„Warum wollen sie uns töten?“, frage ich Tarena, nachdem die unerwarteten Besucher und wieder verlassen haben, auch wenn ich mir die Antwort zumindest zum Teil denken kann.
„Ich Kinder getötet“, antwortet sie, „Ausbreitung geschwächt, Schwarm geschwächt. Du mich entführt. Ihn weiter geschwächt. Gesetze alt und hart. Noch aus Zeit vor zweitem Erwachen. Werden aber befolgt. Tradition.“
„Was ist das zweite Erwachen?“, erkundige ich mich.
„Wir einst Schwarm. Richtiger Schwarm. Ein Wille. Ein Geist. Für ungezählte Zeit. Irgendwann erstes Erwachen. Einzelne Wesen. Bewusstsein. Gefühl für Du und ich. Niemand weiß warum. Vielleicht irgendwer was angestellt mit uns. Aber Regeln unverändert. Schwarm alles, einzelner nichts. Folgen und funktionieren wie zuvor. Dann zweites Erwachen. Ausbruch. Eigener Wert. Selber denken und handeln. Aber nicht in allem. Manche Gesetze wie für Ewigkeit. So auch dieses. Deshalb nicht töten von Einzelnem schlimm, sondern Schwächung von Allen“, erklärt sie.
„Ich verstehe“, sage ich, „wahrscheinlich hätten wir aber auch dann Schwierigkeiten bekommen, wenn das Individuum bei euch mehr zählen würde. Die Frage ist jetzt aber, wo wir hingehen können. Gibt es irgendeinen Ort, wo uns der Schwarm nicht erreichen kann, wo wir Nahrung finden?“
Tarena schüttelt den Kopf, „Schwarm kann weit reisen. Gut suchen. Keine Höhle hier sicher. Finden uns.“
Das macht es nicht gerade einfacher, denke ich, während eine dunkle Ahnung über unsere Zukunft in mir aufsteigt.
„Und was ist mit dem Wald?“, frage ich auf der verzweifelten Suche nach Alternativen, „können wir uns vielleicht dort vor ihnen verbergen? Immerhin gibt es dort auch Nahrung.“
Erneut schüttelt Tarena den Kopf und auch ihr Duft drückt tiefe Ablehnung aus. „Nahrung ja“, sagt sie, „aber auch Gefahren. Du warst nie auf der Jagd. Du nie gesehen. Schon Weg dorthin zu gefährlich für lauten Menschen. Unmöglich Prädatoren entgehen. Würden fressen. Uns beide.“
„Gut“, sage ich niedergeschlagen und etwas gekränkt. Immerhin bin ich kein ungeübter Tölpel, sondern ein Fortgeschrittener, der seine Fähigkeiten über viele Welten hinweg entwickelt hat. Dennoch hat sie wahrscheinlich recht. Immerhin ist sie hier zu Hause und ich nicht. Nein, denke ich, ich bin nirgendwo zu Hause, außer bei ihr und Andy, „aber wenn der Wald nicht infrage kommt: Was liegt denn jenseits des Gebirges? Diese Welt muss doch größer sein als euer Bau, der Wald uns dieses Tal hier.“
Tarena scheint einen Moment nachzudenken. Schließlich sagt sie, „Du wohl recht. Aber wir nie überquert. Wir keine Entdecker. Reisen nur, wenn Nahrung hier erschöpft. Das noch nie passiert. Und Gebirge hoch und groß. Dauert lange. Gefährlich. Steil. Wir keine guten Kletterer. Würde ungern so reisen. Erst recht nicht mit Andy.“
„Also“, beginne ich düster, „bleibt uns nur, hier zu bleiben und zu sterben oder …“
„… schlimmes Loch“, ergänzt Tarena.
„Schlimmes Loch“, bestätige ich, „aber wir wissen nicht, ob es nicht schon nach wenigen hundert Metern in einer Sackgasse endet und wir in der Falle sitzen.“
„Wir schon in Falle“, widerspricht Tarena, „und du schlauer als das. Du spüren, dass das nicht so ist. Loch groß, Loch weit. Vertunnelt. Verzweigt. Viel Platz für böse Dinge. Traurige Dinge.“
„Ich weiß“, stimme ich niedergeschlagen zu, „gerade deshalb möchte ich nicht hinein.“ Das stimmt und zugleich stimmt es nicht, denn ein Teil von mir ist nach wie vor neugierig auf alles Unbekannte.
„Ich auch nicht“, schreibt Tarena, die den friedlich schlafenden Andy auf ihrem rechten Arm hält, rückt näher zu mir hin und schließt mich fest in ihre linke Klaue, „aber dich gefunden. Andy gefunden. Will nicht sterben. Nicht mehr. Will leben. An schönerem Ort vielleicht …“
Ihr scheint ein neuer Gedanke zu kommen und sie zeigt auf meinen Katalog, von dessen Funktion sie inzwischen ja recht viel weiß.
„Neue Welt. Gemeinsam?“, fragt sie.
„Wir können damit nicht gemeinsam reisen“, sage ich traurig, „nicht, wenn wir nur einen davon haben. Wenn ich den anderen noch hätte, dann …. aber das spielt keine Rolle. Diese Welten sind nie besser. Sie sind traurig und düster. Auch, wenn man manchmal Gutes in ihnen findet.“
Ich drückte ihr einen Kuss auf ihren starren Mund, was die Verzweiflung in meiner Brust wenigstens etwas dämpft.
„Schade“, erwidert sie, als wir uns wieder voneinander gelöst haben, „dann schlimmes Loch. Dort wir wenigstens zusammen.“
„Stimmt“, sage ich traurig lächelnd, „doch noch nicht jetzt. Etwas Zeit bleibt noch.“
„Richtig“, schreibt Tarena, „doch Zeit nutzen. Vorbereiten. Spuren verwischen. Muss noch einmal jagen. Beschaffe essen. Brauchen es.“
„Ich komme mit“, sage ich entschieden, da mich der Gedanke hier vollkommen allein zu sein, fast zerstört.
„Nein“, widerspricht sie ebenso energisch, „du bleiben bei Andy. Schon gesagt. Zu gefährlich. Jage besser allein. Ich bessere Jägerin. Komme wieder. Gehe jetzt. Gute Zeit gerade.“
Sie gibt mir noch einen Kuss, dann reicht sie mir Andy und verlässt schon kurz darauf die Höhle. Ich widerspreche nicht. Versuche nicht sie aufzuhalten. Sie hat leider recht und ich will vor ihr weder wie ein Idiot, noch wie ein Feigling oder ein verantwortungsloser Vater dastehen. Während ich meinen schlafenden Sohn im Arm wiege und ich mit wachsender Angst und Sorge die langsam kleiner werdende Gestalt „meine Jägerin“ beobachte, wobei das „schlimme Loch“ von hinten an mir zu saugen scheint, bringt mich ein Gedanke dennoch zum Lächeln: Die Gleichberechtigung zwischen den Geschlechtern ist hier, am Ende des Multiversums deutlich fortgeschrittener als in meiner Heimatwelt.
Ich blicke Andy an. Er schläft tief und fest, scheint nicht von unseren Sorgen mitzubekommen. Und auch wenn ich zufrieden feststelle, dass er längst nicht mehr so abstoßend auf mich wirkt wie zu Anfang, lege ich ihn nach einigen Minuten vorsichtig neben mich auf den Boden. Ich versuche wirklich ein besserer Vater zu sein. Aber ich habe auch eine andere Pflicht. Eine Pflicht gegenüber mir selbst und meiner Vergangenheit. Ich muss meinen Bericht über Uranor zu Ende bringen, bevor wir in den unbekannten Tunnel hinabsteigen. Wer weiß schon, ob ich dann noch die Gelegenheit dazu haben werde.
~o~
Es war ein mehr als eigenartiges Gefühl zusammen mit Nujon die glatten, weißen Stufen hinaufzusteigen, während die Welt unter uns immer kleiner wurde.
Wir bewältigten fünfzig Stufen, hundert, zweihundert, dreihundert und noch immer schienen die majestätischen Wolken über uns nicht nähergekommen zu sein. Dafür erweckte die Festung inzwischen den Eindruck einer Spielzeugburg, die ein kleiner Junge in seinem Zimmer aufgebaut und die seine Eltern dann als Basis für einen farbenprächtigen Bonsaigarten genutzt hatten, da die von innerhalb des Gebäudes nur teilweise sichtbaren Pflanzen nun in ihrer vollen Pracht zu sehen waren. Umgekehrt war die deprimierende, ungeziefer- und malmerverseuchte Schlammebene, in der ich zusammen mit Sandra in dieser Welt gelandet war zu einer bedeutungs- und harmlosen braunen Fläche geschrumpft, deren Grenzen in undurchsichtigen Nebeln verschwammen. Ob es Sandra und Pingo dort unten gut ging? Leider hatte ich so meine Zweifel daran. Sandra war nicht finsterer oder gemeiner als ich, aber ihre Bosheit – das glaubte ich zumindest – war fester verbunden mit ihrem Charakter, als meine.
Mein Selbstmitleid und meine Reue mochten bislang nur selten Konsequenzen für mein reales Handeln gehabt haben, aber immerhin waren sie stets vorhanden gewesen. Selbst in meinen finstersten Momenten. Sandra jedoch hatte bislang eher wenig Einsicht gezeigt.
Wenn einer der Rilandi sie prüfen sollte, so glaubte ich nicht, dass sie diese Prüfung bestehen würde. Was Pingo betraf, so standen seine Chancen sicher weitaus besser. Er wirkte auf mich ganz und gar nicht wie eine bösartige Person. Allerdings wusste ich nicht, ob die Aufnahme in das Licht den Fluch seiner Steinwerdung würde besiegen können, die ja offenbar sogar seinen Tod überdauert hatte.
Einmal mehr vermisste ich auch Karmon. Er mochte ein Geschöpf der Dunkelheit gewesen sein, aber er hatte mir oft aus der Patsche geholfen und er hat sich letztlich für mich opfern wollen. Der Gedanke, dass er sich aufgelöst hatte, dass er schlicht nicht mehr existierte, behagte mir überhaupt nicht. Gleichzeitig fühlte ich mich schuldig deswegen. Mitleid war sicherlich etwas Gutes, aber wenn ich einen Neuanfang starten wollte, so durfte ich mich nicht in Gedanken an finstere Wesen wie Sandra oder Karmon verlieren.
„Worüber denkst du nach?“, fragte Nojun.
„Über mein früheres Leben“, sagte ich, da ich nicht lügen, mich aber auch nicht in womöglich korrumpierenden Details verlieren wollte.
„Die Bürde, die wir alle mit uns schleppen“, sagte Nojun, „Licht und neue Namen hin oder her. Ich zum Beispiel war einst Norusch, ein Mitglied der Loni-Kaste, der niedrigsten Kaste der bravianischen Gesellschaft. Und ich verdiente meinen Lebensunterhalt als Prostituierter in den Straßen von Han-Winn, einer unserer Städte. Es war eine schwierige Zeit gewesen, um es vorsichtig auszudrücken.“
„Das tut mir leid. Es muss schrecklich gewesen sein“, antwortete ich aufrichtig.
„Oh, an Sex ist nicht schlechtes. Die Käuflichkeit ist das Problem und vor allem die miesen Manieren der Kunden und dass man sich seine Partner nicht aussuchen kann. Aber Sex an sich gehört auf jeden Fall zu den besseren Dingen des Lebens. Wir Rilandi verdammen ihn auch nicht. Im Gegenteil: Er gibt uns Kraft und bringt ketzerische Fragen zum Schweigen. Lediglich die Sucher praktizieren ihn nicht, weil sie sich von sämtlichen weltlichen Dingen fernhalten müssen. Wir Weber und die Hirten sind dabei jedoch deutlich aufgeschlossener. Was meine Vergangenheit angeht, hast du jedoch recht. Sie war miserabel. Nicht nur wegen der Prostitution, sondern auch wegen des bravianischen Kastenwesens. Ein völlig bescheuertes Gesellschaftskonzept. Ich arbeite da an etwas viel Besserem, vielleicht kann ich es dir ja später mal erläutern, wenn wir im Recriondo angekommen sind.“
„Gerne, auch wenn ich keinen blassen Schimmer habe, was du damit meinst“, gab ich offen zu.
„Nur Geduld. Bald wirst du es erfahren“, sagte Nojun um direkt darauf das Thema zu wechseln, „was ist mit deiner Vergangenheit, Olevan? Ich weiß, dass du einer der größten Massenmörder aller Zeiten sein sollst. Dahinter muss sich eine wirklich interessante Geschichte verbergen, zumal du mir gar nicht danach aussiehst.“
Reflexartig wollte ich diesen ungeheuerlichen Vorwurf von mir weisen, besann mich jedoch einen Besseren. Ich durfte nicht in alte Gewohnheiten verfallen.
„Das ist wahr“, erwiderte ich, „ich habe nur wenige Leute selbst getötet und die meisten davon aus Notwehr, aber ich habe als verdeckter Agent ein ganzes Volk ausgelöscht und als Herrscher andere für mich töten lassen. Ganz zu schweigen von all denen, die ich gequält und verraten habe. Aber eigentlich bin – oder war – ich ein Fortgeschrittener, falls dir das etwas sagt.“
„Leider nein“, sagte Nojun.
„Ich konnte mit einem Katalog durch die Welten reisen und habe dort viele Abenteuer erlebt, aber auch viel Unheil angerichtet. Aber diesen Katalog habe ich Onyra gegeben. Als Teil meiner Wiedergutmachung. Nun bin ich nichts weiter als ein einfacher Mensch“, erklärte ich.
„Nicht ganz“, gab Nojun lächelnd zurück, „du bist jetzt einer von uns, ein Rilandi, ein Weber und ein Kämpfer für das Licht und damit alles andere als einfach. Aber dieser Katalog scheint mir bei allen Versuchungen sehr nützlich zu sein. Vielleicht könnte man ihn auch zum Guten verwenden.“
„Vielleicht“, sagte ich nachdenklich, „aber es liegt nun an Onyra das zu entscheiden.“
„Bei ihr ist er sicherlich am besten aufgehoben“, erwiderte Nojun, wobei ich einen Hauch von Zweifel in seiner Stimme hörte, „ich mag die Hirten zwar nicht sonderlich, aber für gewöhnlich wissen sie, was sie tun.“
Das machte mich stutzig. „Ich dachte ihr … wir alle sind hier eine harmonische Familie.“
Nojun kicherte, „Das sind wir ja auch, aber in jeder Familie gibt es Leute, die man mehr mag, als andere. Die Hirten urteilen mir einfach zu viel und sie sind mir zu streng. Wornaara weiß schon, warum er uns unterschiedlichen Sinnpfaden zugeteilt hat.“
„Habt ihr überhaupt Kontakt zueinander? Onyra sprach von einem Abschied, falls ich den Webern oder den Suchern zugeteilt werden sollte“, wollte ich wissen.
„Oh, die meisten von treffen sich regelmäßig zum gemeinsamen Gebet und auch jenseits davon hat man von Zeit zu Zeit miteinander zu tun. Entweder um Dinge zu besprechen oder aus vergnüglicheren Gründen. Onyra ist jedoch eine der drei Hirtenmeister. Und wie allen Meistern ist es ihr nicht erlaubt, Kontakte zu Vertretern der anderen Sinnpfade zu unterhalten, außer wenn dringende Angelegenheiten es erfordern beziehungsweise Wornaara danach verlangt.“
Schade, dachte ich, war jedoch nicht allzu betrübt darüber. Mein kurzzeitiges Interesse an Onyra war nach all dem, was sie mir – wenn auch wahrscheinlich zurecht – angetan hatte, merklich abgekühlt. Erst recht, seitdem ich Garwenia wiedergesehen hatte. Ohnehin vertraute ich meinem Herzen gerade in dieser Hinsicht nicht, in dem nun Gefühlsbruchstücke für Sandra, Garwenia und nun auch noch Onyra wild umherwirbelten. Fürs Erste hatte ich ohnehin andere Sorgen.
„Ich verstehe“, sagte ich und wir schwiegen eine Weile.
Als ich jedoch bemerkte, dass meine weder durch Technik, noch durch einen Symbionten verstärkten Beine so langsam Schwierigkeiten damit bekamen, die schier endlose Treppe hinaufzusteigen, ergriff ich wieder das Wort. „Wie weit ist es denn noch bis zu unserer Halle? Gibt es keinen schnelleren Weg nach oben?“
„Den gibt es“, sagte Nojun grinsend, „aber nicht für uns einfache Weber und ganz besonders nicht für vollkommene Frischlinge wie dich. Doch selbst die Meist benutzen gelegentlich die Treppe, wenn es die Zeit erlaubt. Sie gilt als heilig, wenn man so will. Mit der Zeit werden sich deine Muskeln daran gewöhnen.“
„Ich hoffe es“, sagte ich keuchend, während der Höhenwind an meinen Haaren riss und mir leicht schwindelig wurde, als mir wieder bewusst wurde, in welcher enormen Höhe wir uns bereits befanden.
„Jetzt sei nicht so niedergeschlagen“, sagte Nojun, „Sieh dir lieber das hier an.“
Er zeigte nach oben und mein Blick, der bislang starr auf die Stufen geheftet war, folgte seinem gläsernen Finger.
Was ich dort sah, war tatsächlich dazu geeignet meine Laune zu heben. Nur wenige Meter über uns sah ich regelrechte Schwärme gläserner Flugkreaturen, die sich in einem sicher fast kilometerbreiten Strudel spielerisch umtanzten und deren zerbrechlich wirkenden Körper das Licht farbenfroh brachen oder schimmernd reflektierten. Ich sah dort winzige, an Spatzen erinnernde Vögel, riesige Raubvögel mit gebogenen Schnäbeln, gepanzerte Flugechsen, Säugetiere, die vage an Fledermäuse und Flughunde erinnerten, wenn auch mit längeren Schnauzen und breiteren Flügeln und auch gigantische, libellenartige Fluginsekten mit schillernden Facettenaugen und langen, gläsernen Stacheln.
Auch wenn sie noch einigermaßen weit entfernt waren, hätten sie eigentlich einen Mordslärm machen sollen, aber stattdessen waren sie vollkommen still.
„Das ist wunderschön“, sagte ich mit vor Staunen geöffnetem Mund, „wie kommen sie hierher? Ich habe außer den Käfern und Würmern noch keine Tiere in Uranor gesehen.“
„Sie werden vom Licht angezogen und da sie in großer Höhe fliegen und der Himmel von unten so hell ist, kann man sie dort nicht erkennen“, erläuterte Nojun.
„Verhungern sie nicht?“, fragte ich, „sie werden doch sicherlich Beute machen müssen. Fressen sie sich etwas gegenseitig?“
Nojun lachte wie ein Vater, dessen Sohn etwas Albernes gesagt hatte, „Weißt du Olevan, ich habe viel weniger gegen Fragen, als die meisten Rilandi, aber es gibt Momente, in denen man einfach schweigen und beobachten sollte, statt alles zu analysieren, was man sieht. Das hier ist so ein Moment.“
In diesem Punkt musste ich ihm recht geben und so sah ich den gläsernen Tieren fasziniert beim Tanz zu, während wir unseren Aufstieg fortsetzten. Als wir das Auge dieses friedlichen Wirbelsturms auf Leibern erreichten, welcher sich genau um die Treppe drehte, fürchtete ich kurz, mit einem der vielen Tiere zu kollidieren und mich entweder zu verletzen oder meinerseits Schaden anzurichten. Aber nichts davon geschah. Die meisten dieser Geschöpfe hielten einen respektvollen Abstand zu mir und Nojun.
Lediglich eine der Glaslibellen kam zu mir und sah mich mit ihren großen Facettenaugen an, die denen von Tarena nicht so unähnlich waren. Ich konnte dem Drang nicht widerstehen, ihr mit meinem Finger vorsichtig über den schlanken Leib zu streicheln. Sie schlug daraufhin schneller mit ihren acht Flügeln, ohne sich von mir zu entfernen, woraus ich schloss, dass es ihr gefiel. Dann jedoch schloss sie sich wieder dem spielerischen Himmelstanz an.
Den Rest des Weges legten wir schneller und müheloser zurück, als ich befürchtet hatte. Vielleicht hatte der Anblick dieser anmutigen Kreaturen tatsächlich etwas Kraft gegeben, vielleicht waren meine Beine aber auch schon zu taub, um noch weh zu tun oder ich hatte die Entfernung falsch eingeschätzt.
Als wir die letzte Stufe der Treppe erreichten, sah ich vor mir eine gläserne Kuppel, unter der etwa zwei Dutzend Rilandi in denselben Webergewändern, die auch ich und Nojun trugen, miteinander diskutierten, lachten oder aus langstieligen Gläsern tranken. Die Stimmung war gelöst, auch wenn einige der Anwesenden verstummten als sie uns erblickten und vor allem mich zu gleichen Teilen skeptisch und neugierig betrachteten. Viele von ihnen saßen oder lagen direkt auf den Wolken, die auch auf ihrer Oberseite nicht völlig weiß waren, sondern in einem orangefarbenen Ton schimmerten. Andere jedoch hatten sich auch auf transparenten Liegen oder Stühlen niedergelassen.
Die Stimmung erinnerte mich eher an einen dekadenten römischen Palast, als an die Halle eines religiösen Volkes. Ja, ich sah sogar einige Paare, die sich küssten oder … mit zumindest vorsexuellen Aktivitäten beschäftigt waren.
Einige der Rilandi waren bereits vollständig zu Glas geworden, andere jedoch hatten sich – so wie Nojun – noch einen Großteil ihrer ursprünglichen körperlichen Merkmale bewahrt. So erkannte ich unter ihnen Bravianer, Echsenwesen, Pflanzengeschöpfe, Vogelartige und diverse andere Humanoide, jedoch keine Andrin oder Rorak. Diese Völker schienen wohl nur selten den Auswahlprozess zu überstehen, der einer Aufnahme in diese illustre Gemeinschaft vorausging. Relativ erschrocken war ich darüber, dass den Webern auch zwei Jyllen-Frauen angehörten, die mich jedoch weder zornig, noch verurteilend ansahen. Entweder wussten sie nichts über die Dinge, die ich ihrem Volk angetan hatte, waren über Rachegelüste hinaus oder wussten ihren Hass sehr zu verbergen.
Einer der männlichen Anwesenden trug ein Gewand aus demselben gläsernen Stoff, aus dem auch die Decke bestanden hatte, auf der ich gelegen hatte, während ich meine Illusion durchlebt hatte. Er war einer von jenen, der bereits vollkommen gläsern war und darüber hinaus das typische Aussehen der Rilandi besaß, wobei sein gläserner Schnurrbart ihm eine gewisse Individualität verlieh. Entweder war er als Rilandi geboren worden oder er war schon relativ lange hier. Er war es dann auch, der auf uns zuging und mir die Hand zur Begrüßung entgegenstreckte.
„Mein Name ist Gorun“, sagte er, „ich bin einer der drei Webermeister und du musst Olevan sein.“
„So ist es“, sagte ich, ergriff jedoch noch nicht seine Hand. Dies lag vor allem daran, dass ich sie nicht erreichen konnte, ohne beide Füße auf die Wolken zu setzen. Es mag bei jemanden, der in Dank Qua todesmutig über riesige Zahnradblumen balancierte und der auf dem Rücken riesiger Metallbienen geflogen ist, eigenartig klingen, aber tatsächlich erfasste mich in jenem Moment eine plötzliche, intensive Höhenangst, bei dem Gedanken auf etwas zu treten, von dem mein Verstand zwar wusste, dass es mein Gewicht halten musste, mir jedoch mein Instinkt das völlige Gegenteil berichtete. Ich sah an Goruns Augen, dass er mein Dilemma durchaus erkannte, jedoch dachte er offenbar nicht einmal daran, sich auf mich zuzubewegen.
„Worauf wartest du, Olevan?“, sagte er spöttisch, „denkst du etwa, wir tun alle nur so, als könnten wir auf Wolken gehen, um dir eine Falle zu stellen?“
Alle außer Nojun begannen daraufhin lauthals zu lachen.
Ich spürte, wie mir die Röte ins Gesicht schoss und hob vorsichtig einen Fuß, konnte mich jedoch nicht dazu durchringen ihn zu senken.
„Wen hast du uns da nur gebracht, Nojun?“, fragte Gorun, „mir scheint, unser Freund hier wäre doch besser ein Schlammkriecher geblieben.“
Nojun versetzte mir mit seinem Ellenbogen einen sanften Stoß in den Rücken, jedoch konnte ich mich auch jetzt noch nicht dazu überwinden die Wolken zu betreten. Einige weitere Augenblicke verstrichen und mein Blick schweifte über die amüsierten Weber zurück zum überheblich lächelnden Gorun.
„Ich hörte, dass du ein Massenmörder warst, Olevan“, sagte Gorun, „doch vielleicht hat man dir mit dieser Bezeichnung unrecht getan. Vielleicht bist du eher ein Lügner als ein Schlächter, denn wenn man dir deine Opfer nicht halbtot und gefesselt übergeben hat, glaube ich kaum, dass du den nötigen Schneid besessen hättest, jemanden zu töten.“
Sein Spott schnitt tiefer als er sollte. Ich erkannte, dass ich alles andere war als eine aus der Asche wiedergeborene Lichtgestalt, sondern viel mehr ein verletzliches, neugeborenes Küken, dessen Herz – nun sämtlicher Schutzwälle beraubt – ein leichtes Opfer für seine raue Umwelt war.
Dennoch gab mir die aus Scham geborene Wut, die in mir Wuchs, die Kraft, wenigstens meinen rechten Fuß auf den Wolkenboden zu setzen, um die Worte dieses gehässigen Mannes Lügen zu strafen.
Für einen Moment rutschte mein Herz in meine Hose, als ich der festen Überzeugung war, dass die Wolkenschicht unter mir tatsächlich nichts weiter wäre als Wasserdampf, durch den ich unweigerlich würde hindurch sinken müssen. Doch auch, wenn sich die Wolken so weich, flauschig und nachgiebig wie ein Flokati-Teppich anfühlten, hielten sie das Gewicht meines Fußes selbst dann noch, als ich ihn prüfend etwas stärker belastete. Also atmete ich tief ein, fasste all meinen kümmerlichen Mut zusammen und setze auch noch den anderen Fuß und damit mein gesamtes Körpergewicht auf den ungewöhnlichen Untergrund. Ich starb dabei tausend Tode, aber der Wolkenboden hielt und so tat ich sogar ein, zwei vorsichtige Schritte. Erleichterung durchströmte mich wie eine belebende Infusion und ich fühlte mich ungefähr so, wie ein Ritter, der gerade einen als unbesiegbar geltenden Drachen bezwungen hatte.
Zumindest solange, bis sich der Rausch der Erleichterung in Asche verwandelte, als die Wolkenschicht letztlich doch nachgab und ich begann haltlos zu fallen.
Der Sog der Tiefe riss mit einem Mal ungezügelt an meinem Körper, mein Magen wurde nach oben gedrückt als ich erst mit dem Füßen, dann mit dem Oberkörper und schließlich mit dem Kopf die Wolkenschicht durchstach unter der nur die nun unerreichbare Treppe und ein ungebremster Fall aus schwindelerregender Höhe auf mich warteten, wusste ich nicht, ob ich kotzen, mich einpinkeln, schreien oder ohnmächtig werden sollte. Der Schrei machte das Rennen. Wobei die anderen Dinge sicher bald gefolgt wären, wenn sich nicht zwei starke, gläserne Hände um meine Handgelenke geschlungen und mich zurück auf den nun plötzlich wieder sichere Wolkenboden gezogen hätten.
Diese Hände gehörten Gorun, wie ich feststellte, als der nachlassende Schock es wieder erlaubte, meiner Umgebung Beachtung zu schenken.
„Du sadistisches Arschloch!“, sagte ich schwer atmend und weinend vor Wut und Verzweiflung, während erneut das Lachen der anderen Weber erklang. Mir war natürlich vollkommen klar, dass Gorun dafür gesorgt hatte, dass der Boden unter mir nachgab.
„Du bist ja doch mutiger als ich dachte“, bemerkte Gorun trocken, „so redet hier für gewöhnlich niemand mit uns Webermeistern.“
Das reichte mir. Ungeachtet des Schocks und des unzuverlässigen Untergrundes sprang ich auf und schlug Gorun mit meiner Faust ins Gesicht, wobei ich darauf achtete, mir nicht erneut – und diesmal wirklich – die Hand zu brechen. Meine Fingerknöchel schmerzten, die Haut brannte leicht, aber gebrochen hatte ich mir wenigstens nichts. Goruns Gesicht hingegen war gebrochen. Zumindest war ein großer, spinnennetzförmiger Riss in seiner Wange erschienen, wie bei einer eingeschlagenen Fensterscheibe, „Mir istvoll kommen egal, ob du ein Webermeister, ein Weberknecht oder Gott höchstpersönlich bist. So eine abgefuckte Scheiße stellt niemand mit mir an!“, knurrte ich den Mann an.
Ich rechnete mit einem Wutausbruch und mir war durchaus bewusst, dass das hier nicht klug gewesen war, aber selbst, wenn ich jetzt nicht länger Adrian, sondern Olevan sein sollte, hatte ich dennoch genug davon wie ein alter Putzlappen umhergeschleudert zu werden. Goruns Reaktion jedoch überraschte mich. „Großartig“, sagte er applaudierend, während er sich mehr neugierig als wütend mit der Hand über die gesprungene Wange fuhr. Die meisten der anderen Anwesenden stimmten in den Applaus ein. „In dir steckt ja doch noch Feuer“, fuhr Gorun fort, „diese verdammten Hirten machen die Meisten von uns mit ihren ganze Prüfungen zu jämmerlichen Schlappschwänzen, mit denen man kaum noch arbeiten kann. Nichts gegen Reue und Einsicht, aber sie übertreiben es definitiv. Kein Wunder, dass wir fast die Hälfte aussieben müssen.“
„Dann war das hier schon wieder eine Prüfung?“, fragte ich den Webermeister und bekam direkt Lust den Riss in seiner Wange weiter zu vergrößern.
„So ist es“, sagte er lächelnd, „hättest du dich einfach nur jammernd auf dem Boden zusammengekauert und um Gnade gefleht, hätten wir dich erneut durch die Wolkendecke fallen lassen. Diesmal ohne helfende Hand.“
Als er das sagte, entstand ein flaues Gefühl in meiner Magengrube. Ich hatte selbst den „Free-Fall“-Geräten auf dem Rummel nie etwas abgewinnen können. Ich drehte mich zu Nojun um „warum hast du mir nichts davon erzählt?“, fragte ich den Mann empört.
„Gorun hat es verboten und ich würde es nicht wagen, seine Autorität zu untergraben“, sagte Nojun, wobei ein seltsames Zittern in seiner Stimme war.
„Und das ist auch gut so“, bestätigte Gorun mit einem Mal gar nicht mehr so humorvoll und entspannt, „es stimmt, ich will hier oben keine Speichellecker und Staubkriecher, sondern starke Charaktere, die frei denken und auch mal ihre Meinung sagen. Aber, damit hier keine Missverständnisse aufkommen: Wenn ich etwas Befehle, ist es Gesetz. Und so sehr ich dein Feuer auch schätze, Olevan: Wenn du mich von heute an noch einmal schlägst, wirst du als schreiender Niederschlag aus den Wolken regnen. Verstanden?“
Ich nickte, wobei ich ein bisschen befürchtete wieder in einer Prüfung zu stecken. Wurde vielleicht erneuter Widerspruch von mir erwartet? Nein, entschied ich, auch wenn die Gemeinschaft der Weber ganz anders war, als ich es erwartet hatte, wirkte Gorun doch wie jemand, der ernst genommen werden wollte.
„Perfekt“, sagte Gorun dessen Wange schon gar nicht mehr so zerstört aussah, was darauf schließen ließ, dass sein Körper die Wunde langsam heilte, „dann ist es an der Zeit, dass du deine Aufgabe kennenlernst. Nojun!“
„Ja, Webermeister“, erwiderte der Angesprochene.
„Würdest du unseren Neuling zu Herreth in die Webwerkstatt führen? Ich muss leider ein Auge auf diese Rasselbande hier haben und dafür sorgen, dass sie bei aller verdienten Entspannung keinen gefährlichen Unsinn anstellt.“
„Wie du wünschst, Webermeister“, sagte Nojun und machte eine auffordernde Geste, während er die linke der drei Wolkenstraßen wählte, die von dem Platz wegführten, bei dem es sich nur um den „Recriondo“ handeln konnte, von dem Nojung gesprochen hatte.
Ich warf noch einen Blick auf die anderen Rilandi, die sich bereits wieder ihren Freuden hingaben und schloss dann zu Nojun auf.
Die Straße, die wir benutzten, war nur etwa zwei Meter breit und links und rechts von ihr lag der fast endlos scheinende Abgrund an dessen Ende der Schlamm und der schwarze Malmer warteten. Erneut ergriff mich ein heftiger Schwindel. Um mich abzulenken, stellte ich Nojun eine Frage. „Ist Herreth auch eine Webermeisterin?“
„Ja“, bestätigte Nojun nickend, „sie ist zuständig für die Beaufsichtigung unserer eigentlichen Arbeit. Kollat ist der dritte Webermeister. Er ist Hüter unseres Wissens und Lehrer des Geistes. Ihn wirst du später noch treffen. Er wird dir alles vermitteln, was du über die Geschichte und den Glauben von uns Rilandi wissen musst, er wird dich aber auch in den besonderen Fähigkeiten unseres Volkes unterweisen. Gorun kennst du ja bereits. Er kümmert sich um das Wohlergehen und die Disziplin unter den Webern und wenn nötig um den Kontakt mit den anderen Sinnpfaden und dem Allrichter.“
„Das mit dem Wohlergehen scheint ihm besser zu gelingen, als das mit der Disziplin“, bemerkte ich süffisant.
Nojun lachte ein glockenhelles Lachen. Irgendwie war er mir wirklich sympathisch, auch wenn ich ihm seine mangelnde Vorwarnung wegen der Prüfung noch immer etwas übel nahm, „Wäre es dir lieber, wenn hier ständiger Kasernenton, betriebsame Stille und selbst kasteiende Betbrüder an der Tagesordnung wären?“
„Keineswegs“, sagte ich, „Ich wundere mich lediglich darüber.“
„Wenn du unsere Aufgabe kennengelernt hast, wird es dich nicht mehr wundern“, erwiderte Nojun, „es gibt eben Dinge, die nur funktionieren, wenn man eine entspannte und glückliche Atmosphäre schafft. Kreativität gehört definitiv dazu.“
„Mag sein, aber in Sachen Handarbeit war ich nie besonders begabt“, gab ich zurück.
Erneut kicherte Nojun herzlich, „ich auch nicht. Zum Glück kommt es bei unserer Arbeit eher auf den Kopf an. Doch genug um den heißen Brei geredet. Wir sind da.“
„Was meinst du?“, fragte ich, da ich weit und breit weder eine Halle noch eine Tür oder sonst irgendetwas sah, was im entferntesten an eine Webwerkstatt erinnerte. Sei es nun eine Wortwörtliche oder Metaphorische. Es gab lediglich dieselbe, endlos erscheinende Wolkenstraße.
„Sieh genauer hin“, sagte Nojun und zeigte auf einen Punkt zu seinen Füßen.
Ich tat wie geheißen und sah tatsächlich einen mit hellgrüner Farbe auf die Wolken gemalten, stilisierten Webstuhl, der etwa so groß wie meine Handfläche war.
„Sicher eine schöne Werkstatt“, lobte ich, „zumindest wenn man zweidimensional und sehr klein ist.“
Diesmal entlockte ich Nojun lediglich ein müdes Grinsen. OK, das war auch wirklich ein wenig albern gewesen, „dieses Symbol hier markiert natürlich lediglich den Eingang“, sagte Nojun trat genau am markierten Punkt über den Rand der Straße und war verschwunden. Er stürzte weder ab, noch schwebte er wie magisch in der Luft. Er war schlicht nicht mehr vorhanden.
„Das ist nicht dein verfluchter Ernst“, sagte ich und starrte völlig entgeistert auf das leere Stück Luft, bei dem nicht einmal ein Flimmern darauf hinwies, dass sich dort irgendetwas befand. Meine erst kürzlich erwachte Höhenangst meldete sich mit Macht zurück, als ich meine Füße auf das Symbol stellte. Der Wind riss an meinen Haaren und als ich in den Abgrund vor meinen Füßen starrte, hätte ich mich vor Nervosität beinah übergeben. Aber ich hatte keine Lust darauf mich erneut zum Affen zu machen und zumindest vom Kopf her wusste ich, dass es ziemlich unwahrscheinlich war, dass man mich nach all dem töten wollte. Das hätten sie auch einfacher haben können. Außerdem mochte ich zwar kein Fortgeschrittener mehr sein, aber die Neugier hatten all die Prüfungen dennoch nicht aus mir vertrieben. Also schiss ich erneut auf mein ungutes Gefühl und sprang von der Wolkenstraße ins Ungewisse.
~o~
„Da ist der Neue ja endlich“, sagte die Stimme einer Frau, bei der sich eigentlich nur um Herreth handeln konnte. Auch sie war eine vollkommene gläserne Rilandi. Jedoch hatte sie sich ihre kurzen, gläsernen Haare rot gefärbt, trug einen ungewöhnlich weiten, weißen Mantel, der an den Rändern in allen Farben des Regenbogens schimmerte und eine silberne Brille, was ihr trotz ihrer relativen Jugend etwas Professorales verlieh.
Sie saß dabei auf einem gläsernen Stuhl und gab irgendetwas in einen flachen Monitor ein, dessen Fuß tatsächlich auf einem großen Webstuhl ruhte, der – samt der auf ihm gesponnenen Fäden – aus zu Materie gewordenem Licht zu bestehen schien. Von diesem Webstuhl gingen nach oben eine Vielzahl großer, dünner Fäden ab, die in zur Decke des kuppelförmigen, vollkommen geschlossenen Raums führten. Doch sie verschwanden nicht einfach nur in irgendeiner gewöhnlichen Bausubstanz, sondern in einer Reihe gläserner, zylindrischer Tanks, die an der Decke befestigt waren und in den sich Wesen befanden, die ich selbst aus dieser Entfernung als Scyonen erkennen konnte. Angehörige von Moydrurs Volk, die ungeachtet ihrer starken psyonischen oder womöglich sogar magischen Fähigkeiten dort gefangen gehalten worden. Ihre Gesichtsausdrücke konnte ich nicht erkennen, aber es war aber anzunehmen, dass sie nicht sonderlich glücklich über ihre Gefangenschaft waren. Weitaus zufriedener wirkten die vier Rilandi, die auf gläsernen Stühlen im Halbkreis um Herreth und ihren Webstuhl saßen. Zwei von ihnen – beides Männer – besaßen die volle Rilandi-Gestalt. Bei den beiden anderen handelte es sich um eine ältere Bravianerin und eine Echsenfrau mit grüner Haut und großen, hellroten Augen. Die restlichen sechzehn Stühle waren leer, was diesem Ort eine etwas verlassene Atmosphäre verlieh.
„Was starrt ihr so blöd in der Gegend rum“, empörte sich Herreth halb ernst und halb scherzhaft, „ausruhen könnte ihr euch auch draußen. Hier drinnen wird gearbeitet. Also setzt euch, Husch!“
Herreth hatte eine sehr energische, abgehackte Sprechweise und eine Art, die einem das Gefühl vermittelte ständig kritisiert zu werden, ohne dass es wirklich böse gemeint zu sein schien.
Ich gehorchte und setzte mich auf die rechte Seite neben die Echsenfrau, die ihre gespaltene Zunge ausstreckte, so als wolle sie mich beschnüffeln. Nujon ließ sich auf der linken Seite, neben einem der Rilandi-Männer nieder. Die Stühle waren unerwartet bequem. Fast verspürte ich das Bedürfnis direkt darauf einzudösen, denn immerhin hatte ich schon lange nicht mehr geschlafen. Herreth schien das nicht zu entgehen.
„Hey du, Neuer. Nicht einschlafen!“, ermahnte Herreth mich, „Du siehst zwar in etwa so fit aus wie ein Unfallopfer, aber geschlafen wird in dieser Halle nicht.“
„Nojun,“, sagte sie zu dem Bravianer, „du hast ihn angeschleppt, also erklär ihm mal, warum er überhaupt hier ist.“
„Aber Herreth, ihr seid die Meisterin, nicht ich. Ihr könnt das viel besser und …“, begann Nojun.
„Genauso ist es. Und du bist mein Schüler. Und deswegen wirst du ihm unsere Aufgabe erklären, weil ich es von dir verlangt habe. Und das bitteschön interessant genug, damit er uns nicht wegdämmert. Ansonsten füttern wir deinen Laarmaschk.“, erwiderte sie.
„Wie du wünschst“, sagte Nojun und zu meinem eigenen Entsetzen entdecke ich ein ängstliches Zittern in seiner Stimme.
„Am besten zeige ich es dir“, fügte Nojun hinzu.
„Dariva!“, sagte er und plötzlich erschien auf unserer Augenhöhe das Hologramm eines Planeten. Er war der Erde in der Hinsicht nicht unähnlich, dass er große Mengen an Wasser zu besitzen schien, jedoch war seine Landmasse von einer dunkelgrauen, fast schwarzen Farbe. Nojun machte einige flüssige Gesten und das Bild zoomte deutlich heran, wodurch ich erkannte, dass diese Farbe nicht etwa von toter Vulkanasche stammte, wie ich zunächst vermutet hatte, sondern von Pflanzen, die mal an Farne, mal an Sträucher und mal an Gräser oder Blumen erinnerten. Bizarre, riesenhafte, längliche Insekten und krude, feiste Mischungen zwischen Säugetieren und Würmern krochen dazwischen im Schein einer rötlichen Sonne umher. Er machte weitere Bewegungen und das Bild wechselte zu einer primitiven Stadt mit hölzernen Gebäuden, mit einer fremdartig anmutenden konkaven Architektur. In dieser Stadt lebten stämmige Humanoide Wesen mit grauer, schuppiger Haut. Ihre Gesichtszüge waren nur schwach ausgeprägt. Kleine Augen und dünne Mundschlitze verschwanden in teigigen, grobschlächtigen Gesichtern. Ihre gesamte Form erinnerte mich an einen Tongolem aus den Sagen (oder ehrlich gesagt eher aus diversen Computerspielen, die ich gespielt hatte, als ich noch bei meinen Eltern gelebt hatte). Alles in allem machten sie keinen sehr attraktiven Eindruck. Aber sie pflegten dafür einen recht ordentlichen Umgang miteinander.
Häufig nahmen sie sich in ihre kräftigen Arme und ließen ein hohes Jauchzen hören, von dem ich annahm, dass es ein Freudenlaut sein sollte. Zudem gingen sie gemeinsam auf die Jagd, teilten sich das Fleisch der seltsamen Wurmtiere, sammelten in kleinen Gruppen Früchte, betrieben ein kompliziert erscheinendes Ballspiel, bei dem sie mithilfe der dunklen Pflanzen ein Spielfeld absteckten und kümmerten sich offenbar auch um Kranke und Verletzte, sowie ihren Nachwuchs. Weiterhin schienen sie sich mit Lautfolgen zu verständigen und gelegentlich sah ich auch einzelne Individuen mit Punkten und Linien experimentieren, die sie in die Hauswände kerbten. Womöglich entstand hier so etwas wie eine Schrift. Alles in allem schien es mir eine zwar noch primitive, aber friedliche und recht vielversprechende Stammeskultur zu sein. Jedoch war nicht alles perfekt, denn der Boden war an vielen Stellen ausgetrocknet und auch einige der Pflanzen machten einen recht kränklichen Eindruck. Noch schien der Stamm nicht an Mangel zu leiden, aber es fehlte nicht mehr allzu viel.
„Was hältst du davon?“, fragte Nojun, nachdem er seine kleine Vorführung beendet hatte, indem er das Hologramm wie einen Film einfror.
„Scheint mir ein schöner Ort zum Leben zu sein“, sagte ich, „zumindest, wenn man es einfach mag und kein Problem mit Trockenheit hat.“
Für den Bruchteil einer Sekunde erschien ein herzliches Lächeln auf Nojuns Gesicht. Dann jedoch verschwand es wie ein flüchtiger Schauer und er blickte erst verstohlen zu Herreth und dann zu den anderen Webern, so als hätte ich etwas Ungehöriges gesagt. „Das meine ich nicht. Was ist daran auffällig? Was hat das Potenzial die bestehende Ordnung zu brechen?“
Ich hatte nicht unbedingt den Eindruck, dass diese Ordnung gebrochen werden musste, aber natürlich war die Antwort auf die Frage recht eindeutig.
„Du meinst abgesehen von Trockenheit und Hunger?“, fragte ich spitz, erkannte jedoch an seinem Gesicht, dass es nicht das war, was er hören wollte, „nun, wahrscheinlich diejenigen, die zu Schreiben begonnen haben“, sagte ich.
„Genau“, bestätigte Nojun und leckte sich nervös über die Lippen. Er fokussierte auf ein braunäugiges Individuum, welches besonders groß war und dabei war mit einem schwarzen Ast einige neue Formen auszuprobieren. Das Besondere an ihm war, dass er anders, als die meisten anderen, ein paar Zuschauer hatte, „Webermeisterin? Würdet ihr Ereignis 27B initiieren, sobald er wieder die Doppelbogenform ausführt?“
Herreth nickte.
Gespannt verfolgte ich den Außerirdischen bei seinen Schriftforschungen und es dauert nicht lang, bis er zwei Halbkreise zeichnete, die sich an ihren Wölbungen berührten und so eine Art „abgerundetes X“ formten.
Sofort gab Herreth etwas in ihren Bildschirm ein. Kurz darauf setzte sich der Webstuhl leise ratternd in Bewegung. Ein heller Lichtstrahl fuhr vom Webstuhl zu einem der Fäden und ein schriller Schrei ertönte, der von einem der Scyonen an der Decke zu kommen schien. Unmittelbar darauf blickte der Schreiber aus Dariva zum Himmel empor und die mysteriöse Kamera folgte seinem Blick.
An dem fremdartigen, von zwei kleinen roten Sonnen beherrschten Himmel erschien ein helles, gelbliches Licht welches die Form einer Schlange oder vielleicht auch eher von einem der Wurmtiere annahm, die eine Zeitlang chaotische Bahnen auf dem Himmel zog, bevor es schließlich mit einem Knall verschwand. Doch das Spektakel war noch nicht vorüber, denn dort wo das Schlangenlicht erschienen war, bildeten sich mit einem Mal wie aus dem Nichts Wolken und ließen einen erfrischenden Regen auf den trockenen Boden niedergehen. Die Kamera schwenkte auf die umstehenden Personen, die allesamt einen Ausdruck des Erstaunens und der Bewunderung zeigten.
„Vorspulen. Ein Jahr“, sagte Nojun.
Eine neue Szene zeigte sich. Die Stadt hatte sich verändert. Neben den bislang etwa gleich großen Gebäuden war ein riesiger Tempel errichtet worden, auf dem das Symbol prangte, welches der Schreiber gezeichnet hatte. Ein Bildnis ebenjenes Schreibers stand davor und hielt einen Ast in der Rechten und eine gefüllte Wasserschale in der linken Hand. Um diese Statue knieten einige der Dorfbewohner und murmelten irgendetwas. Ein kleinerer Dorfbewohner – womöglich ein Kind oder Jugendlicher – goss Wasser aus einem dunklen Holzgefäß in die Schale. Niemand spielte oder unterhielt sich. Die Straßen wirkten still und verweist.
Die Kamera schwenkte ins Innere des Tempels. Der Schreiber saß auf einer Art Thron, welcher ebenfalls jenem Zeichen nachempfunden war. Vier Tempeldiener trugen Leinengewänder mit jenem Zeichen und mächtige, schwarze Holzspeere. Zwei von ihnen hielten einen Jugendlichen fest. Er hatte einen Ball in der Hand. Der Schreiber deutete darauf und erging sich in einem Schwall von Flüchen. Der Jugendliche argumentierte offenbar dagegen.
Ein dritter Tempeldiener ging zu ihm, nahm den Ball in die Hand und verbrannte ihn in einer von zwei Räucherschalen, die im Inneren des Tempels loderten.
Der Jugendliche fluchte und schien etwas zu sagen, was den Schreiber erzürnte. Der Schreiber gab daraufhin dem vierten Tempeldiener einen Befehl. Er ging zu dem Jungen, legte die Spitze seines Speers auf dessen Körpermitte.
Der Jugendliche begann zu flehen und zu weinen und auch der Tempeldiener schien von Zweifeln geplagt, da seine Hand, in der er den Speer hielt, zitterte. Aber als der Schreiber einen harten, strengen Laut von sich gab, stieß er den Speer durch den Körper des Ballspielers. Anstelle von Bitten quoll nun Blut aus seinem Mund und schließlich brach er tot zusammen, als der Speer wieder aus seinem Körper gezogen wurde.
„Das … das ist grauenhaft“, sagte ich meinem intuitiven Gewissen folgen, welches immerhin seit einiger Zeit wieder deutlicher zu mir sprach. Deshalb erkannte ich mich auch gut in der Tempelwache wieder. Weinen, klagen und zweifeln und dann doch falsch handeln. Das kannte ich gut.
„Es ist nicht perfekt“, sagte Nojun, dem das Ganze ebenfalls nahezugehen schien, „diese Religion ist noch zu roh und brutal. Das passiert leider häufig in den Anfangsstadien. Wenn das so bleiben würde, würden wir Revolutionen riskieren. Wir brauchen ein paar mehr Regeln.“
„Herreth. Ereignis 15NM“, sagte Nojun, woraufhin Herreth erneut eine Eingabe machte, die an einen gequält aufschreienden Scyonen weitergeleitet wurde.
Plötzlich manifestierte sich über dem Körper des sterbenden Jugendlichen, aus dem helles, fast weißes Blut quoll eine helle, leuchtende Geistergestalt mit den ungefähren Umrissen des Toten.
„Welche Gebote schlägst du vor, Nojun?“, fragte Herreth in einem Tonfall der durchaus Zweifel daran ausdrückte, dass ihm passende Vorschläge einfallen würden.
„Du sollst nicht nehmen das Leben jener, die noch nicht erwachsen sind zu voller Blüte. Du sollst geben einem Jeden eine zweite Chance. Du sollst kein Blut vergießen am Tag des Ohrann.“, schlug Nojun vor.
„Gar nicht mal schlecht“, lobt Herreth und gab die Botschaften ein, welche einmal mehr über die dünnen Fäden des Webstuhls an die Scyonen weitergeleitet wurden. Die holografische Geistergestalt sagte etwas in der fremden Sprache, wobei es sich wahrscheinlich um ebendiese Gebote handelte. Der Schreiber und Prophet auf seinem Thron wirkte alles andere als glücklich angesichts dieser göttlichen Einschränkung seiner Macht. Doch wegen dieses offensichtlichen Zeichens aus dem Jenseits und der Anwesenheit seiner Tempeldiener traute er sich nicht, zu widersprechen.
„Wie wäre es damit, stattdessen niemanden zu töten?“, fragte ich.
Herreth blickte zu mir auf. Ihr Gesicht drückte große Skepsis auf, „Das wäre ein unrealistisches Gebot“, sagte sie belehrend.
„Warum?“, fragte ich zurück, „selbst viele Religionen in meiner Heimatwelt haben sich darauf geeinigt.“
„Halten sie sich auch daran?“, fragte Herreth, wobei sie eindeutig den Eindruck vermittelte, dass sie wusste, dass dem nicht so war.
„Nein“, gab ich zu, „jedenfalls nicht immer.“
„Eben“, sagte Herreth, „es ist besser Gesetze aufzustellen, an die man sich im Großen und Ganzen halten kann. Alles andere stiftet nur Verwirrung und Zwist.“
„Es ist trotzdem nicht richtig, andere zu töten, weil sie Ball spielen“, wandte ich empört ein.
„Aus deinem Wertesystem heraus mag das stimmen“, sagte Herreth, „auch wenn ich die moralische Integrität einer Person, die noch vor kurzem einen Genozid durchgeführt hat, eher skeptisch beurteilen würde.“
Bei diesen Worten sahen mich die anderen Weber ziemlich feindselig und ganz und gar nicht urteilsfrei an. Lediglich die Echsenfrau neben mir schien relativ unbeeindruckt. Entweder hatte sie dieses kleine Detail über mich bereits gewusst, oder es war ihr relativ egal.
„Ich habe dafür gebüßt und bin geläutert worden“, wandte ich ein, „welchen Sinn haben all die Prüfungen, wenn man seine Vergangenheit dennoch immer wieder vorgehalten bekommt.“
„Du selbst solltest sie dir vorhalten. Und zwar ständig“, sagte Herreth kühl, „aber das ist jetzt nicht der Punkt. Der Punkt ist: In dem Kosmos, in dem die Bewohner von Dariva leben, ist dies nun einmal Gesetz. Ein Gesetz, welches sie sich selbst gegeben haben. Und eine Gesellschaft ohne Gesetze funktioniert nicht.“
„IHR habt ihnen diese Gesetzte gegeben!“, widersprach ich energisch.
„Falsch“, erwiderte Herreth, „wir setzen lediglich Impulse. Was sie daraus machen, ist allein ihre Sache.“
„Das stimmt, Olevan“, sagte Nojun, „es geht uns darum, das beste religiöse System für jedes Volk zu entwickeln. Aber wir entwerfen nicht einfach alles am Reißbrett. Wir fördern lediglich Tendenzen, die vorhanden sind und sehen, wie sich die jeweilige Spezies daraufhin entwickelt. Was du hier gesehen hast, sind lediglich Fortschreibungen der aktuellen Verhältnisse. Die junge Frau, die dort gestorben ist, wird zwar mit beinahe hundertprozentiger Sicherheit in einem Jahr sterben, wenn wir nicht eingreifen, aber noch ist sie nicht gestorben und vielleicht muss sie das auch nicht, wenn wir einen anderen Pfad finden, der ein funktionierendes System ermöglicht. Doch wenn nicht, so sorgt ihr Tod immerhin dafür, dass nach ihr viele weitere nicht getötet werden müssen und wir auf dieser Basis weiterarbeiten können.“
„Warum muss es überhaupt eine religiöse Ordnung geben?“, wollte ich wissen, „warum können diese Wesen nicht einfach so leben, wie sie möchten?“
Hatte vorher schon konzentrierte Stille in der Halle der Weber geherrscht, war diese nun regelrecht erdrückend.
„Was hast du da gesagt?“, zischte Herreth.
„Ich habe eine Frage gestellt“, antwortete ich, „mir wurde gesagt, dass das hier nicht verboten ist? Das man hier frei denken und diskutieren kann.“
„Hast du ihm etwa gesagt, dass er das Licht infrage stellen darf?“, fragte Herreth und blickte Nojun dabei wütend an.
„Natürlich nicht …“, begann Nojun, „ich habe lediglich …“
„Raus! Alle beide!“, keifte Herreth, „Heute Abend findet eine Speisung statt. Morgen dürft ihr dann wiederkommen, vorausgesetzt du hast dem Neuen klargemacht, was sich in diesen Hallen gehört und was nicht.“
~o~
„Was zur Hölle war das?“, fragte ich Nojun nachdem wir fluchtartig die Halle verlassen hatten und wieder auf der Wolkenstraße standen.
„Sei still!“, rügte mich Nojun in dessen Gesicht Wut, Scham und Verzweiflung um Vorherrschaft kämpften, „deinetwegen komme ich nun so richtig in Schwierigkeiten.“
„Meinetwegen?“, gab ich ungläubig zurück, „du hättest mir netterweise vorher mitteilen können, dass es Dinge gibt, die man hier nicht sagen darf.“
„Was erwartest du denn?“, donnerte Nojun zurück, „dass du das Licht verhöhnen darfst, den Kern unserer Gemeinschaft, hier im höchsten Himmel von Uranor?“
„Ich hatte eher den Eindruck, dass das Licht sich selbst verhöhnt, wenn es …“, begann ich.
„Sei verdammt nochmal still!“, wiederholte Nojun nervös, „Geh zu Gorun und frag ihn nach deinem Quartier. Zur Stunde der Schwärze treffen wir uns am Gemeinschaftsplatz und gehen gemeinsam zur Speisung. Bis dahin solltest du sauber und ausgeruht sein. Ich … werde bis dahin meditieren.“
„Was ist die Speisung? Hat das irgendetwas mit diesem Laarmaschk zu tun?“, fragte ich.
Einen Augenblick lang sah es so aus, als wollte Nojun mir antworten. Auf seiner noch nicht gläsernen Haut stand Schweiß, seine Lippen zitterten und sein Mund öffnete und schloss sich immer wieder leicht. „Du wirst es erfahren“, sagte er schließlich nur.
~o~
Gorun wunderte sich ein wenig, warum ich bereits so schnell wieder bei ihm und den anderen war, aber glücklicherweise bohrte er nicht nach, auch wenn ich an seinem Gesicht ablas, dass er sich seinen Teil denken konnte. Als ich ihm nach meinem Quartier fragte, führte er mich ein Stück weit die (von der Treppe aus gesehen) rechte der drei Straßen hinunter zu einer kleinen Siedlung mit kastenförmigen, kleinen Häusern aus undurchsichtigem Milchglas, die diesmal nicht unsichtbar waren, sondern auf von der Straße abgehenden Wolkenhalbinseln ruhten.
Im Inneren war es hübsch, aber karg eingerichtet. Es gab eine Glaswanne, ein großzügiges Bett aus dem seltsamen durchsichtigen Stoff und eine kleine Version des Webstuhls, den ich in der Webhalle gesehen hatte. Zudem brannte eine Glaskerze auf einem kleinen Tisch, die einen mir unbekannten, aber am ehesten an Vanille erinnernden Duft verströmte und eine Wandtafel mit einem dazugehörigen Schreibwerkzeug, wahrscheinlich, um dort Ideen für religiöse Systeme festzuhalten. Die Decke war – anders als der Rest des Raums schwarz, jedoch mit Bildern von Sternen, Planeten und kosmischen Nebeln aus den unterschiedlichsten Perspektiven und Zoomstufen und detailgetreuer dargestellt als es jedes noch so hoch entwickelte NASA-Teleskop gekonnt hätte. Darüber hinaus gab es in dem Zimmer einen silbernen Kleiderständer mit einem weißen Webergewand und eine gläserne Uhr mit weißen Zeigern und Ziffern. Die Uhr war auf ein zwölf-Stunden-System eingestellt und Gorun erklärte mir, dass dies dazu diente, mir die Eingewöhnung zu erleichtern. Aktuell zeigte sie fünfzehn Uhr zweiunddreißig an. Gorun teilte mir mit, dass die Stunde der Schwärze um acht Uhr beginnen würde. Dann ließ er mich allein. Worum es sich bei dieser Stunde genau handelte, verriet er mir trotz mehrerer Nachfragen nicht.
Als ich schließlich allein war, fühlte ich mich ein wenig, wie ein Hotelgast, der von einer strapaziösen Reise zurückkehrte. Entsprechend verhielt ich mich auch. Zuerst warf ich mich aufs Bett und starrte fasziniert den kleinen Kosmos an, der sich an der Decke entfaltete. Danach ließ ich mir ein Bad ein, wobei das Wasser, welches aus den, offenbar mit keiner Leitung verbundenen Armaturen kam, nicht nur genau die perfekte Temperatur hatte, sondern auch wie flüssiges Licht glitzerte. Als ich endlich wieder sauber war – wobei der Dreck sich praktisch in Nichts aufzulösen schien und das überschüssige Wasser einfach von meinem Körper verdampfte – zog ich mein Webergewand an und konnte nicht verhindern einen gewissen Stolz darüber zu empfinden nun zu dieser besonderen Gemeinschaft zu gehören. Doch mein Stolz verflog genauso schnell, wie meine Freude über die exklusive Einrichtung. Ich hatte nicht vergessen, was ich in der Webhalle gesehen hatte: Den sterbenden Teenager, die Manipulation eines gesamten Volkes, die schreienden, eingesperrten Scyonen, für die ich zwar nicht übermäßig viel Sympathie empfand, die aber dennoch fühlende Wesen waren.
Vor allem aber hatte ich nicht vergessen, dass ich für moralische Einwände und eine einfache und eigentlich durch und durch gerechtfertigte Frage rausgeschmissen und mit etwas bedroht wurde, von dem ich noch immer nicht genau wusste, was es eigentlich war. Die Speisung. Je mehr ich darüber nachdachte, desto stärker war ich davon überzeugt, dass es sich dabei nur um die Fütterung des Laarmaschk handeln konnte, mit der Herreth bereits Nojun gedroht hatte. Doch was genau waren Laarmaschk? Irgendwelche Ungeheuer, denen wir geopfert werden sollten? Das schien mir etwas zu drastisch für eine so geringe Verfehlung. Außerdem legte Herreths Drohung nahe, dass Nojuns Laarmaschk bereits gefüttert worden war und dennoch lebte der Rilandi noch und weder seine Reaktion noch das Verhalten von Gorun ließ darauf schließen, dass uns beiden heute Nacht der Tod bevorstand. Dennoch konnte diese Speisung nichts Gutes sein. Immerhin war es eine Strafe und wie die Uhr sagte, stand sie mir schon in gut zwei Stunden bevor.
Ich legte mich aufs die Liege aus weichem Glasstoff und versuchte mich irgendwie damit zu beruhigen, dass ich mich auf die Sterne und Planeten über mir fokussierte. Doch meine düsteren Gedanken konnte ich damit nicht vertreiben. Dafür brachte bereits nach kurzer Zeit der Schlaf ebendieses Kunststück zustande.
Eigentlich waren mit diesem ungeplanten Nickerchen gleich zwei Risiken für mich verbunden. Zum einen wusste ich noch immer nicht, ob ich meine Albträume mit meinem neuen Leben als Olevan losgeworden war und zum anderen bestand die Möglichkeit, dass ich die Stunde der Schwärze verschlafen hatte. Was das für Konsequenzen für mich gehabt hätte, wenn schon ein simpler moralischer Widerspruch mich derart in Schwierigkeiten brachte, hätte ich mir gar nicht ausmalen mögen. Doch zum Glück kam es nicht so weit. Ich kehrte zu meiner großen Erleichterung nicht in die von Schrecken geplagte Version meines Elternhauses zurück und verschlafen … nun, das war wohl offenbar unmöglich, wie ich bald feststellen sollte. Zunächst jedoch wurde ich von einem schmerzhaften Brennen in meinem Bauch geweckt, welches ich zunächst für Sodbrennen hielt, jedoch schnell bemerkte, dass ich mich in dieser Hinsicht irrte. Ich schlug die Augen auf, und blickte für einen Moment desorientiert in das rhythmische Flimmern eines Pulsars, bevor ich an mir herabsah und einen fast armdicken, knorrigen pechschwarzen Auswuchs an meinem Bauchnabel entdeckte, der wie ein breiter Stachel durch den Stoff meines Webergewandes ragte und an seinen Rändern verschwommen schimmerte, was ihm etwas Geisterhaftes, unstoffliches verlieh.
Schockiert und gefangen zwischen den gleichermaßen unangenehmen Möglichkeiten in einem andersartigen Albtraum gefangen zu sein und das hier wirklich zu erleben, folgte ich dem Verlauf dieser widerlichen Nabelschnur, die erst ein Stück weit in die Höhe ragte und dann über mehrere Windungen zur Tür hinaus verlief. Von Panik ergriffen schloss ich beide Hände darum, in dem versuch mir das Ding aus dem Bauch zu ziehen. Dabei bemerkte ich, dass es entgegen meiner Erwartungen wenigstens so hart wie Holz, vielleicht sogar wie Metall war. Kurz schaltete sich mein Gehirn ein, das mich darauf hinwies, dass ich verbluten oder auch schwere, innere Verletzungen davontragen konnte, wenn ich mir dieses Ding einfach so mit roher Gewalt entfernte, zumal ich ja nicht einmal wusste, wie tief es sich in meinen Bauch gegraben hatte. Wahrscheinlich wäre es klüger gewesen darauf zu hoffen, dass derjenige, der dieses grauenhafte Ding angebracht hatte es auch wieder entfernte. Immerhin hätte es wenig Sinn ergebe es zu tun, wenn man mich damit umbringen wollte. Jedoch war der Schock über meine Entdeckung viel zu groß, um auf diese rationale Stimme zu hören. Also schiss ich auf die Risiken und zog mit aller Kraft an dem grotesken Schlauch.
Ein spitzer Schrei löste sich aus meiner Kehle und meine Hände glitten kraftlos herab, als sich erst mein Bauch, dann mein Brustkorb und schließlich mein gesamter Körper mit Rasierklingen zu füllen schien.
Heiße Tränen liefen über mein Gesicht und eigentlich fasste ich den Plan erst mal einige Stunden liegenzubleiben und darauf zu hoffen, dass der Schmerz abebben würde, jedoch wurde ich gegen meinen Willen mit einem Ruck nach vorne gezogen und schaffte es gerade noch meine müden Füße so zu platzieren, dass ich nicht in die Knie brach, als mich die dicke, schwarze Schnur wie eine Marionette vom Bett zerrte. Instinktiv wollte ich mich dagegen wehren, sah jedoch davon ab, da ich die Konsequenzen meines letzten Widerstandes noch immer in meinen Nervenenden spürte. So tat ich einen unbeholfenen, mechanischen Schritt nach dem nächsten und versuchte mich dem zwar langsamen, aber erbarmungslos stetigen Tempo des Dinges anzupassen, um nicht auf Knien über den Boden gezerrt zu werden. „Was soll der Scheiß!“, rief ich gleichermaßen wütend wie verzweifelt, „das ich nicht lustig. Entfernt das verdammte Ding von meinem Bauchnabel!“
Aber niemand schien mich zu hören oder darauf zu reagieren. Während ich wie auf Schienen durch die offenstehende Tür gezogen wurde, blickte ich noch einmal kurz zur Uhr an der Wand und stellte fest, dass sie genau Acht Uhr anzeigte. Meine letzten Zweifel, dass dies etwas mit der Stunde der Schwärze zu tun hatte, waren damit ausgeräumt.
Als ich hinaus auf die Wolkenstraße gezerrt wurde, war es bereits dunkel. Lediglich ein schwaches rötliches Licht, wie von den letzten Strahlen einer fernen Abenddämmerung erhellte noch die Welt. Dieses Licht reichte jedoch aus, um zu erkennen, dass die schwarze Nabelschnur sich die gesamte Straße entlang erstreckte. Der Endpunkt meiner „Reise“ war damit also bereits festgelegt.
Während ich gegen meinen Willen nach vorne gezogen wurde, erblickte ich erst einen und dann zwei weitere schwarze Schläuche, an denen ebenfalls Rilandi-Marionetten hingen. Beide waren etwa zwanzig Meter von mir entfernt, weshalb ich nicht genau erkennen konnte, um wen es sich handelte, aber anders als ich, waren es vollkommen gläserne Wesen.
Während dieses bizarren, nächtlichen Spaziergangs, hörte ich ein tiefes, verstörendes Brummen, bei dem ich mir nicht ganz sicher war, ob es in mir erklang oder von außen kam. In jedem Fall war es nicht gleichmäßig, sondern schwoll immer wieder im stetig gleichen Rhythmus an und ab. Das „Anti-OM“, dachte ich kurz. Doch was immer es in Wahrheit war: In jedem Fall nährte es das brodelnde Unheil, welches sich meiner Seele bemächtigte.
Als wir den Gemeinschaftsplatz passierten, befürchtete ich kurz, dass sich dort eine höhnisch lächelnde, schaulustige Zuschauerschaft versammeln haben könnte, um die Sünder zu schmähen, doch als ich die Liegen und Sessel erblickte, die zuvor noch von diskutierenden Webern und knutschenden Pärchen erfüllt worden waren und nun leer, gespenstisch und ausgestorben vor mir lagen, wünschte ich mir fast diesen Hohn und Spott zu erleben. So nämlich fühlte es sich erneut wie ein grausamer, gnadenloser Albtraum an, der womöglich für den Rest meines Lebens und darüber hinaus andauern würde. Immerhin erblickte ich kurz darauf eine andere Person, nämlich Nojun, an dessen Bauchnabel ebenfalls eine schwarze Schnur befestigt war und der sich ebenso gezwungen und mechanisch bewegte wie ich.
„Was soll das alles?“, fragte ich ihn, da er sich anders als die beiden unbekannten Rilandi vor uns innerhalb meiner Rufweite befand. Doch Nojun antwortete nicht. Er blickte lediglich mit einem gequälten, versteinerten Gesicht nach vorne, welches mit einem Mal noch weniger lebendig wirkte als sein gläserner Körper.
„Hallo, jemand zu Hause?“, hakte ich nach, aber Nojun schwieg weiter und schließlich gab ich auf und ging im Takt des pulsierenden Brummens weiter, wobei unser Weg uns nicht nach links auf die Straße führte an der die unsichtbare Webhalle gewesen war, sondern geradeaus auf einen Pfad, der so eng war, dass es Nojun und mir nur mit größter Mühe möglich war nebeneinander zu gehen, ohne dabei in den gähnenden Abgrund zu stürzen. Zum ersten Mal war ich dankbar für die schwarze Schnur an meinem Bauchnabel, denn als ich zweimal in dem schlechten Licht einen falschen Schritt tat, verhinderte sie, dass ebendies geschah und zog mich – unter großen Schmerzen – zurück auf die schmale Wolkenstraße.
Schließlich, nach mehreren Minuten des brütenden Schweigens erreichten wir einen gewaltigen, schwarzen, sich langsam drehenden Strudel mit weiß leuchtenden, netzartigen Linien, der sich über die gesamte Breite der Straße und weit darüber hinaus erstreckte und dabei einen konvex gewölbten Bogen beschrieb. In der Höhe maß dieses Ungetüm etwa zehn Meter, vielleicht auch noch mehr.
Als wir uns dem Phänomen, welches mich vage an ein schwarzes Loch gemahnte, näherten, wobei das fremdartige Brummen immer lauter wurde, spürte ich, dass es eine beachtliche Wärme ausstrahlte, deren Intensität mit jedem Schritt zunahm. Etwa zwanzig Meter, bevor wir den Strudel erreichten trieb die Hitze bereits den Schweiß auf meine Stirn und auch wenn die beiden Rilandi vor uns ohne zu klagen und augenscheinlich unbehelligt in das Ding hineintauchten, beruhigte mich das wenig. Immerhin besaßen sie keine Haut aus gewöhnlichem Fleisch.
„Stopp. Ihr bringt uns um!“, rief ich in der Hoffnung, dass hinter dem Strudel jemand war, der all dies steuerte, denn sehen konnte ich niemanden, „wir sind nicht alle aus Glas!“
Aber entweder war dort hinten niemand, oder es kümmerte ihn nicht. Als wir noch fünf Meter von dem Strudel entfernt waren, hörte ich meinen Schweiß zischend verdampfen und bemerkte, wie meine Augenbrauen Feuer fingen und meine Augen langsam aber sicher austrockneten. Es würde nicht mehr lange dauern und ich würde brennen wie eine Hexe auf dem Scheiterhaufen. Von Todesangst getrieben versuchte ich mich einmal mehr loszureißen, aber die Schnur hielt mich erbarmungslos fest. Das finstere Anti-OM wurde ohrenbetäubend, hämmerte wie ein tiefer Glockenschlag gegen meinen Schädelknochen und blendete alle anderen Geräusche um mich herum aus.
Noch vier Meter, drei Meter, zwei Meter. Ich schloss meine Augen, um sie zu schützen. Dabei hatte ich das Gefühl von innen heraus wie in einem schlimmen Fieber zu kochen. Meine Kleidung fing seltsamerweise noch nicht Feuer, aber das war wahrscheinlich nur eine Frage der Zeit.
Ein Meter. „Es reicht!“, schrie ich aus vollen Lungen, ohne meine eigenen Worte hören zu können, „das ist nicht mehr lustig! Ihr habt uns doch nicht all diese Prüfungen durchlaufen lassen, um uns hier verrecken zu lassen!“
Niemand reagierte. Ein letztes Mal stemmte ich mich vergeblich gegen die in mir angebrachte Kette aus Schwärze. Dann berührte ich den Strudel. Und versank.
~o~
Auf der anderen Seite war es erfrischend kühl und vollkommen still.
Es war ein schmuckloser, achteckiger Raum mit einer vielleicht fünf Meter hohen Decke. Das Licht hier drin war relativ hell, aber von einem kalten, fast bläulichen Ton. Die beiden unbekannten Rilandi – ein Mann und eine Frau – standen reglos und ehrfürchtig zu meiner Rechten. Nujon zu meiner Linken. Die dunklen Schnüre waren von unseren Bauchnabeln verschwunden, so als hätten sie nie existiert. Das Anti-OM hingegen war nicht verschwunden, jedoch auf ein leises Hintergrundgeräusch reduziert, welches sich beinah ignorieren ließ.
Außer uns befand sich niemand in dem Raum. Überhaupt gab es dort lediglich vier kurze, nur etwa einen halben Meter hohe Säulen, auf denen schwarze, schattenhafte Nebelwolken von einem knappen Meter Breite und ungefähr zwei Meter Höhe waberten.
Ich sah mich kurz um, entdeckte aber weder Fenster noch Türen, noch sonst irgendeine Möglichkeit das Gebäude wieder zu verlassen.
„Was geschieht jetzt?“, fragte ich Nojun, auch wenn ich nach seinem bisherigen, beharrlichen Schweigen nicht mit einer Antwort rechnete.
Diesmal jedoch kam sie. „Unsere Strafe“, antwortete Nojun mit belegter, brüchiger Stimme, die so leise war, dass seine Worte fast gänzlich von den dicken, grauen Wänden aufgefressen wurden.
„Das ist nicht sehr hilfreich, wenn du irgendetwas weißt, dann …“, begann ich, hielt aber inne, als sich einer der Nebel plötzlich lichtete. Es war der von mir aus gesehen ganz rechte, der der Rilandi-Frau gegenüberstand und während er sich auflöste, trat an seine Stelle eine lebensgroße, graue Tonfigur. Ob es sich wirklich eine Tonfigur handelte, war mir dabei nicht klar, aber zumindest erinnerten ihre Farbe und Textur sehr daran. Jedenfalls glich sie der Unbekannten in vielen Punkten. Sie hatte dasselbe scharf geschnittene Gesicht, dieselben winzigen, nach außen abstehenden Ohren und dieselben großen, fragenden Augen, jedoch keinen Mund. Auch der schlanke Oberkörper wies große Ähnlichkeiten zu ihr auf, obwohl die daraus erwachsenden Arme klobig und ohne Hände waren. Lediglich ihr Unterkörper, samt ihrer langen, muskulösen Beine fehlte dem Abbild, welches stattdessen nur einen unförmigen Klumpen besaß. Dies hinderte es aber nicht daran, sich mit einem schmatzenden Geräusch zu lösen und wie eine unbeholfene Raupe auf die Frau zuzukriechen. Die Frau unternahm keinen Versuch wegzulaufen. Jedoch sah ich zweifellos Angst in ihrem Gesicht. Was auch immer dieses Ding mit ihr vorhatte, war nicht gut und das wusste sie.
Ich war mir durchaus im Klaren darüber, gerade nicht der effektivste Kämpfer unter der Sonne zu sein, aber trotz meiner eigenen Angst empfand ich Mitleid mit der Rilandi und versuchte mich ihrem Abbild in den Weg zu stellen, aber Nojun packte mich am Arm und hielt mich fest. „Lass das, um des Lichtes Willen!“, sagte er scharf, „du machst es nur noch schlimmer. Für sie und für dich!“
Widerwillig gehorchte ich. Weniger aus Feigheit als aus Einsicht. Ich wusste tatsächlich zu wenig über dieses Bestrafungsritual, um die Konsequenzen einer Einmischung abschätzen zu können und das Letzte, was ich wollte, war der Frau noch größere Probleme zu bereiten.
Das Abbild stand ihr inzwischen unmittelbar gegenüber, sah sie an wie eine verloren geglaubte Schwester. Dann beugte es sich nach vorn und presste den nicht vorhandenen Mund auf den ihren. Sie zuckte bei der Berührung zusammen. Und dann schrie sie, als Schlieren aus schwarzem und weißen Licht sich von ihrem Kopf auf den Kopf des Geschöpfes zubewegten. Beinah hätte ich erneut versucht ihr zu helfen, aber das Ganze dauerte nur wenige Sekunden und als sich das Abbild – der Laarmaschk, denn um nichts anderes konnte es sich dabei handeln – wieder von ihr löste und rückwärts zu seinem Podest zurückkroch, besaß er graue, tönerne Kopien der vollen Lippen der Frau. Das Original blieb zitternd und schluchzend zurück, bemühte sich aber sichtlich darum, so viel Haltung wie nur möglich zu bewahren, während ihr Laarmaschk seinen alten Platz einnahm und wieder von dunklem Nebel umhüllt wurde.
Im Vergleich zu dem männlichen Rilandi wirkte die Frau jedoch geradezu entspannt. Seine gläsernen Hände öffneten und schlossen sich immer wieder nervös, er sah ich panisch und vergeblich in dem Raum nach einem Fluchtweg um und seine dünnen Lippen bebten, während sie irgendwas flüsterten, was ich nicht verstand.
Als sich sein Laarmaschk enthüllte, begriff ich auch, warum er so viel ängstlicher war als die Frau. Sein Abbild war fast perfekt. Lediglich der linke Fuß des Laarmaschk war noch ein tönerner Klumpen. Der Rest der Kreatur war schon vollkommen ausgebildet. Ich hatte keine genaue Vorstellung davon, was das für ihn bedeuten würde, aber in jedem Fall würde sein Laarmaschk heute vollendet werden.
Nun, wo er den Doppelgänger vor sich sah, der ohne zu zögern von seinem Podest hinabstieg und sich grinsend und hinkend auf ihn zubewegte, schien ihm das noch deutlicher bewusst zu werden. Anders als die Frau blieb er nicht tapfer an Ort und Stelle, sondern ging mit langsamen Schritten rückwärts, zumindest so lange, bis die Wand dies verhinderte.
Nojun erkannte, wie mich dieser Anblick berührte und welche Gedanken und Pläne sich erneut in meinem Kopf zu bilden begannen, „wenn du auch nur das Geringste unternimmst, um ihm zu helfen, sind wir alle dem Untergang geweiht“, warnte er mich.
„Was hat er getan, dass er so etwas verdient?“, fragte ich, aber Nojun antwortete nicht, sondern sah nur betreten zu Boden.
Inzwischen war der Laarmaschk nur noch ein paar Schritte von dem Rilandi entfernt, als dieser endgültig die Nerven verlor und so schnell er konnte zur anderen Seite des Raumes rannte. Das Wesen folgte ihm unerwartet schnell, doch durch seinen Klumpfuß nicht so schnell wie es das andernfalls vielleicht gekonnt hätte. Trotzdem war der Laarmaschk dem Mann immer auf den Fersen. Der Rilandi lief im Zickzack, brachte die Podeste als Hindernis zwischen sich und seinen Verfolger und klopfte sogar wie ein Wahnsinniger gegen die Wände in der Hoffnung, dass sich wie durch Zauberhand ein Ausgang auftun würde. Aber das geschah nicht. Und irgendwann stolperte der erschöpfte Mann über seine eigenen Füße, fiel auf den Boden und schaffte es gerade rechtzeitig sich wieder aufzurappeln, um seinem Doppelgänger, seinem unabwendbaren Schicksal direkt in die Augen sehen zu können.
Der Laarmaschk schloss ihn in die Arme wie einen alten Freund und einen Wimpernschlag später wuchsen die hellen und dunklen Lichtfäden aus dem gesamten Körper des Webers und flossen in dessen Ebenbild hinein. Einen Moment lang hatte diese Szene etwas fast schon poetisches und ließ mich an „Die Erschaffung Adams“ denken. Dieses alte Gemälde von Michelangelo, bei dem die Hand Gottes diejenige Adams berührte.
Doch dass das hier kein majestätischer Schöpfungsakt war, zeigte sich schon bald darauf, als der gläserne Körper des Rilandi immer durchsichtiger wurde, während sich nicht nur der Fuß des Laarmaschk herausbildete, sondern dieser auch seine graue Färbung verlor und eine gläserne Gestalt annahm.
Schließlich verschwand der Rilandi gänzlich und seine Kleidung fiel einfach auf den Boden. Der Laarmaschk, der nun endgültig das Äußere seines Vorbildes besaß, beugte sich hinunter, hob die Kleidungsstücke des Verschwundenen auf und zog sie an, nur um sich dann wieder an den Platz zu stellen, auf dem der Mann ganz zu Anfang gestanden hatte. Zuvor jedoch warf er mir einen zynisch-drohenden Blick zu, wie ihn ein Mörder einem unerwünschten Zeugen zuwerfen mochte, den er gerade nicht beseitigen konnte und es vielleicht auch nicht tun würde, wenn dieser brav den Mund hielt.
Abscheu vor diesem Wesen und tiefes Mitleid mit seinem unfreiwilligen Erschaffer erfüllten mich und für einen Moment glaubte ich in Nojuns Augen etwas Ähnliches zu erkennen. Das hier war nicht der Himmel, dachte ich, das hier war eine perfide Variante der Hölle. Aber immerhin hatte ich meinen moralischen Kompass wieder einigermaßen im Griff.
Ich rechnete fest damit, dass ich als Nächstes meinem Doppelgänger gegenübertreten müsste, doch zu meiner Überraschung lüftete sich stattdessen der Nebel über Nojuns Laarmaschk, der lediglich ein vollständiges Gesicht besaß, aber weder Oberkörper, noch Unterkörper oder Gliedmaßen. Als der Laarmaschk mit Nojun fertig war, hatte ihm das einen perfekt ausgearbeiteten rechten Arm beschert. Nojun hatte das Ganze relativ tapfer über sich ergehen lassen. Und so wollte auch ich es halten, nun wo sich der mir bestimmte Laarmaschk unweigerlich enthüllte. Es war ein vollkommen unförmiger, leicht birnenhafter Klumpen, der trotz seiner fehlenden Augen zielsicher auf mich zusteuerte.
Wie viel würde er wohl von mir kopieren, fragte ich mich nervös. Wenn das von der Schwere des Vergehens abhing, sollten Kollege Matschbirne eigentlich maximal ein paar Haare auf seinem ungeschlachten Schädel sprießen. Ich musste grinsen. Aber trotz meines Galgenhumors machte das Wesen mir eine scheiß Angst.
Ich fragte mich, ob das Ding auch Karmon imitiert hätte, wenn ich ihn noch in mir getragen hätte. Wahrscheinlich ja, entschied ich. Aber mit ihm zusammen wäre ich wohl niemals hierhin gelangt, was womöglich keine allzu schlechte Sache gewesen wäre. Jedenfalls vermisste ich den alten Symbionten in diesem Moment besonders stark. Er mag nicht gerade der Dhalai Lhama gewesen sein, aber verglichen mit dem hier, war er eigentlich schwer in Ordnung gewesen.
Ich hatte mir fest vorgenommen dem Laarmaschk mit festem Blick und ohne auch nur ein Stück zurückzuweichen, entgegenzutreten. Zumindest letzteres gelang mir. Doch auch wenn ich an Ort und Stelle blieb, musste ich letztlich meine Augen schließen, als der unförmige Schädel, der tatsächlich einen schwachen Geruch nach Ton und feuchtem Mauerwerk verströmte, mein Blickfeld erfüllte.
Dennoch spürte ich es unzweifelhaft, als er an mir zu saugen begann. Er nahm mir nichts weg, löschte keine Erinnerungen aus und brachte nichts in Unordnung. Dennoch grub er sich forschend in meinen Körper und meinen Geist hinein und kopierte wie ein Raubkopierer alles, was er gebrauchen konnte. Es war kein angenehmes Gefühl – im Gegenteil war es durchaus schmerzhaft und auf gewisse Weise demütigend, aber nach allem, was ich bereits erlebt hatte – meinen Verletzungen in Dank Qua, den schrecklichen Krankheiten in Hyronanin, dem was Korf und Rara mir in Konor angetan hatten und den erst kürzlich durchlittenen Prüfungen in Uranor – ertrug ich es immerhin ohne zu schreien. Dennoch dauerte der Prozess unerwartet lange und als es endlich aufhörte und ich meine Augen wieder öffnete, erwartete ich durchaus eine böse Überraschung.
Was ich jedoch tatsächlich sah, war noch schlimmer, als all meine düsteren Prognosen und Fantasien.
Der Laarmaschk hatte mitnichten nur ein paar Haare kopiert. Auch nicht allein meine Augen oder Ohren. Ganz im Gegenteil: Er hatte fast vollständig meine Form angenommen. Lediglich das Gegenstück meines linken Armes – ausgerechnet des Armes, an dem sich einst meine Waffe befunden hatte – war noch ein undefiniertes Etwas. Der Rest war mein komplettes, wenn auch farbloses Ebenbild.
Während sich der Laarmaschk auf sein Podest zurückzog und sich wieder in dunklen Nebel hüllte, begriff ich erst, was das bedeutete: beim nächsten, noch so kleinen Fehltritt, würde man mich sicher wieder hierhin bringen. Und dann würde das Ding mich ersetzen.
~o~
Kurz nach dem Ende der Fütterung und noch während ich mich dem Grauen meiner Erkenntnisse herumschlug, hatte sich plötzlich eine Tür hinter uns manifestiert. Der Strudel war verschwunden gewesen und als wir diesen unseligen Ort verließen, und ich mich kurz neugierig umdrehte, sah ich ein völlig gewöhnliches Gebäude aus hellgrauen Stein am Ende der Wolkenstraße stehen, der im hellen Tageslicht leuchtete. Selbst das Anti-OM klang nicht länger in meinen Ohren. Die Stunde der Schwärze war also offenbar vorüber.
Nojun und ich gingen langsam und gedankenverloren die Straße hinab, während sich die überlebende Rilandi und der Laarmaschk schnell von uns abgesetzt hatten, auch wenn ich vermutete, dass bei den beiden ganz unterschiedliche Motivationen dahinterstanden. Die Frau wirkte erschüttert und schien nach irgendeiner Form von Ablenkung zu suchen: Sex, Arbeit, was auch immer. Der Laarmaschk hingegen, das glaubte ich zumindest zu spüren, war hungrig. Hungrig auf das Leben und darauf, was ihn dort draußen erwarten mochte.
„So eine extreme Fütterung habe ich noch nie erlebt“, sagte Nojun flüsternd, als die beiden außer Hörweite waren. In seiner Stimme schwangen Grauen und Mitleid mit.
„Ich finde dieses ganze Ritual … recht extrem“, bemerkte ich vorsichtig und versuchte das Gefühl zu verdrängen nur einen falschen Schritt oder ein falsches Wort von der totalen Auslöschung entfernt zu sein. Gleichzeitig schämte ich mich dafür, nicht eingegriffen zu haben, als der Mann ersetzt wurde. Natürlich hatte ich gesehen, dass es gegen dieses Wesen kein Entkommen gab, aber dennoch fühlte ich mich zum Teil dafür verantwortlich. Mehr jedenfalls, als für das vermeintliche Vergehen, für das ich meine Strafe erhalten hatte.
„Jede Gemeinschaft kennt ihre Strafen“, sagte Nojun gepresst, „aber wir sollten uns mit diesen Themen lieber zurückhalten.“
Ich wusste genau, was er meinte. Dennoch, wenn ich mich schon nicht frei fühlen konnte, mein Entsetzen und meine Abscheu über dieses barbarische Ritual zu äußern, so wollte ich zumindest meine Neugier befriedigen.
„Was genau ist dort drin geschehen? Was sind das für Kreaturen?“, fragte ich, „ich meine, ich kann mir meinen Teil denken, aber ich denke, du weißt etwas mehr darüber als ich.“
Nojun nickte. „Ein Laarmaaschk übernimmt die körperliche Gestalt einer anderen Person, so viel hast du ja erlebt. Aber damit hört es nicht auf. Sie übernehmen auch seine Gedanken, seine Erinnerungen, seine Gewohnheiten und vor allem sein Wissen und seine Talente. Dabei haben die Laarmaschk einen klaren Vorteil gegenüber den Originalen: Sie sind fast so kreativ und leistungsfähig wie sie, aber ihr Gehorsam ist absolut. Wenn man einem Laarmaschk eine Aufgabe übergibt, führt er sie in jedem Fall aus, wenn es ihn seiner Macht liegt. Es gibt keine Widerworte, keine Ausflüchte und kein Zögern. Manche sagen, dass die Laarmaschk dennoch einen eigenen Willen, einen eigenen Antrieb besitzen, aber das ist unter den Fachleuten umstritten und da sie tun, was man von ihnen verlangt, ist das eine eher theoretisch-philosophische Frage.“
„Gibt es viele Laarmaschk unter den Webern und den anderen Rilandi?“, wollte ich wissen.
„Einige“, erwiderte Nojun, „am häufigsten sind sie unter den Hirten. Sie urteilen und Strafen sehr gern. Die Sucher nutzen andere Formen der Bestrafung, da ein Laarmaschk keinen Zugriff auf das Licht erhalten kann. Bei uns Webern dauert es oft viele Jahre, bis wir ersetzt werden und manchen passiert natürlich auch gar nichts. Da kein Laarmaschk sich den anderen als solcher vorstellt und auch die Mitgeprüften meistens aus Angst schweigen, erkennen wir sie für gewöhnlich an Verhaltensänderungen. Die Laarmaschk kopieren einen Charakter zwar sehr gut, aber nicht ganz perfekt. Oft sind sie etwas strenger, feindseliger und freudloser als ihr Original. Zudem ist da ihr unbedingter Gehorsam. Gerade bei wilderen Naturen fällt so etwas auf. Herreth zum Beispiel ist mit ziemlicher ein Laarmaschk. Sie war schon immer recht schwierig im Umgang, aber früher hat sie deutlich mehr Widerspruch geduldet.“
„Auch die Webermeister können ein Laarmaschk werden?“, fragte ich verblüfft.
Nojun nickte. „Ja, auch sie sind Wornaara zum Gehorsam und unserer Sache gegenüber zu Treue verpflichtet und nicht jeder nimmt diese Pflicht so einfach und widerspruchslos an. Aber nun haben wir genug von diesen Dingen gesprochen. Du solltest dich lieber auf deine Zukunft konzentrieren. Akzeptiere deine Aufgabe, versuche sie so gut wie möglich zu erfüllen, stelle keine zu grundsätzlichen Fragen und erfreue dich an der Tragweite deines Wirkens und den Segnungen des Lichts. Auch davon gibt es nämlich reichlich. Das wirst du noch erfahren.“
Nojun brachte ein recht überzeugendes Lächeln zustande, aber dennoch erkannte ich eine gewisse Bitterkeit darin. Ich hatte genug Welten und Länder besucht und Personen getroffen, um zu bemerken, dass er nicht wirklich an seine eigenen Worte glaubte. Ein bisschen vielleicht, weil er sich wünschte, dass sie wahr wären, aber gleichzeitig war er zu schlau, um sich erfolgreich selbst betrügen zu können.
Dennoch nickte ich dankbar. Auch, wenn meine Euphorie über mein neues Leben bereits einen ziemlichen Dämpfer erhalten hatte.
„Gut“, sagte er noch immer lächelnd, „ich würde vorschlagen, dass wir uns ein wenig unter die anderen mischen. Du solltest sie besser kennenlernen, wenn du dich hier heimisch fühlen möchtest. Es tut keinem gut, wenn er immer nur mit mir rumhängt. Ich spreche da aus Erfahrung.“
Nojun lachte und ich stimmte mehr aus Höflichkeit, denn aus Heiterkeit ein. Dann machten wir uns auf den Weg zum Recriondo.
~o~
Ich hatte eigentlich erwartet, dass unter der Kuppel noch immer gähnende Leere herrschen würde, aber das Recriondo war inzwischen wieder das blühende Leben. Noch gab es zwar keine romantischen Aktivitäten, aber die Gespräche waren bereits wieder im vollen Gange und wurden nicht selten auch von Gelächter begleitet.
„Nojun, Olevan“, begrüßte uns Gorun freundlich. Ich hoffe, ihr seid noch immer dieselben.
Es wunderte mich ein wenig, dass so offen über das Thema gesprochen wurde. Eigentlich hatte ich erwartet, dass man diese Praxis offiziell totschweigen und lediglich als offenes Geheimnis behandeln würde. Aber ich wollte mir nicht beschweren. Immerhin ersparte mir das wenigstens einige Fettnäpfchen, die sich als Todesfallen entpuppen könnten.
„Das würde ich nicht behaupten“, antwortete ich düster, „aber zumindest sind wir keine Laarmaschk.“
„Das ist doch erfreulich“, sagte Gorun ohne dabei zu erkennen zu geben, ob er mir das glaubte oder nicht, „in diesem Fall habt sicher ein wenig Erholung nötig. Wir wollten gerade auf das Ende der Stunde der Schwärze anstoßen.“
Er ging zu einem Tisch, auf dem bereits einige mit einer schimmernden Flüssigkeit gefüllte, schlanke Gläser standen, brachte uns zwei davon mit und reichte sie uns wie ein Kellner. Hier zeigte sich wohl wieder seine Doppelrolle irgendwo zwischen Drill Instructor, Herbergsleiter und Dienstleister.
„Hier. Das ist Litaar, der beste Lichtwein, den Uranor zu bieten hat“, sagte Gorun. Ich nahm das Glas entgegen und warf einen prüfenden Blick auf die Flüssigkeit, die mich ein wenig an das Badewasser in meinem Zimmer erinnerte. Sie hatte keinen besonderen Geruch, dafür schimmerte sie an einigen Stellen regenbogenfarben.
„Oh natürlich“, sagte Gorun, der mein Verhalten korrekt deutete, „du kennst das ja noch gar nicht. Lichtwein ist etwas äußerst Entspannendes. Du wirst gar nicht genug davon kriegen können, auch wenn du lernen müssen wirst, dich zu disziplinieren. Aber such dir erst einmal einen Platz und warte mit dem ersten Schluck, bis ich die rituellen Worte gesprochen habe. Das gebietet die Höflichkeit.“
Ich gehorchte und suchte nach einem Platz zwischen den Anwesenden. Nojun tat es mir gleich und platzierte sich zwischen zwei vollständig gläsernen Rilandi, die auf einer geschwungenen Glasbank saßen und von denen einer ungewöhnlich kleinwüchsig war. Nojun ließ mich sicher nicht zufällig allein, dachte ich. Er schien es wirklich darauf anzulegen, dass ich neue Kontakte knüpfte. Leider sorgte das dafür, dass ich mich gleich noch viel unwohler und verlorener fühlte, als ohnehin schon. Früher, als Adrian, hatte ich wenig Probleme mit Schüchternheit gehabt, aber meine Zeit in Uranor hatte mich verändert. Unschlüssig zuckten meine Augen zwischen den Liegen, Sesseln und Bänken hin und her, ohne ein Ziel zu finden.
„Nicht so schüchtern! Setz dich zu uns“, sagte eine forsche, aber fröhliche Frauenstimme. Sie gehörte eine der beiden Jyllen, die ich bei meiner Ankunft entdeckt hatte, was meine Verlegenheit nur noch verstärkte.
Dennoch bewegte ich mich auf die Frau und die kleine Gruppe zu, mit der sie sich im Gespräch befand. Zu dieser Gruppe gehörten die beiden Jyllen-Frauen, die Echsenfrau, die ich bereits aus der Webhalle kannte, ein muskulöser Glasmann, der einen exzentrischen Federhut trug und ein bärtiger, älterer Bravianer, dessen Unterkörper gläsern war und der mich vage an Branosch aus Hyronanin erinnerte. Die Jyllen-Frau, die mich angesprochen hatte, war groß, muskulös und hatte einen recht breiten Kopf mit ausgeprägten Nackenspitzen. Sie bestand völlig aus gewöhnlichem Fleisch und Blut. Ihre Artgenossin hingegen war zierlicher, kleiner und hatte Augäpfel aus Glas. Beide hatten ihr Nutrion und ihre Anmella-Stränge eingefahren und waren extra auseinandergerückt, um mir Platz zu machen. Sie saßen dabei auf einer gemütlich aussehenden Couch aus weichem Glasstoff mit Kissen aus dem gleichen Material. Die Echsenfrau räkelte sich auf einer vage römisch aussehenden Liege aus weißem Stein oder Kunststoff, während die beiden Männer auf gläsernen Stühlen Platz genommen hatten.
„Mein Name ist Ominee“, sagte die große Jyllen-Frau, „das hier sind Ninvinee“ – sie zeigte auf die andere Jyllen – „Slizza“ – sie wies auf die Echsenfrau – „Gorweo und Tannvan“ – sie zeigte auf den Bravianer und den Glasmann, der entweder ein geborener Rilandi war oder dessen ursprüngliche Rasse sich nicht mehr bestimmen ließ.
„Angenehm“, sagte ich, „mein Name ist Olevan.“
„Du bist aber unter einem anderen Namen viel bekannter, nicht wahr?“, sagte Ninvinee, die eine recht hohe Stimme hatte, ohne direkten Vorwurf.
„Mag sein“, erwiderte ich, „aber hier oben nehmen wir doch alle neue Identitäten an oder beginnen ein neues Leben. Oder etwa nicht?“
„Nein“, sagte der gläserne Tannvan, dessen Tonfall etwas Schleimiges, Dekadentes und Überhebliches besaß, „das geschieht nur mit jenen, die wirklich schlimme Dinge angestellt haben. Alle anderen dürfen ihren Namen behalten, wenn sie wollen. Dir sollte vielleicht aufgefallen sein, dass viele von uns keine traditionellen Rilandi-Namen tragen.“
„Trotzdem beginnen wir hier alle ein neues Leben. Damit hat er durchaus recht“, warf der bärtige Gorweo mit tiefer, brummiger Stimme ein.
„Manchen fällt der Start leichter als anderen“, erwiderte Tannvan amüsiert, „jedenfalls kenne ich wenige, die gleich an ihrem ersten Tag ihrer Höhenangst erliegen, fast durch die Wolken fallen und dank ihrer Unfähigkeit ihren Laarmaschk füttern müssen.“
Tannvan lachte laut über seinen eigenen Scherz und Ninvinee und zuletzt auch Gorweo stimmten ein.
„Lasst ihn in Ruhe“, verlangte Ominee und trotz ihrer forschen Art konnte ich ein wenig Mitleid aus ihren Worten heraushören, „Neuankömmlinge haben es hier auch so schon schwer genug.“
„Ominee hat recht“, zischte Slizza zustimmend, „es gibt auch keinen Anlass für Spott. Ich war dabei als Olevans Urteil gesprochen wurde. Sein Rauswurf hatte nichts mit Unfähigkeit, aber viel mit Mut zu tun, so töricht seine Ansichten auch gewesen sein mögen.“
„Danke“, sagte ich in Richtung der beiden Frauen und Ominee nickte, während Slizza bestätigend mit ihren seitlich angebrachten Reptilienlidern zwinkerte.
„Welche Torheit hat er denn ausgesprochen?“, wollte Tannvan wissen.
„Er wird wohl kaum so dumm sein, sie zu wiederholen und sich damit eine neue Begegnung mit seinem Laarmaschk einzuhandeln“, sagte Slizza augenrollend.
„Ich dachte, er wäre mutig“, bemerkte Tannvan spitz.
„Ich war mutig“, sagte ich ruhig, vor allem aus dem Wunsch heraus, dass nicht mehr nur über mich, sondern auch mit mir geredet wurde, „oft sogar. Aber Mut ist nicht viel wert, wenn man ihn für die falsche Sache einsetzt.“
„Für die Vernichtung eines ganzen Volkes zum Beispiel“, bemerkte Ninvinee trocken. Offenbar war zumindest sie doch etwas nachtragender, als ich zunächst vermutet hatte.
„Ich habe dir und deinen Leuten grauenhaftes angetan“, sagte ich ganz unumwunden, „Ich war ein Schwein. Ein verräterischer, hassenswertes Ungeheuer. Doch solche Dinge können nicht ungeschehen gemacht werden. Ich kann nur versuchen meine Zukunft zu verändern und das will ich auch tun. Das ist der Grund, warum ich dem Laarmaschk gegenübertreten musste: Ich habe mich dagegen eingesetzt, dass mit dem Schicksal eines weiteren Volkes gespielt wird.“
Tannvan ließ einen erschrockenen Ausruf hören und machte ein empörtes Gesicht. Ominee wirkte zumindest überrascht und warf einen raschen Blick zu Gorun, der sich jedoch mit einer anderen Gruppe unterhielt, während Ninvinee nur spöttisch die Lippen verzog.
„Offenbar ist er doch dümmer als du dachtest, Slizza“, stellte Ninvinee fest.
„Das ist ein Sakrileg“, sagte Tannvan, „will dieser Frevler etwa unsere Arbeit hier mit seinen Mordtaten auf eine Stufe stellen? Ich glaube es wird Zeit, dass er erneut seinem Laarmaschk gegenübertritt.“
Nun warf auch Tannvan einen Blick auf Gorun und der Gedanke daran, dass er mich anschwärzen und damit die sichere Übernahme meines Lebens durch den Laarmaschk bewirken könnte, machte mich mehr als nervös.
„Ich will nichts dergleichen“, beeilte ich mich zu erklären, „ich versuche lediglich aus meinen eigenen Fehlern zu lernen.“
„Lernen musst du in der Tat eine Menge“, sagte Gorweo trocken.
„Falls er noch die Gelegenheit dazu bekommt“, bemerkte Tannvan böse glucksend.
„Jetzt hört auf ihn andauernd zu verurteilen“, sagte Ominee, „ich finde, Herreth hat hier durchaus übertrieben gehandelt. Anders als du, Tannvan, ist Olevan kein geborener Rilandi. Er muss sich erst in unserer Welt zurechtfinden. Und wenn wir jedem Neuling für ein paar zweifelhafte Worte die schlimmsten Strafen auferlegen, ersticken wir jene Kreativität, jenes unkonventionelle Denken, das wir brauchen, um das Licht zu nähren. Ihr solltet euch ehrlich schämen, ihn noch weiter unter Druck zu setzen. Und was deine Drohung betrifft, Tannvan, so weiß ich selbst noch einige Dinge über dich, die Gorun sicher gerne hören würde. Soll ich ihm davon erzählen?“
Slizaa nickte zustimmend. Und Tannvan machte ein sauertöpfisches Gesicht und schien von Ominees Drohung seinerseits überrumpelt. Dennoch begann ich immer stärker mit dem Gedanken zu spielen, mich irgendwie aus diese so unangenehmen wie riskanten Situation herauszuziehen.
Tannvan sah aus, als wollte er noch etwas sagen. Vielleicht war ihm letztlich doch noch eine scharfzüngige Erwiderung eingefallen. Doch wenn dem so war, kam er nicht dazu, denn nun ergriff Gorun das Wort.
„Liebe Rilandi, liebe Weber. Hinter uns allen liegt ein anstrengender Tag. Wir haben hart gearbeitet, schwere Prüfungen ertragen …“
Er sah zu mir und nickte mir freundlich zu.
„ … und neue, wunderbare Zukünfte für Millionen von Individuen erschaffen. Wir alle können stolz auf uns sein, ganz egal, ob wir dies schon seit vielen Jahren oder erst seit einigen Stunden tun. Wir Weber sind eine Gemeinschaft, denn so wie wir unsere Gedanken in das Schicksal anderer Völker weben, so sind auch unsere Schicksale miteinander verwoben. Dies gilt umso mehr nach jener Stunde tiefer Dunkelheit, die uns an den Wert des Lichtes gemahnt. In dieser Stunde waren wir still, vereinzelt und in uns gekehrt, und deshalb ist es nun umso wichtiger uns daran zu erinnern, wie es sich anfühlt, verbunden und glücklich zu sein. Deshalb, liebe Schwestern, liebe Brüder, trinkt das Licht und werdet das Licht. Einmal mehr!“
Gorun beendete seine kurze Rede, indem er sein eigenes Glas mit Litaar leerte, einen freudigen und etwas albernen Jubelschrei von sich gab, wie ein Verliebter (oder Betrunkener) in den Himmel sah und dann mit seinem leeren Glas auf die Menge wies. „Einmal mehr!“, wiederholten die anwesenden Rilandi, abgesehen von mir, der ich in dieses Ritual nicht eingeweiht war. Tannvan leerte sein Glas als Erster, gefolgt von Ninvinee, Gorweo und Slizza.
Ich zögerte. Nach meinem Erlebnis mit dem Laarmaschk war mein Vertrauen in meine neue Heimat sichtlich geschrumpft. Natürlich glaubte ich nicht, dass sie ausgerechnet mein Glas präpariert hatten, um mich zu vergiften. Oder, um ehrlicher zu sein, ich glaubte es kaum. Allerdings hatte ich erlebt, wohin mich das Scharfwasser in Konor gebracht hatte, nämlich direkt in den finsteren Sexkeller einer Verrückten.
Dieses Getränk hier, mochte nicht so aggressiv machen, aber wenn ich mir Gorun so ansah, war es doch nichtsdestotrotz eine wirksame Droge. Gut möglich, dass ich im Rausch etwas Gefährliches sagen oder tun und am Ende erneut dem Laarmaschk gegenüberstehen würde. Dummerweise war eine Weigerung auch keine Alternative und würde mich mit Sicherheit in ebensolche Schwierigkeiten bringen. Viele – Gorun eingeschlossen – starrten mich bereits ungeduldig an und das, obwohl sie bereits einen recht berauschten Eindruck machten. Nojun etwa ließ sich sogar dazu hinreißen ein Rad auf den Wolken zu schlagen.
„Worauf wartest du?“, fragte Ominee, die ebenfalls noch ihr volles Glas in den Händen hielt.
„Vielleicht ja auf dich?“, gab ich unsicher grinsend zurück, woraufhin Ominee mein Grinsen erwiderte, wobei ihre wieder ausgestreckten Anmella-Stränge sich in verspielten Bögen krümmten und bewegten, was mich kurz an einen schwanzwedelnden Hund denken ließ.
„Dann musst du nicht mehr länger warten“, antwortete sie lachend, „ich habe nämlich nur auf dich gewartet. Gorun bestimmt jeden Abend einige von uns dazu, daruaf achtzugeben, dass auch jeder am Ritual teilnimmt. Heute war die Reihe an mir. Falls du aber noch andere Gründe hast zu zögern: Der Lichtwein verursacht weder Kopfschmerzen, noch schadet er deinem Körper oder deinem Geist auf andere Weise. Ich trinke ihn schon seit einigen Monaten und bin noch so schlau und gutaussehend wie eh und je.“
Sie lachte erneut und ich stimmte in ihr Lachen ein. Wahrscheinlich war es mehr diese vertraute, simple Geste, die für einen Moment die gespannte Atmosphäre vertrieb, die mich dazu brachte mein eigenes Glas zu leeren. Immerhin war ich aus nachvollziehbaren Gründen in einer äußerst düsteren Stimmung und vielleicht konnte ich gerade jetzt ein wenig Licht gebrauchen.
Der Wein hatte keinen Geschmack, aber er prickelte fast wie Sekt in meiner Kehle, wenn auch sanfter und weniger intensiv und schien dabei die Textur von Honig zu besitzen.
Kurz darauf tat es Ominee mir gleich und schüttete auch ihren Lichtwein herunter und soweit ich das feststellen konnte, gab es nun niemanden mehr, der dem Getränk nicht zugesprochen hatte.
Die Wirkung ließ nicht lange auf sich warten und sie unterschied sich sowohl von Scharfwasser, als auch von Alkohol oder dem Marihuana, das ich auf der Erde gelegentlich bei meinen Bekannten mitgeraucht hatte.
Der Litaar machte mich unendlich entspannt, aber nicht lethargisch, sondern eher euphorisch, wenn auch nicht auf eine gefährliche oder gar aggressive Art. Niemand, der das Getränk an diesem Abend konsumierte, geriet in eine ernsthafte Schlägerei oder fiel von einer der Wolkenstraßen. Dennoch wurden alberne Scherze gerissen, seltsame Spiele gespielt, witzige und tiefsinnige Diskussionen geführt und alle waren freundlicher zueinander, als sie es unter anderen Umständen gewesen wären. Ich erinnere mich sogar daran, dass mir die verbitterte Ninvenee Komplimente wegen meines Aussehens gemacht hatte und der mir eigentlich zutiefst unsympathische Tannvan mich in seine gläsernen Arme geschlossen hatte, während ich unter dem unwirklichen Licht friedlicher, fremder Sterne taumelte und alles, was ich sah, von einem sanften Lichtschein umgeben war.
Ich kann mich nicht an alles erinnern, was an diesem Abend geschah. Zumindest nicht im Detail. Dennoch hatte ich keinen Filmriss im eigentlichen Sinne. Im Gegenteil: Ich konnte den gesamten chronologischen Ablauf der Ereignisse rekonstruieren, aber während vieles eher wie die Art von Informationen abgelegt war, die man kurz vor Schulbeginn hastig in einem Wikipedia-Artikel nachgelesen hatte, gab es einige Momente, die herausstachen und in meinem Gedächtnis selbst heute noch deutlicher sind, als viele der Ereignisse davor und danach.
Zu den Dingen, an die ich mich derart erinnerte gehörte etwa ein Lied, welches Gorun anstimmte. Den Text und die Melodie des Liedes kannte ich zu Anfang natürlich nicht, aber dennoch fand ich mich schnell mitsummend wieder.
„Schattentränen, dunkle Geister, brütend in der Still‘
Ungestaltet, ungerichtet haltlos und verlor‘n
Mattes Fleisch bestimmt zu fressen, was und wie es will
Ohne Träume, ohne Ziele, sinnentleert gebor‘n
Doch mattes Fleisch erblickt am Himmel rätselhaftes Licht
Hell und herrlich, tanzend, strahlend, größer als sein Sein
Eine Stimme, die die Stille umformt und zerbricht
Endlich Heimat, endlich Wissen, endlich nicht allein.“
Gorun hatte eine schöne Singstimme. Tief, aber sanft. Getragen und melodisch und auch wenn das Lied eine recht melancholische Melodie hatte, tanzten wir gemeinsam dazu auf den Wolken. Zuvor war ich nie ein großer Tänzer gewesen. Ehrlich gesagt hatte es mich nie mehr als zwei oder dreimal in unsere improvisierte Dorfdisko oder in die Clubs der nächstgrößeren Stadt gezogen. Musik hatte ich immer lieber allein über meine Kopfhörer genossen. Das hier jedoch war anders, deutlich intensiver und bewegender, was sicher auch an dem Lichtwein lag. Den anderen schien es ähnlich zu ergehen. Ich beobachtete Nojun in der Ferne, wie er den Takt auf seinem gläsernen Körper mitklopfte, Slizza wand sich in schlangenhaften Bewegungen wie eine Bauchtänzerin und beugte sich dabei teilweise so tief herab als wollte sie Limbo tanzen. Ominee und Ninvinee hielten sich beim Tanzen an den Händen, was aufgrund ihres Größenunterschieds ein wenig eigenartig aussah. Gorweo kniete und streckte die Hände zum Himmel, wie ein Prediger, der die Sterne überzeugen wollte zu ihm hinabzusteigen, um mit ihrer Herrlichkeit gegen den Unglauben vorzugehen. Tannvan hingegen blies so über sein leeres Glas, dass ein helles, melodisches Pfeifen erklang, welches mich unter anderen Umständen sicherlich gestört hätte, jedoch in diesem Moment fast perfekt zu Gorweos Gesang passte. Aller Spott, alles Misstrauen, aller Zwist, ja selbst meine finstere Vergangenheit, die harten Prüfungen und der Laarmaschk waren für diesen Moment vergessen. Wir waren eine große, harmonische Familie unter den Sternen, die Gutes wollte und Gutes tat.
Wie um dieses Gefühl zu unterstreichen kamen plötzlich dutzende von Glasvögeln und Insekten von der Treppe hinauf geflattert und anders als bei meinem Weg hinauf waren sie nicht schüchtern, sondern näherten sich uns, setzten sich auf unsere Schultern, spielten mit unseren Haaren oder folgten unseren Tanzbewegungen.
Es war wie ein Traum, ein alberner, überzeichneter Traum, der gerade deshalb so wertvoll und letztlich realer als das Leben selbst war.
Das andere besondere Ereignis, an das ich mich deutlich erinnerte, fand gegen Ende der Nacht statt.
Müde vom Tanzen, Singen und Scherzen liefen Ominee, Ninvinee, Slizza, Tannwan und ich in Richtung der Wohnsiedlung. Lediglich Gorweo blieb zurück und zog es vor in die Sterne zu blicken und – wie er sagte – nach dem „Kleinen Mann im All“ Ausschau zu halten.
Der Rest von uns jedoch taumelte freudig und nach wie vor euphorisch voran. Warum wir ursprünglich zu den Wohnquartieren liefen, weiß ich nicht mehr. Nicht, weil ich es vergessen habe, sondern weil sich an diesem Abend wahrscheinlich niemand von uns gefragt hat, warum er irgendetwas tat. Wir taten es einfach. Und so geschah es, dass wir uns alle in mein Zimmer begaben, uns auf mein großes, weiches, durchsichtiges Bett legten und in die projizierten Sterne starrten, so wie es Gorweo im Recriondo mit den wirklichen Gestirnen tat. Ominee, aber auch Ninvinee hielten meine Hand und dieses Gefühl, die rauen Handflächen zweier Jyllen zu halten brachte mich zum Weinen. Jedoch nicht aus Trauer. Die gab es nicht in diesem Moment. Vielmehr fühlte ich mich wie ein Junge, der ein echtes Einhorn erblickte, kurz nachdem ihm seine Mutter erzählt hatte, dass es diese Wesen gar nicht gab.
„Wusstet ihr, dass es Völker gibt, die darin Leben können?“, fragte Slizza und zeigte auf einen gewaltigen Gasriesen, dessen unvorstellbaren Wolkenmassen gerade an der Decke zu sehen waren.
„Du verarschst mich“, sagte Ninvinee glucksend.
„Nein“, widersprach Slizza zischend, „wir haben noch keines davon in der Webhalle gesehen, aber es gibt sie.“
„Woher weißt du das dann?“, erkundigte sich Ominee, „ich dachte immer, ihr Runar wäret eher am Zweikampf interessiert als am Wissen. Zumindest hast du uns das erzählt.“
Slizza nickte. „So ist es auch. Zumindest verlangen das die Götter, die die Weber vor uns für meine Heimat erschaffen hatten. Aber eigentlich sind wir von unserem Wesen her einst Entdecker gewesen. Ich spürte dieses Erbe in mir, war fast gezwungen seinem Ruf zu folgen, und auch wenn ich damit gegen den heiligen Kodex verstieß, so verließ ich dennoch einmal meine Heimat, um die gläsernen Archive von Rhin zu besuchen.“
Selbst in meinem berauschen Zustand musste ich an Pingo denken und fragte mich, ob er noch lebte oder ob der Malmer, der Stein oder gar Sandra ihm zum Verhängnis geworden waren. Ich mochte Pingo und seinen naiven, gutmütigen und freundlichen Charakter und hoffte, dass er es schaffen und dass ich ihn wiedersehen würde. Notfalls würde ich ihn persönlich aus dem Schlamm holen und den Allrichter dazu überreden, ihn ohne jede Prüfung zum Weber zu ernennen. Immerhin hatte Pingo schon genug Prüfungen erlebt. So kindisch dieser Gedanke auch war, in diesem Augenblick erschien mir mein Vorhaben nicht nur logisch, sondern auch kinderleicht.
„Rhin?“, überlegte Tannwan, „War das nicht einer dieser Welten, auf die wir keinen Einfluss haben?“
„So ist es“, sagte Ominee, „das sind nicht nur überzeugte Atheisten dort, ihre Archive schützen sie auch vor jedem nicht stofflichen Angriff.“
„Seltsam, dass die GLÄSERNEN Archive nicht bei uns in Uranor stehen“, bemerkte Ninvinee, „würde doch passen.“
„Wir haben eben kein Monopol auf dieses Material“, antwortete Slizza fröhlich züngelnd.
„Wie heißen diese Völker, die in Gasriesen wohnen denn nun? Und wie viele sind es?“, wollte ich wissen, da mich einmal mehr die Neugier und – selbst ohne den Katalog – auch wieder ein gewisses Fernweh gepackt hatte.
„Genau weiß ich das nicht“, sagte Slizza, „zumindest nicht im Moment. Aber es gibt auf jeden Fall die Jahru, nebelartige Geschöpfe, die sich beinah unsichtbar durch die Wolken bewegen, aber dennoch eine recht beachtliche Kultur entwickelt haben. Dann gibt es da noch die Ken-Voor, die wie Fische durch die Gasschichten schwimmen und die Nock, die so fest und hart wie Metal sind, aber über die Fähigkeit verfügen die Schwerkraft zu ignorieren.“
„Faszinierend“, sagte Ninvinee verträumt, „wie es sich wohl anfühlt, dort zu leben?“
„Keine Ahnung, aber in diesen Wolken soll ja ein beachtlicher Druck herrschen“, sagte Tannvan und warf sich mit seinem Glaskörper auf die zierliche Ninvinee, die sich jedoch nur spielerisch darüber empörte, „Hey, was soll das, du Idiot?“
Der Idiot reagierte damit, dass er Ninvinee einen Kuss auf die Lippen drückte. Diese schlug ihn dafür erst leicht auf die Wange, zog ihn jedoch in derselben Bewegung fester zu sich. Nur wenige Augenblicke später begannen beide damit ihre Weberkleidung abzustreifen und sich praktisch Haut an Glas zu vergnügen, wobei Ninvinees Anmella-Stränge leise schabend über den gläsernen Rücken ihres Liebhabers kratzten, während er in sie eindrang.
Noch immer etwas überrascht von der Plötzlichkeit der Ereignisse, bemerkte ich, wie der Gasriese über mir verschwand und stattdessen ein schlanker, hüllenloser Echsenkörper über mir erschien, dessen Kopf sich zu mir hinabbeugte und mich mit seinen kleinen, scharfen Zähnen sanft in den Hals bis.
Trotz der Droge wollte ich zunächst dagegen protestieren, aber das Überraschungsmoment war dafür schlicht zu groß.
„Hey, das war meine Idee“, beschwerte sich Ominee.
„Pech!“, zischte Slizza die Jyllen an und presste ihre ledrigen Lippen fast schon gewaltsam auf meinen Mund, während sie mir ihre lange, gespaltene Zunge zwischen die Lippen schob. Sie schmeckte wie erwartet scharf und etwas nach Raubtier, aber zugleich sauber und irgendwie aufregend. Trotz der dünnen Kleidungsschicht, die uns trennte, bemerkte ich, wie mein Körper sofort reagierte. Ich wollte das hier tatsächlich, begriff ich. Was die Kleidung betraf, so kümmerte sich die forsche Echsenfrau schon bald darum, sich selbst und auch mich davon zu befreien und ich half ihr dabei nach Kräften. Als ihr Mund jedoch zu meinem Schritt wanderte, während ihre ledrigen Hände über meine Brust glitten, kam sie nicht weit. Denn Ominees Anmella-Stränge schlangen sich um ihren Körper und hielten sie fest.
„Bist du eifersüchtig?“, fragte Slizza schwer atmend.
„Vielleicht“, sagte Ominee, die sich ebenfalls entkleidet hatte, spitzbübisch und zog Slizza mit sanfter Gewalt an sich, um sie ihrerseits zu umarmen und sich kurz darauf gemeinsam mit ihr auf mich zu stürzen.
Der Rest war ein regelrechter Rausch. Ich spürte Ominees Anmella-Stränge und die Lippen und Hände beider Frauen an meinem Schritt, an meinen Brustwarzen und an meinem ganzen Körper und soweit ich mich entsinnen kann, schlief ich nicht nur mit den beiden Frauen, die zumindest eine gewisse Sympathie für mich zu hegen schienen, sondern wurde sogar mit der verbitterten Ninvinee und dem arroganten Tannwan intim, was weder sie noch mich zu diesem Zeitpunkt sonderlich störte. Der Lichtwein schmiedete aus uns eine Gemeinschaft auf Zeit, in der wir alles bedenkenlos teilten.
Ich kam währenddessen viermal, womöglich auch öfter und soweit ich das mitbekam, schienen die anderen Beteiligten auch auf ihre Kosten zu kommen. Irgendwann schwamm mein Kopf derart in Hormonen, dass meine Erinnerung dann doch etwas unzuverlässig wurde. Deshalb weiß ich auch nicht genau, wie viele Stunden unsere kleine Orgie dauerte. Ich weiß nur, dass ich irgendwann einschlief, von Wolkenstädten, bunten, außerirdischen Fischschwärmen und davon träumte, Teil eines gewaltigen, fremdartigen Dschungels zu sein, dessen Pflanzen ihre Wurzeln, Blätter und Äste in mein Fleisch gruben, was sich jedoch nicht schmerzhaft, sondern sehr erfüllend anfühlte, so als wäre ich im Zentrum aller lebendigen Dinge.
Als ich wieder erwachte, waren weder Slizza, noch Ninvinee oder Tannvan bei mir. Ominee hingegen saß noch immer nackt auf mir und sah mir nüchtern, aber freundlich in die Augen. Die Wirkung des Litaars war fast vollkommen verflogen. Deshalb fragte ich mich auch zum ersten Mal ernsthaft, was all das hier eigentlich sollte.
Was zur Hölle machte ich mit einer der letzten noch – zumindest in gewisser Weise – lebendigen Vertreterin der Spezies, die ich ausgelöscht hatte, im selben Bett? Ganz davon abgesehen, dass mein Herz und mein Körper in letzter Zeit wie ein verirrter Luftballon von einer Frau zur anderen flogen. Garwenia, Sandra, Rara (wenn auch äußerst unfreiwillig), Razza, Onyra und nun Ominee, von den anderen drei Teilnehmern unseres kleinen Abenteuers mal ganz abgesehen. Ich war weder ein Spießer, noch ein Verfechter der Monogamie um jeden Preis, aber es war eine Sache, solche Dinge zu tun, wenn man mit offenen Karten spielte und es aus eigenem, bewussten Antrieb tat und eine ganz andere, wenn man sich verzweifelt an jeden klammerte, der gerade da war und irgendetwas in einem auslöste.
Trotz dieser großen Dosis Realität, die das Erwachen in mein Bewusstsein spritze, fühlte ich mich aber noch immer recht gut und das nicht nur, weil sich mein Schwanz schon wieder regte und weil ich mich in der Gesellschaft von jemandem befand, der mich offenbar genug schätze, um auch nach dem Rausch bei mir zu bleiben. Der eigentliche Grund war aber ein anderer. Es war zwar vollkommen hirnrissig und falsch so zu denken, doch irgendwie erschien es mir fast wie eine Absolution für meine Taten, dass eine Jyllen freiwillig mit mir schlief. Dafür schämte ich mich, doch zugleich brachte es mir auch eine unverdiente und nichtsdestotrotz reale Erleichterung.
Ob Ominee irgendetwas von meinem inneren Konflikt mitbekam war mir nicht klar, jedenfalls ließ sie es sich nicht anmerken.
„Guten Morgen“, sagte sie, „offenbar bist du wach.“
Erneut legte sich ihr linker Anmella-Strang um mein wieder erigiertes Glied und übte etwas Druck aus, was mich aufstöhnen ließ.
„Das bin ich“, erwiderte ich rau, „wo sind die anderen?“
„Nicht hier“, sagte Ominee grinsend und kratzte mir spielerisch über die Brust, bevor sie mich einmal mehr küsste und sich im Anschluss auf meinen Penis setzte. Ihre Geschlechtsöffnung – für die ich keinen Namen hatte – fühlte sich eng, glatt und beinahe steril an.
Sie fing an mich zu reiten und erneut begann ich in eine Art Trance abzugleiten, als sich Ominees rechter Anmella-Strang urplötzlich wie eine Schlinge um meine Kehle wickelte. Locker, ohne Gewalt noch, aber jederzeit bereit den Druck zu verstärken.
„Was ist los?“, fragte ich verwirrt, während Todesangst meine Lust effektiv abwürgte, zumal ich an das noch unbearbeitete Trauma meiner Erfahrungen mit Rara erinnert wurde. In gewisser Weise war das hier das befürchtete Spiegelbild meiner Erfahrungen in Konor. Drogen, Sex und Lebensgefahr.
„Shhht“, sagte Ominee und legte einen Finger auf ihre Lippen, „nicht sprechen, zuhören“. Ich gehorchte.
„Ich genieße das hier, Olevan. Das meine ich ernst. Auch wenn ich es leider nicht so sehr genießen kann, wie ich es mir eigentlich wünschen würde. Mein Körper ist voll bei der Sache, aber mein Geist ist abgelenkt. Da sind Bilder in meinem Kopf. Von einem anderen Tag. Von Nanvee und Illinnan. Zwei Jyllen-Kinder, Geschwister, um die ich mich seit Jahren gekümmert hatte. Nanvee war drauf und dran gewesen, sich zur Ingenieurin ausbilden zu lassen und war trotz ihres jungen Alters schon voller kreativer Ideen für mögliche Erfindungen gewesen. Illinan hatte sich für die Landwirtschaft interessiert. Er hatte Pflanzen, Tiere und Pilze geliebt, jene Dinge, von denen es nur noch so wenige in Konor gegeben hatte und die doch so wichtig für unser Überleben gewesen waren. Beide waren sie herzliche, wunderbare Geschöpfe gewesen. Zumindest so lange bis Nanvee, die kleine, minderjährige Nanvee mit vor Lust geschwollenen Lippen und gierig ausgestreckten Anmella-Strängen hinter Illinan hergerannt ist, um ihn mit dem Virus zu „befruchten“.
Es ist ihr gelungen, und das, obwohl Honwanee, mein Anmella sie mit dem Säurestrahler direkt ins Gesicht getroffen hat. Wir beiden waren Zeuge gewesen, wie das Licht von Mutter Flamme aus ihren Augen verdampfte. Nur konnte ich mich wenigstens damit trösten, dass ich dieses Grauen nicht verursacht hatte. Honwanee hatte diesen Trost nicht gehabt. Mehr noch: Letztlich hatte er auch Illinan töten müssen, um uns beide zu schützen und ihm ein Dasein als Sklave der Krankheit zu ersparen, welches du und deine Freunde über uns gebracht haben. Ich hatte ihm wieder und wieder gesagt, dass er keine andere Wahl gehabt hatte, dass es eine Gnade gewesen war, aber als ich einmal nicht auf ihn geachtete hatte, hatte er sich selbst mit seinem Säurestrahler gerichtet. Ich hätte das am liebsten ebenfalls getan, aber ich hatte keine Kraft mehr gehabt, die Waffe aufzuheben. Keine Kraft mehr irgendetwas anderes zu tun, als auf dem blutverschmierten Boden zu knien, inmitten dieses grauenhaften Chaos, und auf das Ende meiner gesamten Welt zu warten. Eigentlich hätte mich einer der Infizierten finden sollen, aber das geschah nicht. Und nachdem mich nach mehreren Minuten noch immer niemand angegriffen oder „befruchtet“ hatte, schöpfte ich etwas Hoffnung. Ja, ich gelangte sogar zu der Ansicht, dass Mutter Flamme ihre Hand schützend über mich gehalten hatte, denn ich wusste noch nicht, dass Mutter Flamme ein Konstrukt war, so wie viele andere, wenn auch vielleicht nicht alle Götter im Multiversum.
Aber ich glaubte damals daran und so entschied ich mich, weiterzugehen, in der Gewissheit, doch noch eine Aufgabe zu haben und vielleicht irgendwo einen Weg für mich zu finden, den ich mir jetzt noch nicht vorstellen konnte. Ich stand also auf. Stolpernd zunächst, aber ich stand auf, und kaum da ich ein paar Schritte durch die Höllenversion meiner Heimat gegangen war, traf ich auf meine Bestimmung. Es war ein Panzer, der mein Leben beendete und meine Hoffnung zerquetschte. Kein Driggdonn-Panzer, wie ich es früher immer erwartet hatte, sondern ein Panzer meines eigenen Volkes. Ob der Fahrer infiziert oder schlicht vor Angst und Schrecken wahnsinnig und rücksichtslos geworden war, weiß ich nicht. Jedenfalls überrollte er mich, zerquetschte meine Beine und meinen Unterleib. Doch als er einfach weiterfuhr, ohne auch nur zu bemerken, was er getan hatte, war ich noch nicht sofort tot. Nein, Olevan. Ich konnte vielmehr dabei zusehen wie ich langsam verblutete und die Schmerzen nach dem ersten gnädigen Schock waren grauenhaft. Erst dann sind die Infizierten an mir vorbeigelaufen. Doch sie haben mich keines Blickes gewürdigt. Ich war uninteressant. Lediglich eine bewegungslose Sterbende, die nicht mehr in der Lage wäre den Erreger weiterzugeben. Ja, hier am Höhepunkt der Apokalypse interessierten sich nicht mal mehr die lebenden Toten für mich. Doch es waren weder die Schmerzen, noch die Einsamkeit oder der nahende Tod, die mich am meisten quälten. Es waren die Bilder von Illinan, Nanvee und Honwanee. Von all dem, was hätte sein können und doch niemals sein wird.“
Sie lockerte ihre Schlinge ein wenig, sah mich dafür jedoch streng und mit vor Wut glimmenden Augen an. Ich rührte mich noch immer nicht, versuchte mich nicht zu wehren. Anders als damals bei Rara war Ominee hier nicht die Böse.
„Ich mag dich, Olevan“, sagte sie, „und ich kann Frieden mit dir schließen, auch wenn es meinem Herzen schwerfällt. Denn ich glaube an das Licht und an die Vergebung, an die Wiedergeburt, die es ermöglicht. Adrian jedoch hasse ich aus tiefsten Herzen. Ihm würde ich niemals vergeben können, was er getan hat. Solltest du diesen Namen – aus welchem Grund auch immer – je wieder annehmen und zu deinem alten Leben zurückkehren, dann verspreche ich dir, werde ich dich töten. Hast du das verstanden?“
„Ja“, bestätige ich röchelnd.
„Gut“, sagte sie zufrieden, drückte mir mit ihren warmen, ledrigen Lippen einen Kuss auf, zog ihren Anmella-Strang von meinem Hals zurück und kletterte von meinem Bett, um sich wieder anzuziehen.
„Nun solltest du schlafen. So wie auch ich. Es sind nur noch ein paar Stunden, bis wir die Webhalle wieder betreten müssen und niemand von uns kann daran interessiert sein den Glauben einer fremden Welt in die Hände von müden Geistern zu legen.“
~o~
Ominee und ich betraten die Webhalle diesmal gemeinsam. Ein wenig hatte ich – nicht zuletzt nach der unverhohlenen Drohung – erwartet, dass die Jyllen mich nun wieder wie einen Fremden behandeln würde, doch dem war nicht so. Nicht nur, dass sie mich auf dem Weg mehrmals küsste, sie bestand zuletzt sogar darauf, meine Hand zu halten. Ich ließ mich darauf ein. Schon allein, weil es sich gut anfühlte und dabei half den Gedanken an Laarmaschk und an das Schicksal meiner Weggefährten zu verdrängen. Darüber, ob das hier eine Beziehung, eine Affäre, oder unter den Rilandi ein ganz normales Verhalten war, traute ich mir kein Urteil zu. Genauso wenig, wie über meine eigenen Gefühle. Ich versuchte im Moment zu leben, denn alles andere überforderte mich gerade. Vor dem unsichtbaren Eingang stand bereits Nojun und machte einen recht nervösen und müden Eindruck.
„Hallo Olevan“, sagte er und warf dabei einen überraschten Blick auf Ominee, „können wir uns kurz unterhalten?“
„Olevan muss in die Halle. Genauso wie du. Die Versammlung beginn in vier Minuten“, sagte Ominee bemerkenswert kühl. Sie schien Nojun nicht sonderlich zu mögen.
„Es wird nicht lange dauern“, beharrte Nojun.
„Du kannst schon mal reingehen“, sagte ich zu Ominee, „Wir komme sofort nach.“
Ominee warf mir einen freundlichen, aber auch skeptischen Blick zu. „An deiner Stelle würde ich mich tatsächlich beeilen, Olevan“, sagte sie, „Herreth hat dich bereits im Auge. Ich denke nicht, dass du gleich noch einmal deinem Laarmaschk gegenübertreten willst.“
Dann jedoch trat sie an der markierten Stelle über den Straßenrand und verschwand im vermeintlichen Nichts.
„Was ist los?“, fragte ich Nojun leise, jedoch ohne zu flüstern.
„Es ist nicht gut, sich mit Ominee einzulassen“, erwiderte Nojun.
„Und warum, wenn ich fragen darf?“, fragte ich verdutzt.
„Sie hat Seiten, die … nicht sehr angenehm sind“, deutete Nojun mysteriös an.
„Die habe ich auch“, erwiderte ich, „und zwar eine ganze Menge davon. Davon abgesehen habe ich mich gestern Abend nicht nur mit ihr eingelassen, sondern so ziemlich mit der halben Webergemeinschaft. Und ich hatte den Eindruck, dass das hier nicht so ungewöhnlich ist.“
„Bei den anderen war es der Lichtwein“, antwortete Nojun, „sie jedoch ist anscheinend bis zum Morgen bei dir geblieben. Das ist ein Unterschied.“
„Wolltest du wirklich deshalb mit mir reden?“, fragte ich, da ich nun wirklich keine Lust hatte, mich über dieses Thema auszutauschen.
„Nein“, sagte Nojun, „jedenfalls nicht nur. Es ist … ich habe nachgedacht.“
„Worüber?“, fragte ich ungeduldig, da ich wirklich wenig Lust hatte, wegen ein paar Minuten Verspätung meine Identität zu verlieren.
„Nun, vor allem über …“, begann Nojun, schien es sich dann jedoch anders zu überlegen, „das kann ich dir hier nicht sagen. Triff mich einfach nach der Versammlung. Dann will ich dir etwas zeigen. Ist das in Ordnung?“, fragte er.
„Sicher“, sagte ich, auch wenn ich nur Bahnhof verstand, „aber jetzt lass uns lieber reingehen.“
Nojun nickte und gemeinsam betraten wir einmal mehr die Webhalle.
~o~
Im Inneren war es deutlich voller als bei meinem ersten kurzen Gastspiel in diesen Räumlichkeiten. Zwanzig Weber, unter ihnen auch Slizza, Gorweo, Tannvann, Ninvinee und natürlich Ominee. Entsprechend hatte man weitere Stühle um den Webstuhl herum platziert. Ansonsten war der Raum – mit den Gefangenen Scyonen, dem beeindruckenden Webstuhl und der Webermeisterin, die, wie ich nun wusste, womöglich ein Laarmaschk war, genauso, wie ich ihn beim ersten Mal vorgefunden hatte.
Ich sah unwillkürlich nach oben. Einige der Scyonen warfen Blicke auf mich hinab, die irgendwo zwischen Wut, Neugier und der stummen Suche nach Hilfe angesiedelt waren. Es war fast, als würden sie mich kennen und deshalb erwarten, dass ich sie befreie. Natürlich war das unmöglich. Ich hatte zwar einige Scyonen in Konor kennengelernt, aber bis auf Moydrur waren sie alle gestorben und ihn konnte ich unter den Gefangenen nicht erkennen. Trotzdem erweckte der Anblick mein Mitleid. Dummerweise konnte ich dem jedoch nicht nachgeben, war ich doch nur ein falsches Wort von einer grauenhaften und endgültigen Strafe entfernt. Dennoch schwor ich mir, das Schicksal der Scyonen anzusprechen, sobald ich erst das Gefühl hätte, mich bewährt zu haben und wieder etwas mutiger sein zu können. Vorerst jedoch wandte ich meinen Blick ab.
Wir setzten uns gemeinsam auf die freien Plätze zwischen Slizza und Ominee. Während die Jyllen gleich wieder meine Hand ergriff und mir sogar einen kurzen Kuss aufpresste, warf mir Slizza einen zwar freundlichen, aber dennoch eher unverbindlichen Blick zu.
„Hallo Olevan, Hallo Nojun. Freut mich, euch hier zu sehen“, begrüßte uns Herreth, „ich hoffe, ihr habt eure Lektion gelernt.“
Ich suchte in ihren Worten nach einer versteckten, düsteren Anspielung, nach Gehässigkeit und Drohgebärden, aber die Webermeisterin sprach überraschend sachlich, ja fast schon versöhnlich.
„Das haben wir“, antwortete ich und kämpfte die plötzlich hochkochende Wut über meine unfaire Behandlung herunter.
„Gut“, sagte Herreth, „es gibt nämlich Arbeit zu erledigen und deshalb will ich hier konzentrierte Weber sehen. Kann ich mich darauf verlassen?“
Alle nickten. Auch ich und Nojun.
„Sehr schön“. Ihre Hände flogen über den Bildschirm und kurz darauf manifestierte sich erneut eine holografische Projektion im Raum.
Sie zeigte eine schattenhafte Welt unter einer violett strahlenden Sonne. Auf einer kargen, steppenhaften Ebene voll verkrüppeltem Gestrüpp, borstigen Gräsern und schwarzer Sanddünen standen sich zwei Armeen gegenüber. Beide gehörten sie derselben Spezies an. Einem blassen, hochgewachsenen, dürren, aber relativ humanoiden Volk mit großen, fahlgelben Augen. Die Soldaten der einen Seite waren in roten, metallene Rüstungen gehüllt, die jedoch mehr mechanischen Exoskeletten als klassischen Rüstungen ähnelten. In ihren Händen ruhten wuchtige Strahlenwaffen, die weiße Blitze auf den Feind regnen ließen und zwischen ihnen bewegten sich gewaltige, gepanzerte Räder aus Metall, die mit ähnlichen Geschossen ausgestattet waren. Auch einige Flugzeugähnliche Gerätschaften gaben ihnen aus der Luft Deckung, indem sie Splittergranaten herabregnen ließen, die die Soldaten des Feindes und manchmal auch die eigenen auf grauenhafte Weise zerfetzten. Die andere Seite hingegen mutete eher mittelalterlich an. Sie waren in leichte, helle, an Leinen erinnernde Gewänder gehüllt, auf denen ein Zeichen in Form eines gewöhnlichen und eines gedrehten Us gemalt war, die man übereinandergelegt hatte. In ihren Händen lagen lange, gezackte, dunkelgraue Schwerter und einige von ihnen ritten auf sechsbeinigen Tieren mit flachen Schädeln und rauer Haut, von denen sich nicht sagen ließ, ob es sich um Reptilien, Säugetiere oder eine unbekannte Gattung von Lebewesen handelte. Die hell Gewandeten waren, wie die Kamera zeigte, als sie sich in die Totale bewegte, ungefähr zehn zu eins in der Überzahl und auch wenn sie wie die Fliegen im Feuer ihrer Feinde fielen, gelang es immer mal wieder jemanden seine Stichwaffe durch eine Schwachstelle im Exoskelett eines seiner Kontrahenten zu stoßen.
Das hier rief sofort Erinnerungen in mir wach und das schien nicht nur mir so zu gehen.
„Zwei Fraktionen. Die Darr‘Ri und die Mitsch. Eine hochgerüstet und technisch überlegen, die andere zahlreicher. Beide dadurch in einem Patt gefangen. Diese Konstellation sollte Ninvinee und Ominee bereits bekannt vorkommen, oder irre ich mich da?“
Ninvinee nickte und auch Ominee tat das, fügte jedoch hinzu, „ich weiß, worauf du anspielst, Herreth. Aber wenn du ernsthaft diese Wilden mit uns Jyllen vergleichen willst, tust du unseren Ingenieuren unrecht.“
„Ich bin nicht dumm, Ominee“, sagte Herreth, „ich weiß selbst, dass ihr technisch viel weiter entwickelt wart, als die Mitsch. Doch auch die Rorak sind fortschrittlicher, als die Dar‘Ri. Insofern ist mein Vergleich gar nicht so falsch. Außerdem sind die Mitsch keine Wilden. Sie hätten auf einem ähnlichen Entwicklungsstand sein können wie ihre Gegner, aber ihr Glaube verbietet es ihnen. Ein Glaube, den wir vor etwa zweihundert Jahren bei ihnen etabliert haben und der den Einsatz jeder höheren Technik verbietet. Das war wichtig, denn in den Mitsch steckt ein ziemlich großes, militärisches Potenzial und ein unvergleichlicher Erfindergeist. Bevor wir eingegriffen haben, hatten sie bereits das Feuer entdeckt, Werkzeuge und komplexe Stich-, Hieb- und Projektilwaffen genutzt, Viehzucht und Ackerbau betrieben und das Rad entwickelt und das alles gerade einmal zwanzig Jahre, nachdem sie den aufrechten Gang erlernt hatten. Ihre geistige und soziale Evolution geschieht in einem regelrechten Rekordtempo.
Sie hätten zu einer Bedrohung für ziemlich große Teile des Multiversums werden können. Ja, sogar für Uranor, falls sie gelernt hätten den Himmelsschleier zu überwinden. Ganz besonders, da sie ein von Natur aus ein sehr religonsskeptisches Volk sind. Beinahe so schlimm wie die Bewohner von Rihn. Es war ziemlich schwer und hat viele Wunder benötigt, sie auf den richtigen Weg zu führen. Trotzdem dachten wir lange Zeit, dass wir endlich an dieser Front Ruhe hätten.
Aber dem war nicht so. Denn vor einigen Jahren haben sich die Dar‘Ri abgespalten. Sie hatten den Glauben und auch die Gesetze der anderen Mitsch abgelehnt und sich an die Erforschung höher entwickelter Technologien gemacht, wie du hier sehen kannst. Sollten sie triumphieren, wäre unsere gesamte Arbeit zunichtegemacht. Es würde vielleicht ein paar Jahrzehnte oder Jahrhunderte dauern. Aber letztlich könnten die Mitsch unter der Führung der Dar‘Ri ihr volles, gefährliches Potenzial entfalten. Deshalb brauchen wir jetzt Ideen, wie wir verhindern können, dass diese Welt zu einer Bedrohung für uns und andere wird. Hat irgendjemand von euch einen Vorschlag?“
Ich dachte angestrengt nach. Dies war die Chance, nicht nur ein paar verlorene Punkte in den Augen der Webermeisterin wiedergutzumachen, sondern auch zu verhindern, dass allzu grausame Entscheidungen getroffen wurden. Tannvann war jedoch der Erste, der sprach. „Für mich ist die Lösung offensichtlich“, sagte der Glasmann, „wir haben zwei Fraktionen, von denen eine ein Problem darstellt und die andere das tut, was wir wollen. Was läge also näher, als letztere zu unterstützen und erstere zu schwächen? Wir sollten das Ronnix-Mirakel anwenden. Dann würden sich unsere Probleme in Wohlgefallen auflösen.“
„Ein radikaler, aber sehr wirksamer Vorschlag“, lobte Herreth, woraufhin Tannvann ein selbstzufriedenes Grinsen grinste, welches es mich noch stärker bereuen ließ mit diesem arroganten Sack intim geworden zu sein. Drogen hin oder her.
„Allerdings hat er den Nachteil, dass er vollkommen hirnrissig ist“, fügte Herreth scharf hinzu und wischte damit Tannvans Lächeln von seinem Gesicht, „dir sollte eigentlich bewusst sein, wie viel Licht uns diese Aktion kosten würde, zumal es nicht mit ein paar einmaligen Wundern getan wäre. Und was würden die Mitsch wohl von einem Gott denken, der ihnen über Monate hinweg dabei hilft, ihre Feinde zu bombardieren?“
„Sie wären recht beeindruckt, möchte ich meinen“, warf Gorweo ein.
„Korrekt“, gestand Herreth ein, „anfangs zumindest. Aber dann würden die Fragen beginnen. Die Mitsch sind zwar sehr gläubig, aber nicht dumm. Womöglich würden sie sich fragen, ob hier wirklich ein Gott im Spiel ist, oder nicht eher eine andere, sehr stoffliche Macht. Ähnliche Gedanken werden sie schon von den Dar‘Ri gehört haben und was einmal im Bewusstsein angelangt ist, lässt sich schwer wegschließen, selbst wenn man es noch so sehr ablehnt. Doch selbst, wenn es nicht so weit kommt und sie das alles als Gunst ihres Gottes begreifen, könnte das zu Problemen führen, ja sogar ihren Glauben schwächen.“
„Wieso denn das?“, erkundigte sich Ninvinee.
„Weil Götter sich dadurch auszeichnen, dass sie rätselhaft, distanziert, unberechenbar und schwer greifbar sind. Ein Gott, der als unsichtbare Luftwaffe in einem Krieg fungiert ist das nicht mehr. Einzelne Wunder lassen die Menschen in Ehrfurcht erstarren. Dauernde Wunder führen zu Gewöhnung und Anspruchshaltung. Wir würden endlos unsere Ressourcen verbrennen, das Leben unserer Vermittler riskieren, ohne bleibenden Erfolg garantieren zu können. Nein Tannvan, das können wir vergessen. Andere Ideen?“
Nach diesem Vorschlag hatte ich wirklich Angst vor dem, was noch kommen könnte. Zum Glück hatte ich mir inzwischen selbst etwas überlegt.
„Ich wüsste vielleicht eine Möglichkeit, bei der wir kein Blut vergießen und noch mehr Gläubige gewinnen könnten“, meldete ich mich zu Wort.
Während ich sprach, schämte ich mich zugleich. Klar, was ich vorschlagen wollte, war zumindest Schadensbegrenzung, aber es war dennoch ein unerwünschter Eingriff in das Schicksal eines anderen Volkes. War ich wirklich durch all diese Prüfungen gegangen, um wieder bei Sachzwängen und kleineren Übeln anzukommen?
„Oh, ein Vorschlag von unserem kleinen Rebellen?“, neckte Herreth mich, „solange er nicht die Abwendung vom Licht und die Abkehr vom Wesen unserer Gemeinschaft einschließt, bin ich ganz Ohr.“
Ich entschied mich ihre Spitze zu ignorieren und begann stattdessen mit meinen Ausführungen. „Wann haben die Mitsch das letzte Mal ein eindeutiges Zeichen ihres Gottes erhalten?“, begann ich mit einer Frage.
Herreth sah mich etwas überrascht an, sah dann auf ihren Bildschirm und sagte schließlich, „vor etwa hundertfünfzig Jahren. Warum willst du das wissen?“
„Haben die Mitsch ein Bildnis ihrer Gottheit oder ist sie körperlos?“, fragte ich ohne auf ihre Frage zu reagieren, jedoch betont höflich und ruhig.
Herreth wirkte – zum Glück – eher verwirrt als verärgert und blickte erneut auf ihren Bildschirm. „Ursprünglich war ihr Gott, Wormon, körperlos, aber sie haben sich inzwischen ein Bild von ihm gemacht. Das Bild eines muskulösen Mitsch ohne Gesicht und mit roter Haut, der seine Arme vor seiner Brust zu einem Kreis verschränkt hat.“
Sie blendete kurz eine entsprechende Darstellung ein, bevor sie zu den beiden Heeren zurückblendete, die sich hier gegenüberstanden.
„Hast du noch mehr Fragen?“, wollte Herreth stirnrunzelnd und etwas ungeduldig wissen, „oder dürfen wir jetzt endlich deinem Vorschlag lauschen?“
„Eine hab ich noch“, sagte ich, „was ist der Hauptgrund, aus dem die Dar‘Ri den Glauben an Wormon ablehnen, von der Technik abgesehen?“
Herreth seufzte und auch die anderen Weber blickten mich sehr skeptisch an. Einige begannen leise miteinander zu tuscheln, wobei es vor allem Weber waren, die ich noch nicht persönlich kannte.
„Also gut“, antwortete Herreth, „sie lehnen vor allem ab, dass Wormon Frauen als minderwertig begreift. Eine entsprechende Äußerung haben wir zwar nie getätigt oder mit unseren Wundern und Botschaften nahegelegt und selbst in ihren heiligen Schriften gibt es höchstens ein paar Stellen, die sich mit viel Fantasie so deuten lassen, aber dennoch hat sich die Überzeugung bei den Mitsch gefestigt. Aus diesem Grund kämpfen auch viele Frauen auf der Seite der Dar‘Ri.“
„Perfekt“, sagte ich und meinte damit nicht die Diskriminierung an sich, sondern, dass sie meiner Idee sehr zugutekam, „dann würde ich Folgendes vorschlagen: Wir projizieren ihnen eine leibhaftige Version von Wormon an den Himmel, der offen zu ihnen spricht. Da die Dar‘Ri wissen, dass die Mitsch nie Technik verwenden würden, um sie zu täuschen, müssen auch sie ihn für real halten. Dabei wird Wormon verlangen, dass die Kampfhandlungen von beiden Seiten eingestellt werden, da er alle seine Kinder in seine Umarmung einschließt und nicht länger duldet, dass ihnen ein Leid geschieht. Aus diesem Grund wird er auch verkünden, dass Frauen und Männer ihm gleich viel bedeuten und ihnen außerdem erlauben, einfache technische Geräte zu bauen, die den Alltag erleichtern und ihre Mühsal verkleinern, aber nicht dazu geeignet sind Krieg zu führen oder sich zu ihm in den Himmel zu erheben. Damit werden die Dar‘Ri nicht nur mit einem nicht zu leugnenden Beweis konfrontiert, dass Wormon existiert. Nein, zugleich wurden auch die Regeln aus der Welt geschafft oder abgemildert, die sie gegen diesen Glauben aufgebracht haben. Das wird es leicht machen, sie zu bekehren, während die Mitsch sich zwar in ihrer reinen Glaubenslehre gekränkt fühlen mögen, aber nachdem ihnen ihr Gott höchstpersönlich erschienen ist, werden sie wohl kaum wagen, ihm zu widersprechen, zumal die einst Ungläubigen sich ihnen mit einem Mal in Scharen anschließen würden. Beide Seiten würden sicher die Gelegenheit nutzen diesen unseligen Krieg zu beenden. Dennoch wäre das Risiko, dass sie zu einer Bedrohung für uns oder irgendjemand anderen werden, praktisch unverändert niedrig.“
Mit einem Mal wurde es vollkommen still und der Ausdruck auf Herreths Gesicht wandelte sich von Skepsis zu freudigem Erstaunen. „Brillant. Das könnte tatsächlich funktionieren. Vor allem wäre der Energieaufwand für die Projektion vergleichsweise gering. Ich denke, wir sollten das hier ausprobieren, wenn niemand Einwände oder einen besseren Vorschlag hat. Ich bin begeistert, Olevan. Wenn nur jeder so viel aus seinen Strafen lernen würde, wäre meine Arbeit deutlich einfacher.“
Eigentlich gab es bei dem, was wir hier taten, keinen Grund zu feiern, aber dennoch konnte ich mich nicht dagegen wehren, mich geschmeichelt zu fühlen. Insbesondere, da ich immerhin helfen würde einen Krieg zu beenden, wenn alles glattging. Ich blickte zu Ominee, die mich kurz anlächelte, dann jedoch etwas tat, mit dem ich nicht gerechnet hatte.
„Ich hätte Einwände“, sagte sie, „und einen besseren Vorschlag.“
Reflexartig drückte ich Ominees Hand fester, worauf sie jedoch nicht reagierte.
„Da bin ich gespannt“, sagte Herreth, „vielleicht zahlt es sich ja aus, dass du dich mit dieser Art von Konflikten auskennst.“
Das Lächeln von Ominee wurde breiter, „Dieses Urteil überlasse ich euch, Meisterin. Jedenfalls ist der Vorschlag von Olevan durchaus anerkennenswert, aber er weist zwei entscheidende Schwächen auf. Zum einen haben wir keine Gewissheit, dass die Mitsch die Projektion als Ebenbild ihres Gottes anerkennen würden. Vielleicht kommt es zu einer Spaltung, zu einem aufbegehren von Orthodoxen, die sich daran erinnern, dass Wormon in alter Zeit gar keine Gestalt besaß. Sie könnten ihn einen Götzen nennen, oder von einer technischen Teufelei der Dar‘Ri ausgehen. Und auch die Dar‘Ri werden ihre technischen Errungenschaften nicht unbedingt freiwillig aufgeben. Auch nicht, wenn sie einen kleinen Teil davon behalten dürfen. Und sie werden einem Gott nicht nur folgen, weil sie ihn sehen. Viele von ihnen haben ihn gehasst. Haben ihn als Symbol für alles betrachtet, was in ihrer Welt falsch läuft. Wenn wir Glück haben, erkennen sie ihn als reales, mächtiges Wesen an, aber dann werden sie vielleicht eher überlegen, wie sie es bekämpfen können, als ihm blind zu folgen.
Wer das ignoriert, vergisst, dass die Dar‘Ri das wahre Erbe der Mitsch in sich tragen, nicht die gläubigen Mitsch. Doch selbst, wenn wir mit all dem Glück haben und alle Mitsch sich unter einer reformierten Religion vereinen, garantiert uns niemand, dass das auch so bleibt. Die Dar‘Ri haben sich einmal abgespalten, sie könnten es also wieder tun. Oder sie könnten weitere Reformen fordern, die am Ende in einer interstellaren, waffenstarrenden Killerrasse münden. Kurzum: Wir haben keine Gewissheit, dass die Maßnahmen zu dauerhaftem Erfolg führen.“
„Diese Gewissheit bietet uns keine Maßnahme“, merkte Slizza an, „egal wie gut durchdacht sie ist.“
„Doch“, widersprach Ominee, „meine schon. Die Mitsch sind eine viel zu große Bedrohung, um auch nur das geringste Risiko einzugehen. Ich schlage deshalb vor, dass wir das Problem beseitigen. Wir nutzen eine konzentrierte Welle psyonischer Energie, um visuellen und akustischen Botschaften in ihnen zu platzieren. Wir lassen sie glauben, dass dass ihre Welt kurz vor dem Untergang steht. Etwa durch einen gewaltigen Meteoriten oder eine Veränderung ihrer Sonne. Und der einzige Schutz vor einem qualvollen Tod, sowie die einzige Möglichkeit zum Übergang in eine andere Welt, bietet die Gnade Wormons. Jedoch nur, wenn sie selbst aus freien Stücken ihrem irdischen Leben entsagen. Es gibt dort Pflanzen, genauer gesagt, Gräser, die bei ihnen sehr verbreitet sind. Eine kleine Dosis bewirkt einen sicheren, raschen, schmerzfreien Tod. Es wird schnell gehen. Und die Lösung wird endgültig sein.“
Ihre Worte ließen mir das Blut in den Adern gefrieren. Sie schlug ernsthaft die Vernichtung der Bevölkerung eines ganzen Planeten vor. Konnte das wirklich die Person sein, mit der ich erst kürzlich das Lager geteilt hatte? Konnte ein Jyllen, deren Volk selbst vor kurzem von mir wurde, so etwas ernsthaft vorschlagen? Doch ich gab mir selbst die Antwort. Sie war keine Jyllen mehr. Sie war jetzt eine Rilandi und wie es schien, musste das nicht unbedingt etwas Gutes bedeuten.
Ominee schien das Grauen in meinem Gesicht gelesen zu haben. „Es ist eine harte Maßnahme“, sagte sie, „aber wenn man die Mitsch gewähren lässt, wären die Konsequenzen für uns und das Multiversum noch schrecklicher.“
„Dadurch verlieren wir eine wichtige Lichtquelle“, wandte eine mir unbekannte Glasfrau ein.
„Manche Quellen sind zu gefährlich, um sie auszubeuten“, antwortete Ominee.
„Ich persönliche neige zu Ominees Vorschlag“, sagte Herreth, „er erscheint mir tatsächlich noch erfolgversprechender als der von Olevan. Allerdings muss ich eingestehen, dass es eine wirklich radikale Maßnahme wäre. Deshalb verzichte ich auf ein Machtwort und gebe die Entscheidung zur Abstimmung frei.“
Immerhin etwas, dachte ich. Ich konnte nur hoffen, dass die Rilandi im Durchschnitt mehr Skrupel besaßen als Ominee.
„Wer ist für Olevans Vorschlag?“, fragte Herreth. Ich blickte mich nervös in den Reihen der Weber. Slizza hob die Hand, Gorweo, Nujon, überraschenderweise auch Ninvinee, sowie ich selbst, eine Bravianerin und zwei Glasmänner.
Meine ohnehin verhaltene Hoffnung bekam einen deutlichen Dämpfer. Falls es hier keine Enthaltungen oder so etwas in der Art gab, war es das für uns.
„Wer ist für Ominees Strategie?“, fragte Herreth und hob direkt selbst den Arm. Ominee, Tannvan, sowie alle Anwesenden, die nicht für mich gestimmt hatten, taten es ihr nach. Dreizehn zu Acht. So viel zum Thema Enthaltungen, dachte ich niedergeschlagen. Schon wieder wurde das Schicksal einer Welt durch eine Abstimmung besiegelt. Nur diesmal kam die Katastrophe dadurch, dass ich sie verlor.
„Damit ist es entschieden“, sagte Herreth und machte einige Handgriffe an ihrem Bildschirm. Sofort leuchteten die Fäden am Webstuhl auf und der Raum wurde erfüllt von den grauenhaften, schrillen Schreien der Scyonen, die anscheinend an den Rand ihrer Belastbarkeit gebracht wurden. Einige von ihnen pressten sich verzweifelt gegen ihre gläsernen Gefängnisse oder hieben mit ihren Armen dagegen.
Ein Schauder erfasste mich. Das hier war nicht richtig. Ganz und gar nicht. Nicht nur das, was mit den Scyonen passierte, sondern vor allem das, was den Mitsch bevorstand.
Ich ließ Ominees Hand los, da ich es nicht mehr ertragen konnte sie zu halten.
Ich spürte ihre verletzen Blicke förmlich auf mir, aber ich sah sie nicht an. Stattdessen sah ich zu Nojun in dessen Gesicht ich ein ähnliches Mitleid sah.
Das Hologramm zeigte nun, wie die Soldaten beider Seiten in die Knie brachen und verstört zum Himmel sahen. Einige weinten, manche brüllten, andere hielten sich die Ohren zu oder versuchten sich ihre Augen auszukratzen. Manche klammerten sich verzweifelten an jene, die ihnen am nächsten standen. Dann jedoch verschwand die Verzweiflung aus ihren Gesichtern und machte einem entrückten, seligen Ausdruck platz. Daraufhin begaben sie sich auf alle Viere und suchten auf dem Boden nach ganz bestimmten Gräsern, die sie auch fanden, mit beiden Händen heraus rupften und gierig in sich hineinstopften. Trotzdem waren sie nicht egoistisch, sondern teilten ihren Fund großzügig mit jenen, die noch keines der Gräser ergattern konnten.
Wenige Minuten später begann es. Die Ersten fingen an vor Schwäche zusammenzubrechen und fielen einfach auf den Boden. Kurz darauf begannen sie krampfhaft zu zucken, sich aufzubäumen, so als würden sie sich gegen unsichtbare Ketten stemmen. Einige erbrachen sich, besudelten sich und jene um sie herum, aber alle Versuche ihrer Körper das Gift wieder loszuwerden nützten nichts. Denn schon bald begannen auch sie – wie alle anderen – Blut zu husten und am Ende lief ihnen dieses Blut sogar aus der Nase, den Ohren und zuletzt aus den Poren ihrer blassen Haut, während sie vergebenes nach Atem rangen. Nein, schmerzlos war der Tod der Mitsch, der sich hier und auf dem gesamten Planeten ereignete gewiss nicht, auch wenn er zweifelsohne schnell vonstatteging. Ich war nur dankbar, dass wir allein dieses Schlachtfeld sahen und nicht all die unbeteiligten Frauen, Männer und Kinder in den unbekannten Städten auf dem Antlitz dieses verfluchten Planeten. Harmlose und ängstliche Zivilisten, die noch bis vor wenigne Augenblicken um ihre Familienmitglieder und Freunde bangten, die in den Krieg gezogen waren und die nun alles taten, um sich den Tod in den Leib zu schaufeln.
„Sie haben zu viel gegessen“, sagte Slizza, deren Stimme zumindest etwas belegt war.
„Wir haben unser Wunder wohl etwas zu stark dosiert“, stellte Herreth nüchtern fest, um dann plötzlich in einen schwärmerischen Tonfall zu verfallen., „aber dafür hat es sich gelohnt, seht nur, welche Energie ihr Glaube freisetzt. Wie viel Licht! Sie glauben mit größter Inbrunst an ihre besser Welt, sehen sie förmlich schon vor sich, während ihre Hingabe, ihre tiefe Liebe zum Unsichtbaren das Licht füttert. Sie sterben, aber sie sterben voller Hoffnung, voller Liebe. Es ist wunderschön!“
Tatsächlich glühte der Webstuhl gleißend hell auf und auch die Fäden, die von ihm weg, bzw. zu ihm hinführten erstrahlten in einem blendend hellen Licht.
Einige von denen, die Ominees Vorschlag zugestimmt hatten jubelten und klatschten verzückt.
Mir wurde übel und ich schloss die Augen, da ich mich nicht traute irgendein Wort der Kritik zu äußern. Es hätte auch niemanden, außer meinem Laarmaschk etwas gebracht. Jene, die das hier ähnlich abscheulich fanden wie ich, brauchte ich nicht zu überzeugen und alle anderen schienen mir in dieser Hinsicht längst verloren. Vielleicht waren Korf, Garwenia, Scavinee und all die anderen, die in der Halle der Prüfung in ihrer Illusion verharrten letztlich zu beneiden. Das hier war im Grunde fast noch schlimmer.
„Hey, Olevan. Bist du eingeschlafen“, weckte mich Herreths Stimme aus der schützenden Trance, in die ich mich geflüchtet hatte, „ich hab dir doch schon gestern gesagt, dass hier drin nicht geschlafen wird.“
Ich schlug die Augen auf. Sie und ich waren die Letzten in der Webhalle. Alle anderen, selbst Nojun und Ominee waren gegangen.
„Es tut mir leid“, zwang ich mich zu sagen, während ich die Bilder des Untergangs der Mitsch aus meinem Kopf zu verbannen versuchte, „es hat mich einfach überwältigt.“
„Oh, ja das Licht kann überwältigend sein. Genau wie das, was es zu tun vermag“, sagte Herreth lächelnd und ohne auch nur eine Spur von Mitgefühl. War sie tatsächlich ein Laarmaschk oder war dies einfach ihr Charakter?
„Nun solltest du aber gehen. In etwa einer Stunde beginnt dein Unterricht bei Kollat. Dort solltest du auf keinen Fall zu spät kommen und ich denke, du wirst auch nicht deine Pause verschlafen wollen“, sagte Herreth.
Ich nickte. Zu mehr war ich im Moment nicht imstande. Dann erhob ich mich und wandte mich zum Ausgang.
„Olevan“, hielt Herreth mich auf, kurz bevor ich das Gebäude verließ.
„Ja?“, erwiderte ich fragend.
„Auch wenn dein Vorschlag nicht angenommen wurde, bin ich sehr stolz auf dich“, sagte Herreth, „du hast nicht nur aus deinen Fehlern gelernt, sondern auch ein gutes, analytisches Denken. Du wirst dem Licht noch gut dienen. Davon bin ich überzeugt.“
„Danke“, sagte ich knapp mit zusammengepressten Lippen und begab mich zurück auf die Wolkenstraße.
~o~
Dort traf ich überraschenderweise doch auf Nojun, der auf mich gewartet zu haben schien.
„Da bist du ja endlich“, sagte er.
„Wenn du schon auf mich gewartet hast, wieso hast du mich nicht aus der Halle geholt?“, fragte ich ihn.
„Weil ich Herreths Aufmerksamkeit nicht gebrauchen kann“, erklärte Nojun leise, „sie bleibt für gewöhnlich bei der Webmaschine, aber man weiß es letztlich nie genau. Lass uns ein paar Meter spazieren gehen. Dann kann ich dir zeigen, was ich dir angekündigt hatte.“
Ach ja, dachte ich, das hatte ich schon beinah vergessen. „In Ordnung“, stimmte ich zu und so gingen wir gemeinsam die Straße herunter.
„Du hattest recht, was Ominee betrifft“, sagte ich nach einiger Zeit.
Nojun nickte traurig, „ich kenne sie länger als du. Natürlich ist sie noch nicht wahnsinnig lange hier, aber es reicht, um ihren Charakter einschätzen zu können.“
Ich überlegte, was ich darauf erwidern sollte, da mir jedoch nichts einfiel, schwieg ich, während wir uns immer weiter von der Webhalle entfernen und der scheinbar endlos weiterführenden Straße nicht in Richtung des Recriondo, sondern in Richtung des offenen Himmels folgten.
„Hier ist eine gute Stelle“, sagte Nojun schließlich etwas zerstreut und mehr zu sich selbst, als zu mir.
„Gut“, gab ich zurück und verkniff mir die Frage wofür, da ich davon ausging, dass ich das nun erfahren würde, „es gibt nämlich auch einige Dinge, über die ich gerne mit dir würde. Zum Beispiel, wie sehr mich das, was mit den Mitsch passiert ist, beschäftigt und was du darüber denkst. Außerdem denke ich, dass …“
„Sei still!“, unterbrach mich Nojun überraschend zornig, wurde dann jedoch sofort wieder ruhiger und flüsterte kaum hörbar, „hier können wir nicht offen reden.“
Nun war ich endgültig verwirrt. Hatte er nicht gerade noch gesagt, dass das hier eine gute Stelle für das wäre, was auch immer er vorhatte?
Nojun warf einen nervösen Blick nach Links und Rechts. Dann machte er mit beiden Armen eine weit ausholende Geste, bei der sie erst in beide Richtungen vom Körper weg und dann in gerader Linie bis zum Boden führte, so das er zuletzt in die Knie gehen musste. Ein paar Sekunden später erschien eine silbern schimmernde Tür in der leeren Luft. Nojun öffnete sie mit einem kräftigen Ruck. Dahinter sah ich nichts als Schwärze.
Ohne zu zögern, trat Nojun mit einem Bein durch die Tür und machte mir mit einer Geste klar, dass ich ihm folgen sollte. Ich gehorchte und gemeinsam verschwanden wir im nichts.
~o~
Auf der anderen Seite befand sich ein uralter, verfallener Raum mit morschen Holzwänden, welligem, staubigem Boden und blinden Fenstern. Er besaß den Charme eines spätmittelalterlichen oder frühneuzeitlichen Schlosses, jedoch auch viele Verzierungen und Details, so wie runde und dreieckige Formen, die nicht so recht dazu passen wollten. Womöglich bravianische Architektur, schoss es mir kurioserweise durch den Kopf, auch wenn sie theoretisch von jeder anderen Spezies hätte stammen können. Der Raum war erfüllt vom etwas, das wie das leise, aber hörbare Rauschen eines beständig blasenden Windes klang, welcher von außen gegen das Haus drückte.
Mehr Kopfzerbrechen als Naturgewalten und Architektur bereiteten mir aber drei graue, glotzäugige humanoide Gestalten mit vor Wahnsinn glitzernden Augen und breiten, dümmlich und ein wenig boshaft grinsenden Mündern, die mit dem Rücken an der hohen Decke klebten und auf Nojun und mich hinab starrten. Instinktiv ging ich in die Knie und hob meinen Waffenarm, an dem sich nur leider keine Waffe mehr befand.
„Was ist das?“, sagte ich und starrte angewidert auf die Kreaturen, die – zumindest vorerst – glücklicherweise an Ort und Stelle blieben und sich nicht bewegten.
„Sie tun dir nichts. Das können sie gar nicht. Sie sind Opfer, keine Täter“, erklärte Nojun.
„Ich verstehe überhaupt nichts mehr. Was ist das für ein Ort?“, erkundigte ich mich, ließ aber diese Wesen dennoch nicht aus den Augen.
„Das hier ist das wahre Uranor“, sagte Nojun, „zumindest ein Teil davon. Wir lernen in Kollats Unterricht, wie wir hierhin gelangen. Diese Unglücklichen sind Seelen, die zu lange in dieser Welt waren. Sie sind vollkommen verzweifelt und entleert. Spiritueller Restmüll sozusagen.“
„Also sind all die Wolken und Glaspaläste nichts weiter als reine Illusion?“, fragte ich erschüttert, auch wenn ich nach meinen Erlebnissen in der Webhalle schon geahnt hatte, dass hier nicht alles mit rechten Dingen zugeht.
„Nicht direkt“, sagte Nojun, „es ist alles durchaus real. Diese Ebene hier ist eher so etwas wie das Unterbewusstsein dieses Ortes. Ein Unterbewusstsein, dass die meisten Rilandi in ihrem Alltag verdrängen. Du hattest von Anfang an recht, Olevan, was wir hier tun, IST grausam. Vielleicht auf eine Art noch grausamer, als die Taten aus deiner Vergangenheit. Und damit meine ich nicht allein das, was wir anderen Welten oder den Scyonen antun.“
„Aber warum veranstaltet ihr dann all diese Prüfungen, um die auszusieben, die reinen Herzens oder zumindest geläutert sind? Etwa nur, um sie dann grauenhafte Dinge tun zu lassen?“, fragte ich.
„Das ist alles nur Propaganda“, erklärte Nojun, „eine schöne Erzählung, die uns allen hilft in den Schlaf zu finden und unser Leben zu genießen. Es geht nicht darum, Geläuterte zu rekrutieren, sondern darum, die zu finden, die die richtige Mischung aus Seelenstärke und Unterwürfigkeit aufweisen. Personen wie dich. Und mich.“
„Aber ich dachte, dass hier wäre so etwas wie das Jenseits. Was ist mit diesem wunderbaren Licht? Was ist mit der Webhalle und mit euren Eingriffen in den Glauben fremder Völker? Was hat es mit den eingesperrten Scyonen auf sich? Das alles muss doch irgendeinem Zweck dienen?“, sagte ich.
„Das tut es“, sagte Nojun traurig, „doch es ist sicherlich kein Guter. Wir Rilandi ernähren uns vom Glauben anderer. Den Glauben an das Gute, an das Böse, an höhere Wesen, an Errettung oder Verdammnis. Wir quetschen sie aus ihnen heraus, wie den Saft einer reifen Frucht. Das, Olevan, ist das Licht, welches du überall um dich herum wahrnimmst. Theoretisch funktioniert diese Ernährung mit jedem Wesen, das irgendwelche Hoffnungen in das Schicksal oder in seine Zukunft setzt, aber organisierte Religionen sind mit Abstand am effektivsten. Sie sind zuverlässig, liefern konstant Licht und sind stets darauf bedacht, die Zahl ihrer Anhänger zu vergrößern. Deshalb nutzen wir die Macht des Webstuhls, um die Einwohner verschiedenster Welten zu manipulieren und zum Glauben zu führen. Aber das ist nicht der einzige Vorteil von Religionen. Jedes Wesen, welches in einem Glauben an eine Religion stirbt, die wir mit erschaffen haben, kommt nach dem Tod hier nach Uranor und zwar ganz unabhängig davon, was ihm seine heiligen Bücher, Priester und Propheten vorher erzählt haben. Jene, die wir für die Prüfungen auswählen, werden zu Webern, Hirten und Suchern. Alle anderen zu Futter. Selbst wenn sie scheinbar getötet werden, verschwinden sie nicht einfach. Sie werden zu dem da.“
Erneut zeigte er auf die traurig grinsenden Gestalten an der Decke.
Ein eisiger Schauer überkam mich, als ich an Sandra und Pingo, aber auch an Korf, Garwenia und Scavinee dachte. Niemand von ihnen hatte ein solches Schicksal verdient. Eigentlich hatte überhaupt kein Geschöpft im Multiversum das verdient.
„Haben diese Wesen irgendetwas mit den Laarmaschk zu tun?“, erkundigte ich mich.
„Nein“, antwortete Nojun, „auch wenn die Laarmaschk außerhalb dieser Räume ebenfalls umherstreifen. Wir sollten ihnen besser nicht begegnen. In der Lichtwelt gehorchen sie dem Befehl des Allrichters und der Meister. Aber hier im tiefen Schatten, würden sie nicht davor zurückschrecken, uns zu übernehmen. Hier drin sollten wir jedoch halbwegs sicher sein.“
Trotz dieser Entwarnung, fühlte ich mich nun noch unwohler und exponierter an diesem Ort.
„Was für eine Rolle spielen die Scyonen?“, fragte ich, auch wenn ich nach dem, was mir Moydrur über die Fähigkeiten seines Volkes erzählt hatte, zumindest eine ungefähre Vorstellung davon hatte.
„Eine sehr wichtige“, antwortete Nojun, „sie helfen uns dabei die Impulse der Webmaschine an die Zielvölker weiterzuleiten und das Licht von ihnen einzusammeln. Die Scyonen haben ein Talent dafür, die Gedanken von anderen zu manipulieren, aber sie arbeiten von Natur aus chaotisch und wenig zielgerichtet. Sie nutzen ihre Fähigkeiten einfach nach Lust und Laune. Die Maschine fokussiert sie und bringt sie auf Linie. Ob sie wollen oder nicht.“
„Warum erzählst du mir das alles?“, fragte ich, „es klingt mir eher nicht nach Dingen, die man einfach so einem praktisch Fremden anvertraut.“
Nojun sah mich lange schweigend an. In seinem Blick zerbrach eine Wand aus milchigem Glas, die nichts mit dem Einfluss des Lichts zu tun hatte. Sogar Tränen sah ich nun in seinen Augen schimmern, „ich halte es nicht mehr aus, Olevan“, brachte Nojun schließlich stockend hervor, „all die Gräuel, die hier geschehen, sind das genaue Gegenteil von dem, wofür die Rilandi vorgeben zu stehen. Das ist eigentlich offenkundig. Aber du siehst ja, wie die anderen es weg lächeln, sich in Eskapismus flüchten oder es sich als notwendiges Übel im Dienste einer höheren Sache schönreden. Du bist seit meiner Aufnahme in die Reihe der Weber der Erste, der sich offen gegen diese Praxis ausgesprochen hat. Ich musste mich dir einfach anvertrauen.“
„Ich bin froh, dass du es getan hast“, sagte ich, „ich hatte eigentlich gehofft nach all den Fehlern aus meiner Vergangenheit endlich wieder auf der guten Seite zu stehen, aber anscheinend habe ich mich getäuscht. Doch was machen wir jetzt damit?“
„Gar nichts“, sagte Nojun niedergeschlagen, „außer uns damit zu trösten, dass wir hier nicht ganz allein sind.“
„Das ist mir zu wenig“, gab ich entschlossen zurück, als die Bilder von Mitsch wieder in meinen Kopf zurückkehrten, „ich will eine Rebellion!“
„Aber wir wissen ja gar nicht, wie viele der Rilandi überhaupt so denken wie wir und wir beide sind nicht eben weit davon entfernt von unseren Laarmaschk ersetzt zu werden. Du bist sogar noch viel näher an diesem Schicksal, als ich. Wie, beim Licht, willst du das anstellen?“, fragte Nojun ungläubig.
„Das überlege ich mir noch. Aber es wäre nicht die erste Welt, die ich verändert habe“, sagte ich mit einem messerscharfen Lächeln, welches des guten, alten Adrians würdig war, „warum nicht auch einmal zum Guten!“
Tolle Geschichte! Wann kommt Teil 7?
Danke!🖤 So bald wie möglich ;D.