Fortgeschritten – Die Gläsernen Archive von Rihn 3


Clary bekam regelrechte Nackenschmerzen, während sie versuchte, die Höhe der gewaltigen Turmbauten nachzuvollziehen, die vor ihnen aufragten. Genau wie sie gehofft hatte, waren es aller Wahrscheinlichkeit nach keine Bürokomplexe. Vielmehr erinnerten sie die mit Drähten und Dioden verzierten Metallgiganten an hochkant aufgestellte Batterien, an langgezogene, stählerne Bunker, die Schutz vor einer Apokalypse bieten sollten, die in Anntrann quasi der Normalzustand war oder an Aufzüge zu den Sternen.

„Gehen wir wieder?“, fragte Kaira.

„Warum?“, erwiderte Callan verwirrt.

„Weil das hier wie erwartet vollkommen nutzlos ist. Das werden einfach nur Kraftwerke sein. Hört ihr nicht das elektrische Surren? Wenn wir uns dort Zutritt verschaffen, werden wir höchstens gegrillt“, erklärte Kaira genervt.

Dieses „Surren“ hörte auch Clary. Sie war sich bezüglich dessen Ursprung jedoch nicht so sicher wie Kaira. „Das klingt nicht nach elektrischem Strom“, bemerkte sie, „die Tonhöhe passt nicht. Viel zu tief. Außerdem ist das Geräusch unregelmäßig gepulst. Es hat starke Schwankungen in seiner Frequenz. Was immer es ist, Strom ist es nicht.“

„Woher willst du das denn wissen, kleine Blue Mind?“, fragte Kaira sie böse.

„Allgemeinbildung“, erwiderte Clary trocken.

„Du meinst wohl dämliche VR-Spielfilme und Bücher von Leuten, die nie im Leben ein Werkzeug angefasst haben“, erwiderte Kaira spöttisch.

„Sie hat aber recht“, mischte sich Terrin ein, „und das weißt du auch. Du willst einfach nur nicht nachgeben, das ist alles. Außerdem ist dort eine Tür. Also selbst, wenn deine Vermutung stimmen würde, muss ein gefahrloser Zugang möglich sein. Die würden wohl weder biologische noch kybernetische Wesen einer Überspannung aussetzen.“

„Kann schon sein“, nuschelte Kaira zähneknirschend, „Aber selbst wenn ihr recht haben solltet – wir kommen nicht dort rein. Insofern hat sich das eh erledigt.“

Sie zeigte demonstrativ auf die verschlossene, etwa vier Meter hohe Tür.

Lynnra hingegen sah fragend zu der mit diversen Werkzeugen ausgestatteten Kaira, die ihren Blick jedoch trotzig ignorierte.

„Kennst du einen Weg hinein?“, fragte Callan Lynnra, da ihm ihr Blick nicht entgangen war.

„Womöglich“, antwortete Lynnra grübelnd, blickte auf ihre eigenen Finger und trat näher zu der Tür, „zumindest gibt es eine Art Schloss. Ein konventionelles, mechanisches Schloss. Schon eigenartig, so etwas auf einem Hochtechnologie-Planeten vorzufinden, aber auch äußerst praktisch. Denn wenn es keine zusätzliche elektronische Sicherung gibt, sollte das für mich kein Problem darstellen.“

Sie streckte ihren Zeigefinger aus und hielt ihn nur wenige Zentimeter von der Türöffnung entfernt. Fasziniert beobachtete Callan, wie sich eine metallene Spitze an einem flexiblen, halb flüssigen Faden aus ihren Fingerkuppen hervorschob, in das Loch eindrang und dort eine feste, exakt passende Form annahm. Lynnra grinste, drehte ihren Finger und das Tor sprang einen Spalt weit auf.

„Das gibt es nicht!“, kommentiere Crane verblüfft, „da ist ja jede Würstchenbude in den Endmärkten besser gesichert.“

„Vergiss nicht, dass dieser Planet eine Ruine ist“, meinte Lynnra, während sie ihr implantiertes Universalwerkzeug wieder aus dem Schloss zurückzog, „ich schätze, ursprünglich hätte man jeden Eindringling sofort atomisiert, aber wahrscheinlich sind diese Sicherheitssysteme inzwischen ausgefallen, was unser Glück ist. Aber ein solches System hat auch seine Vorteile: Es funktioniert selbst bei einem Stromausfall. Vorausgesetzt, man besitzt den richtigen Schlüssel.“

„Wie auch immer“, sagte Kordra und zückte ihre Taschenlampe, „wir sollten da drin vorsichtig sein. Wir wissen nicht, ob die Verteidigungsanlagen wirklich abgeschaltet sind und ihr solltet auch nicht den Maschinenfluch vergessen.“

„Das sind doch Märchen“, sagte Crane lachend.

„Märchen enthalten oft mehr Wahrheit als man glauben mag“, bemerkte Clary und wirkt dabei alles andere als naiv, „vor allem die düsteren.“

~o~

Kordra betrat das Innere des mysteriösen Komplexes als Erste, gefolgt von Clary, Callan und den anderen. Dabei erwies sich ihre mitgebrachte Taschenlampe als überflüssig. Zwar herrschte in dem Gebäude anfangs vollkommene Dunkelheit, doch kaum, da sie es betreten hatten, wurde diese von einem hellen, blendenden Licht abgelöst, das sämtliche Winkel des Raums erhellte. Das war sicherlich praktisch. Aber auch beängstigend. Weitaus beängstigender als die Finsternis.

Denn in dem Turm sah es aus wie in einem Insektenbau. Tausende große und kleine Drohnen strömten aus vier bodennahen Öffnungen und krochen die Wände des Komplexes empor. Manche von ihnen waren flach und kaum größer als fette Kakerlaken, andere waren fast so groß wie ein Mensch, mit langen, stählernen Spinnenbeinen und einige wenige flogen auch wie emsige, quadratische Bienen durch die elektrisch und ölig riechende Luft.

„Fuck!“, rief Crane und begab sich sofort in Kampfposition, die mangels Ausrüstung vor allem aus dem Erheben seiner Fäuste bestand.

„Willst du die Viecher tot kloppen?“, fragte Lynnra höhnisch.

„Wenn ich muss“, antwortete Crane, „glaub nicht, dass ich das nicht kann. Ich habe meine Dominanten gut investiert. Stahl ist für mich kein Problem.“

„Stahl vielleicht nicht“, erwiderte Lynnra, „aber das ist bestimmt kein Stahl. Das ist irgendeine Whe-Ann-Legierung. Selbst Terrin wird sie nicht durchdringen können.“

„Das müssen wir vielleicht auch nicht“, sagte Callan, der darauf verzichtet hatte, seinen Pinpointer zu zücken, „sie sehen nicht aggressiv aus. Denkbar, dass es lediglich Wartungsmaschinen sind. Vielleicht können wir sie gefahrlos passieren.“

„Passieren?“, höhnte Kaira, „wie denn? Willst du etwa die Wände hochlaufen?“

Just in diesem Moment ging Clary mehr aus einem Impuls heraus an einer der wenigen nicht so stark von Drohnen bevölkerten Stellen näher an die Wand heran und staunte nicht schlecht, als sie einfach nach oben gezogen wurde, urplötzlich den Halt verlor und ihn wenige Sekunden später wiederfand. Jedoch um neunzig Grad gedreht.

„Was zu den Endmärkten …“, wunderte sich Terrin, der dieses Wunder genau beobachtet hatte, „wie hast du …“

„Die Wände hier müssen eine Art speziellen Magnetismus oder ein Kraftfeld besitzen“, antwortete Clary, die ebenfalls ziemlich überrascht wirkte und ging trotz ihrer ungewöhnlichen Lage testweise einen Schritt nach vorn, direkt an einer tellerförmigen Drohne vorbei, die wie eine panische Ratte zwischen ihren Füßen hindurchhuschte. Dabei fiel sie nicht herunter. „Hey, Leute, mein Gott, das ist sogar noch viel krasser als das. Die Welt sie … sie dreht sich“, sagt Clary mit kindlichem Staunen.

„Was zum Investitionsverlust meinst du?“, fragte Kordra verwirrt.

„Die Perspektive“, erklärt Clary, „sie verändert sich. Die Wände werden zum Boden. Es … es kommt einem völlig normal vor. Einfach großartig. Es ist fast wie Magie. Und diese Drohnen …“ sie fuhr demonstrativ einer kleinen Spinnendrohne über den metallenen Rücken, „… sind völlig harmlos.“

„So lange zumindest, bis sie dir deine schwärmerische Kehle rausreißen“, spottete Kaira.

Auch die anderen sahen sie eher skeptisch an. Keiner rührte sich. Schließlich gab sich Callan einen Ruck und platzierte sich am Rande derselben Wand wie zuvor Clary. Auch er staunte nicht schlecht als er postwendend emporgehoben wurde und seine gefühlte Perspektive um neunzig Grad kippte. So standen sie nun beide da. Wie Felsen in einem Fluss aus mobilen Metallgeschöpfen und blicken kopfüber auf ihre Söldner-Gefährten hinab.

„Es scheint wirklich sicher“, ermutigte Callan, „ihr solltet ebenfalls mitkommen.“

„Warum?“, fragte Kaira.

„Weil wir hier womöglich Rettung finden“, antwortete Callan, „weil ich Clarys Intuition vertraue und weil wir wahrscheinlich nur diese Chance haben. Denn bei allem Optimismus – dieser Planet IST eine Todesfalle – wenn wir nicht bald hier wegkommen, werden wir es bereuen. Das sagt meine Intuition. Also, kommt ihr mit?“

„Ist das ein Befehl?“, fragte Crane mit gerunzelter Stirn.

„Nein“, erwidert Callan nach einem kurzen Blick zu Clary, „ihr könnt gehen, wohin ihr wollt. Es war ein Fehler euch durch Dominanten oder Verträge zum Mitreisen zu zwingen.“

„Wie großzügig“, antwortete Kaira mit ätzendem Gelächter, „jetzt wo wir Kilometer laufen müssten, um zu den Lagerhallen zu kommen, spricht sich dieses Angebot leicht aus, was?“

„Da hast du recht“, gestand Callan ein, „aber so liegen nun einmal die Dinge. Wir gehen jetzt dort hoch und jeder, der will, kann mit uns kommen. Aber falls wir ein Schiff finden, werden wir es benutzen und alle, die dann dabei sind, können mitkommen. Der Rest … nun, der geht eben seiner Wege.“

Wieder kehrte Stille ein, abgesehen von dem Summen und Klacken des emsigen Drohnenheeres.

Dann folgte der erste Söldner Callans Einladung. Wider Erwarten war es nicht Terrin, sondern Lynnra, aber der große, blauhäutige Mann folgte direkt danach und reihte sich rechts neben Callan und Clary ein. Kordra folgte ihnen kurz darauf.

„Was ist mit euch?“, fragte Clary freundlich, da ihr nicht entging, dass die skeptische Söldnerin Kaira und der muskulöse Crane noch immer auf dem Boden des Schachts standen.

„Was soll schon mit uns sein, Bluebitch?“, erwiderte Kaira, „wir beobachten euren Wahnsinn und ziehen unsere Schlüsse daraus. Wie jede Frau und jeder Mann mit etwas Verstand.“

„Wovon zum Teufel redest du?“, fragte Kordra verwundert.

„Davon, dass ihr euch ficken sollt“, antwortete Crane, „wir suchen unseren eigenen Weg. Ganz wie es uns der feine Herr Nehmer angeboten hat.“

Mit diesen Worten drehten Crane und Kaira sich um und begaben sich zum Ausgang.

„Hey, bleibt stehen, ihr Pisser!“, beschwerte sich Kordra, „wir wollten uns die Masken teilen.“

„Dann komm doch und hol uns“, erwiderte Kaira gleichmütig und ohne sich umzudrehen. Dabei streckte sie ihre Hand aus und präsentierte ihr darin eingebautes Set aus scharfen, stählernen Werkzeugen, wobei sie einen Schraubenschlüssel wie einen Mittelfinger in die Höhe streckte.

„Wir haben einen Vertrag“, erinnerte Callan etwas hilflos, entgegen seines vorherigen Angebots.

„Ach, jetzt plötzlich wieder? Ich dachte, wir wären frei?“, sagte Kaira, „Aber weißt du, es ist uns egal, ob du die Vertragskarte ziehst. Wir sind nicht mehr auf Deovan, Nehmer. Begreif das endlich. Ich habe keine Lust mehr, den Befehlen irgendwelcher reichen Spinner zu gehorchen. Ich bin dir gefolgt, weil du mich gerettet hast. Und weil wir in der Gruppe stärker sind. Aber wenn du mich den Launen deines Blue Mind Püppchens ausliefern willst, kannst du dir deine Dominanten sonst wohin stecken. Mein Leben ist mir wichtiger. Und das sollte bei euch genauso sein. Aber das ist natürlich eure Sache. Nur eines steht fest: Wenn du mich also zum Bleiben bewegen willst, Callan, dann musst du mich schon bewegungslos schießen.“

Der abfällige Ton, in dem sie dies vortrug, hätte Callan beinah dazu bewogen genau dies zu tun. Wie von selbst wanderte seine Hand zu seinem Pinpointer, der mit einem gut gezielten Schuss zumindest das Leben eines Deovani beenden können sollte, falls keine schützenden Implantate dem im Weg standen. Doch ein mahnender Blick von Clary hielt ihn davon ab.

„Gib uns deine Atemmaske, Kaira!“, forderte Kordra erneut, „wir hatten vereinbart, uns mit der defekten Maske abzuwechseln.“

„Dann würde ich empfehlen, gut die Luft anzuhalten, Süße!“, sagte Kaira, „du bekommst nämlich gar nichts von mir“. Dann ging sie mit Crane zusammen durch die Tür und verschwand.

„Du kannst meine haben“, bot Clary schnell an, da sie erkannte, dass Kordra im Begriff war sich auf die Fahnenflüchtige zu stürzen. Sie zog ihre intakte Maske ab und hielt sie Kordra hin, die sie erst ungläubig ansah, dann aber nickte und den Tausch vollzog. Clary streifte sich die zerrissene Maske über und platzierte sie so, dass sie möglichst viel von ihren Atemwegen abdeckte, ohne jedoch einen vollständigen Schutz zu gewährleisten. Callan sah sie überrascht an, verzichtete aber in Gegenwart der verbliebenen Söldner auf einen Kommentar.

„Wie sieht es mit dem Rest von euch aus? Seid ihr dabei?“, fragte Callan als Crane und Kaira den Turm verlassen hatten.

„Sind wir“, sagte Terrin und auch Lynnra und Kordra nickten.

„Gut“, sagte Callan und wechselte in einen nüchternen, fast militärischen Tonfall, „Clary, du gehst voraus und zeigst uns den Weg. Ich gehe hinter dir. Lynnra und Kordra, ihr sichert die Seiten. Terrin, du übernimmst die Nachhut. Wir alle hoffen natürlich, dass wir keine bösen Überraschungen erleben werden, aber sicher wissen können wir es nicht.“

„Geht klar“, sagten Lynnra und Terrin fast gleichzeitig und die Gruppe setzte sich in Bewegung.

~o~

Callan würde es nie offen zugeben, aber er war sich selbst nicht so sicher, ob Kaira und Crane nicht eigentlich recht gehabt hatten. Er mochte Clary und er hielt sie für eine durchaus sehr intelligente und ehrliche Frau, aber sie war trotz allem eine Blue Mind. Von ihrem ersten Atemzug an war sie mit Geschichten gefüttert worden. Sie atmete Legenden und Schicksal rauschte durch ihre Adern und so war es kein Wunder, dass sie sich auf ihre Intuition verließ. Leider funktionierte das Leben nicht unbedingt nach diesen Gesetzen. Es war weder fair noch erzählte es immer eine gute Geschichte. Und wenn es einen in den Dreck warf, dann nicht unbedingt, damit man sich wieder aufrappeln und am Ende triumphieren konnte, sondern womöglich nur, damit man darin verreckte. Hoffnungslos, unbeachtet und grauenhaft zufällig.

Dieser Ort hier mochte kein Bürogebäude sein. Aber wie ein typischer Raumhafen oder Hangar sah er auch nicht aus. Im Grunde konnten sie sich auf den Weg in einen gefährlichen Reaktorkern oder in ein Waffenlager mit intelligenten und Fremden gegenüber nicht gerade aufgeschlossenen Waffensystemen bewegen. Aber selbst wenn nicht – dieser Ort lag im Sterben und das machte ihn unberechenbar. Es konnte Kurzschlüsse geben. Gaslecks. Ja, sogar die seltsame künstliche Schwerkraft konnte jederzeit ausfallen und sie wie Steine in die Tiefe stürzen lassen und die Drohnen mochten sie bisher nicht angegriffen haben, aber das konnte sich jederzeit ändern, selbst wenn es nicht in ihrer Programmierung verankert sein sollte.

Zuerst war es Callan nicht aufgefallen, aber jetzt bemerkte er, dass nicht alle, aber doch viele der Drohnen kleine Defekte hatten. Sie eierten, bewegten sich schleppend, hatten Kratzer, Löcher und geschmolzene Stellen und ab und an sah er auch solche, die wirr und staksig in der Gegend herumliefen oder zuckend auf dem Rücken lagen wie verendende Fische an Land. Es brauchte nur einen Kurzschluss an der falschen Stelle, einen durch defekte Technik ausgelösten Rechenfehler und eines der langen Spinnenbeine könnte sich durch ihre Brust bohren. Mit seinem Pinpointer und seinen praktisch waffenlosen Begleitern würde er das wohl kaum verhindern können.

Ja, dachte Callan, das hier war ein Friedhof und es erinnerte ihn in dieser Hinsicht an jene Grabkammer im House of Life, in der er mit Devell festgesteckt hatte. Und wahrscheinlich waren die Drohnen nicht die einzigen, die dem Ende ihrer Existenz entgegensahen. Callan war sich unsicher, ob es an der ungesunden Atmosphäre von Anntrann oder an seinem Mitbringsel aus Deovan lag, aber seit einigen Stunden fühlte er ein stechendes, unangenehmes Nervenziehen, das sich krampfartig von seiner Brust bis zu seinem Kopf hinzog. Um seinen Begleitern kein Zeichen von Schwäche zu offenbare,n hatte er sich die meiste Zeit beherrscht, aber einmal, als er sich unbeobachtet gewähnt hatte, hatte er sich doch getraut, seine Brust abzutasten.

Inzwischen wünschte er, er hätte es nicht getan. Denn dort, wo sich das seltsame graue Gewebe ausgebreitet hatte, hatte er ein mehr als faustgroßes Areal aus schleimigem, teigigen Fleisch vorgefunden, das sehr übel roch. Dieses veränderte Fleisch war so weich und matschig, dass er sich wunderte, warum es nicht einfach von ihm heruntertropfte, aber es hielt doch überraschend hartnäckig an ihm fest. Dennoch war Callan zutiefst erschrocken. Er hatte seinen Zustand lange verdrängen können, doch nun gelang ihm das nicht mehr. Was immer er sich in der Kanalisation des Sumpfareals im House of Life eingefangen hatte – wenn er es loswerden wollte, brauchte er einen Arzt. Keine besonders realistische Hoffnung auf einem Planeten ohne Leben. Selbst, wenn man eine ganze Menge Geld besaß.

Eigentlich konnte er nur darauf zählen, dass Clarys Intuition sie nicht trügte und sie hier ein Schiff finden würden. Ein funktionsfähiges und verdammt schnelles Schiff. Ansonsten würden ihn keine Dominanten der Welt mehr retten können.

Unwillkürlich wanderte sein Blick zu Clary, die anders als die konzentrierten und wachsamen Söldner traumwandlerisch, unbekümmert und leichtfüßig durch den Fluss der Metallkreaturen tänzelte als würde sie im Sonnenschein lustwandeln. Eigentlich sah es gar nicht so aus als würde sie das alles sonderlich ernst nehmen. „Ich bin am Arsch“, flüsterte Callan zu sich selbst.

„Spürt ihr das?“, fragte Lynnra.

„Die Hitze?“, frage Terrin, der sich eine winzige, verirrte Drohne aus dem Gesicht wischte, so als wäre sie ein Moskito.

„Ja“, erwiderte Lynnra, „wenn das so weitergeht, wird sie irgendwann gefährlich für uns.“

Tatsächlich spürte auch Callan, dass es wärmer geworden war. Nur hatte er es bislang auf seine Erkrankung geschoben.

„Was meint ihr, wo sie herkommt?“, fragte Callan.

„Vermutlich von dort“, sagte Kordra und zeigte auf einen Punkt vor – oder eigentlich über – ihnen.

„Was meinst du?“, fragte Terrin und kniff angestrengt die Augen zusammen. „Ah“, sagte er schließlich, „da ist ein Lichtschein, oder? Ist kaum zu erkennen.“

„Wenn man optische Implantate hat, schon“, entgegnete Kordra.

„Beeindruckend. Wie viele Lebensjahre haben sie dich gekostet?“, fragte Terrin.

„Keine“, sagte Kordra und ihr Blick wurde wehmütig, „es sind Premium-Modelle. Aber was ich dafür tun musste … nun, reden wir besser nicht darüber.“

„Tut mir leid“, sagte Terrin und klopfte Kordra unbeholfen, aber freundschaftlich auf die Schulter.

Kordra sah ihn an. Ihr Mund bewegte sich und Clary glaubte, dass er ein stummes „Danke“ formte. Kordras professionelle Söldnermaske schloss sich sofort wieder, aber Clary, der solche Form der Selbstbeherrschung fremd war, entwich eine Träne. Sie nahm nicht an, dass diese Leute oft herzlich miteinander umgingen.

Lynnra schien dafür den Beweis antreten zu wollen. „Ihr wisst, was das bedeutet“, sagte sie kühl und zeigte direkt auf das Licht, „so ungern ich Kaira auch zustimme, aber das hier ist eine Sackgasse. Wenn wir weitergehen, werden wir schmelzen oder zumindest übel verstrahlt werden. Vielleicht gibt es noch einen anderen Weg, aber dieser hier führt lediglich in unser Grab.“

Selbst Clary konnte sich dieser Logik nicht verschließen. Sie konnte die Argumente ihrer Begleiterin verstehen. Sehr gut sogar. Jedoch hatte sie so ein Gefühl, ein Ziehen, ein drängendes Kribbeln, das ihr sagte, dass dies der richtige Weg war. Der Weg zu ihrer Rettung, ja womöglich sogar zu etwas noch größerem. Ihr erwachender kritischer, kühler Verstand stemmte sich dagegen, flüsterte ihr ein, dass man sie ihr Leben lang mit Lügen und schönen Illusionen gefüttert hatte und dass sie nur deshalb an diese Dinge glaubte. Ja, dass sie sich selbst und – schlimmer noch – ihre Begleiter ins Verderben führen würde, wenn sie ihren Ahnungen vertraute. Aber diese Gedanken waren nicht mehr als die eines Passagiers in einem Schnellzug. Sie änderten nicht ihren Kurs, konnten sie gar nicht ändern. Sie konnte so wenig von diesem Weg abweichen, wie ein herabsausender Ball von den Gesetzen der Gravitation.

„Möglich, dass ihr recht habt“, sagte Clary laut, „aber ich glaube es nicht. Wir werden dort nicht sterben. Irgendwo muss es noch einen anderen Weg geben und ich werde ihn finden.“

„Nein, das wirst du nicht“, protestierte Callan, dessen Gedanken in ähnlichen Bahnen verlaufen waren wie die der Söldner. Er traute Clary eine Menge zu, hatte selbst erlebt, wozu sie in der Lage war, aber sie war sicher nicht unfehlbar und ganz sicher nicht immun gegen Hitze und Strahlung. „Ich lasse nicht zu, dass du dich für Illusionen opferst“, bekräftigt Callan.

„Ich werde weitergehen. Auch wenn ihr mich nicht begleitet“, erwiderte Clary unbeeindruckt und entschlossen, „Ob du es zulässt, spielt keine Rolle.“

„Und ob das eine Rolle spielt“, entgegnet Callan hilflos, „du bist meine Angestellte, ich hab …“

„Was? Für mich bezahlt?“, fragt Clary schmunzelnd, „wenn du mich kontrollieren willst, hättest du dir besser eine Fußfessel kaufen sollen. Dein Geld hält mich nämlich nicht vom Laufen ab.“

Mit diesen Worten ging Clary noch weiter auf die helle, heiße Lichtquelle zu, begleitet von der unermüdlich voranschreitenden Armee aus Wartungsdrohnen.

„So war das nicht gemeint“, versuchte Callan seine Worte einzufangen, „ich will dich nicht besitzen, ich will nur nicht, dass du stirbst.“

„Das werde ich nicht. Versprochen“, sagte Clary und schritt schneller voran.

Callan erwog, ihr nachzueilen, aber dann dachte er an seine seltsame Erkrankung und daran, wie sich Strahlung darauf auswirken mochte. Grübelnd sah er zu den anderen Söldnern. Die wirkten ziemlich verdutzt, aber mit Ausnahme von Lynnra erkannte er auch so etwas wie Bewunderung in ihren Gesichtern.

„Die zieht das wirklich durch“, sagte Terrin und sein Mund öffnete sich vor Fassungslosigkeit als er beobachtete, wie Clary einfach auf einen der großen, spinnenartigen Wartungsroboter kletterte, wohl um schneller voranzukommen.

„Mutig“, kommentierte Kordra, während Clarys Gestalt sich weiter entfernte.

„Ja. Und bemerkenswert dämlich“, erwiderte Lynnra, „als würde sie sich für eine Art Messias halten.“

„Und was, wenn das stimmt?“, sagte Callan nachdenklich zu sich selbst.

Keiner von ihnen rührte sich. Sie sahen nur Clary nach, deren Gestalt für die meisten von ihnen langsam zu einem kleinen Punkt wurde.

„Sie ist verschwunden“, bemerkte Kordra, die mit ihren verbesserten Augen angestrengt in die Ferne blickte.

„Wie meinst du das?“, fragte Callan erschrocken und spürte sofort, wie das schlechte Gewissen seine Innereien zusammenkrampfte. Er hätte sie nicht gehen lassen sollen, „ist sie in der Hitze verglüht?“

„Nein, sie ist abgebogen“, sagte Kordra grinsend, „Sie hat anscheinend einen Seitengang entdeckt. Sieht aus als hätte unser Messias doch mehr Durchblick als wir ihr zugetraut hatten.“

~o~

Kordra hatte sich mit ihrer Vermutung nicht getäuscht und zu Callans Überraschung hatte Clary auf sie gewartet und stand mit großen, strahlenden, blauen Augen am Rand eines breiten quadratischen Ganges, in den auch ein großer Teil der Wartungsroboter kletterte, flog oder fuhr.

„Schön, dass ihr euch doch getraut habt“, sagte Clary zufrieden, jedoch ohne Überheblichkeit.

„Es war keine Frage des Mutes, sondern eine der Vernunft“, bemerkte Lynnra kühl.

„Wenn es so ist, dann bringt uns Unvernunft anscheinend weiter“, sagte Clary spitzbübisch.

„Das bleibt abzuwarten“, sagte Lynnra kühl, „wir wissen noch nicht, wo dieser Gang hinführt.“

„Die Luft dort ist zumindest kühler“, stellte Terrin fest, „das ist ein gutes Zeichen.“

Dem musste auch Callan innerlich zustimmen. Zwar war es hier inzwischen fast so heiß wie in einer Sauna, die Luft flimmerte sogar sichtbar, aber aus diesem Tunnel wehte ein durchaus erfrischender Luftzug.

„Nun können wir es auch probieren“, meinte Callan, „bisher hat uns Clary noch nicht enttäuscht, oder?“

Alle nickten und die vier kletterten in den Tunnel, der leicht abschüssig war, was Callans Gleichgewichts- und Orientierungssinn ziemlich fickte als er darüber nachdachte, dass sie sich ja eigentlich ohnehin vertikal bewegten. Hier jedoch schien die Schwerkraft zumindest in diesem seltsamen Rahmen normal zu funktionieren, was dafür sorgte, dass sie sich an den Robotern wie an einem Geländer festhalten mussten, um nicht zu rutschen.

„Was machen wir eigentlich, wenn Misses Blue Mind richtig liegt und wir dort tatsächlich ein flugfähiges Schiff finden?“, überlegte Kordra.

„Na was wohl, abhauen“, entgegnete Lynnra verdutzt.

„Ja, aber wohin? Von Deovan habe ich ehrlich gesagt die Schnauze voll“, sagte Kordra, „dort hab ich mich schon mein ganzes Leben lang ausbeuten lassen. Wenn ich dieses Leben hier nicht verlieren sollte, will ich besser damit umgehen.“

„Die Welten im Umkreis von Deovan sind auch nicht besser“, meinte Lynnra.

„Wir sind nicht in Deovan“, erinnerte Terrin.

„In der Nähe von Anntrann gibt es auch keine Paradiese“, erwiderte Lynnra schulterzuckend, „glaubt mir, das weiß ich. Ich habe jede Karte studiert, auf die ich einen Blick werfen konnte.“

„Es gibt Rihn“, erinnerte Terrin und ein leichter Zauber kehrte in seine Züge ein, wahrscheinlich ausgelöst durch die spontane Mentravia, auf die ihn Clary mitgenommen hatte.

„Rihn ist auch nicht perfekt“, antwortete Lynnra, „oll mit messerscharfen Fallgruben, gefährlichen Kreaturen und infektiösen Steinen. Klar, es hat seine Vorzüge, aber meinen Ruhestand würde ich dort nicht verbringen wollen. Und darüber hinaus: Nun, wenn ihr zufällig einen zahmen Scyonen an der Hand habt, der uns quer durchs Multiversum bugsiert, wäre das vielleicht was anderes. Aber bis dahin, vergesst es. Nichts, was man mit einem gewöhnlichen Raumschiff erreichen kann, ist nennenswert angenehmer als Deovan. Ich hasse dieses Shithole auch. Aber dort habe ich Kontakte, Auftraggeber und Geschäftsbeziehungen. Das ist besser als alles aufzugeben für ein Leben, das nur etwas weniger Scheiße ist.“

„Die Schiffe der Whe-Ann konnten fast alle Welten erreichen“, sagte Terrin, „Zumindest habe ich das mal gehört. Braviania soll auch ganz okay sein. Und auf Triktoi gibt es gastfreundliche Amphibienwesen und zauberhafte Inseln und Strände.“

„Nein Danke, auf Wüstendiktaturen und sandige Froschschenkel kann ich verzichten, aber tu dir keinen Zwang an“, sagte Lynnra.

„Was ist mit Cestralia?“, schlug Clary vor und Callan zuckte erschrocken zusammen als sie von dem Ort sprach, den er bisher für eine Art Geheimnis zwischen ihnen gehalten hatte, wenn man von diesem unangenehmen Adrian, von dem er überhaupt von diesem Ort erfahren hatte, einmal absah.

„Was soll das denn sein?“, fragte Lynnra skeptisch und Callan warf Clary einen warnenden Blick zu, den sie ganz nach ihrer Art geflissentlich ignorierte.

„Der schönste Ort des Multiversums“, schwärmte Cestralia, „ein Ort von überirdischer Schönheit, erfüllt mit Frieden, Harmonie und aufregenden Abenteuern, ohne Hass, Zwietracht und Unterdrückung, an dem jeder etwas wert ist, unabhängig davon, wie viel Geld er besitzt.“

„Virtuelle Realitäten sind gefährlich“, wiegelte Lynnra ab, „ich kenne einige, die sich darin verloren haben.“

„Dieser Ort ist nicht virtuell. Er ist vollkommen real“, antwortete Clary.

„Aha“, sagte Kordra, die im Gegensatz zu Lynnra doch ein wenig interessiert wirkte, „und warum bist du dann nicht dort, statt in diesem kybernetischen Höllenloch?“

„Es ist nicht so ganz einfach, dorthin zu kommen“, entgegnete Clary.

„Wie kommt man denn dorthin?“, fragte Terrin, in dessen Gesicht sich echte Begeisterung zeigte.

„Gar nicht“, sagte Callan mit nüchterner Abgeklärtheit, „es ist eine Blue Mind Legende. Clary besitzt eine gute Intuition, davon bin ich überzeugt und was sie für Bilder in unserem Geist erzeugen kann, haben wir alle erlebt. Aber das Blue Mind Programm bleibt nicht ohne Spuren. Manchmal mischen sich bei seinen Opfern Fantasie und Realität. Da kann sie einfach nichts für.“

Clary blickte Callan erst fassungslos und dann wütend an. „Das ist eine Lüge, es ist …“, begann sie, aber als sie in die Gesichter der Söldner blickte, wusste sie, dass sie sich jedes weitere Wort sparen konnte.

„Schade“, sagte Terrin enttäuscht, „tja dann wird es für mich vielleicht doch Triktoi werden. Hauptsache, wir finden ein Schiff.“

„Das finden wir“, sagte Callan überzeugt und vermied es, Clary anzusehen. Ihren Hass – ein für sie eher untypisches Gefühl – konnte er auch so schon auf sich ruhen fühlen.

~o~

„Na Klasse, eine Sackgasse!“, befand Lynnra und Callan musste ihr beipflichten. Nachdem der Seitengang sie zusammen mit den Wartungsrobotern um diverse Kurven geführt hatte, waren sie nun an einer glatten, von Schaltkreisen durchzogenen Wand angelangt. Eine weitere Abzweigung gab es nicht.

„Es muss hier einen Weg geben“, sagte Terrin entschlossen, während seine dicken Finger die Wand absuchten, „irgendeine Geheimtür, ein Codefeld, irgendwas.“

„Da ist keine Öffnung und auch kein Codeschloss“, nahm Kordra ihm jede Hoffnung, „mein Implantat hätte so etwas hervorgehoben. Wahrscheinlich zumindest.“

„Ich könnte versuchen durch die Wand zu brechen“, überlegte Terrin und spannte seine Muskeln an, „ich weiß nicht, ob man dieses Material zerstören kann, aber mit Stahl bekomme ich das hin. Auch wenn mir danach stundenlang die Muskeln schmerzen werden wie Scheiße.“

„Das schaffst du nicht“, antwortete Kordra, „dieses Metall ist mir zwar unbekannt, aber die Molekülstruktur ist stabiler als bei Graphen und sie ist etwa einen Meter dick.“

„Na wunderbar“, knurrte Lynnra, „so viel zu Clarys sagenhafter Intuition. Sieht so aus, als hätte sie die in ihrem Märchenland Pestralia gelassen.“

„Es heißt Cestralia“, zischte Clary so eisig, dass Callan zusammenzuckte, „und offenbar besitze ich meine Intuition noch. Oder ist euch „Vernünftigen“ aufgefallen, dass die Drohnen einfach im Boden verschwinden?“

Durchaus verblüfft von dieser Beobachtung sahen alle herunter und stellten sofort fest, dass Clary die Wahrheit sprach. Die Drohnen, egal ob Spinnen, Fahrzeuge, „Käfer“ oder Flugmodelle versenkten sich einfach im metallenen Untergrund, ohne den geringsten Kratzer daran zu hinterlassen.

„Eine Projektion“, sprach Lynnra das Offensichtliche aus, ohne sich für ihr hartes und ungerechtes Urteil über Clary zu entschuldigen, „darunter muss sich eine Öffnung befinden.“

„Ein Glück, dass wir nicht einfach hindurchgefallen sind“, bemerkte Kordra.

„Aber dennoch müssen wir da runter“, sagte Callan und unterdrückte ein weiteres, ekelhaftes Ziehen, das seine Brust durchfuhr, „das ist der einzige Weg.“

„Wir wissen aber nicht, was dort unten auf uns wartet und ob der Aufprall für biologische Wesen tödlich wäre“, warf Lynnra ein.

„Tja, dann finden wir es wohl besser heraus“, sagte Clary, schwang sich ohne zu zögern auf eine der Spinnendrohnen und glitt mit ihr zusammen einfach in den Boden hinein.

„Diese Frau ist unglaublich“, sagte Terrin bewundernd. Und keiner widersprach ihm. Stattdessen wagten auch sie den Sprung ins Blaue.

~o~

Der Raum, in dem sie sich daraufhin wiederfanden, glich einem lebendig gewordenen Bällebad. Ein ganzer Schwarm aus Drohnen krabbelte und stakste auf dem Boden herum und kroch ziellos neben- und übereinander her. Einige der flugfähigen Exemplare stießen auch immer wieder geräuschvoll gegen die niedrige Decke des ansonsten weitläufigen und von bläulich schimmernden, quadratischen Deckenplatten illuminierten Raums.

„Was beim Konkurs ist das und warum sammeln sich die Dinger hier?“, fragte Kordra, deren Fall wie bei allen anderen nicht ganz ohne Blessuren, wenn auch weitgehend unverletzt vonstattengegangen war. Auch, weil über ihnen immer wieder neue Drohnen in die Halle stürzten und sich dort sammelten.

„Vielleicht ist es eine Lagerhalle für die Drohnen?“, überlegte Callan.

„Dinge, die man in Lagerhallen abstellt, bewegen sich für gewöhnlich nicht“, warf Lynnra ein.

„Was soll es dann sein?“, fragte Terrin.

„Womöglich eine Art Friedhof“, überlegte Lynnra, „wahrscheinlich haben sie hier die alten und nicht mehr ganz rund laufenden Modelle zur Endlagerung oder Wiederaufbereitung gesammelt, als dieser Planet noch keine globale Geisterstadt gewesen war.“

„Dafür sind es etwas viele, oder nicht?“, bemerkte Clary.

„Hier geht alles kaputt“, sagte Lynnra düster, „Dies ist kein Ort für Leben. Nicht einmal für künstliches.“

Tatsächlich passte die kalte Atmosphäre des Raums mit all seinen ziellos umher krabbelnden und manchmal unkontrolliert zuckenden „Bewohnern“ Callans Meinung nach sehr gut zu dieser Theorie. Doch das hieß natürlich nicht, dass sie auch stimmen musste.

„Ist ja auch egal“, sagte Kordra und blickte nervös zur Decke, wo sich ein erneuter Drohnenregen in den Raum ergoss, „wichtig ist, dass wir hier wegkommen. Und zwar schnell. Wenn die sich in dem Tempo weiter hier reinstürzen, werden wir bald von ihnen zerquetscht.“

„Da vorne ist eine Tür“, sagte Terrin. Callans Blick folgte seiner ausgestreckten Hand und tatsächlich erblickte er dort eine pechschwarze Tür, auf der wechselnde, von weißen Lichtpunkten dargestellte Symbole aufblinkten.

„Perfekt“, sagte Lynnra, „dann schaffen wir besser unserer Ärsche dort hin.“

Gemeinsam kletterten sie über den beweglichen Berg aus Metall, was sich nicht so einfach gestaltete, da ihnen ihr Untergrund immer wieder entglitt, und sie sehr gut aufpassen mussten, nicht von scharfkantigen, nach Halt suchenden Beinen oder Greifarmen geschnitten oder von surrenden Metallflügeln heransausender Roboter berührt zu werden. Doch irgendwie gelang es ihnen dennoch, ihr Ziel zu erreichen.

„Wieder kein Türschloss“, stellte Kordra enttäuscht fest.

„Aber ein Rahmen, oder?“, sagte Clary an Lynnra gewandt, „vielleicht findet sich da eine Lücke für deine besonderen Fähigkeiten.“

„Ich bin kein Universalschlüssel“, sagte Lynnra mürrisch.

„Nein, aber wahrscheinlich unsere einzige Hoffnung“, erwiderte Clary.

Zur Antwort brummte Lynnra lediglich missmutig, brachte jedoch ihre Finger nah an den Metallrahmen und verflüssigte dessen Spitze dort, um nach einem Hebel zu suchen.

Sie versuchte es ein, zwei Minuten. Dann gab sie auf.

„Keine Chance“, sagte sie.

„Fuck!“, rief Kordra panisch und als die vier anderen sich umdrehten, konnten sie gut verstehen, warum. Es war nicht nur die Enttäuschung über den versperrten Fluchtweg. Es war vielmehr die Tatsache, dass aus dem Strom an Drohnen eine wahre Flut geworden war, die sich wie manisch in diesen Raum ergoss. Wie ein halb gefrorener Tsunami türmten sie sich hinter ihnen auf. Die Luft war erfüllt vom Knacken, Surren, Piepsen und Scharren der metallischen Wesen und es roch intensiv nach Öl, Elektronik und heißem Metall.

„Scheiße!“, sagte Kordra nun geradezu hysterisch, „wir werden sterben! Die Traumtänzerin hat uns in den Tod geführt!“

„Jetzt komm mal runter!“, sagte Terrin, „wir alles sind freiwillig mitgekommen. Außerdem geben wir nicht auf. Es wird Zeit mal zu schauen, was meine Verbesserungen taugen.“

Mit diesen Worten streckte Terrin seine imposante Gestalt, strafte seinen muskulösen Rücken und schloss kurz die Augen, so als würde er meditieren. Dann hob er seine gewaltigen Fäuste und ließ sie auf das schwarze Metall niedergehen. Seine Bemühungen blieben nicht ganz ohne Wirkung. Das schwarze Metall schlug Funken und beulte sich sogar minimal nach innen.

„Ich bekomme das hin“, sagte Terrin ermutigt und rieb sich die schmerzenden Handknöchel.

„Dann hoffentlich schnell“, sagte Lynnra, „es werden immer mehr.“

Eigentlich war diese Aussage überflüssig, denn jeder von ihnen – Terrin eingeschlossen – spürte die tastenden Beine, Räder, Flügel und Greifarme in seinem Rücken, an seinen Beinen oder sogar am Hals.

Erneut holte Terrin aus und prügelte mit seiner biotechnologisch verstärkten Pranke auf das bedauernswerte Metall ein. Diesmal explodierte ein wahrer Funkenregen aus der Tür, sodass sie ihre Augen mit den Händen und Armen schützen mussten. Dann erloschen die Funken und eine emotionslose Stimme erklang. „Protektor-Menace. Code 11Z. Anwendung von stumpfer Gewalt. Initiiere Retributionsmaßnahmen.“

„Heilige Scheiße!“, sagte Terrin noch, der schlaue genug war, um zu ahnen, was das bedeutete. Dann löste sich eine blaue, schimmernde Blase aus der beschädigten Tür und flog auf Terrins rechte Faust zu. Terrins Reflexe waren schnell. Aber die Blase war schneller. Sie hüllte die Hand ein wie schwebendes Wasser. Und begann zu kochen.

Terrin schrie. Brüllte, tobte, während sein Fleisch gegart wurde und er vergeblich versuchte die Blase abzuschütteln. „Hilfe!“, rief er, „Bitte, ich gehe jeden Vertrag ein, ich zahle alles, ich tue alles, aber irgendein Motherfucker muss mir helfen!“

Doch auch wenn man den anderen und insbesondere Clary ansah, dass sie fieberhaft überlegte wie, wusste keiner von ihnen, wie man dem Söldner in solch einer Situation helfen konnte. Auch Clary konnte nichts weiter tun, als den Vorgang angewidert zu verfolgen und Terrin tröstend die Hand auf die breiten Schultern zu legen. Dann tropfte die Flüssigkeit auf den Boden, wo sie eine etwa katzengroße Drohne knisternd zerstörte und nahm das gekochte Fleisch mit sich. Nur der blanke Knochen blieb zurück und ragte widerlich und nutzlos aus Terrins rechtem Unterarm. Der große Mann betrachtete das mit Grauen und Entsetzen. Tränen standen in seinen Augen.

„Das ist übel. Tut mir echt leid, Mann“, sagte Kordra, „mit so einer Maßnahme hat keiner gerechnet.“

„Wir besorgen dir ein Implantat“, sagte Callan etwas unbeholfen, „ich bezahle dafür. Irgendwo finden wir einen Chirurgen, der das kann.“

Terrin nickte dankbar, doch von weiteren Versuchen, die Tür zu öffnen sah er ab.

„Wir werden keinen Chirurgen finden. Wir werden hier verrecken“, sagte Lynnra düster und verscheuchte eine Flugdrohne, deren Rotoren ihr gerade einige Haare ausgerissen hatte. Inzwischen war der Raum zu mehr als neun Zehnteln mit den Robotern gefüllt.

„Ja, wenn wir hierbleiben“, sagte Kordra entschlossen, „Noch können wir versuchen umzukehren. Wenn wir keine Zeit mehr verschwenden und schnell klettern, schaffen wir das.“

„Das wird nicht nötig sein“, sagte Clary. „Diese Symbole dort bedeuten etwas. Ich denke, es sind Zahlen. Ein Countdown womöglich. Sobald der Raum voll ist, wird sich die Tür öffnen. Da bin ich mir sicher.“

„Und darauf willst du vertrauen?“, fragte Kordra skeptisch, „Möglich, dass das ein Countdown ist, aber vielleicht braucht er auch noch ‘ne halbe Stunde oder zumindest so lange, bis wir meterhoch unter Metall begraben sind und sich unsere gebrochenen Rippen durch unsere luftleeren Lungen bohren. Und vielleicht öffnet sich die Tür ja auch gar nicht. Terrin hat sie immerhin beschädigt und das Verteidigungsprotokoll aktiviert – nichts für ungut – aber gut möglich, dass sie uns nun endgültig verschlossen bleibt. Nein, dieses Risiko gehe ich nicht ein.“

Mit diesen Worten drehte Kordra sich um, zog sich an einem leicht humanoid aussehenden Roboter mit breitem, flachen Kopf empor, stieg auf zwei niedrig schwebende Flugdrohnen und kämpfte sich weiter den schwankenden Berg aus mechanischen Leibern empor.

„Vielleicht sollten wir ihr folgen“, überlegte Callan.

„Terrin wird das mit seiner Statur und nur einer Hand nicht können. Mag sein, dass dir das egal ist, aber für mich bedeutet es etwas“, erwiderte Clary.

„Es ist mir nicht egal“, sagte Callan zerknirscht, „tut mir leid, dass ich dich vorhin so bloßgestellt habe, aber es war …“

„Spar’ dir das“, sagte Clary, „darüber können wir uns später unterhalten. Jetzt müssen wir den richtigen Moment abpassen.“

„Den richtigen Moment wofür?“, wollte Callan wissen, während er ein Stück enger an Clary heranrückte, um den Druck der Drohnenlawine auf seinen Körper etwas zu mildern.

„Wie gesagt, das ist ein Countdown“, erklärte Clary, „ich kenne einige dieser Symbole. Mutter hat … sie hat mir viele Sagen, Legenden und Geschichten zu lesen gegeben. Wahrscheinlich … um … nun, um mich zu dem zu machen, was sie brauchte. Aber ich habe dabei auch einiges nützliche aufgeschnappt. Das hier sind eindeutig Zahlen. Alt-Whe-Annische Zahlen. Ich kann natürlich nur vermuten, aber ich denke, dass diese Tür sich öffnen wird, sobald der Countdown abgelaufen ist. Und dann sind wir frei. Wenn ich richtig liege, heißt das.“

Callans düstere Miene hellte sich ein wenig auf. „Das wäre großartig. Aber wie lange dauert das noch?“, fragte er.

„Keine Ahnung“, sagte Clary bedauernd, „Es kamen in den Geschichten nur ein paar Zahlen vor und die hab ich mir nicht alle gemerkt. Das eine da ist glaube ich eine neun. Oder eine acht. Und das hier könnte einer zwei entsprechen. Aber der Rest … das weiß ich wirklich nicht. Sie kommen mir nur bekannt vor.“

„Na großartig“, mischte sich Lynnra ein, die das Gespräch notgedrungen verfolgt hatte, „vielleicht sollte ich mich Kordra anschließen. Da stünden unsere Chancen ja besser, im House of Life zu überleben.“

„Das House habe ich überlebt“, bemerkte Callan gelassen, „warum also nicht auch das hier.“

Lynnra blickte ihn an und man merkte sofort, dass sie seine Worte erst für einen bloßen Scherz hielt. Immerhin war Callan, was sie betraf, ein Super-Nehmer und niemand, der es nötig hatte, sein Leben für das Amüsement anderer zu geben. Doch etwas in seinem Blick ließ sie stutzen. Sie wollte etwas dazu sagen, dann jedoch erklang ein bestialischer, heller Schrei und sie alle, auch der bislang von seiner Verstümmelung paralysierte Terrin, drehten sich um. Der Schrei war von Kordra gekommen. Die wagemutige Deovani hatte sich offenbar verschätzt und war den Berg aus Drohnen heruntergefallen. Das war es jedoch nicht, was ihr Ende besiegelt hatte. Das lag vielmehr an den beiden ratternden, alten Helikopter-Drohnen, die ihren Bauch aufgeschnitten und ihre Därme um ihre sich dadurch verlangsamenden Rotoren gewickelt hatten. In ihrem sterbenden Gesicht waren Unglauben und blanker Terror festgebrannt.

„Fuck!“, sagten Callan und Lynnra beinahe wie aus einem Mund.

„Oh Sternenmutter steh mir bei!“, sagte hingegen Clary und ging unbeholfen einen Schritt auf die Sterbende zu, bevor das Drohnengebirge sie stoppte. Die Blue Mind war leichenblass. Noch nie zuvor hatte sie jemanden auf so eine Weise sterben sehen.

„So muss es enden …“, blubberte es aus dem schockierten, verkrampften Mund von Kordra, deren Augen den Weg ihrer aufgewickelten Innereien verfolgte, die schließlich zertrennt und weggeschleudert wurden, „… wir versuchen aufzusteigen und dann … werden wir Futter für die Maschine.“

Sie lachte hysterisch, so als würde sie sich über ihre eigenen letzten Worte lustig machen. Dann klappte sie zusammen und fiel mit ihrem Gesicht in die Rotoren, die Kordra, der unbekannten Söldnerin aus Deovan, deren Geschichte nicht einmal Callan und Clary wirklich interessiert hatte noch im Tod das letzte bisschen Identität raubte.

Genau in diesem Moment rutschte der „Berg“ über ihnen ein ganzes Stück herab. Polternd und kreischend, begleitet von einem feinen Funkenregen und Wolken aus Metallstaub rollte die Lawine zusammen mit Kordras zerrissenem Kadaver auf sie zu und hätte sie womöglich zerquetscht, wenn nicht in diesem Moment Terrin aus seinem Wachkoma erwacht wäre und sich schützend vor sie gestellt hatte. Seine verstärkten Muskeln hielten dem Ansturm stand und so konnten Lynnra, Clary und Callan, die sich reflexartig hinter ihm weggeduckt hatten, den Einsturz heil überstehen. Das war jedoch nur zum Teil eine gute Neuigkeit. Denn als sich der Staub legte, war von der Fallgrube, durch die sie hereingekommen waren, nichts mehr zu sehen. Die Drohnen standen nun bis zur Decke. Lediglich um die vier herum war noch eine winzige Blase freien Raums zurückgeblieben.

„Wir sind am Arsch“, fasste Lynnra ihre Situation zusammen, wobei ihre Stimme blechern im engen Metallgewölbe widerhallte, „wir sind absolut gefickt!“

„Nein!“, sagte Clary trotzig über die Tränen hinweg, die aus ihrem zitternden Gesicht fielen, „nein, unsere Geschichte geht weiter. Wir werden Cestralia sehen. Wir werden es sehen!“

„Oh, das wirst du, Schätzchen“, sagte Lynnra zynisch und zugleich ungewöhnlich sanft und mitfühlend, „im Drogenrausch deiner sterbenden Synapsen, kurz bevor dein Arsch sich entleert. Aber ja, meine kleine Blue Mind, du wirst es sehen.“

~o~

Inzwischen war es in dem Raum heißer als zuvor in dem von dem mysteriösen Licht erleuchteten Gang. Clarys Augen fühlten sich an als würden sie gekocht unter dem Schweiß, der ihr unablässig über die aufgrund der inzwischen herrschenden Dunkelheit ohnehin fast nutzlosen Augen floss. Das Luftholen fiel ihr schwer, da die heiße Luft mehr Metall und Elektrizität als Sauerstoff zu bieten schien. Sie spürte Callans warmen Arm und hörte Terrin schwerfällig keuchen, was ihr die Hoffnung gab, dass beide noch lebten. Ob das auch auf Lynnra zutraf, wusste sie nicht. Kurz nach ihrer sarkastischen Prophezeiung waren sie getrennt worden als sich ein weiterer kleiner „Erdrutsch“ aus zappelnden Drohnen ereignet hatte.

Sie hätte nach ihnen rufen können, aber sie wusste, dass sie den Sauerstoff brauchte und sparte sich den Atem lieber. Sie hoffte, dass dies auch der Grund für das Schweigen ihrer Gefährten war. Aber das war noch nicht alles. Da war auch noch der wachsende Druck der Roboter, die sich immer wieder in Clarys Fleisch drängten und pressten, zwar ohne die Absicht sie zu töten, jedoch mit der Folge, dass ihr gesamter Körper inzwischen voll blauer Flecke und Prellungen war. Ohnehin war es selbst so einer optimistischen Frau wie ihr ein Rätsel, warum die Blechlawine sie noch nicht alle getötet hatte. Dennoch beschlich sie langsam das Gefühl, dass es bald so weit seien mochte.

Die einzige, schwindende Hoffnung lag in den Zahlen auf der Tür, deren kryptische Folge das einzige war, das sie sehen konnte, auch wenn die fremdartigen Zahlen nichts weiter erleuchteten als sich selbst. Clary wünschte, sie hätte damals bei ihrer Lektüre besser aufgepasst, aber auch wenn sie in ihrem Leben als Blue Mind eine Menge Bildung genossen hatte, hatte es nur wenig klassischen Schulunterricht über das Lesen und Schreiben von Büchern in deovanischer Sprache hinaus gegeben. Ihre Bildung hatte sich mehr nebenbei ergeben. Man hatte einen dressierten Vogel herangezüchtet, keine Wissenschaftlerin. Diese Erkenntnis, die Erkenntnis, dass man sie benutzt und schließlich verstoßen hatte, schmeckte noch immer bitter. Aber dennoch war Clary auf eine eigenartige Weise dankbar dafür, nicht so aufgewachsen zu sein wie die meisten Deovani, die Härte und Zynismus mit der als Investition geliehenen Muttermilch aufsogen. Ihr Herz war voller Geschichten, voller Träume und Illusionen und auch wenn die in manchen Situationen eine Hürde sein mochten, waren sie gerade der Grund dafür, dass sie nicht aufgab, dass sie nicht den Verstand verlor und dass sie weiter versuchte am Leben zu bleiben. Sie dachte an die Heldin Peringa aus der alten Rihnnischen Mythologie. Sie war tief in einem engen Schacht aus Obsidian gefangen gewesen, den ein Verräter, den sie einst als ihren Freund betrachtet hatte, fest über ihr verschlossen hatte. Doch sie hatte nicht aufgegeben. Sie hatte den Mord an ihrer besten Freundin verhindern wollen, den eben jener Verräter ebenfalls plante und das mit unbeugsamen Willen. Ja, ihre Entschlossenheit war so groß gewesen, dass am Ende der Kristall selbst mit ihr verhandelt und sie freigegeben hatte. Er war weich wie Schlamm geworden und Peringa war aufgetaucht wie ein Dämon, gebadet in öliges Kristallwasser, um Rache zu nehmen und der bösen Tat zuvorzukommen.

Clary glaubte nicht, dass sie mit den Maschinen würde reden könnten. Sie kannten keine Geschichten und selbst, wenn sie sie kannten, dann nur, um sie automatisch abzuspulen und eine lächerliche Imitation wahrer Erzählkunst darzubieten. Doch sie wusste, ja sie war fest überzeugt davon, dass sie hier rauskommen würde.

Leider war ihr Körper anderer Meinung. Der nächste Atemzug, den sie nahm, war so unglaublich schwer und abgestanden, dass sie das Gefühl hatte, sie müsste heißen Schleim einatmen und zum ersten Mal spürte sie, dass in ihren Lungen nichts mehr von der lebensspendenden Substanz ankam. Ihr Brustkorb drohte zu zerspringen, während die Zahlen vor ihren Augen zu einem einzigen, amorphen Licht verschmolzen. Schwindelig ergriff sie Callans Arm. Er fühlte sich kalt an, war es nur die plötzliche Kälte ihres eigenen Körpers oder hatte sie versehentlich nach einer Drohne gegriffen? Unfähig dieses Mysterium aufzulösen, schwanden Clary die Sinne, die Zahlen erloschen und begleitet von einem leisen Zischen ging ein rauer, frischer Luftzug durch den stickigen Raum.

~o~

Trotz seiner durch Devell neu erworbenen Fähigkeiten hatte sich Callan bislang nur selten überlegen gefühlt und durch seine mysteriöse Krankheit war dieses Gefühl noch mehr geschwunden. Nun jedoch, während er sich mit einer Hand am Tor festklammerte, das sich Clarys Hoffnung entsprechend letztlich doch noch geöffnet und sich zugleich in eine Art Windkanal verwandelt hatte, der die tausenden von Drohnen wie in einem Traktorstrahl an ihnen vorbeirauschen ließ, war das anders. Nicht allein, weil er sich selbst gegen den gewaltigen Sog stemmen konnte, sondern auch, weil seine andere Hand Clary, Lynnra und auch noch den bulligen, halb bewusstlosen Terrin festhalten konnte. Das war zwar nicht dieselbe Herausforderung wie sie über einer klaffenden Schlucht zu halten, aber dennoch war es kein Spaziergang.

Auch für jemanden mit seinen Kräften war es nicht einfach und seine Muskeln protestierten gewaltig, aber irgendwie schien sein Körper diese Reserven in diesem Notfall mobilisieren zu können, auch wenn Callan befürchtete, dass er den Preis dafür später bezahlen würde. Doch erst einmal kam es darauf an zu überleben. Und wie es aussah würden sie das womöglich, denn wie zuvor gaben die Drohnen sich alle Mühe sie nicht zu verletzen und schoben sich seitlich an ihnen vorbei als wären sie ein Krankenwagen inmitten einer Rettungsgasse. Dann wurden sie von der letzten Drohne passiert und es wurde vollkommen still, wenn man davon absah, dass Callan noch immer das Zischen der vorbeirauschenden Maschinen in den Ohren klingelte. Callan rappelte sich auf und sah sich in dem Gang um, der ebenfalls von einem kalten, blauen Licht leidlich erhellt wurde, das der ganzen Umgebung etwas sehr Unwirkliches verlieh. Der Boden war übersät mit kleinen Schräubchen, Schrottteilen, Flügelresten und winzigen Armsegmenten, die den Drohnen auf ihrer Höllenfahrt entglitten waren. Doch wirklich interessant waren die Wände. Sie waren überall durchbrochen von Alkoven mit gläsernen Schränken, in denen die unterschiedlichsten Gerätschaften an und in humanoiden Statuen steckten. Zumindest hoffte Callan, dass es Statuen waren und nicht die körperlichen Hinterlassenschaften der ehemaligen Bewohner dieses Planeten.

„Was für einen Sinn hatte das?“, fragte Clary stöhnend, während sie sich bemühte, ihre Orientierung zurückzugewinnen, „sollten sie verschrottet werden?“

„Ich weiß es nicht genau“, sagte Callan, „aber ich glaube es nicht. Das hätte man auch einfacher haben können. Womöglich hatten diese Dinger hier einstmals ordentlich in Reih und Glied gewartet, bevor sie zu ihrem Einsatzort aufgebrochen waren und die Taktung dieser Tür war sicher schneller gewesen. Wie bei einer Ampel. Aber ich vermute, dass hier einiges in Unordnung geraten ist. Vorhin muss sie auch noch offen gewesen sein. Deshalb der kühle Luftzug.“

„Vielleicht spielt auch etwas mit uns“, vermutete Clary.

„Das hoffe ich nicht“, sagte Callan, „ich hasse Spiele wie die Pest. Spätestens, seit ich das House of Life von innen gesehen habe.“

„Da bis du stolz drauf, was? Noch so einer von diesen lebensmüden Nehmern“, urteilte Lynnra, „im Ernst, eure Probleme möchte ich haben. Ich wüsste schon besseres mit meinem Leben anzufangen, als es wegzuwerfen, wenn ich so reich wäre.“

„Reich war ich damals gewiss nicht“, sagte Callan, „aber ich kann zumindest etwas verstehen, warum Nehmer so etwas tun. Deovan lässt dich nicht los. Egal, auf welchem Extrem du gerade balancierst. Du bleibst ein Sklave des Systems. Das zu erkennen, macht dich fertig.“

„Wie du meinst“, sagte Lynnra, „aber ich wäre schon lieber ein Sklave, der sich eine hochklassige VR-Ausrüstung und eine Menge Freizeit leisten kann.“

„Was ist das?“, fragte Terrin, der inzwischen wieder halbwegs bei Bewusstsein war und zeigte mit einem intakten Arm auf einen der Glasschränke.

„Sieht mir nach Whe-Ann-Technologie aus“, sagte Clary, „Implantate womöglich.“

„Meint ihr, die funktionieren noch?“, überlegte Terrin laut und verzog den breiten Mund als er auf den abgeschälten Knochen sah, der aus seinem noch intakten Unterarm ragte.

„Wahrscheinlich“, sagte Clary, „sie sind langlebig. Die meisten ihrer Geschenke funktionieren auch heute noch. Bei ihrer eigenen Technologie sollte es also nicht anders ein. Aber das heißt nicht, dass du sie ausprobieren solltest. Diese Technik ist tückisch. Es kann sein, dass sie dein Gewebe verändert oder dass dein Arm dich urplötzlich erwürgt. Oder uns.“

„Das Risiko gehe ich ein“, sagte Terrin entschlossen und der Schmerz in seinen Augen war so quälend, dass Clary ihn nicht dafür tadeln wollte.

„Überleg dir das gut“, sagte Callan, der erkannte, wie ernst es Clary mit ihrer Warnung gewesen war, „mein Versprechen steht. Wenn wir hier rauskommen und eine Welt mit entsprechender medizinischer Ausstattung finden, finanziere ich dir das beste und sicherste Implantat, das für Geld zu haben ist.“

„Das ist wirklich nett, Boss“, sagte Terrin, „aber weißt du, es sind ein bisschen viele Wenns für meinen Geschmack und ich habe schon viel zu oft auf die Versprechen von Nehmern gebaut. Sie finden fast immer einen Weg dich übers Ohr zu hauen. Selbst bei Verträgen. Tut mir leid, aber das hier ist real. Und ein einarmiger Söldner is’ eh bald Futter für die Würmer.“

Mit diesen Worten öffnete er die Glastür und nahm der Statue ein silbrig-grün-schimmerndes Handimplantat ab, das zwar etwas schlanker und dünner war als Terrins eigene, biologisch verbesserte Hand, aber ansonsten noch ziemlich intakt schien.

„Fast wie neu“, sagte Terrin, während er das Implantat in seiner gesunden Hand drehte, es eingehend betrachtete, die beweglichen Gelenke ausprobierte und prüfend mit dem Finger darüberfuhr, „ich frage mich nur, wie ich es anlege.“

Plötzlich ertönte ein Klickgeräusch als Terrin eine bestimmte Stelle an der Prothese berührte und sofort schwebte das Ding empor und legte sich wie die Umarmung eines Liebhabers auf seine Knochenhand.

„Hey“, sagte Terrin erschrocken, „das ist nicht gut. Nehmt es ab. Nehmt es ab!“

Dann ertönte ein leises Zischen, feiner Dampf stieg von Terrins Knochen auf und er schrie nun ohne Worte.

„Was zur Hölle?!“, rief Callan, während Clary sich ein Herz faste, und versuchte das Implantat von seiner Hand zu lösen.

„Das würde ich lassen“, sagte Lynnra, „sieht mir verdammt verdächtig nach Säure aus. Oder nach echt üblen Enzymen.“

Wie um Lynnras Warnung zu bekräftigen spritze ein Tropfen der Flüssigkeit auf Clarys Hand, die ebenfalls zischte und ließ Clary zurückzucken.

„Sie hat wohl recht“, sagte Clary resigniert, „wir müssen den Prozess wohl geschehen lassen.“

Wie zuvor an der Tür, die Terrins Hand ruiniert hatte, musste sie einfach dabei zusehen, wie das Implantat den nutzlosen Handknochen verdaute und sich nur kurze Zeit später in den Armstumpf schob, wie in einen Stecksockel.

Ein letztes Mal brüllte Terrin gepeinigt. Dann verwandelte sich sein Schmerz in Erstaunen und Freude als er die neu erworbene Hand bewegte. „Fuck, das war die Hölle! Aber es hat sich gelohnt.“

Plötzlich lachte Lynnra laut auf.

„Was ist so lustig“, wollte Terrin wissen.

„Ich glaube, die werden normalerweise mit Betäubung angelegt“, sagte sie grinsend und wies auf ein kleines Regal mit verschiedenen Ampullen, das von dem klobigen Schrank ein wenig verdeckt worden war, „ist sogar beschriftet. Unter anderem in unserer Sprache.“

„Fick dich!“, ächzte Terrin wütend.

„Hey, bleib cool. Ich hab das nicht gewusst“, entgegnete Lynnra zwinkernd, was ihrer Rechtfertigung sofort jede Wirkung nahm.

„Ich hoffe das geht gut“, sagte Clary, „ich wünsche es dir wirklich.“

„Danke“, sagte Terrin mit dem Tonfall eines sanften Riesen oder auch eines Verliebten, „davon gehe ich aus. Immerhin haben deine Bilder mich gelehrt, nicht alles immer nur schwarzzusehen.“

Clary sah das nicht ganz so. Optimismus war gut, wenn ein übler Ausgang nicht wahrscheinlicher war als das Gegenteil. In diesem Fall jedoch lagen die Dinge womöglich anders. Nichts, was sie über die Whe-Ann-Technologie gehört oder gelesen hatte, gefiel ihr sonderlich. Andererseits war es für Terrin jetzt ohnehin zu spät.

„Ist das hier auch so skeptisch zu betrachten?“, fragte Callan, der sich einen grün verglasten Schrank ansah, der an der gegenüberliegenden Wand befestigt war. Anders als bei dem, an dem sich Terrin bedient hatte, war in diesem keine Statue, sondern die präsentierten Technologien waren direkt an der Rückwand aufgehängt und ähnelten zum größten Teil Röhren, Klammern oder auch Mikrochips.

„Beinahe“, erwiderte Clary, „das sind Waffenerweiterungen. Auch nicht ungefährlich, aber immerhin baut man sie sich nicht in den Körper ein. Dennoch würde ich eher davon abraten. Diese Technologie besitzt einen eigenen Willen. Und egal wie lang er schläft, er wird das nicht für immer tun.“

Aber Callan hörte gar nicht mehr richtig zu. Er blickte auf seinen Pinpointer wie ein verzücktes Kind an Weihnachten. „Meinst du, damit könnte ich das mickrige Ding hier verbessern?“

„Vielleicht“, sagte Clary erneut, „aber du solltest lieber nicht …“

Callan öffnete den Schrank und holte eines der Rohre und mehrere Microchips hervor und brachte sie in Verbindung mit seiner Waffe. Wie zuvor Terrins Implantat suchten sie sich selbständig ihren Platz.

„Abgefahren“, sagte er, „ich kann es nicht erwarten was das alles vermag. Ich frage mich, ob es eine Grenze gibt, wie viel ich integrieren kann.“

Noch während er das sagte, holte er fünf weitere Chips, zwei klammerartige Module und zwei kleinere pistolenlaufartige Röhren aus dem Schrank, die er sofort begann an seiner Waffe zu befestigen.

„Hey, lass uns auch etwas übrig“, beschwerte sich Lynnra.

„Würde ich ja“, sagte Callan grinsend, „nur habt ihr keine Waffen, auf die man die Dinger montieren könnte.“

„Bastard!“, kommentierte Lynnra, „aber leider hast du recht. Keine Ahnung, warum die hier keine Waffen im Sortiment haben.“

„Hatten sie“, bemerkte Terrin und zeigte auf einen geplünderten Schrank mit roter Verglasung, „aber offenbar hat sich da schon wer bedient.“

„Dann müssen es wohl die Implantate tun“, fügte Lynnra nach kurzem Überlegen hinzu, „ich bin gespannt, was die so drauf haben.“

„Nochmal: Ihr habt keine Vorstellung davon, was für ein Risiko das ist!“, protestierte Clary, „das hier ist kein Süßigkeitenladen. Wenn ihr euch an all dem einfach so bedient, hat das Konsequenzen. Ihr tauscht eure Gesundheit gegen unbekannte Effekte. Das ist ein verdammt schlechtes Geschäft.“

„Nichts für ungut, mein Täubchen, aber du bist in einem goldenen Käfig groß geworden. Dort draußen, im realen Deovan gab es für uns praktisch nur schlechte Geschäfte. Doch wir hatten keine andere Wahl als sie abzuschließen. Und die mit den Konsequenzen waren nicht die schlechtesten. Sie bedeuteten nämlich, dass man noch lebte, um sie zu tragen. Und hier ist es nicht anders. Ich bin mir sicher, dass wir noch in Situationen kommen, in denen wir diese Schlagkraft brauchen“, erklärte Lynnra.

Dann genehmigte sie sich eine Ampulle mit der Betäubungsflüssigkeit und setzte sich eine Metallspinne auf die Schulter, die sofort auf ihren Rücken krabbelte, ihre Größe schlagartig verzehnfachte und ihre langen, dünnen Arme direkt in ihr Rückgrat schob. Anders als Terrin gab Lynnra dabei keinen Laut von sich, sondern zuckte nur kurz zusammen und streckte sich wie nach einem erholsamen Schlaf, als die Prozedur vorbei war.

„Geil!“, sagte sie und machte ein paar ungewöhnlich schnelle Kamfsportmanöver, wobei sie ihre flexiblen Finger-Implantate wie Peitschen nutzte, „ich fühle mich so beweglich wie schon seit Jahren nicht mehr. Ich glaub’, ich könnte das stundenlang machen, ohne müde zu werden.“

„Beeindruckend“, gestand Callan zu, „aber warte mal ab, was jetzt passiert.“

Callan riss seinen Pinpointer empor, die Waffe, die er zwar liebgewonnen hatte, die ihn aber auch schon so oft beschämt und im Stich gelassen hatte und gab einen Schuss auf den vor ihnen liegenden Gang ab. Anstelle der üblichen, fast wirkungslosen Patronen löste sich ein Inferno vernichtender Energie aus der Waffe. Ein kurzes Beben ging durch den gesamten Raum.

Blaue Flammen leckten an den Wänden und schmolzen die darin verbauten Kabel, Chips und Platinen zu einem heißen Metallamalgam. Bevor das plasmaartige Geschoss wie ein eisblauer Feuerball in der Ferne verschwand.

„Bist du wahnsinnig?“, fragte Clary kopfschüttelnd, „Was, wenn du uns mit deiner Aktion den Weg verbaust oder irgendetwas aufschreckst? Hast du darüber mal nachgedacht. Ihr benehmt euch wie unreife Kinder und das, obwohl ihr euch für die Erwachsenen haltet.“

„Alles gut“, sagte Callan, der noch immer stolz grinsend auf die Verheerungen blickte, die seine Waffe angerichtet hatte, „da wird schon nichts …“

Bevor er seinen Satz zu Ende führen konnte, brach Callan auf dem Boden zusammen. Seine Waffe fiel herunter und blieb liegen, den zerstörerischen Lauf auf Clary gerichtet.

~o~

Zum Glück löste sich kein weiterer Schuss. Ansonsten war die Situation aber alles andere als glücklich.

„Verdammt!“, polterte Clary, „ich habe euch doch gewarnt. Diese Technologie ist gefährlich.“

„Sein Zusammenbruch hat nichts mit der Waffe zu tun“, stellte Lynnra fest, die als erste bei Callans bewusstlosen Körper angekommen war und bereits dessen Anzughemd aufgeknöpft hatte.

„Was ist es dann?“, wollte Clary wissen.

„Der Kerl verrottet lebendig“, sagte Lynnra und vertrieb mit der Hand die üblen Düfte aus ihrer Nase.

„Was?!“, fragte Clary und beugte sich ebenfalls herunter. Die graue Substanz, die einen großen Teil von Callans Brust bedeckte, weckte bei ihr ganz ähnliche Assoziationen.

„Nee, er verrottet nicht“, sagte Terrin, der sich ebenfalls neben Callan niedergekniet hatte, „hab mal so ‘nen medizinischen Lehrgang gemacht, aber auch so schon genug Leute mit Nekrosen gesehen. Das ist was anderes. Eher wie ein Pilz oder sowas.“

„Meinst du, es ist ansteckend?“, fragte Lynnra angewidert und wich sofort einige Schritte zurück.

„Weiß ich nicht“, sagte Terrin schulterzuckend, der sich mit seinem neuen Hand-Implantat offenbar recht sicher fühlte, „hab ja selbst keinen genauen Plan, was das ist. Wahrscheinlich irgendein Konzernscheiß. Ein Gift oder ein speziell designetes Pathogen, das ihm heimlich ein anderer Nehmer verpasst hat, der sein Geld und seine Position wollte. In dem Fall sollte das nur für ihn gefährlich sein. Aber was weiß ich schon.“

„Würde sagen, wir lassen ihn hier liegen“, schlug Lynnra vor, „meinst du, du kannst seinen Identifier mitnehmen? Dann lassen wir ihn bei irgendwem hacken und teilen das Restgeld unter uns auf. Ganz fair. Wir können auch einen Vertrag abschließen, wenn euch eine mündliche Vereinbarung nicht reicht.“

„Nein, auf keinen Fall!“, sagte Clary, „wir werden Callan retten!“

„Hör mal zu, Kleine“, sagte Lynnra und ließ ihre Fingererweiterungen bedrohlich herausschnappen, „ich habe in den letzten Stunden gründlich nachgedacht und mir einen Vorsatz gefasst, weißt du? Ich lass‘ mir künftig von niemandem mehr befehlen, was ich zu tun habe. Von ‘ner Blue Mind schon gar nicht. Ich mag dich. Wirklich. Aber ich mag auch meine Ruhe. Also halt dein Maul und komm mit, wenn du willst und streich’ dir deinen fairen Anteil ein oder bleib hier und trauer um deinen Sugardaddy. Aber wenn du noch einmal in diesem Ton mit mir redest, wird der kleine Singvogel sein Goldkehlchen vermissen.“

„Du lässt sie in Ruhe, Lynn’“, sagte Terrin eisig, „Clary steht unter meinem Schutz.“

„Ist ja schon gut“, erwiderter Lynnra mit einem durchaus überraschten Gesichtsausdruck, „dieser Gedankenreise-Hokuspokus scheint ja mächtig Eindruck auf dich gemacht zu haben. Aber gut. Ich bin hier nicht die Böse und will der Kleinen ja eigentlich auch gar nichts. Aber dem Nehmer können wir nicht helfen. Das ist nun mal so. Egal, wie nett man es verpackt. Dieses Pilz-Zeug oder was auch immer es ist, hat ihn halb zerfressen und holt sich bald den Rest. Und vielleicht holt es auch uns, wenn wir nicht aufpassen. Für Kollege Callan gibt es keine Heilung. Nur den langen Feierabend.“

„Das stimmt nicht“, widersprach Clary leise, während sie sich dem Regal näherte, in dem Lynnra zuvor das Schmerzmittel entdeckt hatte, „es gibt eine Möglichkeit, ihn zu retten.“

„Ach und die wäre?“, fragte Lynnra.

„Whe-Ann-Nanobots“, antwortete Clary gepresst.

Lynnras Lachen hallte lauter durch den Raum als zuvor Callans Schuss.

~o~

„Was … was ist passiert?“, fragte Callan benommen.

„Wir haben dich behandelt“, sagte Clary und deutete auf seine nun wieder intakte Brust, „nun geht es dir besser, oder?“

„Schon“, sagte Callan und starrte ungläubig auf seine Brust, die mit rosiger, glatter, taufrischer Haut bespannt war, „aber wie …?“

„Nicht so wichtig“, sagte Clary verlegen, „wichtiger ist, dass wir diesen Ort verlassen. Die Luft ist nicht wirklich besser hier drin als draußen und im Grunde schadet jede Sekunde auf diesem Planeten unserer Gesundheit. Muss ja nicht sein, dass du gleich wieder umkippst. Kannst du gehen?“

„Ja“, sagte Callan und stand ohne Hilfe und erstaunlich geschickt auf. „Danke!“, sagte er zu Clary, „und entschuldige nochmal für alles, was ich …“

„Schwamm drüber“, meinte Clary, „lass uns herausfinden, was dieses Höllenloch sonst noch für uns bereithält.“

Callan nickte und ergriff seine Waffe. Die anderen beiden standen schon bereit. Gemeinsam betraten sie den halb geschmolzenen aber mittlerweile wieder abgekühlten Gang.

~o~

„Hört ihr das?“, fragte Lynnra, die in dem zunehmend schmaler werdenden Tunnel die Vorhut bildete, während Callan und Clary hinter ihnen gingen.

„Ja“, sagte Terrin, „klingt wie ein ganzer Bienenschwarm. Unsere mechanischen Freunde sind wohl doch nicht einfach verschrottet worden.“

„Nein“, sagte Lynnra, „und das ist ein gutes Zeichen.“

„Warum?“, fragte Callan.

„Nun, das bedeutet, dass sich der Gang nicht so weit verengen wird, dass wir nicht mehr durchpassen“, sagte Lynnra.

„Selbst wenn, könnte unser werter Herr Nehmer ihn wohl einfach freischießen“, sagte Terrin grinsend.

„Und uns dabei lebendig begraben“, bemerkte Lynnra, „wobei das wahrscheinlich auch keinen Unterschied mehr machen würde.“

„Warum so pessimistisch?“, fragte Clary.

„Tja. Wir haben bislang überlebt, das will ich zugestehen“, antwortete Lynnra, „aber eine Fluchtmöglichkeit von diesem Planeten oder auch nur den geringsten Hinweis darauf haben wir immer noch nicht gefunden. Früher oder später werden wir hier verrecken. Spätestens wenn wir verhungern und verdursten.“

„Was meinst du, wozu all diese Drohnen dienen, wenn nicht dazu, etwas zu reparieren. Viele von ihnen hatten Werkzeuge montiert. Ist dir das nicht aufgefallen?“, erwiderte Clary.

„Stimmt“, sagte Terrin und auch seine Miene hellte sich auf, „das würde tatsächlich Sinn ergeben.“

„Nicht alles, was man reparieren kann, ist auch ein Raumschiff“, antwortete Lynnra.

„Und nicht alles, was hoffnungslos klingt, ist auch wahr“, sagte Clary etwas genervt.

„Das ist richtig“, sagte Lynnra, „nur das Meiste.“

„Hört verdammt nochmal auf“, verlangte Callan, „Wir werden es erleben. So oder so. Und in einem hat Clary definitiv recht. Dein Pessimismus bringt uns nicht weiter. Wir werden es so machen wie bisher auch. Wir werden uns einer Herausforderung nach der anderen stellen und unser Bestes tun, sie zu überwinden. Und diesmal sind wir gut ausgestattet.“

Callan hob demonstrativ seine runderneuerte Waffe, worauf Lynnra abschätzig die Augen verdrehte.

„Vielleicht wird Gewalt auch gar nicht nötig sein“, vermutete Clary, „bisher waren die Drohnen auch nicht aggressiv. Jedenfalls haben sie uns nicht absichtlich geschadet.“

„Das ist wahr“, gestand Callan zu, „aber das muss nicht so bleiben und es ist nicht auszuschließen, dass wir auf Kampfdrohnen treffen. Gerade, wenn es etwas Wertvolles zu bewachen gibt.“

„Der Nehmer hat recht“, stimmte Lynnra zu, „und bald werden wir sehen, auf welche Weise wir abtreten dürfen. Da vorne geht es Abwärts. Schon wieder!“

Sie zeigte auf die Stelle, an der der Gang endete und von einem klaffenden Loch abgelöst wurde.

„Keine Leiter!“, sagte Terrin enttäuscht, als er einen Blick auf die Öffnung warf, durch die sich ein kreisrunder Ausschnitt des fernen, von kristallblau leuchtenden Drähten übersäten Metallbodens abzeichnete, „und der Boden ist gut hundert Meter entfernt. Das können wir vergessen.“

„Vielleicht auch nicht“, sagte Clary und einer spontanen Eingebung folgend nahm sie einen verstreuten Metallsplitter, der auf dem Boden lag und warf ihn in das Loch. Er fiel herunter, ja. Aber eher nach Art einer Feder als nach der eines schweren Gegenstandes.

„Ein Kraftfeld“, vermutete Terrin, „du bist echt erstaunlich, Clary. Das würde auch erklären, wie die nicht flugfähigen Drohnen heil nach unten kommen.“

„Ihr könnt es gerne ausprobieren“, sagte Lynnra spöttisch, „dann wissen wir, ob es auch wirklich funktioniert.“

„Das werden wir“, sagte Callan und blickte bestätigend zu Clary, „und wenn wir unten ein Schiff finden, Lynnra, darfst du vielleicht sogar im Frachtraum mitfahren.“

„Ich komme auch mit“, gab sich Terrin einen Ruck, „vielleicht hättest du dir lieber etwas Mut implantieren lassen sollen, Lynnra.“

„Mut ist keine Tugend an sich. Ich überlebe lieber“, sagte Lynnra, „vielleicht komme ich nach, wenn ihr Hilfe braucht. Vorausgesetzt ihr seid noch in der Lage mich zu rufen.“

Terrin schüttelte verächtlich den Kopf. Dann sprangen er, Callan und Clary gemeinsam hinab und trieben einmal mehr dem Ungewissen entgegen.

~o~

„Das ist wie fliegen“, jauchzte Clary vergnügt und schwamm mit entspannten Kraulbewegungen durch die Luft, die von glitzernden Schaltkreisen wie von einem unterirdischen Sternenhimmel erhellt wurde, „hier könnte ich mich stundenlang aufhalten.“

„Es ist großartig, ja“, musste auch Callan grinsend eingestehen, der sich kräftig von der bloßen Luft abstieß, eine Pirouette drehte und dabei sogar wieder etwas an Höhe gewann. Ehrlich gesagt hatte sich Callan seit seinen ersten, unbeschwerten Momenten im Recreation Room nicht mehr so entspannt gefühlt. Dieses Kraftfeld, das sich flexibel auf die Bedürfnisse eines Benutzers einzustellen schien, hatte etwas ungemein Meditatives.

„Leider ist es nicht das einzige Große hier“, stellte Terrin fest, dessen anfangs ebenfalls verzückter Gesichtsausdruck sich in blanken Terror verwandelt hatte, als er einen genaueren Blick auf den unteren Teil der riesigen Halle warf.

Dort erhob sich ein gigantischer Koloss mit vier riesenhaften, stählernen Armen, mit achtfingrigen, dicken Fäusten, sechs dünnen, vielgelenkigen Beinen und einem Kopf, der an eine Ansammlung gläserner Trauben erinnerte, in deren einzelnen „Früchten“ etwas Organisches in einer gelblichen Flüssigkeit schwamm. Der gedrungene Rumpf der Kreatur hingegen, in dem es mehrere verdächtige Vertiefungen und Ausstülpungen gab, wurde umschwärmt von jenen Drohnen, mit denen zusammen sie noch vor kurzem eingesperrt gewesen waren. Die kleineren Roboter hantierten, schweißten und krabbelten auf dem Körper ihres unbewegten größeren Bruders herum wie Putzerfische auf einem Raubfisch.

„Meine Fresse!“, sagte Callan, „wie ein Raumschiff sieht das zumindest nicht aus.“

„Das ist ein Marankor“, sagte Clary, „eine besonders kranke

Schöpfung der Whe-Ann. Laut meinen Büchern sollten sie dazu dienen, die unwilligen Vasallenvölker der Whe-Ann, die sich nicht von ihrem Charme einlullen ließen, zur Zusammenarbeit zu bewegen. Sie sollten in der Lage gewesen sein, sich über lange Strecken blitzschnell durch den leeren Raum zu bewegen und mit ihren Waffen ganze Regionen zu entvölkern. Ich habe sie damals für reine Legenden gehalten. Verdammt, sogar viele der Autoren der Bücher, die ich dazu gelesen habe, haben das. Aber ihre Beschreibungen passen genau. Nur, dass der hier etwas kleiner ist.“

„Für meinen Geschmack ist er immer noch groß genug“, meinte Terrin, „aber dann ergibt alles Sinn. All diese Drohnen dienen anscheinend dazu, dieses Ding instandzuhalten. Nur für den Fall, dass seine Herren zurückkehren und sich ein paar neue Sklaven klarmachen wollen.“

„Die Frage ist nur, was wir jetzt tun“, sagte Callan, „am liebsten würde ich schnell und unbemerkt an diesem Monstrum vorbeigelangen, bevor er Lust bekommt, uns auszuradieren. Aber falls es einen Ausgang gibt, sehe ich ihn nicht.“

„Dann müssen wir danach suchen“, meinte Clary.

„So ist es“, bestätigte Callan, „aber ich glaube nicht, dass der Riese uns gemütlich stöbern lassen wird. Noch ist er untätig, aber das wird wahrscheinlich nicht so bleiben. Ich würde sagen, Terrin und ich lenken ihn ab und du versucht einen Ausgang zu finden. Einverstanden?“

„Klar“, antwortete Clary zwinkernd, „ich wollte ohnehin noch ein paar Runden fliegen“.

Clary grinste, aber die Anspannung war ihr dennoch anzumerken, „aber greift ihn erst an, wenn er selbst aktiv wird. Vielleicht bleibt er ja inaktiv und ihr würdet ihn überhaupt erst aufwecken.“

Callan nickte.

Zufrieden setzte Clary zum Sinkflug an, was innerhalb des Kraftfeldes problemlos möglich war. Es war, als würde der Luftwiderstand sinken, je mehr sie versuchte nach unten zu gelangen. Dabei versuchte Clary einen möglichst großen Abstand zu dem Marankor zu bewahren. Anders als Callan und Terrin war sie unbewaffnet und auch nicht sonderlich stark. Wenn sie das Ding erwischte, war es aus. Clary versuchte ihren Herzschlag zu beruhigen und sich zugleich zu ermahnen, dass das hier keine Mentravia war. Hier unten waren die Gefahren real und tödlich. Trotzdem konnte sie nicht verhindern, dass sie es auch ungemein aufregend und faszinierend fand, einer Kreatur gegenüberzutreten, von der sie bislang nur gelesen hatte.

Mit erheblicher Mühe löste sie ihren Blick von der Gestalt und von ihren emsigen Pflegern, deren Summen und Brummen teilweise sehr nah an ihrem Ohr ertönte und konzentrierte sich stattdessen auf die Wände. Soweit sie es überblicken konnte, bestanden sie nur aus blau oder grün glitzernden Drähten, Röhren, Platinen und Leitungen und denselben übereinander geschichteten Stahlplatten wie auch der Boden. Eine Öffnung oder etwas anderes Auffälliges konnte sie daran nicht entdecken, aber bisher verdeckte der Leib des Marankoren auch einen beträchtlichen Teil ihres Sichtfeldes. Behutsam versuchte sie, ihn zu umrunden.

„Clary!“, hörte sie Callan plötzlich rufen, erkannte die Bedrohung aber bereits, bevor sie seine Warnung vernahm.

Leider half ihr das wenig. Die acht Finger der riesenhaften Hand fuhren wie Gitterstäbe vor ihren Augen herunter und umschlossen sie wie eine lästige Fliege. Ihr Sichtfeld schloss sich mit atemberaubender Geschwindigkeit und ließ nicht mehr als eine winzige Lücke zurück. Clary beschleunigte und nutzte die vom Kraftfeld veränderte Luft wie eine Profischwimmerin das Wasser. Aber noch bevor sie die Lücke erreicht hatte, begriff sie, dass sie zu spät kommen würde. Dunkelheit hüllte sie ein. Dann kam der Druck und quetschte ihren Körper wie eine Naturgewalt. Nur ein, zwei Millisekunden länger und das Leben der Blue Mind hätte in diesem Augenblick ein tragisches Ende gefunden. Doch stattdessen ließen die mörderischen Kräfte schon wieder nach und durch die Öffnung der sich aufklappenden Metallhand sah sie das knisternde Funkeln von Callans Waffe.

„Danke, Chef“, flüsterte Clary schmunzelnd. Sie gönnte sich keine Atempause, obwohl sie die Quetschungen und blauen Flecke an ihrem Körper schmerzhaft spürte und beeilte sich der Hand zu entkommen. Sie achtete nicht auf den Kampf, der hinter ihr entbrannte. Achtete nicht darauf, was Callan oder Terrin taten, sondern arbeitete sich weiter vor, bevor sich das Ungetüm von Callans Angriff erholen und erneut zuschlagen könnte. Ihre Hoffnung galt dem Rücken des biomechanischen Wesens. Soweit sie es hatte beurteilen können, entsprachen zumindest seine Arme einer humanoiden Anatomie und würden sich nicht nach hinten bewegen, falls der

Marankor seine Beine, die er bislang nicht verwendet hatte, nicht doch zum Einsatz brachte. Sie hoffte, dass sie defekt waren, die Bewegung ihn zu viel Energie kosten oder er nur auf die Verteidigung seines Blickfeld konzentriert war, aber da konnte sie sich natürlich nicht sicher sein. Vor allem aber würde sie von seinem Rücken aus die hintersten Ecken des Areals einsehen können. Ihre letzte Hoffnung auf einen Ausgang. Zuvor aber stellte sich aber ein anderes Problem: Um dorthin zu gelangen, musste sie die Drohnen durchqueren, die wie ein Asteroidenschwarm um den Leib der Kreatur kreisten. Diesen Malstrom aus beweglichem Metallschrott zu durchqueren, kam einem Wunder gleich. Zum Glück glaubte Clary an Wunder.

~o~

Callan strahlte über sein ganzes Gesicht. Nicht nur, dass seine lächerliche Pistole nun ballerte wie ein kleiner Strauss Atombomben, es war ihm auch gelungen, das Wesen abzulenken und Clary damit vorerst das Leben zu retten. Zugleich hatte er eine ordentliche Schramme in zwei der Armgelenke gerissen, was sich durch elektrisches Knistern, abgesprengte Metallplatten und freiliegende Drähte bemerkbar machte. Noch ein paar von diesen Schüssen und der gefürchtete Planetenversklaver der Whe-Ann wäre einen Arm los. Terrin hatte auf seiner Seite ähnlich viel Erfolg gehabt. Mit seinen verbesserten Händen war es ihm gelungen, zwei der Finger von einer Hand abzureißen. Zwar hatte er sich wieder in die Mitte zurückziehen müssen, als ihn eine der anderen Hände fast gepackt hatte, aber Callan war dennoch zuversichtlich. Trotz allem war der Marankor ein ernstzunehmender Gegner, aber mit seinen Super-Nehmer-Reflexen und Terrins Whe-Ann-Verbesserungen sollte es ihnen gelingen, ihn zu bezwingen. Sie brauchten nur die nötige Geduld, um …

Ein hohes Fiepen und Zischen riss Callan aus seinen Gedanken, als sich eine Wolke schwarzen Staubs in einer der diversen Löcher im Leib des Wesens massierte. Noch bevor Callan auch nur eine Theorie hatte, was das bedeuten könnte, explodierte die Wolke in einem horizontalen Regen messerscharfer Splitter. Alles, was Callan noch tun konnte, war sich eng zusammenzukauern und die empfindlichsten Stellen seines Körpers mit seinen Gliedmaßen abzuschirmen. Dann war der horizontale Regen heran und Callan spürte die Auswirkungen.

Seine Nerven entflammten und er schmeckte Blut als Adern zerfetzt, Haut perforiert und Organe verletzt wurden. Ihm wurde übel und hätte er seinen alten Geber-Körper noch besessen, wäre es das für ihn gewesen. Aber sein privilegierter Organismus heilte all die Wunden rasant und als der Geschosshagel schließlich endete, gelang es ihm, die Situation einzuschätzen. Offenbar hatte er noch das Glück gehabt, im Randbereich des Geschossradius gewesen zu sein. Einige Drohnen jedenfalls, die sich liebevoll um den Giganten gekümmert hatten, schwebten nun als durchlöcherte, kaum mehr erkennbare Wracks durch den Raum und diejenigen, die sich im Zentrum des Bombardements befunden hatten, sahen am übelsten aus.

Er hielt nach Terrin Ausschau und stellte mit Erleichterung fest, dass auch er noch lebte und sogar bei bester Gesundheit war. Offenbar hatte er sich sogar knapp außerhalb der Reichweite befunden. Callan atmete kurz durch und bewegte sich so schnell er konnte wieder zu den Armen des Ungeheuers. Er sah es als Mahnung, den Cyborg nicht zu unterschätzen, aber besiegen würden sie ihn. Das stand für ihn nach wie vor fest.

~o~

„Verdammte Scheiße!“, fluchte Lynnra. Eigentlich hatte sie sich gerade einen Ruck geben und sich Terrins und Callans Himmelfahrkommando doch anschließen wollen, als die Hölle über sie hereingebrochen war. Es waren zwar nur einige versprengte Splitter gewesen, aber was auch immer die drei da bekämpften, hatte ihr dennoch genügend von seiner Liebe übermittelt, um ihr mehrere hässliche Kratzer in den Armen und im Gesicht zu bescheren. Wunden, die zwar nicht zwangsläufig tödlich, aber allesamt gefährlich waren, wenn man keine vernünftige medizinische Ausrüstung bei sich hatte. Lynnra fragte sich, was sie geritten hatte, sich nicht auch dieselben Nanobots einzuverleiben wie sie Clary diesem Nehmer-Bastard gespritzt hatte. Die hätte sie nun gut gebrauchen können.

Immerhin schien das Sperrfeuer fürs Erste versiegt zu sein, auch wenn sie nicht sagen konnte, ob es daran lag, dass ihr Gegner triumphiert oder ob er nur eine Feuerpause eingelegt hatte. Wenn die anderen tot waren, waren ihre Chancen auf ein Entkommen nicht unbedingt gewachsen. Nicht, dass sie vorher besonders groß gewesen wären, aber irgendwie wünschte sie sich, dass sie sich diesem Kampf angeschlossen hätte. Dann wäre zumindest was los gewesen. So aber würde sie im schlimmsten Fall hier oben einsam und elend verrecken, wenn sie nicht riskierte, mit all ihren Wunden diesen verfluchten Sprung zu wagen, der ihr vor allem wegen ihrer verdammten Höhenangst so schwerfiel. Vielleicht sollte sie es aber dennoch tun.

„Alleine sterben ist scheiße“, flüsterte sie wie ein Mantra vor sich hin und konnte sich dennoch nicht zum Sprung überwinden.

„Das musst du gar nicht“, antwortete ihr eine Stimme hinter ihr und vor lauter Schreck wäre Lynnra fast in das Loch gestürzt.

„Wer ist da?“, fragte sie und hatte den Eindruck, dass ihr die Stimme irgendwie bekannt vorkam. Nur war sie so blechern, künstlich und phasenverschoben, dass sie es nicht genau sagen konnte.

Lynnra sah sich in dem Gang um, konnte aber niemand entdecken. Zumindest so lange nicht, bis sie nach oben sah.

„Kaira?“, entfuhr es ihr und ihr kam die Galle hoch, als sie das bleiche, langgezogene und unendlich verzerrte Gesicht ihrer Söldnerkollegin anstarrte. Ihre durchscheinende Gesichtshaut spannte sich über ein Gewirr von Kabeln, Metallteilen, Drähten und mechanischen Gelenken, deren grotesken Greifarme sich wie die unförmigen Ausstülpungen einer mutierten Amöbe an der Decke festkrallten.

Aus ihren breiten, gerissenen Lippen tropfte öliges, schwarz-rotes Blut, ihre Augen flimmerten mit dem statistischen Rauschen eines alten Röhrenfernsehers und von ihrem restlichen Körper war nichts weiter geblieben als unförmige Versatzstücke, die in dem wuchernden, biomechanischen Müllhaufen ertranken, der mit einem Cyborg ungefähr so viel zu tun hatte, wie eine kindliche Strichzeichnung mit einem kunstvoll ausgearbeiteten 3D-Modell. Das Schlimmste aber war, dass aus dieser Widerwärtigkeit einer Symbiose auch noch Cranes Gesicht auftauchte, welches nicht minder deformiert war und das an einem langen, wurmartigen Hals mit schuppiger Haut hing.

„Nicht ganz“, antworteten die beiden Gesichter wie aus einem Mund und ihr schmieriges Blut tropfte auf Lynnras Wunden, wo es sich mit ihrem eigenen Blut mischte.

Erschrocken und angeekelt brachte Lynnra ihren einzigen Verteidigungsmechanismus zum Einsatz, schoss die bewegliche Metallflüssigkeit aus ihren Fingern und wollte wenigstens diese Verhöhnungen von Gesichtern von dem abartigen Konstrukt abreißen.

Doch plötzlich spürte sie etwas. Ein Verständnis. Einen Gleichklang, der vor einigen Sekunden noch nicht dagewesen war. Sie hielt inne. Was war das für eine Scheiße? War es das Blut, das in ihren Körper gelangt war? Hatte es etwas mit ihr angestellt. Es wäre möglich. Aber Lynnra glaubte es nicht. Was immer nach ihrem Verstand griff, kam nicht von innen, sondern von außen. Wie eine Frequenz, wie eine Schallwelle, die von dem Kaira-Crane-Verbund ausging und die jedes Denken unmöglich machte. Lynnra versuchte nicht dagegen anzukämpfen. Sie konnte es gar nicht. Aber es gab eins, was sie tun konnte. Es gab dieses Loch. Dieses schöne, hoffnungsverheißende Loch. Und Lynnra sprang.

~o~

Es war im Grunde absurd, aber Clary machte es fast schon Spaß., durch die Massen an Wartungsrobotern zu tauchen, welche die vielen kleinen Fehler, Dellen und Löcher des Giganten zu beheben versuchten. Ein paar mal wäre sie fast mit einem Rotor oder einem Greifarm kollidiert, aber inzwischen hatte sie den Rhythmus raus und steuerte fast schlafwandlerisch hindurch. Es war aber nicht nur diese Sicherheit und die Tatsache, dass die Faust des Riesen wahrscheinlich nicht in dieses Gewusel hineingreifen würde, die ihre Seele leichter werden ließ. Auch nicht die Beobachtung, dass die defekte Kreatur trotz all der Reparaturen längst nicht mehr die gewaltige Schlagkraft der legendären Planetenzerstörer zu haben schien. Sie fühlte vielmehr inmitten dieser kalten, technischen Ruine, inmitten dieser Bedrohung das Nahen von etwas Großartigem, einen ungreifbaren, aber doch fühlbaren Rausch, so als stünde ihnen allen etwas unfassbar Schönes hervor. Gleichzeitig mit diesem Gefühl kam die Ungeduld. Sie wollte es sehen, wollte das, was sie da erahnte, anfassen und erleben. Und dann, als sie den „Wartungsgürtel“ des Giganten durchquert hatte und die letzten Drohnen vor ihrem Sichtfeld verschwanden wie ein sich zerstreuender Fischschwarm, entdeckte sie eine Tür.

~o~

Verzweiflung ergriff von Callan Besitz, als er beobachtete, wie der Arm des Wesens aus den Metallsplittern, Stäubchen und sogar Moleküle rekonstruiert wurde, in die er es eben erst mit seinen mächtigen Schüssen zerlegt hatte.

„Das gibt’s doch nicht!“, hörte er Terrin dieselbe Frustration herausschreien, die auch er fühlte, „wie sollen wir das Mistvieh besiegen, wenn die Dinger es ständig reparieren?!“

Gar nicht, gab sich Callan innerlich die Antwort. Natürlich konnten sie versuchen all die kleinen Drohnen auszuschalten, aber die Dinger waren nicht nur zahlreich, sondern zumeist auch sehr flink. Sie zu zerstören, würde ewig dauern und erfordern, dass sie sich in die Schussreichweite des Giganten begaben.

Plötzlich bemerkte Callan aus dem Augenwinkel eine Bewegung. Er fuhr herum und sah Lynnra, die langsam auf ihn zu schwebte. Ihr Körper war zwar voller kleiner Wunden, aber sie schien durchaus lebendig.

„Du kommst spät“, sagte Callan halb im Scherz, „außer du wolltest erleben, wie wir verkacken. Dann kommst du genau richtig.“

Lynnra antwortete nicht. Sie sah ihn nur an, mit entrücktem, unbewegten Gesicht und eigenartigen Augen. Dann öffnete sich ihr Mund.

~o~

Ein Vorteil von Clarys Erziehung war, dass sie Geschichten aus vielen verschiedenen Welten zu lesen bekommen und ihrer „Mutter“ vorgetragen hatte. Heute glaubte sie sogar, dass all diese Geschichten aus anderen Welten stammten, denn Deovani entwarfen schon lange keine wirklichen Erzählungen mehr. Wie sie von Callan und den Söldnern gelernt hatte, gab es dort praktisch nur Werbeslogans, KI-generierte Massenware und importierte Kulturerzeugnisse. Zu denen gehörte auch die Geschichte von Alice im Wunderland, die man sich auf der Erde erzählte und in der die Protagonistin mit Türen verschiedener Größe konfrontiert wurde, die sie nur überwinden konnte, indem sie ihre eigene Größe mit magischen Mitteln änderte. Genauso ein Verfahren hätte sie jetzt auch benötigt.

Denn die Türe, die sie entdeckt hatte, war zwar unverschlossen, der Durchgang war jedoch geradezu winzig. So winzig, dass sie sich schon alle Rippen hätte brechen müssen, um hindurchzukriechen. Dennoch spürte sie dahinter noch mehr jene Vorfreude, jene Verlockung, die sie die letzten Minuten bereits begleitet hatte, noch viel intensiver. Obwohl der Raum dahinter vollkommen dunkel war, wie sie feststellte, als sie sie probeweise öffnete, erahnte sie darin etwas. Ein Knistern, eine Spannung, ein Kribbeln, begleitet von einem frischen, aber nicht kalten Luftzug, der den Schweiß von ihrem Gesicht trocknete. Es war so unglaublich aufregend. Und zugleich unendlich frustrierend, nicht hineingelangen zu können.

Aber es musste einen Weg geben. Warum sonst sollte diese Tür existieren, wenn sie nirgendwo hinführte? Sicher, manche der kleineren Drohnen würden dort sicher hindurchpassen. Aber irgendwie glaubte Clary, dass dieser Durchgang nicht für die Wartungsroboter gedacht, ja vielleicht nicht mal von den Whe-Ann erschaffen worden war. Die Türe wirkte ganz anders als deren übliche Architektur. Viel verspielter und freundlicher. Zwar war sie genauso blau wie der Rest der Umgebung, jedoch von einem hellen, friedlichen Himmelblau, in das hinein sogar wattige Wölkchen gemalt worden waren und dessen dick aufgetragenem unregelmäßige Farbe den Eindruck erweckte, dass sie jemand liebevoll Strich für Strich mit einem Pinsel appliziert hatte.

Nein, diese Tür wirkte in dieser technisierten Umgebung geradezu wie ein Fremdkörper. Sie musste einem besonderen Zweck dienen. Doch welcher sollte das sein? Und wie sollte sie das herausfinden? Eines stand jedenfalls fest: Wenn sie keinen Weg fand, hindurchzugelangen, waren sie alle verdammt. Der einzige andere Weg aus diesem Raum heraus bestand in einem Rückweg, der sie nur wieder zur lebensfeindlichen Planetenoberfläche bringen und wahrscheinlich ihr Ende bedeuten würde.

Doch was sollte sie tun? Theoretisch ließe sich die Wand um die Tür herum sicher durchbrechen. Doch Clary erkannte, dass sie extrem dick und aus massivem Metall gefertigt war. Sie bezweifelte sogar, dass Terrin oder Callan ihr einen ernsthaften Kratzer hätten zufügen können, selbst, wenn …

Plötzlich kam ihr eine verrückte Idee. Der Marankor hatte sicher trotz seines suboptimalen Zustandes noch immer eine gewaltige Schlagkraft. Sollte er nicht in der Lage sein, selbst so ein massives Hindernis zu beseitigen? Alles, was sie tun müsste, wäre, ihn auf sie aufmerksam zu machen und zu hoffen, dass er darauf reagierte und sie rechtzeitig ausweichen konnte, bevor er schoss oder zuschlug. Nein, dieser Plan war nicht verrückt. Er war vollkommen irre. Aber wäre es wirklich besser abzuwarten, bis dieser Ort sie langsam umbrachte. Clary gab sich einen Ruck, drehte sich um und … blickte in die gleichmütigen Gesichter von Terrin, Lynnra und Callan, die unvermittelt hinter ihr aufgetaucht waren.

„Hey, wolltet ihr nicht warten, bis ich euch Bescheid gebe?“, wollte sie eigentlich zu ihren Begleitern sagen, aber ihre Intuition hielt sie davon ab. Ihr Gespür teilte ihr mit, dass etwas mit den dreien ganz und gar nicht stimmte. Sie waren vollkommen regungslos, puppenhaft und ihre Bewegungen wirkten geradezu synchronisiert. Lediglich ihre Pupillen kreisten erratisch in wilden, unlogischen Zickzack-Bahnen. Dann öffneten sie ihre Münder und Clary vernahm ein hohes, dissonantes Pfeifen, das in ihr den Wunsch weckte, sich die Ohren zuzuhalten, das ihr Denken störte und … mehr wollte.

Wie ein Virus, das nach einer Möglichkeit suchte an eine Zelle anzudocken, kroch der Ton in ihren Verstand, begleitet von einem eigenartigen Gefühl, einem kuriosen Dejavú, das wie ein Sandkorn in ihrem Kopf kratze. Der Ton klopfte, tastete, hämmerte wie wahnsinnig in ihr. Aber er fand keinen Zugang. Was immer hier geschah, Clary war dagegen immun. Doch würde ihr das nützen? Selbst, wenn sie den dreien entkommen konnte, die sie geschickt einkreisten und noch dazu bewaffnet waren, würde ihr das das Herz zerreißen. Das hier waren Lebewesen mit Geschichten, Wünschen und Beziehungen, selbst wenn sie in so einer kalten Hölle wie Deovan groß geworden waren. Sie konnte sie nicht einfach zurücklassen wie ein Stück Fleisch. Doch helfen konnte sie ihnen auch nicht. Sie kannte ja nicht einmal die Ursache für ihren Zustand. Während sich der nervende Ton zu einem grauenhaften Crescendo steigerte und Clary instinktiv zurückwich, tauchte etwas hinter der massigen Gestalt des Marankor auf, dass ihren gesamten Körper vor Ekel verkrampfen ließ.

Ein flaches, biomechanisches Ungeheuer mit den Köpfen von Kaira und Crane, das aussah, als hätte man mechanische und biologische Lebewesen in einer Schrottpresse zusammengequetscht und dann miteinander verschweißt. Das widerliche, unnatürliche Gefühl, das dieser Anblick in ihr wachrief, kam ihr mit einem Mal noch viel vertrauter vor. Ja, sie hatte es schon einmal empfunden. Viel ferner und schwacher, als Kaira sie alle hatte überreden wollen, sich zu den Lagerhallen zu begeben. Was immer dort war, hatte nun wohl weitere Opfer gefunden.

Und sie erkannte noch etwas. Dieses Ding, diese bedauernswerte Verbindung aus Kaira und Crane, war die Quelle des Tons, den Callan, Terrin und Lynnra lediglich wie ein Echo verstärkten. Wenn sie sie ausschalten konnte, würde auch dieser Albtraum enden.

Doch das kam nicht infrage. Clary war nicht bewaffnet. Und selbst wenn es anders gewesen wäre, wäre der Tod war nicht jene Art von Erlösung gewesen, die sie ihren Begleitern wünschte.

Offenbar sahen ihre Counterparts die Dinge jedoch etwas anders. Der hohe Ton änderte seine Frequenz, wurde ein bisschen tiefer und plötzlich kam Bewegung in ihre Begleiter. Callan hob seine Pistole, die er bisher entspannt neben seiner Hüfte gehalten hatte. Kordra ließ ihre flüssigen Metallfäden ein Stück aus ihren Fingern herausschießen und Terrin hob seine beeindruckenden, von Deovanischer-Bio- und Whe-Annischer-Implantat-Technologie verstärkten Fäuste.

Das Kaira-Crane-Ding sah sie an. Ihre von statischem Rauschen erfüllten Augen flackerten so, als würde sie ihr zuzwinkern wollen.

Clary verstand die Botschaft: „Öffne dich uns oder stirb.“ Doch Clary konnte und wollte das nicht. Sie hatte sich lange genug kontrollieren und manipulieren lassen und diese Abscheulichkeit besaß nicht einmal ansatzweise den Charme und die Klasse ihrer Mutter.

„Nein Danke, ich bleibe frei!“, sagte Clary energisch. Sowohl zu der Abscheulichkeit als auch in die leeren Gesichter von Callan und den anderen. Auf irgendeiner Ebene schien die Kreatur sie zu verstehen. Schien zu begreifen, dass ihre Manipulationsversuche sinnlos waren. Das erkannte Clary nicht in den verrückten Augen des Wesens, sondern vielmehr daran, dass sich der Gigant, der sich bisher nicht für das interessiert hatte, was hinter seinem Rücken geschah, zu ihr umdrehte.

Sie wollen wohl auf Nummer sicher gehen, realisierte Clary. Eine Flucht war nun endgültig ausgeschlossen und Tränen der Wut und Hilflosigkeit bildeten sich in Clarys Gesicht, während der Gigant seine vielen Waffen leuchtend auflud und seine Fäuste erhob. Sie fand es unfair. Verdammt unfair. Nicht zuletzt, weil sie jene Sehnsucht, jene unausgesprochene Verlockung noch immer hinter der unüberwindbaren Tür direkt in ihrem Rücken spürte. Aber selbst Clary wusste, dass nicht alle Geschichten ein Happy End bekamen. Ganz besonders die nicht, die auf Anntrann spielten.

Trotzdem wollte sie nicht mit einem so pessimistischen Gedanken abtreten. Nur mal angenommen, der Tod wäre wie ein Echo der letzten Gedanken und Gefühle, die einem durch den mittlerweile zermatschten Kopf gekreist waren – wäre es dann nicht ziemlich dumm sich mit Angst und Schrecken zu beschäftigen? Vielleicht waren solche Gedanken genau das, aus dem das Paradies und die ewige Verdammnis geformt wurden, wenn es denn so etwas gab. Also schloss Clary die Augen und dachte an etwas anderes. An ein Leben in Harmonie, in dem keiner um sein Leben fürchten musste. In dem jedes Wort in aufrichtiger Absicht gesprochen und Intrigen und Zynismus abstrakte Konzepte waren. In dem Gewalt nur in Geschichten existierte und Sterben nicht mehr war als schmerzloses Zu-Bett-Gehen.

Sie dachte an glitzernde Himmel, sanfte Berührungen, Betten aus Wolken und weichem Gras und warme, sorgenlose Nächte in streichelnden, geheimnisvollen Wassern. Dort war auch ihre Mutter, die sich aufrichtig entschuldigte für all die Täuschungen, für all die Manipulationen und dafür, dass sie Clary so brutal verstoßen hatte, die sie umarmte, behütete und verstand. Und Callan war da. Lächelnd, fröhlich und befreit von der Last seiner düsteren Gedanken. Ja, sogar Terrin, Lynnra, Crane und Kaira, die gemeinsam scherzten und irgendein albernes Spiel spielten. Ihr Bild, ihre Welt, die sie malte, schien endlos zu dauern und es fing sie so, dass sie nicht einmal bemerkte, wie ihre Lippen ihre Beschreibungen mitsprachen.

„Aufwachen Tagträumerin“, hörte sie Callan sagen und wunderte sich, da der Callan in ihrer Welt nur schweigend und lächelnd in den nächtlichen Sternenhimmel gestarrt hatte.

Sie öffnete die Augen und sah in Callans Gesicht. In ein Antlitz, gezeichnet von Sorgen und Leid, das jedoch ebenfalls lächelte. Seine Augen waren klar und ruhig. Genau wie die von Terrin, Lynnra und die des Crane-Kaira-Geschöpfes, auch wenn gerade letzteres nicht unbedingt glücklich wirkte.

„Sieht so aus, als hättest du uns aus der Scheiße geholt“, sagte Lynnra schwach und blass, „ich schätze, dafür ist ein Dank angebracht.“

„Ja, ein Hoch auf deine Intuition!“, rief Terrin grinsend.

„Wir hätten auf dich hören sollen“, sagten auch Crane und Kaira aus einem Mund, mit einer noch immer widerlichen und verzerrten Stimme, der nun jedoch die Bedrohlichkeit fehlte, „die Hallen waren ein übler Ort … es … es tut uns leid.“

Clary hatte eine Ahnung, wie sie mit so viel Lob umgehen sollte. Immerhin hatte sie selbst nicht gewusst, was sie tat und konnte nur mutmaßen. Hatte sie mit ihrer verzweifelten Weltflucht eine Art Mentravia ausgelöst, die den Geist der anderen geklärt hatte? Ja, so musste es wohl sein.

„Es war wieder eine Metravia, oder?“, sprach Callan Clarys eigene Vermutung aus.

Clary nickte.

„Ich wusste es“, sagte Terrin euphorisch, „es war fantastisch. Ich könnte das den ganzen Tag erleben. Das ist tausendmal besser als dieser ganze VR-Scheiß zu Hause.“

„Wir sollten uns aber auch nicht zu früh freuen“, sagte Lynnra und wies auf den Giganten, „das Ding dort ist immer noch da und verdammt gefährlich.“

„Ich glaube nicht, dass er noch eine Bedrohung ist“, vermutete Clary, „auch er beherbergt die Gehirne und das Bewusstsein von Lebewesen. Ich denke, er wird die Mentravia ebenfalls erlebt haben. Andernfalls hätte er uns längst wieder angegriffen.“

Vor allem Lynnra blickte zweifelnd zu dem schlafenden Giganten, dessen sicher gewaltiges Waffenpotential, welches er bislang nur teilweise zur Anwendung gebracht hatte, noch immer auf sie gerichtet war. Dann jedoch drehte sie sich um, von ihren vielen Wunden zu entkräftet, um sich um diese Bedrohung zu lange Gedanken zu machen.

„Was ist das für eine Tür?“, fragte Callan, nun, da sie allesamt um den einzigen möglichen Ausgang um die Halle schwebten „die ist ja winzig!“

„Ja“, stimmte Clary zu, „das ist das Problem damit. Aber sie ist auch bedeutend. Du spürst es doch auch, oder?“

„Ja“, hauchte Terrin anstelle von Callan und strich über die bemalte, winzige Tür wie über ein liebgewonnenes Kuscheltier, „ich will dort hinein. Unbedingt! Jetzt!“

„Das könnte schwer werden“, sagte Callan, „für dich ganz besonders.“

Terrin knurrte als hätte man einen Witz über seine heiligsten Überzeugungen gemacht.

„Das Metall rund um die Tür ist zu dick, um es zu brechen“, sagte Lynnra matt, „hätten wir einen Minimizer, würde es gehen. Aber die Dinger sind arschteuer und die Nebenwirkungen heftiger als die Hölle. Aber wir haben so etwas ohnehin nicht. Also können wir uns das abschminken.“

„Quatsch“, sagte Terrin, „alles, was wir bräuchten, wäre eine wirklich gewaltige Energiewelle, die …“

„Weg da, es greift an!“, warnten Crane und Kaira, die zurückgeblieben waren.

Sie alle reagierten so schnell, wie es ihre Reflexe zuließen. Noch wären sie umdrehte und sich in Sicherheit brachte, sah Clary die Waffe des Giganten aufglühen. Sie seufzte enttäuscht. Dabei war sie sich so sicher gewesen.

Just in dem Moment, als alle von ihnen außer Reichweite waren, schlug das rötlich leuchtende Geschoss des künstlichen Wesens ein. Und zwar genau dort, wo bislang die Tür gewesen war. „Gewesen“, war der richtige Ausdruck, denn der Schuss ließ weder von der Tür noch von dem Rahmen etwas übrig und stanzte ein etwa automobilgroßes Loch hinein. Geschmolzenes Metall tropfte wie heißer Käse von den Wänden und auf die rauchenden, verkohlten Splitter der kleinen Wolkentür und für einen Wimpernschlag trauerte Clary um die verlorene Schönheit des Zugangs und wappnete sich für einen weiteren Angriff. Einen, der diesmal auch sie treffen würde. Doch dann verstand sie.

„Nicht schießen!“, sagte sie zu Callan, der bereits seine Waffe zum Gegenschlag in Anschlag gebracht hatte, „er will uns nicht schaden. Er wollte uns nur den Weg öffnen.“

„Er hat auf uns geschossen!“, widersprach Lynnra skeptisch.

„Ja“, stimmte Clary zu, „aber nur, weil er uns anders kein Zeichen geben konnte. Er kann nicht sprechen oder auf sonst eine Weise kommunizieren. Er wurde für die Zerstörung erschaffen. Nicht für Verhandlungen. Aber er hat mit seinem Schuss gewartet, bis er uns nicht verletzen konnte. Er hat erst geschossen, als wir alle in Sicherheit waren. Auch du Lynnra. Und der Weg ist nun frei, oder nicht?“

„Wo sie recht hat, hat sie recht“, bemerkte Terrin. Doch niemand, nicht einmal er, rührte sich. Also war es erneut an Clary den ersten Schritt zu wagen. Sie schwamm durch die Luft, direkt auf das Loch zu und drehte sich zu dem Metallriesen um, dessen Waffen sie nun ganz leicht hätten in Stücke reißen können.

„Danke!“, sagte sie, „vielen Dank für deine Hilfe.“

Und zu Verblüffung der anderen beugte der Riese langsam sein dreiköpfiges, mit biologischen Gehirnen gefülltes Haupt, bevor er sich wieder umdrehte. Seine Bewegungen hatten dabei etwas Bedächtiges, beinah Trauriges.

„Er spürt es auch“, flüsterte Clary zu sich selbst, „er hört den Ruf ebenfalls und ist traurig, weil er nicht folgen kann, ohne alles einstürzen zu lassen.“

„Was ist nun?“, fragte Clary die anderen, während sie ihr Mitleid mit der Kreatur zumindest für den Moment verdrängte, „wollt ihr mitkommen?“

„Logisch“, sagte Lynnra, „ich bin gespannt, welcher Mindfuck uns dort drin erwartet.“ Auch die anderen beiden nickten.

„Wir bleiben hier“, hörte sie Crane und Kaira sagen.

„Warum?“, fragte sie überrascht, „die Öffnung ist locker groß genug für euch.“

„Wir haben nachgedacht. Wo auch immer wir hingehen, werden wir nicht willkommen sein“, sagte das Mischwesen, „außerdem teilen der Marankor und wir dasselbe Schicksal. Wir sind freie Geister, gefangen in einem nutzlosen Körper. Wir werden hier nicht verschwinden, bevor wir dieses Schicksal irgendwie ändern. Diese Welt ist abgefuckt, aber voller Geheimnisse. Vielleicht wird eines davon uns Erlösung bringen können.“

Wir können bleiben und euch helfen, lag es Clary auf den Lippen, aber es gelang ihr nicht, die Worte auszusprechen. Natürlich, im Gegensatz zu dem, in das sich Crane und Kaira verwandelt hatten, war ihr Körper nicht für das Überleben in dieser Welt geschaffen. Aber das war nicht der wahre Grund, warum sie ihr Hilfsangebot zurückhielt. Der eigentliche Grund dafür lag hinter dieser Öffnung, geformt von Neugier und dem naiven Egoismus einer Träumerin. Und dafür schämte sie sich.

„Dann mal los“, sagte Callan auffordernd, auch wenn Clary an seinem gesenkten Blick erkannte, dass er sich fast ebenso schämte wie sie.

Gemeinsam durchschritten sie das Tor in die noch von der Wärme der Explosion aufgeheizte Dunkelheit und ließen die Verdammten hinter sich zurück.

~o~

Es blieb nicht lange dunkel. Bereits nach wenigen Schritten zeichnete sich vor ihnen ein geisterhafter, blasser Pfad ab, der wie eine fluoreszierende Zeichnung in der ansonsten konturlosen Finsternis lag.

„Also mal ehrlich. Nur ein Wahnsinniger würde jetzt noch damit rechnen, dass wir hier ein Schiff finden“, sagte Lynnra schwer atmend.

„Vielleicht finden wir ja etwas Besseres“, antwortete Clary fröhlich. Es war, als hätte sie ihr schlechtes Gewissen gegenüber Crane, Kaira und dem Marankor bereits hinter sich gelassen. Alles, was sie fühlte, war eine kaum zu bändigende Euphorie und alles, was sie davon abhielt einfach wie eine Irre auf den Pfad zu zu spurten, war ihre Rücksichtnahme auf die geschwächte Lynnra.

Doch auch so dauerte es nicht lange, bis ihre Füße den ersehnten Weg betraten. Er fühlte sich kühl an. Nicht unangenehm, sondern eher wie das erfrischende Kribbeln kühlenden Wassers an einem zu heißen Sommertag. Und je mehr Strecke sie auf diesem Weg hinter sich brachten, umso mehr wich die Dunkelheit um sie zurück und machte den zarten Konturen von violett glitzernden Bäumen Platz, deren Äste wie blühende Kristalle waren, und um die herum zarte, blaue Schmetterlinge flatterten.

„Das haben die Maschinenficker im Leben nicht errichtet“, war Terrin überzeugt, „dafür ist alles viel zu schön.“

„Das glaube ich auch nicht“, sagte Callan, „es sieht eher aus wie aus einem Märchen.“

„Vielleicht haben es welche von ihren Vasallen gebaut“, vermutete Lynnra, „zur Belustigung ihrer Herren. Oder als Ablenkung von ihrem Sklavendienst.“

Doch ihre zynische Vermutung schlug im Geist ihrer Begleiter keine Wurzeln. Irgendetwas war an diesem Ort, dass alle kalte Logik verdampfen ließ wie Eis auf einer erhitzten Herdplatte.

Schließlich war die Dunkelheit völlig gewichen und aus dem weißen Pfad war ein gewöhnlicher Waldweg aus festgetretener Erde geworden, der lediglich hell und weiß schimmerte. Zu den Schmetterlingen hatten sich kleine, scheue, großäugige Nagetiere und schillernde Ranken gesellt, die sich wie tanzende Bänder um die Kristallbäume schlangen und dabei immer wieder verblassten und neu entstanden. Über all dem erhob sich ein sanfter Wind, der durch ihre Haare und die knorrigen Gewächse fuhr und auf ihnen eine liebliche, verträumte Melodie spielte.

„Wunderschön“, sagte Terrin verzückt und der große, gefährlich aussehende Mann sprang sogar kurz in die Höhe und griff behutsam mit seiner Whe-Ann-Hand nach einem der Schmetterlinge, der seinem Griff zwar auswich, sich jedoch auf seine biologische Hand setzte und dort kurz verweilte, bevor er schließlich weiterflog.

„Es könnte auch eine Simulation sein“, vermutete Lynnra, „wir sollten vorsichtig bleiben und uns nicht einlullen lassen. Ich habe von so etwas gehört. Man nennt sie Sugar-Traps. Manche unvorsichtige CEOs wurden auf diese Weise schon um ihr Leben erleichtert. Erst ist alles Friede, Freude, Eierkuchen und dann, wenn man mit nichts Bösem mehr rechnet, zerfetzt einem eine Devourer-Gun von drei Seiten den Brustkorb.“

Doch sogar die Söldnerin musste kurz kichern, als sich einer der Schmetterlinge auf ihre Nase setzte und dort mit seinen kleinen Beinchen einen fröhlichen Tanz aufführte. Allerdings beeilte sie sich, wieder einen ernsten Gesichtsausdruck anzunehmen.

„Bist du dir sicher, dass das hier harmlos ist?“, fragte Callan Clary flüsternd. Er wirkte nicht so verbittert und zynisch wie Lynnra, jedoch ebenfalls noch etwas skeptisch.

„Das bin ich“, sagte Clary, „es ist wie in einer von all den Geschichten, die ich gelesen und vorgetragen habe. Aber es fühlt sich zugleich ganz anders an. Ungleich wirklicher und irgendwie … stiller. Aber ja, ich bin mir wirklich sicher. Kannst du nicht auch darauf vertrauen?“

„Ich versuche es ja“, sagte Callan schief lächelnd, „aber Optimismus ist nicht meine Stärke, weißt du?“

„Es muss eine Simulation sein“, hielt Lynnra an ihrer Überzeugung fest, „all diese Tiere bewegen sich in festen Rhythmen und Schleifen. Es nicht mehr als ein dreidimensionaler Video-Clip.“

„Ein Clip zum Anfassen“, erinnerte Clary schmunzelnd, „du hast es selbst erlebt.“

Sie stupste Lynnras Nase mit dem Zeigefinger an, die daraufhin ihre Hand genervt wegschlug.

„Es gibt auch Wege, ohne VR-Device sensorische Erfahrungen auszulösen“, sagte Lynnra, „Projektoren oder Sender nehme ich hier nicht wahr. Also fällt Strahlung wahrscheinlich als Erklärung aus. Aber es könnte ein Gas sein, das …“

„Fuck!“, sagte Terrin, der ein Stück vorausgeeilt war, genau zu einer Stelle, wo die kleine Straße sich augenscheinlich im Nichts verlor und die bislang noch immer vage präsenten Wände der Halle genau wie deren Decke verschwunden waren und einem Himmel voll orangerot leuchtender Sterne Platz machten, „seht ihr das? Das ist unglaublich!“

Terrin war offenbar schwer verzaubert. Doch sein staunender Blick ging nicht hinauf zum schillernden Firmament, an dem auch ferne Nebel schläfrig ihre Bahnen zogen und unbestimmbare Sphären wie Seifenblasen knisterten und zerplatzten. Er richtete sich nach unten.

Für Clary gab es nun kein Halten mehr. Ohne auf die anderen zu achten, stürmte sie voran und stellte sich neben Terrin, um zu sehen was ihn so in Aufruhr versetzt hatte. Und als Clary neben ihm zum Stehen kam und ebenso hinab sah, konnte sie seine Gefühle zu einhundert Prozent nachvollziehen.

Unter ihnen, am Ende eines steilen, sandigen Abhangs erstreckte sich ein gewaltiges Meer. Gebildet von kleinen, plätschernden Wellen aus purpurnem, schillerndem Wasser, mit roten und gelben Wellenkämmen und silbernen Strudeln, die mal klein wie das Werk kreisender Kinderfinger und mal so groß wie ein ehrfurchtgebietender Malstrom darin wirbelten. Doch all dies spielte sich weit hinten am Horizont ab. Das Wasser direkt am Strand lag zwar bunt, aber klar, ruhig und nur ganz leicht gekräuselt vor ihnen, erhellt von winzigen, aber zahlreichen Lichtpunkten, die wie Fische oder kleine Quallen darin trieben und selbst von hier oben konnte Clary den lockenden Ruf dieses Wassers hören.

Er klang nach Weite, Vergessen und Finden, nach salziger, würziger Luft und dem Gesang der Tiefe, der von etwas viel viel Wunderbarerem kündete. Sie wollte springen, fliegen und eintauchen, aber ein Rest von Verstand sagte ihr, dass der Versuch sie mindestens sehr schwer verletzen würde.

„Was beim Risiko ist das?“, fragte Lynnra, die zu ihnen aufgeschlossen hatte, weniger verzückt als eher verstört, „das sieht aus wie die größte chemische Müllkippe, die ich in meinem Leben gesehen habe. Und ich bin im Hinterhof einer ReCrate-Fabrik aufgewachsen.“

Terrin war da anderer Meinung. „Ich muss da hin“, sagte, nein, schrie er und ehe jemand ihn aufhalten konnte, sprang er über den hohen Abhang.

Sie alle sahen ihm fassungslos hinterher. Aber entgegen ihrer Erwartungen brach er sich nicht sämtliche Knochen, sondern glitt sanft, wie von einem unterirdischen Magneten gezogen, den sandigen Abhang hinab, um schließlich unbeschadet die Strandebene zu erreichen.

Callan und Clary sahen sich kurz an. Dann folgten sie seinem Beispiel.

~o~

„Seid ihr denn alle irre geworden?“, flüsterte Lynnra zu sich selbst. Es war so typisch für ihr Leben. Kaum, da sie zu der Überzeugung gelangt war, dass sie ihre Verletzungen vielleicht überleben würde, wurde sie mit der nächsten Katastrophe konfrontiert. Untypisch daran war nur, dass sie von einem Haufen Kindsköpfe ausging. Sie konnte all das nur damit erklären, dass die Dämpfe der Chemikalien ihren Begleitern zu Kopf gestiegen und sie um ihren ohnehin schon fragilen Verstand gebracht hatten. Dabei hatte sie zumindest den Nehmer für etwas vernünftiger gehalten, zumal sein Organismus so etwas eigentlich hätte abkönnen sollen.

Doch nun stürmte er genauso wie die anderen auf das unheimliche Meer zu, dem Lynnra bei all seiner Schönheit zutiefst misstraute. Schönheit, das hatte gelernt, war immer ein Köder, der einem im besten Fall nach dem Geld oder der Freiheit und im schlimmsten nach Verstand oder Leben trachtete. Es gab im Multiversum nichts geschenkt. Nicht einmal einen schönen Ausblick.

Eigentlich sollte sie diese Leute ihrem Schicksal überlassen. Sie schuldete ihnen nichts. Dem seltsamen Nehmer noch am ehesten – immerhin hatte sie sein Geld genommen – aber sie hatte sich nicht verpflichtet, ihn vor seiner eigenen Dummheit zu schützen. Terrin war zwar eine Art Kollege, aber nicht einmal jemand, mit dem sie besonders viele Aufträge erledigt hätte – es war mehr der Zufall gewesen, der sie auf dem Schiff zusammengeführt hatte – und der irren Blue Mind gegenüber hatte sie schon gar keine Verpflichtungen. Und dennoch … irgendwie hatte sie das verrückte Gefühl, dass das es okay wäre, abzuhauen … sie sollte wenigstens versuchen, sie von ihrer Dummheit abzuhalten. Und sei es nur, damit sie den Rest ihres Lebens nicht zusammen mit einem missglückten Söldner-Cyborg-Hybriden und einem fehlerhaften Planetenvernichtungs-Roboter mit drei Gehirnen verbringen musste.

Lynnra seufzte tief. Dann rutschte sie wie zuvor die anderen behutsam den Hang hinab.

~o~

Lynnra schnüffelte skeptisch, konnte aber neben ein wenig Meeresduft keine auffälligen Gerüche wahrnehmen. Wahrscheinlich waren die psychoaktiven Gase, die diese psychedelische Brühe verströmte, geruchlos oder ließen sich von Meerwasser nicht unterscheiden. Dennoch bestand an ihrer Wirkung kein Zweifel. Warum sonst sollten Callan, Clary und Terrin auf das Wasser starren wie sabbernde, verhungernde Idioten auf einen Stand voller günstigem Zuckerwerk? Freudentränen inklusive.

Die Frage war nur, warum es sie nicht in seinen Bann schlug? Lag es an ihre, Geruchsimplantat? Eigentlich hatte sie ihr Gehirn nicht groß angetastet, aber es war denkbar, dass das gebrauchte Implantat, dass sie sich auf eigenes Risiko hatte setzen lassen, eine Art olfaktorischen Filter enthielt, der sie ein Stück weit vor solchen Bedrohungen bewahrte.

„Bleibt zurück! Das ist gefährlich“, rief sie und kam sich ein wenig albern vor, mit eigentlich erwachsenen Leuten so reden zu müssen.

Clary und Terrin schienen sie kaum wahrzunehmen. Auch Callan sah nicht zu ihr, antwortete aber wenigstens.

„Es ist der einzige Weg“, sagte Callan, „zurück können wir nicht.“

„Das ist kein Weg, du hirnverkaufter Idiot“, sagte Lynnra barsch, „da ist nur giftiges Wasser. Und dieser Planet ist groß. Wir gehen einfach zurück und suchen weiter nach einem Schiff. Irgendwo wird schon eines sein. Wäre jedenfalls sinnvoller als hier rumzustehen und Toxine zu schnüffeln.“

Callan antwortete nicht. Stattdessen ging er einen Schritt vor, sodass das Wasser schon fast seine Füße umspülte. Lynnra schüttelte es innerlich.

„Bleib stehen, verdammt!“, ermahnte Lynnra ihn nachdrücklich, während sie ihren Mund halb mit der Hand bedeckte. Noch spürte sie nicht das leiseste Kratzen, aber sie glaubte dennoch merken zu können, wie die Dämpfe ihr in die Lunge stiegen.

Doch statt auf sie zu hören, ging Callan einen weiteren, trancehaften Schritt vor. Und die anderen mit ihm.

„Siehst du das?“, frohlockte Clary, „die Sterne, die darin glitzern? Sie sind wie die Augen einer anderen Welt. Oder wie wertvolle, magische Kristalle. Fast wie in der Legende von Rinquada, die in den Sternenschlund tauchte, um ihren Lebenssinn zurückzubekommen, den die Zrumani darin versteckt hatten. Wir können dasselbe tun, Callan. Wir könnten der Schönheit höchstselbst begegnen.“

Verdammt, realisierte Lynnra, die wollen allen Ernstes da rein springen.

Bevor Lynnra selbst so recht bemerkte, was sie tat, ließ sie die flüssigen Fäden aus ihren Fingern hervorschießen und wickelte sie um die Körper der drei Traumwandler, um sie damit festzuhalten. Zumindest bei Clary funktionierte ihr Vorhaben. Die körperlich schwache Blue Mind ließ sich tatsächlich von ihr zurückhalten, auch wenn sie empört fluchte und zeterte. Doch die beiden Männer mit ihren technisch und biologisch verstärkten körperlichen Kräften ließen sich nicht bändigen. Einen Moment lang kämpfte Lynnra gegen ihre vereinten Kräfte an, wobei sie das Gefühl hatte, dass ihr die Fingerknöchel ausgerissen werden. Dann drohten sie sie mitzuziehen, direkt auf das verdächtige Wasser zu und Lynnra – erfüllt von Panik vor der regenbogenfarbenen Brühe – ließ los.

Erschöpft und resigniert sah sie dabei zu, wie die Füße ihrer drei Begleiter in dem bunten Meer verschwanden und dann … zischte es, als hätte jemand einen Schwall Wasser auf einen Hochofen verschüttet. Weder Callan noch Clary oder Terrin sagten ein Wort oder gaben einen Schmerzenslaut von sich, aber das änderte nichts daran, dass ihre Haut Blasen warf, ihr Fleisch von den Knochen geschmolzen wurde und ihnen binnen Sekunden die ersten Körperteile abfielen.

Lynnra hatte viel erlebt, hatte viel getötet und den Tod oft gesehen in seinen vielfachen Formen. Aber das Zischen, dieses grauenhafte Zischen, mit dem die Leiber von Callan, Clary und Terrin erst skelettiert und dann direkt in die Flut gerissen wurden, würde sie für den Rest ihres Lebens nicht mehr vergessen.

~o~

Anfangs hatte Clary geglaubt zu ertrinken. Doch dieser Eindruck hielt nicht lange an. Auch wenn ihr der Ozean auf den ersten Blick endlos erschienen war, hatte sein Wasser sie nur für wenige Sekunden empfangen, bevor es sie vollkommen trocken an Land wieder ausgespuckt hatte. Doch die Welt um sie herum hatte sich grundlegend verändert. Anders als zuvor war es Nacht. Eine sternengesegnete, gänzlich klare Nacht, in der ein freundlicher Mond sein Licht über ihnen ausgoss. Sie waren umgeben von knorrigen Bäumen, die mal sphärisch durchscheinend und mal beinah normal wirkten, jedoch allesamt wunderschön waren.

Kleine, sanfte, geflügelte Wesen mit großen Augen huschten zwischen den Ästen umher und spielten ihre Spiele zwischen geisterhaften Ranken, saftigen Pilzen und farbenfrohen Moosen. Auch hier gab es Wasser. Spiegelglatt, still und tief, in dem sich das Mondlicht im Spiegel seiner eigenen Schönheit betrachtete. Und zwischen all dem schlängelten sich aufregende, aber nicht beängstigende Pfade in die Ferne und luden dazu ein, ihre Geheimnisse zu entdecken.

Clary fiel auf die Knie. Ihr kamen die Tränen. Sie konnte es einfach nicht fassen. Und als sie zu den beiden Männern blickten, erkannte sie, dass es ihnen nicht anders erging. Callan fiel auf die Knie und grub zärtlich seine Hände in die warme, feuchte, von sattem Gras bewachsene Erde und Terrin sprang und lachte wie ein großes Kind, während seine Blicke erhbekundend und glücklich durch den Himmel über ihnen schweiften.

„Was … was für ein Ort ist das …“, stotterte er überwältigt, „ich habe … ich meine … ich … ich wusste … ich hätte nie …“

„Cestralia“, sagten Callan und Clary zärtlich und feierlich wie aus einem Mund. Sie hatten es gespürt, sie hatten es von Anfang an gespürt.

„Doch wie ist das möglich?“, fragte Callan, „ich meine, was macht der Zugang zu diesem wunderschönen Ort im verfluchten Anntrann?“

„Ich weiß es auch nicht“, gestand Clary ein, „vielleicht gerade, weil ihn dort nie jemand vermuten würde. Oder aber der Zugang findet jene, die bereit für ihn sind.“

„Sind wir denn bereit dafür?“, fragte Callan, „ich meine, ist überhaupt je jemand bereit für so viel Schönheit?“

„Ich denke, wir werden das aushalten“, sagte Clary schmunzelnd, „mit all dem Leid sind wir immerhin auch klargekommen.“

„Ich werde das ganz bestimmt aushalten“, sagte Terrin, „ich meine, ich … Fuck, dieser Ort ist wie ein Heal-Flash direkt in die Seele. Besser als alles, was die von Hookline oder New Day je in ihren Laboren zusammengebraut haben. Es ist wie ausschlafen, satt werden und einen Job abschließen, nur besser … ich will … ich will diesen Ort erkunden. Unbedingt … und … ja, ich möchte hundert, tausend, zehntausend Jahre alt werden, um all das hier zu sehen.“

Sein Lächeln legte sich wie goldene Farbe über die Narben und Falten seines beschwerlichen Lebens und Clary freute sich für ihn mit.

„Schade, dass Lynnra das nicht sehen kann“, sagte Terrin noch. Dann verschwand sein Lächeln urplötzlich und machte einem Ausdruck des Schmerzes Platz als sich das Whe-Ann-Handimplantat wie eine abgesprungene Schraube aus seinem Armstumpf löste. Dann krümmte er sich wie eine Feder, als sich weitere Implantate direkt durch seinen Bauch und seine Brust bohrten. Terrin schrie, wand sich und flüsterte dabei, immer wieder. „Nein, nein, ich will bleiben, ich will bleiben, ich will …“

Clary stürmte zu ihm, beseelt von dem Wunsch zu helfen, doch ihr fiel keine Möglichkeit ein. Einmal mehr so erbärmlich hilflos ergriff sie seine verschwitzte, biologische Hand.

„Wir müssen etwas tun!“, rief sie, „irgendetwas!“

„Ich kann nichts für ihn tun“, sagte Callan traurig, „ich habe nur Geld und das ist hier wertlos.“

Während Clary noch fieberhaft über eine Lösung nachdachte, griff ihre Hand plötzlich ins Leere. Für einen Moment waren die geisterhaften Umrisse von Terrin noch zu sehen. Dann verschwanden sie, genau wie die Implantate, die sich von seinem Körper getrennt hatten.

„Scheiße!“, tobte Clary, „verfluchte, gemeine, unfaire Scheiße!“

Callan nickte und spürte denselben Schmerz, den nicht mal die wunderschöne Umgebung gänzlich vertreiben konnte.

„Meinst du, er wird überleben?“, fragte Clary nachdenklich und mit von Mitleid gezeichnetem Gesicht, „Lynnra ist noch auf der anderen Seite. Vielleicht kann sie ihm irgendwie helfen. Oder vielleicht auch Kaira und Crane.“

„Ich hoffe nicht“, antwortete Callan düster, „ich hoffe, es ist ihm vergönnt zu sterben. Das Paradies ist die Hölle für jene, die es verlieren.“

6 thoughts on “Fortgeschritten – Die Gläsernen Archive von Rihn 3

  1. Lieber Herr Angstkreis,

    seit vielen Jahren begleitet mich Forstgeschritten durch die Höhen und Tiefen des Lebens. Es ist eine der wenigen Geschichten die einfach nicht langweilig werden, selbst bei so vielen Teilen ist Fortgeschritten kein bisschen ausgelutscht. Deovan war (und bleibt) für mich ein absolutes Highlight, doch der Einblick nach Anntrann könnte diesen Platz tatsächlich streitig machen.

    Ich freue mich sehr auf alles was noch kommen mag.

    Liebe virtuelle Grüße 🙂

    1. Hallo liebe Helene,

      das ist wirklich unheimlich lieb von dir. Deine Worte haben mir so richtig den Tag versüßt. Und ich hoffe, dass ich dich noch einige weitere Jahre mit der Geschichte unterhalten kann. Ich schätze, wir sind bislang etwa in der Mitte der Handlung angekommen. Also wird da noch das ein oder andere kommen ;). Es freut mich besonders, dass dir der Anntrann-Abstecher auch gefallen hat. Hatte ein bisschen Bammel, diesen sagenhaften Ort zu erkunden, weil ich da niemanden enttäuschen wollte.

      Herzliche Grüße und danke nochmals für deinen Kommentar
      Angstkreis

  2. Mal wieder sehr gelungen. Ich bin schon Mega auf den nächsten Part gespannt 🤗

    Weißt du schon wann Kati das Ganze vertonen wird?

    Herzallerliebste Grüße

    1. Guten Morgen, Deniz. Danke dir! Der nächste Teil ist bereits in Arbeit und wird wahrscheinlich so Mitte des Monats erscheinen. Wann genau Kati diesen Part hier vertonen wird, weiß ich noch nicht. Sie meinte aber, dass sie sich bald da ranwagen wird 🙂

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