin gelangt sind. Und zusammen mit der Luftfeuchtigkeit, die die Betreiber des Parcours sicherlich hochgeregelt hatten, könnten die Bedingungen günstig genug gewesen sein.“
„Was die Reinigungsflüssigkeit betrifft ….“, Scynra hielt ihre behandschuhten Finger aneinander und ließ sie rhythmisch kreisen, was wahrscheinlich ein Zeichen höchster Konzentration war.
„… du hast vermutetet, dass NOCH nichts zu sehen sein würde“, erkundigte sich Scynra, „also hast du irgendetwas verwendet, um den Verlauf zu stoppen oder es einzudämmen?“
„Ich habe einen verbesserten Super-Nehmer-Organismus, falls das eine Rolle spielt“, antwortete Callan, „und Clary hat mir Naniten aus Anntrann verabreicht.“
„Ja …“, sagte Scynra immer noch grübelnd, das „das ergibt absolut Sinn. Die Naniten haben in Cestralia ihre Wirkung eingebüßt und können ihrer Aufgabe nun nicht mehr nachkommen, sodass die Twollex-Spuren nicht mehr von ihnen gehemmt werden.“
„Was bedeutet das konkret?“, fragte Clary besorgt.
„Nun, dass bedeutet, dass wir im Moment alle dringend jedweden Hautkontakt mit ihm vermeiden sollten und allzu enthusiastische Peitschenhiebe besser auch“, sagte Scynra leise, jedoch mit einem sarkastischen Lächeln in Makras Richtung, „offenbar haben wir es hier mit einem superresistenten Twollex-Stamm zu tun, dessen Entwicklung von der stimulierenden Umgebung der Reinigungsflüssigkeit angestoßen wurde. Ohne dein privilegiertes Immunsystem und deine winzigen Freunde aus Anntrann wärst du jetzt schon ein Haufen Pilzschleim.“
„Was?!“, fragte Callan entsetzt, „heißt das … ich … heißt das, ich muss sterben?“
„Wenn mich das Wohl des Multiversums auch nur einen Deut mehr interessieren würde als das Leben meiner Patienten, würde ich dich höchstpersönlich in einem atomaren Hochofen verfeuern. Aber das ist nun mal nicht der Fall. Also werde ich versuchen, dich zu behandeln“, sagte Scynra und Callan hatte das Gefühl, den dicken Stein, der ihm vom Herzen fiel, regelrecht aufschlagen hören zu können.
„Ist der Pilz denn wirklich so infektiös?“, fragte Makra besorgt.
„Solange er therapeutisch im Griff gehalten wird, ist das Infektionsrisiko zumindest sehr gering“, kommentierte Scynra, „und zum Glück kenne ich vielleicht eine Methode, die wir anwenden könnten. Aber mache dir keine zu großen Hoffnungen. Gesund werden wirst du nicht. Trotzdem wirst du viele Jahre damit leben können und uns alle nicht mit in den Tod reißen. Wenn wir Glück haben.“
„Danke!“, sagt Callan, ein wenig beschämt über so viel Freundlichkeit, „das werde ich dir nie vergessen.“
„Das ist kein Geschäft“, sagte Scynra, „und ich scheiße auf deine Dankbarkeit. Man sollte zu anderen freundlich sein, egal ob sie einem nützen oder nicht. Das Leben ist wertvoll. Das ist der Grund, warum ich dir helfe. Aber wenn du deinen Fehler einsiehst, dann arbeite an dir. Das ist der beste Dank, den du mir geben kannst.“
„Versprochen“, sagte Callan und grinste. Diesmal wurde dieses Lächeln zumindest ein wenig von Scynra gespiegelt.
„Schon faszinierend, wie die Dinge jenseits von Deovan gehandhabt werden, oder?“, kommentierte Toran.
„Lebewesen sind wie Spiegel“, sagte Scynra wie beiläufig, während sie erneut zu ihrer Tasche griff, „sie reflektieren ihre Lebensumstände. Zwar jedes auf seine eigene Weise, aber dennoch tun sie es.“
Dann holte sie einen leuchtenden, gläsernen Pilz hervor, dessen Lamellen sich wie Flügel über seinen Hut stülpten.
„Den habe ich im Wald gefunden. Laut meiner Analysen hat er besondere Eigenschaften. Er ist in der Lage technische Geräte in eine Art Bio-Film zu hüllen, der die Abstoßungsreaktion von Cestralia abmildert. Damit könnten deine Nanobots ihre Funktion wiederherstellen und ihren Kampf gegen den Pilz erneut aufnehmen“, erklärte Scynra, „Pilz gegen Pilz. Das entbehrt nicht einergewissen Ironie, oder?“
Callan nickte und öffnete den Mund, bereit den Pilz zu empfangen.
„Das wird nicht nötig sein“, sagte Scynra und holte noch eine Vorrichtung hervor, die einer Kombination aus Trichter, Mixer und Spritze glich und legte den sphärischen Pilz gerade herein, als sie ein rot-schimmernder Fuß mit voller Wucht unterm Kinn traf. Scynras Maske verrutschte und sie spuckte Blut, während das Heilmittel auf den Boden fiel. Callan wollte instinktiv eingreifen und hob seinen Pinpointer als ihm der Kopf an den Haaren nach hinten gerissen wurde und ein Klumpen fluoreszierender Speichel in seinem Gesicht landete, während er ein glühendes Brennen an seinem Rücken spürte. „Es reicht!“, spie ihm eine Cestral-Soldatin erbost entgegen, „Ihr Dunkelweltler fresst unser Essen, atmet unsere Luft und betrachtet unsere unvergleichlichen Wunder und alles, was ihr uns dafür gebt, sind Beschwerden, Krankheit, Respektlosigkeit und Gewalt. Nicht nur, dass die Körperschänderin unsere heiligen Pflanzen entweiht, nein ihr bringt auch noch Seuchen und bedroht uns mit euren widerlichen Waffen.“
„Aber ihr seid doch nicht besser“, wandte Thomas ein, der ausnahmsweise seinen Stift liegen ließ.
„HALT DIE FRESSE!“, donnerte ein anderer Soldat und schlug seine gewehrartige Schusswaffe so fest ins Gesicht des Schriftstellers, dass diesem ein paar Zähne abbrachen, bevor der Cestral dieselbe Behandlung Stift und Papier zuteil werden ließ.
Makra, die dem bisher still zugesehen hatte, sprang auf und schwang ihre Peitsche, womit sie einen der Soldaten zumindest so sehr verletzte, dass dieser ein Stück zurückstolperte.
Daraufhin brach endgültig die Hölle los und die anderen Wächter mischten sich in den ungleichen Kampf ein. Sie ließen ihre Waffen sprechen, während sich die dreiköpfige Traumschlange wie eine lebendige Rakete hinabstürzte, um das zu verschlingen, was die Soldaten übriglassen würden.
Callan versuchte sich loszureißen und schaffte es mit seiner besonderen Kraft und Schnelligkeit irgendwie an seine Waffe zu gelangen. Doch sein Schuss, den er hektisch auf die Traumschlange abgab, ging genauso fehl wie die wütenden Salven und Speerstiche der Soldaten.
Zumindest dieses Mal. Denn schon wurde nachgeladen und erneut ausgeholt als …
„Hört verflucht nochmal auf!“, schrie Clary und ihre wütende, enttäuschte Stimme echote wie ein Tadel der Götter durch die Köpfe aller Anwesenden, während Bilder voller Sanftheit und Harmonie ihre Gedanken fluteten. Schockiert und weinend ließen Scynra, Makra, Toran, Thomas, Callan und die Soldaten ihre Waffen fallen, während ihre Blicke fest im Griff einer tranceartigen Mentravia gefangen waren. Sogar die Traumschlange war davon betroffen und blieb einfach mit bedrohlich geöffnetem Maul in der Luft stehen.
„Vielen Dank!“, hörte Clary eine Stimme sagen. Doch sie stammte nicht von den entrückten Soldaten oder den anderen, ebenfalls von der Mentravia betroffenen Gästen, sondern gehörte einer schlanken, großgewachsenen, sehr traurigen Cestral mit langen, weißen, lockigen Haaren.
„Ich hatte immer befürchtet, dass so etwas eines Tages passieren würde“, erklärte die Unbekannte bekümmert, „erst recht, nachdem Tianda mir von der aufgeheizten politischen Lage berichtet hatte. Und ohne dich WÄRE es passiert.“
„Wer bist du?“, fragte Clary überrascht.
„Ich bin Fienna. Famtara der Cestral. Ein Amt, das ich um keinen Preis wollte, auch wenn ich inzwischen froh bin, es zu haben“, erwiderte Fienna, „und du musst eine Traumsaat sein.“
„Eine was?“, fragte Clary ratlos, während sie zu den verzückten „Opfern“ ihrer Mentravia blickte, die noch immer nicht wieder in der Wirklichkeit angekommen waren. Anders als damals auf ihrem Flug nach Anntrann, schien Clary keine Konzentration mehr zu benötigen, um dieses Erlebnis aufrechtzuerhalten. Sogar die in der Luft treibende Traumschlange wirkte jetzt nicht länger bedrohlich, sondern eher wie ein verschmuster Kuscheldrache, der sich verträumt zusammengerollt hatte.
„Welche Bilder schenkst du ihnen?“, fragte Fienna statt auf Clarys Frage zu antworten.
„Ein harmloses Ballspiel auf einer sommerlichen Wiese“, sagte Clary entschuldigend, „auf die Schnelle ist mir nichts Besseres eingefallen.“
„Die einfachsten Bilder sind oft die besten“, kommentierte Fienna gutmütig, „vor allem, wenn sie direkt aus dem Herzen kommen. Aber als Traumsaat weißt du das oder ahnst es zumindest. Ihr seid Seelen, die uns Cestral verloren gingen. Wie, weiß niemand ganz genau. Auch wenn die meisten meinen, es geschehe im Rahmen einer zu langen und ausschweifenden Mentravia, dass Seelen sich ablösen und abgetrieben werden und dann irgendwann ihren Weg in ein Neugeborenes finden. Es passiert nicht oft, aber es passiert. Solche Kinder sind oft sehr fantasievoll – und begabt – und fast immer zieht es sie zurück zu ihrem Ursprung. Nach Cestralia.“
„Ich soll einem Neugeborenen seinen Körper weggenommen haben?“, fragte Clary schockiert.
„Du kannst nichts dafür“, erwiderte Fienna, „du bist, was du bist. Und es ist gut so. Denn andernfalls wären diese Leute tot und meine Leute wären zu Mördern an Unschuldigen geworden. Von solch einer Tat gäbe es kaum noch ein Zurück.“
„Dann geschieht das alles nicht auf deinen Befehl?“, fragte Clary, während sie das von Scynra zubereitete Heilmittel aufsammelte, welches zumindest augenscheinlich noch intakt war. Zum Glück.
„Nein, ganz und gar nicht“, antwortete Fienna, „selbst wenn meine Befehlsgewalt nicht so beschränkt wäre, wie sie es ist, könnte ich niemals solche Gräuel verantworten. Ich wurde als Kriegsherrscherin bestimmt. Nicht mehr und nicht weniger. Und allein in diesem Bereich habe ich zu entscheiden. Bei allem anderen mögen meine Leute mir folgen oder auch nicht. Was gut wäre – normalerweise – denn ich verachte Hierarchien genauso wie wir alle. Aber in letzter Zeit stimmt etwas ganz und gar nicht mit Cestralia und da kann ich jedes Fünkchen Macht gebrauchen, um dieses Übel aufzuhalten.
Doch das will ich nicht hier besprechen. Niemand weiß, wie lange deine Erzählung sie gefangenhält und wenn jemand herausfinden sollte, dass mich nicht dasselbe Gedankenfieber befallen hat wie die meisten, könnte das übel ausgehen. Für uns alle. Also kommt besser mit mir. Vielleicht finden wir gemeinsam eine Lösung.“
Clary sah Fienna an und fragte sich für einen Moment, ob sie ihr vertrauen konnte. Leider war Clarys Menschenkenntnis jedoch nicht die beste und sie neigte noch immer dazu, Personen Vertrauen zu schenken, wenn sie ihr nicht auf Anhieb unsympathisch waren. Da das auf Fienna ganz und gar nicht zutraf, blieb ihr nichts anderes übrig, als ihr zu glauben. Egal, welche Konsequenzen das für sie am Ende haben würde.
„In Ordnung“, sagte Clary, „ich hoffe, du hast Recht. Leider kann ich aber Callan und die anderen nicht aus ihrem Bild entlassen, ohne deine Soldaten und die Schlange ebenfalls ins Hier und Jetzt zurückzubringen. Mitsamt ihrem Hass.“
„Das ist nicht schlimm“, sagte Fienna und machte eine Handbewegung woraufhin sich hinter ihr ein Wesen materialisierte, das wie eine Mischung aus einer Schildkröte, einem Bären und einem zweiköpfigen Rhinozeros aussah, jedoch mit den sanftesten und agressionslosesten Augen, in die Clary je geblickt hatte. Der Rücken des Wesens war so breit und groß wie ein Doppelbett und mit der hornigen Verdickung an seinen Rändern sah er sogar ein wenig wie eines aus.
„So etwas habe ich noch nie gesehen oder auch nur davon gelesen“, meinte Clary staunend.
„Das ist kein Wunder“, sagte Fienna, „Nartial sah gestern auch noch völlig anders aus. Viele der Geschöpfe in Cestral können ihre Form verändern und tun es sehr gerne und auf kreativste Weise. In seiner jetzigen Gestalt sollte er in der Lage sein, uns sicher an unser Ziel zu bringen.“
Gemeinsam machten sie sich daran erst Callan und dann Toran, Thomas, Scynra und Makra auf den Rücken von Nartial zu legen, der unerwartet weich war. Der sanfte Koloss ließ das klaglos mit sich machen und beschwerte sich auch nicht, als schließlich Clary und Fienna auf ihm Platz nahmen.
„Kann er sprechen?“, fragte Clary, die sich ein wenig unwohl dabei fühlte, Nartial so viel Last aufzuladen.
„Er ist momentan eine Sie“, sagte Fienna grinsend, „aber ja, in früheren Formen konnte er das und seine Intelligenz ist der unseren mindestens ebenbürtig. Aber gerade hat er sich für eine schweigende Gestalt entschieden. Also musst du mit mir vorliebnehmen, wenn dir nach Konversation zumute ist. Ich hoffe, das ist nicht schlimm?“
„Absolut nicht“, meinte Clary lächelnd und grinste noch breiter als sie Callan dabei zusah, wie sein Fuß zuckend einem imaginären Ball nachstellte.
„Wohin geht es nun?“, fragte sie.
„Nach unten“, antwortete Fienna und ohne das Clary darauf vorbereitet war, grub sich Nartial zusammen mit seinen Passagieren in den Untergrund von Cestralia hinein.
~o~
Anfangs war Clary noch ziemlich überrumpelt, als sich Nartial wie ein übergroßer Maulwurf in den Erdboden wühlte. Doch wie durch ein Wunder stieß sie sich weder den Kopf noch fiel sie herunter und es gelangte auch keine Erde in ihre Augen oder ihren Mund, was wohl daran lag, dass das Geschöpf sie mit einer Art unsichtbaren Kuppel von solchen Unannehmlichkeiten abschirmte.
Dieser Schutz musste aber auch nicht lange aufrechterhalten werden. Denn schon nach wenigen Metern endete das Erdreich um sie herum und wich einem Hohlraum, in dem bunte Schlieren durch einen matten, bläulichen Nebel trieben. Nartial schwebte darin mit ihnen wie ein Raumschiff und Clary fühlte sich, als würde sie durch eine freundlichere Version des Zwischenraums treiben, während die miteinander verknüpften Wurzeln der Bäume und anderen Pflanzen über ihr wie hungrige Vogelkinder nach den Schlieren schnappten und sie gleich einer Nährlösung in sich aufnahmen, bevor von irgendwoher neue herantrieben. Die Luft roch würzig, gehaltvoll und lebendig wie frisches, sauberes Blut und Clarys Kopf wurde schwer, während ihr Herz immer leichter wurde. Vielleicht lag es daran, dass sie in den Schlieren Bilder zu sehen glaubte. Personen, Tiere, ganze Szenen gar, die wie ein Daumenkino vor ihr Form annahmen.
Clary wollte zu einer Frage ansetzen, doch Fienna stahl sie ihr von den Lippen. „Dies ist der Glasnebelraum“, erklärte sie, „Das Unterbewusstsein von Cestralia. Hier sind wir ungestörter und kommen schneller voran als an der Oberfläche. Und es ist sogar noch schöner.“
„Eindeutig“, sagte Clary staunend, „was trinken die Pflanzen da?“
„Fragmentalien“, erklärte Fienna, „Überreste von Erinnerungen, Fantasien und Mentravien. Sie ernähren sich davon, aber sie vernichten sie nicht. Im Gegenteil, sie fügen sie zusammen, restaurieren sie, bewahren sie.“
„Wie soll das gehen?“, fragte Clary, „alles Leben zerstört etwas, um sich zu ernähren. Das ist die Bürde unserer Existenz.“
„Weil Energie in den meisten Welten ihren Zustand ändern muss“, sagte Fienna, „aber nicht in Cestralia. Hier darf alles seine Form behalten. Es ist die Magie dieses Ortes.“
„Keine sehr zufriedenstellende Erklärung“, bemerkte Clary.
„Nein“, sagte Fienna, „aber eine schöne. Ich könnte dir alles bis ins Detail erklären. Aber es gibt Momente zu lernen und Momente zum Staunen. Dies ist ein solcher. Genieße den Anblick. Unsere Reise ist kurz genug.“
Clary verstand, was sie meinte und versuchte tatsächlich für eine gewisse Zeit einfach nur wahrzunehmen und alles auf sich wirken zu lassen. Die tanzenden Wurzeln, die Bilderstrecken, die Weite und die Tiefe, die sich weit unter ihnen in Form von weitverzweigten Höhlensystemen andeutete, die wie vorgestülpte, dunkle Röhren beinah unheilvoll in den Hohlraum aufragten und nach Abenteurern zu gieren schienen. Nicht, um sie zu fressen, aber doch um ihnen einen ordentlichen, wohligen Schrecken einzujagen. Es war faszinierend, aufregend und entspannend zugleich. Aber Clarys innere Unruhe war nach den Ereignissen im Lager einfach immer noch zu groß.
„Tut mir leid“, sagte sie, „ich hätte leider doch noch ein paar Fragen an dich.“
„Kein Problem“, antwortete Fienna und lächelte verständnisvoll, „Fragen sind ja nicht verboten. Und gerade ist es auch nicht so leicht, sich in Cestralia zu entspannen. Also schieß los.“
„Okay“, sagte Clary etwas verlegen, „zum einen frage ich mich, warum du meinst, dass wir hier unten ungestörter sind als oben. Bist du denn – neben Nartial – die Einzige, die diesen Ort kennt?“
„Nein, absolut nicht“, meinte Fienna kopfschüttelnd, „jedem Cestral und vielen Gästen ist der Glasnebelraum bekannt und es gibt auch ein paar Zugänge, die man ohne wandelbare Helfer erreichen kann. Aber dieser Ort hat die Eigenschaft, dass er Rachegedanken und Wut dämpfen kann. Und das ist nichts, an dem viele von uns gerade Interesse haben. Und vor jenen, die das anders sehen, bräuchten wir uns nicht zu verbergen.“
„Traurig, dass du dich vor deinen eigenen Leuten verstecken musst“, meinte Clary, „als Kind dachte ich immer, das Multiversum wäre trotz einiger Probleme größtenteils friedlich und wunderschön. Und als ich bemerkt habe, was für ein übler Ort Deovan ist, hatte ich zumindest gehofft, dass er eine Ausnahme bildet. Inzwischen jedoch … nun, wenn es sogar hier …“
„Lass dir deinen Optimismus nicht nehmen“, riet Fienna, „sonst vertrocknet dein Herz. Meine Leute sind freundlich und gütig. Ihnen ist nur übles Widerfahren. Aber diese Wunden werden heilen. Ja, sie wären längst geheilt, wenn nicht irgendetwas …“
„Was sind das für Fäden?“, fragte Clary und zeigte auf einige der aus dem Boden ragenden Röhren, deren Ränder sich einige ebenfalls an Wurzeln erinnernde Strukturen gebildet hatten, „Sie sehen anders aus als die Wurzeln dort oben.“
Nein, korrigierte Clary sich innerlich. Das tun sie ganz und gar nicht. An ihnen war nichts Schönes und anders als bei den restlichen Tunneln strahlten aus ihnen wirkliche, greifbare Gefahr heraus.
Fienna kniff die Augen zusammen und ihre Miene verdüsterte sich, „die waren bisher noch nicht da gewesen“, sagte sie. „Nartial, bring uns bitte tiefer.“
Wie ein U-Boot, das sich dem Meeresboden näherte, folgte Nartial ihrem Wunsch und brachte sie beide nah an eine der Röhren heran. Aus der Nähe konnte man erkennen, dass die vermeintlichen Wurzeln nicht aus Holz oder ätherischem Material, sondern aus rosafarbenem, rohem Fleisch bestanden und von dünnen Adern durchzogen waren, die wie im Takt eines fernen Herzens pulsierten.
„Das bedeutet nichts Gutes, oder?“, fragte Clary, die unwillkürlich ein Stück von den Fleischadern zurückwich die durchdringend nach Hass und Verzweiflung stanken und doch einen verlockenden Ruf in ihr Ohr zu träufeln schienen.
„Gewiss nicht“, sagte Fienna erschüttert, „Aber es stützt meine Theorie. Und das ist gut. Denn dann weiß ich vielleicht, wie wir unser Problem bei der Wurzel packen können.“
„Sollen wir sie zerstören?“, fragte Clary, „oder ihrem Verlauf folgen?“
„Nein“, sagte Fienna und sah Clary dabei direkt in die Augen, „ich habe das Gefühl, dass uns das nicht gut bekommen könnte. Aber es gibt vielleicht eine andere Möglichkeit. Doch dabei müsst ihr mir helfen.“
~o~-
„Wo sind wir?“, fragte Scynra als sie auf einem weichen, fragilen, gläsern-blauen Bett erwachte.
„In Sicherheit“, beantwortete Fienna die Frage der Andrin, nachdem Clary sie alle aus ihrer Trance geweckt hatte. Irgendwo würden jetzt auch die wütenden Soldaten zur Besinnung kommen und leider hatte Clary ihre Zweifel, dass das imaginäre Spiel auf der sonnigen Wiese ihren seltsamen Zorn gedämpft hatte.
„Also sind wir Gefangene?“, fragte Thomas misstrauisch, nachdem er frustriert festgestellt hatte, dass sein Schreibwerkzeug nicht bei ihm war.
„Absolut nicht“, widersprach Tianda, die sich genau wie Toran, Scynra, Makra, Thomas, Clary und Callan in dem kreisrunden, mit gläsernen Tier-Mobiles und lebendigen Pflanzen geschmückten Raum eingefunden hatte, „ich hatte euch ja versprochen, dass sich die Famtara um euer Anliegen kümmern würde. Und genau das geschieht nun.“
„Warum wurden wir dann bewusstlos gemacht und hierhergeschleppt?“, erkundigte sich Callan verwirrt, „ich kann mich an Sonnenlicht erinnern, an Gelächter und an einen großen Ball, aber sonst …“
„Das ist meine Schuld“, sagte Clary kleinlaut und vor allem die Blicke von Scynra, Toran und Makra lasteten sofort missbilligend auf ihr, „ich habe euch in eine erzwungene Mentravia eingesponnen.“
„Von Schuld würde ich hier nicht sprechen“, erklärte Fienna und legte ihre Hand sanft auf Clarys Arm, „ohne ihr Eingreifen wäret ihr womöglich schwer verletzt. Oder sogar tot.“
„Deine Soldaten“, kommentierte Scynra nicht als Frage, sondern in Form einer Feststellung, wobei sie nicht etwa Fienna, sondern Tianda tadelnd ansah, die ihrem Blick jedoch auswich.
„So ist es“, meinte Fienna traurig, „meine Leute sind dabei alles zu verlieren, was sie ausmacht. Der Hass zerfrisst sie und ich glaube, dass das einen ganz bestimmten Grund hat.“
„Welchen denn?“, fragte Makra, „ich meine außer der Freude am Leid, die ich nur zu gut kenne.“
„Einen Planetenkrebs“, präsentierte Fienna ernst ihre Vermutung und in den Augen der meisten Anwesenden machte sich eine Mischung aus Erstaunen und Entsetzen breit.
„Deshalb brauche ich euch“, ergänzte Fienna und beugte sich kampflustig vor, „wir werden ihn jagen. Und töten.“