Fortgeschritten – Die blendenden Himmel von Uranor 5

„Du viel durchgemacht“, schreibt Tarena in den Staub, als ich mein eigenes Schreibgerät fürs Erste niedergelegt habe.

„Nicht viel mehr als du“, erwidere ich und als sie tröstend ihren linken Chitinarm fester um mich legt und ich ihre fast menschlich aussehende Brust, unter der sich ein hartes Exoskelett verbirgt, in meinem Rücken spüre, bin ich wieder in einem seltsamen Zwischenstadium zwischen Lust, Ekel und Zuneigung gefangen. Auch wenn Tarena mir in den letzten Tagen und Wochen vertrauter geworden ist, kann ich meine Augen nach wie vor nicht gänzlich überwinden. Aber vielleicht muss ich das auch gar nicht. Wahrscheinlich ist es diese Spannung, dieser Widerstreit, der unsere Beziehung erst interessant macht. Mal ehrlich: Nach all meinen Erfahrungen glaube ich nicht mehr, dass mich eine gewöhnliche Beziehung zu einem anderen Menschen noch erfüllen kann.

„Doch“, widerspricht sie mir, „Leben nicht einfach. Streit mit Schwarm gelegentlich. Einsamkeit in gewisser Weise. Doch bis auf … Tod von Kindern in Ordnung. Immer Nahrung. Immer Schutz. Keine Katastrophen.“

„Du hattest Streit mit deinem Schwarm. Warum?“, will ich wissen.

„Differenzen über Jagdtechniken. Viele denken in Schubladen. Traditionen. Wollen nichts Neues ausprobieren. Trotz Erfolg. Schlechte Dinge werden gut, weil alte schlechte Dinge. Vor allem aber nicht wollen Paarung. Männer oft dumm bei uns. Einfach. Langweilig. Gewöhnlich. Hab sie zurückgewiesen. Hab immer gewollt etwas anderes. Wusste nur nicht was. Bis jetzt“, erwidert Tarena und ich werde von solch einer heftigen Pheromonwolke eingehüllt, dass mir der Katalog fast aus der Hand fällt und mein Herz vor Erregung zu Rasen anfängt. Und das ist definitiv nicht die einzige Reaktion meines Körpers.

Gleichzeitig erkenne ich, dass ich mich nicht für meine Xenophilie zu schämen brauche, denn offenbar ist Tarena ja genauso davon erfüllt wie ich. Hey, aus ihrer Perspektive verkehrt sie immerhin mit einem exotischen, grotesken Affenhumanoiden. Ein durchaus interessanter und irgendwie auch amüsanter Gedanke, auch wenn er eigentlich nicht ganz korrekt ist. Denn ihre Rasse weist ja eindeutig menschliche Merkmale auf, was nüchtern betrachtet darauf hinweist, dass sich auf irgendeine Weise unsere Gene in die ihren gemischt haben. Zu diesem Thema würde ich sie auch noch befragen müssen, aber fürs Erste fegen ihre aufregenden Duftstoffe und ihre Klaue, die entschlossen, aber vorsichtig zwischen meine Beine greift, diese Überlegungen mühelos hinweg.

„Willst du neue Kinder machen?“, frage ich sie rau, während ich mich zu ihr umdrehe und ihr in ihre bezaubernd bizarren Facettenaugen sehe.

„Nein“, antwortet sie traurig, „Geht nur einmal in Leben. Aber schöne Momente machen. Das geht.“

Sie gibt ihr klickendes, zirpendes Lachen von sich, bis ich ihren starren Mund mit einem Kuss verschließe, ich ihre – wie ich inzwischen weiß – äußerst empfindlichen Mandibeln mit der Zunge streichele und wir uns kurz darauf so leidenschaftlich lieben, wie nur selten zuvor.

~o~

Es ist dann auch ein Klicken, welches mich aus meinen erschöpften, aber seligen Schlummer weckt, als die Sonne bereits erneut herabgesunken ist. Doch dieses Klicken klingt ganz und gar nicht fröhlich und es kommt auch nicht von Tarena.

Ich schalte panisch meine Taschenlampe ein und erkenne vier Mitglieder von Tarenas Volk – zwei weibliche und zwei männliche – deren halbinsektoide Körper im schwachen Sternenlicht drohend über uns aufragen, als während sie die hochherrschaftlichen Richter der Hölle selbst. Bis auf einen bärtigen Mann, der Tarena schon einmal Käferfleisch an ihr Krankenlager gebracht hat, kommen sie mir nicht bekannt vor. Ich greife reflexartig nach meiner Peitsche, die ich vorsichtshalber vor dem Schlafen neben mich gelegt habe, denn natürlich rechne ich mit einem Angriff der Neuankömmlinge. Doch auch wenn die Pheromone, die von den Vieren ausgehen, so sehr nach Wut und Empörung riechen, dass sie jegliche gute Laune aus mir vertreiben, greifen sie uns nicht an. Stattdessen klopft eine der Frauen – eine sommersprossige Rothaarige – der schlafenden Tarena vorsichtig gegen die Stirn, die daraufhin sofort aufschreckt und wütende Klick- und Zirplaute von sich gibt.

Die vier anderen Käfermenschen antworten darauf und schnell ergibt sich eine Art Streitgespräch zwischen ihnen und Tarena. Dabei fällt mir auf, dass sich die Rothaarige dabei noch am ruhigsten verhält und auch ihr Geruch am wenigsten streng ist. Als Tarena bemerkt, dass ich recht ratlos neben ihr stehe, beeilt sie sich, sich hinunterzubeugen und ein paar hastige, erklärende Worte in den Staub zu kritzeln, auch wenn ihre Artgenossen sie dabei skeptisch beäugen.

„Sie sind wütend, weil ich den Schwarm verlassen und weil ich meinen Nachwuchs getötet habe“, schreibt sie.

„Wollen Sie dich oder mich dafür töten?“, kritzele ich.

Wieder tauscht Tarena aufgeregtes Zirpen mit den Besuchern aus. Entweder versucht sie eine Antwort auf meine Frage zu finden oder sie erklärt den anderen, warum sie Wörter in den Sand ritzt oder was geschriebene Wörter überhaupt sind.

„Nein“, schreibt sie schließlich, „sind wütend. Sehr wütend. Aber sind Freunde. Kenne sehr lange. Sie mir nichts tun. Dich nicht mögen, aber auch nicht schaden. Wegen mir.“

Das ist immerhin beruhigend. „Was wollen sie dann von uns?“, frage ich, „wollen sie dich zurück in den Schwarm holen?“

Tarena blickt mich nun direkt an und in ihren Augen lese ich tiefe Verunsicherung.

„Nein“, schreibt Tarena, „sie wollen uns warnen. Schwarm hat uns zum Tode verurteilt. Kommt in drei Tagen. Mit Tausenden. Wird uns töten. Wenn noch hier.“

~o~

„Hat er dich also auch noch bekommen“, sagte eine gehässig lachende, rauchige, weibliche Stimme zu Sandra, als sie sich in dem weißen, schmucklosen Raum materialisierte, den es eigentlich gar nicht gab. Die Besitzerin dieser Stimme saß gegenüber von ihr auf dem gleichen weißen Ledersessel wie sie.

Sie hatte lange rote Haare, feingliedrige Hände mit grün lackierten Fingernägeln und trug ein schwarzes, geschlitztes Abendkleid, das ihre schlanken, aber kräftigen Beine erkennen ließ, die sie lässig übereinander geschlagen hatte. In ihrer rechten Hand ruhte ein langstieliges Glas, in der sich irgendein an Sekt erinnerndes Getränk befand. Auf den ersten Blick hätte Sandra diese Frau beinah nicht wiedererkannt.

Aber da war auch die rote Maserung ihrer blassen, leicht durchscheinenden Haut, ihre kleine, aber muskulöse Statur, ihre lidlosen, runden Augen und der zwar hier eher zynische als resignierte, aber dennoch traurige Ausdruck in ihrem Gesicht. Schaufel, dachte Sandra.

Ansonsten gab es in dem virtuellen Raum nicht viel zu sehen. Lediglich das Symbol des Machtkomplexes der kalten Hand, jene hellgraue Hand, deren Finger sich um einen Planeten schließen, prangte an der Wand zu ihrer Linken. Zudem gab es an der gegenüberliegenden Wand einen silbernen Kasten mit dem gleichen Symbol, der ein wenig an einen Getränkeautomaten erinnerte und daneben eine Statue(!) von Kollom Nehmer höchstpersönlich. Zwischen Schaufel und ihr stand ein kleiner, runden Tisch aus dunklem Tropenholz und in der Wand hinter Schaufel gab es eine stählerne Tür.

„Schaufel?“, fragte Sandra, um sich zu versichern, dass ihre Vermutung zutraf.

Schaufel sah sie an, als hätte Sandra versucht, ihr Gesicht mit Scheiße einzureiben.

„Mein Name ist Nanita Geber. Zumindest hier“, antwortete sie säuerlich.

„Tut mir leid“, sagte Sandra entschuldigend, „das wusste ich nicht. Aber wo genau ist ‚hier‘ eigentlich? Sind wir in …“

„In Kolloms Manifestor. So ist es, Schätzchen“, sagte Nanita und nahm einen Schluck von ihrem Getränk, „scheinst ja eine ganz Schlaue zu sein.“

„Was soll eigentlich diese Feindseligkeit?“, fragte Sandra, der die gehässige Art der Frau ziemlich auf die Nerven ging, „immerhin stecken wir doch offensichtlich in der gleichen scheiß Situation.“

„Du bist weder meine Vorgesetzte, noch hast du Geld, um mich dafür zu bezahlen. Warum also sollte ich freundlich zu dir sein?“, fragte Nanita diesmal weniger gehässig, als viel mehr verwundert.

„Und ich hab tatsächlich Mitleid mit dir gehabt“, seufzte Sandra.

„Mitleid?“, fragte Nanita, „was ist das?“

„Ist das ein Scherz?“, fragte Sandra skeptisch. Natürlich hatte sie als Sahkscha selbst auch schon behauptet, dass sie kein Mitleid kennen würde. Aber das war natürlich stets nur eine Pose gewesen. Nanita wirkte hingegen ernsthaft verwirrt.

„Nein“, sagte Nanita, „eine ernstgemeinte Frage. Ich wäre bereit dir … sagen wir … zehn Dominanten für die Antwort zu zahlen.“

„Einverstanden“, sagte Sandra, auch wenn sie Nanitas Verhalten für mehr als merkwürdig hielt, „also, Mitleid bedeutet, dass du dich in die Lage einer anderen Person versetzt und ihren körperlichen oder emotionalen Schmerz nachempfindest. Im Idealfall führt es dazu, dass du dieser Person helfen möchtest oder es auch tust.“

„Ohne Bezahlung?“, fragte Nanita verblüfft.

„Genau darum geht es, ja“, bestätigte Sandra.

„Das ist lächerlich“, stellte Nanita fest.

„Vielleicht“, sagte Sandra, „aber das ist das Konzept.“

Nanita nickte und Sandra bemerkte, dass es an ihrem rechten Arm vibrierte. Sie blickte hinunter und sah, dass sich auf ihrem Arm nun eine Anzeige befand – ähnlich zu der, die auch Kollom besaß -, die von Null auf Zehn hoch zählte.

„Hast du in deinem Leben nie den Wunsch verspürt, für einen anderen einzutreten. Nicht mal für Elternteile oder Geschwister?“, wollte Sandra wissen, die das schwer nachvollziehen konnte. Eigentlich war sie nämlich ein sehr nettes Mädchen gewesen, bis ihre Eltern irgendwann angefangen hatten seelisch auf sie einzuprügeln.

„Das ist für mich eine Premium-Information“, erwiderte Nanita, „dafür verlange ich eine Bezahlung.“

„Reichen zehn Dominanten?“, fragte Sandra, wobei sie genervt mit den Augen rollte.

„Auf keinen Fall“, antwortete Nanita lachend, „ich will mindestens hundert.“

„Das ist vollkommen Banane“, sagte Sandra, „Auf diese Weise lässt sich doch kein Gespräch führen.“

„Niemand zwingt dich, ein Gespräch zu führen“, antwortete Nanita.

Das stimmte, dachte Sandra. Und es stimmte auch wieder nicht, denn wenn sie nicht bald ein paar Antworten auf ihre Fragen bekam oder mit irgendjemandem vernünftig reden konnte, würde sie hier drin durchdrehen.

„Hör mal zu, Nanita“, sagte Sandra, „laut Kollom soll ich als seine Angestellte bald 530.000 von diesen Dominanten bekommen. Kann ich dir nicht einfach versprechen, dir dein Geld später zu geben? Und falls du dich darauf einlässt: Können wir dann gleich eine Flatrate vereinbaren, weil ich verdammt nochmal keinen Bock habe, für jede beschissene Frage über den Preis zu verhandeln?“

„Du willst einen Risikokredit?“, fragte Nanita.

Sandra nickte, „wenn du es so nennen willst.“

„In Ordnung“, sagte Nanita, „Für 30.000 Dominanten und drei kleine Freibriefe beantworte ich dir alle Fragen, die dich beschäftigen und auf die ich eine Antwort kenne.“

„Freibriefe?“, fragte Sandra und befürchtete, dass Nanita auch für diese Frage gleich wieder nach Geld fragen würde. Zum Glück war dem nicht so.

„Freibriefe verpflichten dich, mir unentgeltlich einen beliebigen Gefallen zu erweisen. Kleine Freibriefe schließen Mord, Selbstmord, die Überlassung von Körperteilen und einseitige Verträge mit einer Dauer von mehr als einem Jahr aus. Für große Freibriefe gibt es keinerlei Beschränkungen“, erklärte Nanita.

„No way!“, sagte Sandra, „ich werde mich doch nicht für ein paar Antworten zu deiner Sklavin machen. Noch dazu, wo ich gerade erst Kolloms beschissenen Vertrag unterschrieben habe.“

„In Ordnung“, sagte Nanita schulterzuckend und auch, wenn ihr eine gewisse Enttäuschung durchaus anzumerken war, verfiel sie in Schweigen.

Dann ist es eben so, dachte Sandra und beschloss, ebenfalls die Eingeschnappte zu spielen und sah Nanita lediglich schweigend in ihre runden Augen. Nach einigen Minuten jedoch, begann sie sich nicht nur zu langweilen, sondern auch zunehmend nervös zu werden. Sie war von Kollom in einen verdammten digitalen Käfig gelockt wurden und nur, weil das hier aussah wie eine Mischung aus dem Wartezimmer eines Arztes und einem Büroraum und nicht wie ein Gefängnis, bedeutete das nicht, dass es keines war. Sie hasste es, eine Gefangene zu sein und sie hasste das sture, kleingeistige Gehabe der Frau, die ihr gegenübersaß und überlegen an ihrem Gesöff nippte. Am liebsten hätte Sandra irgendwo gegen getreten, aber sie wusste, dass ihr das wenig bringen würde und deshalb ging sie einem anderen Impuls nach, stand auf und bewegte sich auf den Getränkeautomaten zu, aus dem sich Nanita wahrscheinlich dieses ominöse Gebräu besorgt hatte.

Sie hatte keine Ahnung, wie das Gerät zu bedienen war, zumal sie zwar nicht aus der Steinzeit, aber auch nicht aus dem digitalen Zeitalter stammte und sich auch bei den Rorak nie großartig für technische Details interessiert hatte. Sie drückte ein wenig auf dem Gerät herum, wobei sie die amüsierten Blicke von Nanita auf sich spürte, fand aber keinen Knopf oder dergleichen, mit dem sie den Automaten hätte bedienen können. Sie hätte Nanita dazu befragen können, aber dafür war sie zu stolz und sie vermutete ohnehin, dass diese Frage sie Geld kosten würde. Allerdings war Sandra auch nicht dumm. Schließlich entdeckte sie eine rechteckige, etwas hellere Fläche, oberhalb der vermutlichen Getränkeausgabe, die sich leicht vom Rest des Materials abhob und hielt die Anzeige an ihrem Arm dagegen.

Das schien zu funktionieren, wenn auch nicht so, wie sie es sich erhoffte. „Budget unzureichend. Benötige mehr Dominanten.“

„Ein Thought-Shot kostet hier fünfzig Dominanten, Schätzchen“, kommentierte Nanita lachend.

Sandra schnaufte genervt und begab sich frustriert zurück auf ihren Stuhl, ohne auf Nanitas oberlehrerhafte Bemerkung zu reagieren und beschäftigte sich damit die Wand anzustarren, wobei sie sorgsam darauf achtete, weder Kolloms bescheuerte Statue, noch Schaufel – wie sie Nanita nun wieder als kleine Genugtuung für sich nannte – in ihrem Blickfeld zu haben.

Minuten, vielleicht auch Stunden voller hilfloser Wut und Langeweile vergingen und letztlich entschied Sandra, sich fürs Erste mit ihrer Situation abzufinden. Immerhin konnte Kollom sie nicht ewig hier drin festhalten. Dass dieser schmierige Hütchenspieler sie zur Gefangenen in seinem Koffer gemacht hatte, war eine wirklich miese Nummer. Aber er würde sie nach wie vor brauchen, um in die Festung zu gelangen.

Während die Zeit in dem virtuellen Raum ereignislos und zäh verstrich, fragte sie sich aber immer mehr, ob das auch stimmte. Zum einen wusste sie nicht, ob sein Ziel wirklich die Festung war, oder ob er sie alle in irgendein geheimes Forschungslabor oder wer weiß wohin verschleppen wollte. Zum anderen waren Karmon und selbst Pingo um einiges nützlicher für Kollom als sie. Zumindest hier in Uranor war das so. Das musste sich Sandra leider eingestehen. Selbst wenn er nicht gelogen hatte, konnte es also gut sein, dass er sie erst in seiner Heimat wieder aus dem Koffer entließ und direkt an ihren Schreibtisch verfrachtete. Dummerweise hatte sie keinerlei Lust darauf diesen mysteriösen Job anzutreten. Sie hatte eindeutig nichts gegen Führungspositionen einzuwenden, aber dabei einem so zwielichtigen Mann wie Kollom unterstellt zu sein, gefiel ihr überhaupt nicht. Sie musste ihn vorher loswerden oder sich anderweitig von ihrem Vertrag und ganz besonders aus diesem verfluchten Koffer befreien. Doch wenn sie das schaffen wollte, brauchte sie Informationen und die hatte hier dummerweise allein Schaufel. Aber war es das Wert, wenn sie sich dafür von Schaufel, beziehungsweise Nanita abhängig machte? Womöglich nicht, doch immerhin besaß Schaufel keinen Koffer, in den sie sie einsperren konnte.

„Zwei kleine Freibriefe“, bot Sandra widerwillig an, „und fünfzigtausend Dominanten, sobald wir in Deovan sind.“

„Einverstanden“, sagte Nanita grinsend, „ich habe mich schon gewundert, dass du mir kein Gegenangebot unterbreitet hast.“

„Muss ich keinen Vertrag unterschreiben?“, fragte Sandra.

„Nein“, erklärte Nanita, „wir sind hier in einem digitalen Zustand. Jede mündlich geäußerte Vereinbarung wird unmittelbar in deine DNA geschrieben. Deshalb brauchst du gar nicht erst daran denken, sie zu brechen. Andernfalls wird das üble Konsequenzen für dich haben. Der einzige Ausweg aus unserer Vereinbarung ist der Tod oder eine Auflösung in beiderseitigem Einverständnis.“

Na wunderbar, dachte Sandra. Sie bekam so langsam das Gefühl, sich im Netz einer Spinne zu befinden und sich mit jeder Bewegung noch mehr klebrige Fäden um ihren Körper zu schlingen.

„Wie lauten denn nun deine Forderungen?“, fragte Sandra säuerlich, „ich meine wegen dieser Freibriefe.“

„Das erfährst du, wenn ich deine Dienste benötige“, sagte Nanita grinsend, „fürs Erste darfst du mir deine Fragen stellen.“

Oh ja, das werde ich, dachte Sandra, die sich nicht damit abfinden würde, dass es keinen Ausweg aus diesem Koffer gab.

„Was befindet sich hinter dieser Tür?“, fragte sie.

„Ein Gang, der zu anderen Räumen mit weiteren Angestellten führt“, antwortete Nanita.

„Es gibt noch mehr als Angestellte uns?“, wunderte sich Sandra, „wie viele Sklaven hat der Pisser denn in seinem Koffer?“

„Genau weiß ich das nicht“, antwortete Nanita, „aber von etwa zwanzig weiß ich. Ich kann es allerdings nicht exakt sagen, da sie gelegentlich transferiert werden.“

„Er verkauft sie?“, fragte Sandra, „Etwa, wenn andere Tyrannen gute Angebote machen?“

„Manchmal. Häufig aber auch, wenn er bessere Leute findet, oder wenn ihn seine Angestellten enttäuschen. Wenn es keine Angebote von anderen Nehmern gibt, landen viele von den Minderwertigen auch in den Endmärkten“, antworte Nanita.

„Was sind die Endmärkte?“, hakte Sandra nach.

„Marktplätze in Deovan. Sie dienen der Letztverwertung von Individuen. Sie treten dort zu Unterhaltungszwecken physisch oder geistig gegeneinander an, bis zur völligen Zerstörung oder bis zum Verlust ihrer Zurechnungsfähigkeit. Oder ihre nützlichen Eigenschaften werden zu neuen Wesen kombiniert. Auch Verbindungen mit Tieren und Pflanzen oder sogar Gegenständen sind nicht selten. Die Endmärkte sind eine beliebte Quelle für den Erwerb von besonderen Haustieren und Einrichtungselementen“, sagte Nanita.

Deovan scheint ein traumhafter Ort zu sein, dachte Sandra sarkastisch.

„Wer Kollom enttäuscht, kann also als Pflanzenhybrid oder beseeltes Kuscheltier enden“, fasste Sandra zusammen und war sich dabei nun wirklich sicher, hier schleunigst raus zu müssen. Um jeden Preis.

„Zum Beispiel“, erwiderte Nanita, „Wir treiben auch Handel mit anderen Völkern wie etwa den Andrin, den Nuringa oder den Xung. Falls dort jemand Interesse an billiger Arbeitskraft hat, kann er hier zumeist günstig fündig werden. Gerade, wenn es um unveredeltes Material geht. Höhere Angestellte werden jedoch in den meisten Fällen erst einmal abgestuft, bevor man sie dort hinbringt“, erwiderte Nanita.

Sandra fiel auf, dass im letzten Satz, den Nanita gesprochen hatte, anders als in ihren vorherigen, nüchternen Erklärungen eine gewisse Emotionalität lag. Vielleicht sogar Zorn?

„Ist dir das ebenfalls passiert?“, fragte Sandra geradeheraus, „wurdest du herabgestuft?“

Nanita funkelte Sandra zugleich wütend und beschämt an. Offenbar ein Treffer, dachte sie.

„Ja“, antwortete sie und trotz ihres ursprünglichen Widerwillens merkte man, dass es ihr irgendwie guttat darüber zu sprechen, „ich war einst Kolloms Stellvertreterin. Genau wie du jetzt. Zuvor war ich die Hochhändlerin der silbernen Schwingen. Wir stellten Drohnen, Raumschiffe, Flugzeuge, schwebende Festungen und dergleichen her. Als mein Konzern jedoch in Liquiditätsschwierigkeiten geriet, nahm ich Kolloms Angebot für ihn zu arbeiten, an. Eine Zeitlang lief es gut, aber irgendwann war er gelangweilt von mir.“

„Du hast keinen Fehler gemacht?“, fragte Sandra.

„Nein“, antworte Nanita, „Kollom ist exzentrisch. Die meisten Hochhändler – wie auch ich damals – kümmern sich nur um die Bilanzen. Wenn die nicht passen, fliegst du ohne Wenn und aber. Aber wenn sie stimmen, bist du sicher. Meine Bilanzen waren tadellos. Aber bei ihm reicht es schon aus, wenn du ihm nicht mehr interessant genug bist. Er ist erfahrungssüchtig, könnte man sagen. Er sucht nach Abenteuern und extremen Erlebnissen und nicht allein nach Macht und Besitz, wie jede normale Person. An deiner Stelle würde ich gut aufpassen, was du unter seiner Führung sagst oder tust.“

Nicht nur ein Mistkerl, sondern auch noch ein unberechenbarer Mistkerl, dachte Sandra niedergeschlagen.

„Du schuldest mir noch eine Antwort auf eine andere Frage“, sagte Sandra, auch um sich etwas davon abzulenken, was diese Neuigkeiten für ihr eigenes Schicksal bedeuteten.

Nanita nickte. „Wir Deova tun nichts ohne Bezahlung. Geschwister hatte ich keine. Meine Eltern konnten sich mehr als diese eine Investition nicht leisten. Unser Geschäftsverhältnis war dabei nicht schlecht. Sie investierten in meine Bildung und ich sorgte vertragsgerecht für den entsprechenden Return on Investment, indem ich im Haushalt half, einfache Arbeiten für sie erledigte und ihnen später den vereinbarten Anteil an meinem Gehalt zurückzahlte. Inzwischen bin ich ihnen gegenüber schuldenfrei und sie sind zufrieden mit der Rendite, die ihnen meine Zeugung erbracht hat. Dabei kann ich froh sein, dass sie einen nachhaltigen Ansatz gewählt und den Exit nicht bereit nach meiner Geburt durchgeführt haben. Viele Eltern verkaufen ihre Kinder direkt nach der Zeugung, wenn ein entsprechendes Angebot vorliegt oder beuten ihre Arbeitskraft und ihre körperlichen Ressourcen weniger ressourcenschonend aus, was meist zu einem frühen Tod führt.“

„Und ich dachte, meine Eltern wären lieblos“, bemerkte Sandra.

Nanita schwieg. Wahrscheinlich, weil es keine Frage war oder weil sie nicht wusste, was sie darauf erwidern sollte.

„Hast du gar kein Bedürfnis nach Nähe? Nach Zuwendung? Nach Sicherheit? Nach Sex?“, fragte Sandra.

„Natürlich“, antwortete Nanita, „genau wie nach Ruhe, Freizeit, erlesener Nahrung, Status und Macht. Aber diese Dinge sind teuer. Und ich verfüge momentan nicht über die Mittel, sie mir zu leisten. Kollom zahlt miserabel und dein Geld ist ja noch nicht auf meinem Konto.“

Sandra warf einen Blick auf das Display an Nanitas Arm, welches 1.250 Dominanten auswies. Soweit sie das beurteilen konnte, war das tatsächlich nicht viel, wenn auch deutlich mehr, als sie gerade besaß.

„Es muss ein erbärmliches Leben sein, das ihr führt, dort in Deovan“, sagte Sandra und überging dabei großzügigerweise, wie mies es in ihrem eigenen Leben aussah, „zumindest wenn man nicht gerade Kollom Nehmer ist.“

„Es ist die totale Freiheit!“, schoss Nanita reflexhaft, so als hätte man ihre religiösen Gefühle verletzt und fügte dann ruhiger hinzu, „es läuft nur gerade nicht sonderlich gut für mich.“

Sandra erkannte, dass sie mit ideologischen Diskussionen nicht weiterkam. Also versuchte sie etwas anderes.

„Hast du keine Lust, dich an Kollom zu rächen?“, fragte sie.

Nanitas Augen funkelten vor Zorn. Aber dieser Zorn galt nicht Sandra.

„Natürlich“, sagte sie, „nichts täte ich lieber. Aber Vertrag ist Vertrag.“

„Verträge kann man brechen“, sagte Sandra und lächelte verschmitzt, „andernfalls wäre es keine totale Freiheit.“

Bei diesen Worten zuckte Nanita zusammen, so als hätte Sandra etwas Verbotenes gesagt. Aber der Zorn in ihren Augen schwand nicht.

„Was schlägst du vor?“, fragte Nanita neugierig.

„Dass wir zusammenarbeiten“, erwiderte Sandra, „Quasi als Tauschgeschäft. Du hilfst mir und ich helfe dir. Zunächst müssen wir hier raus und dann irgendeine Möglichkeit finden, Kollom aus dem Weg zu räumen.“

„Dazu wäre ich grundsätzlich bereit. Aber wir können ihn nicht verletzen“, sagte Nanita, „wer einmal in seinem Koffer war, ist dazu nicht mehr in der Lage, selbst wenn er wieder physische Gestalt annimmt. Jedenfalls nicht, solange sein Vertrag dauert oder solange die entsprechende Sperre aktiv ist, für die nur Kollom die Codes kennt.“

„Dafür lässt sich eine Lösung finden“, antwortete Sandra, „meine Gefährten waren nicht in diesem Koffer hier und zumindest Karmon besitzt eine Waffe, die Kollom verletzen könnte. Er mag nicht mein bester Freund sein, aber ich halte es dennoch nicht für ausgeschlossen, ihn zu überreden uns zu helfen. Immerhin hatten wir quasi schon mal etwas miteinander, auch wenn mir dieser Gedanke nicht gerade behagt.“

„Leider kommen wir nicht einfach so aus dem Manifestor raus“, wandte Nanita ein, „jedenfalls nicht, bevor Kollom unsere Dienste benötigt.“

„Du hattest andere Angestellte erwähnt“, gab Sandra, zu bedenken. Sie hatte wenig Lust tatenlos darauf zu warten, dass Kollom sie als Schoßhündchen zu sich rief, „kann uns von denen irgendwer hier rausbringen?“

Nanita schien kurz nachzudenken, „Theoretisch. Arnin hätte vielleicht die Möglichkeit dazu. Er ist der Administrator des Manifestors. Aber ich glaube nicht, dass er uns helfen wird. Wir haben ihm nichts anzubieten und Kollom würde ihn sicher feuern, wenn er uns hier rausholen würde. Und mich wahrscheinlich auch. Gut möglich, dass ich dann auf dem Endmarkt lande. Wenn ich es mir recht überlege, halte ich das für keine allzu gute Idee.“

„Lass mich zumindest mit ihm reden“, verlangte Sandra.

„In Ordnung“, sagte Nanita, „für weitere 10.000 Dominanten.“

„Herrgott, von mir aus“, sagte Sandra genervt.

Nach dieser Einwilligung stand Nanita auf und öffnete die Tür, hinter der sich ein hell erleuchteter, weiß gestrichener Flur mit diversen Türen zeigte, „Arnins Büro befindet sich hinter der dritten Tür von Links. Aber du machst das hier auf eigenes Risiko. Was mich betrifft, so habe ich nichts damit zu tun, außer wenn du Erfolg hast.“

„Ich werde Erfolg haben“, sagte Sandra und trat durch die Tür.

~o~

„Wo ist Sandra?“, fragte die dunkle Stimme von Karmon, nachdem sich der Koloss erhoben hatte und wieder ganz offiziell bei Bewusstsein war. Er hatte dabei extra abgewartet, bis Kollom seine Korrespondenz beendet hatte. Pingo hingegen war noch nicht wieder aufgewacht.

„Sie befindet sich sicher und bequem in meinem Manifestor“, sagte Kollom und tippte bestätigend auf das Gerät, „ich habe sie dort verwahrt, um ihr Leben zu retten.“

„Dafür danke ich Ihnen“, sagte Karmon, der natürlich um Kolloms wahre Beweggründe wusste, „aber nun ist sie außer Gefahr. Sie können sie also gerne wieder befreien.“

„Das würde ich liebend gerne tun“, sagte Kollom glatt, „Leider ist sie aber noch nicht außer Gefahr. Der Malmer ist noch immer irgendwo in unserer Nähe.“

„Wirklich?“, wollte Karmon wissen, „warum höre ich ihn dann nicht?“

„Er kann sehr leise sein, wenn er das will“, erklärte Kollom, „aber ich habe Wege, ihn zu orten.“

Karmon widersprach nicht, sondern tat so, als würde er sich von Kolloms dürrer Argumentation einlullen lassen. Der Händler mochte ihn für groß, stark und dumm halten. Sollte das ruhig so bleiben.

„Was ist mit Pingo“, fragte Karmon, „sollten wir ihn nicht aufwecken?“

Kollom nickte, „natürlich. Ich habe nur darauf gewartet, dass Sie erwachen. Vorher hätten wir unseren Weg ohnehin nicht fortsetzen können. Ich bin übrigens froh, dass Sie wohlauf sind.“

„So leicht bin ich nicht zu töten“, sagte Karmon.

„Das ist gut“, erwiderte Kollom, „genau darauf zähle ich.“

Dann ging der Hochhändler auf den erstarrten Pingo zu und klopfte vorsichtig gegen dessen Stirn. „Sie können nun erwachen, Herr Dellagrahn. Die Luft ist rein. Wortwörtlich.“

Der Steingeweihte schlug die Augen auf und nahm einen tiefen Atemzug von der verhältnismäßig frischen Luft, bevor er dieselbe Frage stellte wie zuvor Karmon: „Wo ist Sandra?“

„In Sicherheit“, erwiderte Kollom und tippte auf seinen Manifestor.

„Für Sie ist es hier also nicht sicher genug, aber für uns schon? Entweder sind sie der übervorsichtigste Gentleman, den ich kenne oder ein ziemlicher Chauvinist“, bemerkte Pingo spitz.

„Weder noch“, antwortete Kollom, „ich bin lediglich Realist. Karmon ist eine laufende Waffe und sie Herr Dellagrahn sind praktisch aus Stein, wenn Sie mir diese Bemerkung erlauben, während ich über diverse Hilfsmittel verfüge. Sandra hingegen mag viele Talente besitzen, aber keines davon wäre gegen eine Kreatur wie den Malmer von Vorteil.“

„So logisch diese Worte waren, so wenig bin ich überzeugt. Mir scheint, Sie wollen sie verwahren, bis sie sich Ihrem Willen beugt“, dichtete Pingo.

„Glauben Sie, was sie wollen“, sagte Kollom hart, „wir drei haben eine Vereinbarung und deshalb sollten wir hier keine Zeit verschwenden.“

„Ist dies der Weg, der uns zur Festung führt?“, fragte Karmon und zeigte auf den säulengesäumten Gang der sich in ihre Blickrichtung erstreckte.

„So ist es“, bestätigte Kollom, „alles, was wir tun müssen, ist ihm zu folgen und darauf zu hoffen, dass wir schneller sind als der Malmer. Folgen Sie mir.“

Kollom setzte sich in Bewegung, ohne sich dabei umzudrehen und Pingo folgte ihm. Genau wie auch Karmon, jedoch ohne den Blick von dem silbernen Aktenkoffer zu nehmen, in dem sich die Frau befand, die ihm fast so wichtig war wie Adrian.

~o~

„Ihr wisst alle, was meine Anwesenheit bedeutet“, sagte die Stimme des Glasmannes, der die Tür zu unserem Gefängnis geöffnet hatte. Zumindest vermutete ich anhand seiner Stimme, dass es sich um einen Glasmann handelte. Sehen konnte ich ihn nicht.

„Nein, das wissen wir nicht alle“, sagte ich, „woher auch? Nicht jeder von uns weilt schon so lange an diesem schönen Ort.“

„Ach. Der Massenmörder“, sagte der Glasmann, „Ich habe von deinen dunklen Taten gehört. Jeder innerhalb der Festung hat das und wir alle sind tief betrübt über so viel Grausamkeit. Mir ist es ein Rätsel, wie Onyra dich einlassen konnte, aber ich denke sie wird es inzwischen selbst bereuen. Dennoch sollst auch du dieselben Chancen bekommen wie alle anderen. Deshalb hier nochmal die Regeln für all euch Verlorene: Ich werde diesen Raum gleich wieder verlassen, jedoch bleibt die Tür für einige Minuten offen. In dieser Zeit bekommt ihr Gelegenheit, diesen Kerker zu verlassen. Jeder, dem das gelingt, erhält eine zweite Chance und darf beim Allrichter vorsprechen. Alle anderen bleiben hier.“

„Sehr komische Art, Vergebung zu erlangen, wenn man dem rücksichtslosesten Killer die Freiheit schenkt“, kommentierte ich, aber der Mann reagierte nicht auf mich, sondern wandte sich bereits zum Gehen, wie ich seinen leiser werdenden Schritten entnehmen konnte.

„Halt dich bereit, Kleiner“, sagte Korf aus der anderen Zelle und ich konnte die freudige Erregung in seiner Stimme hören. Der Rorak freute sich auf das Gemetzel, was mich eigentlich nicht wundern sollte.

Bereits einen Augenblick später öffneten sich alle Zellentüren und die Häftlinge, die ich daraufhin erblickte, entsprachen im Wesentlichen dem, was ich erwartet hatte. Bittere, brutale, vernarbte Gesichter. Manchmal erfüllt von purer Mordlust, manchmal von an Wahnsinn grenzender Verzweiflung und oft genug von einer maskenhaften Kälte. Die Gesichter gehörten Rorak, Andrin, Kannibalen aus Dank Qua, aber auch Echsenwesen, unbekannten, dicklichen Gestalten mit weißlicher Haut oder sogar Pilzmenschen.

Am meisten Sorgen bereitete mir jedoch eine schlanke Gestalt, deren Körper und Gesicht ich nicht erkennen konnte, da sie hinter einem grauen Kapuzenmantel verborgen waren und dessen Kapuze tief in ihr Gesicht gezogen war. Irgendetwas rief dieser Gestalt in mir wach, auch wenn ich nicht den Finger darauf legen konnte. Der Anblick der teils martialisch in Rüstungen oder Kampfanzüge gehüllten – wenn auch unbewaffneten – Gefangenen, ängstigte mich hingegen deutlich weniger. Immerhin zeigten sie ihre Drohpotenziale ganz offen und hatten wenig Mysteriöses an sich. Selbst wenn ich ohne Karmon und den Schattenstrahler keine Kampfmaschine mehr war und ich meine Glieder fast nicht mehr spürte, sollte ich mit Korf an meiner Seite ganz gute Chancen haben, gegen sie zu bestehen.

Aus den Augenwinkeln bemerkte ich außerdem, dass sich an der Wand zwischen den beiden Zellenblöcken eine digitale Zeitanzeige manifestiert hatte, die von Zehn Minuten abwärts zählte und gerade auf neun Minuten und achtundfünfzig Sekunden stand.

Das alles nahm ich binnen eines Sekundenbruchteils wahr, bevor mich die geradezu hypnotische Faszination des in die Freiheit führenden Ganges in ihren Bann zog. Ich stürmte los, auch wenn sich jeder Schritt aufgrund meiner verringerten Empfindungsfähigkeit mehr als nur seltsam anfühlte, doch Korf packte mich an der Schulter und hielt mich zurück.

„Warte, Kleiner“, sagte er, als ich in die schalkhaft-rauflustigen Augen innerhalb seines eingekerbten Schädels blickte und irgendwie froh war, dass ich mir seine Anwesenheit offensichtlich nicht nur eingebildet hatte, „lass sie sich erst mal ein wenig bearbeiten. Dann haben wir leichteres Spiel.“

Ich gehorchte und stellte danach schnell fest, dass Korfs Ratschlag gar nicht so dumm gewesen war. Schon nach kurzer Zeit versuchten sich die meisten Gefangenen sich gegenseitig den Schädel einzuschlagen, während sie auf den engen Gang zustrebten, der zum Ausgang führte. Schreie, wütende Verwünschungen und die Geräusche von brechenden Knochen und strauchelnden oder fallenden Körpern schufen eine Geräuschkulisse die irgendwo zwischen Kneipenschlägerei und Gladiatorenkampf rangierte. Doch nicht jeder der Häftlinge war so dumm sich im Handgemenge aufzureiben. Zwei Andrin, eine Frau und ein Mann, beide in staubigen, schwarzen Klamotten und mit langen, blonden Zöpfen, sowie die mysteriöse Kapuzengestalt hielten sich ebenfalls aus dem Getümmel heraus. Während letztere sich jedoch aufs Beobachten verlegte, stürmten die beiden Andrin auf mich und Korf zu. Anscheinend wollten sie sich ihrer gefährlichsten Konkurrenten entledigen, bevor sie sich durch den Tunnel kämpften.

„Das wird lustig, Kleiner“, sagte Korf und schwang seine fleischige Faust gegen den Kopf der Andrinfrau, die sich so lautlos wie entschlossen auf ihn stürzte. Diese entging jedoch dem Angriff knapp und schlug ihrerseits mit der Handkante auf einen Punkt knapp unterhalb von Korfs Brust.

Korf brüllte und brach in die Knie, „was fällt dir ein, du Peitschenwanze“, keuchte er, während er einem zweiten, präzisen Handkantenschlag durch ein unbeholfenes Ausweichmanöver entging.

Der Mann versuchte kurz darauf etwas Ähnliches bei mir. Auch mein Angriff – der ohne die Macht des Kwang Grong ohnehin kau mehr Wucht entfaltete, als bei einem durchschnittlichen Schulhofschläger – ging ins Leere und der Schlag des Andrin landete zielsicher auf einen Punkt an meiner rechten Seite, etwas oberhalb meiner Hüfte.

Er schien zu erwarten, dass ich genauso Schreien oder zusammenklappen würde wie Korf, aber er hatte nicht damit gerechnet, dass ich praktisch gar nichts mehr spürte. Ich wartete jedoch nicht, bis mein Kontrahent das realisierte, sondern schlug ihm meine taube Faust mit aller mir zur Verfügung stehenden Kraft ins Gesicht.

Der Mann stolperte zurück und hielt sich die gebrochene Nase, was ich für einen Tritt gegen sein Schienbein nutzte.

Inzwischen hatte sich auch Korf wieder aufgerappelt und versuchte, seine Gegnerin irgendwie mit seinen großen Fäusten zu treffen. Dummerweise war dieser jedoch zu schnell für ihn und entging jedem seiner Schläge mit tänzelnder Leichtigkeit. Mit der Waffe war der Rorak definitiv schlagkräftiger. Es würde nicht mehr lange dauern, bis die Andrin einen der Nervenknoten, auf die sie immer wieder zielte, genau treffen und Korf vollständig außer Gefecht setzen würde.

Plötzlich jedoch fror Korfs Gegnerin mit schmerzverzerrtem Gesicht mitten in der Bewegung ein und brach direkt vor ihm zusammen. Der Rorak-Krieger zögerte nicht lange und prügelte mit seinen Pranken so lange auf den Kopf der Andrin ein, bis dieser nur noch eine unförmige Masse war.

Da die Frau sich schließlich nicht mehr regte, ging ich davon aus, dass der Tod in Uranor anders als in Hyronanin endgültig war, selbst wenn es sich um so etwas wie ein Jenseits handelte. Ich hatte jedoch keine Zeit lange über diese oder eine andere Frage nachzusinnen, denn mein Gegner war schon wieder drauf und dran sich auf mich zu werfen. Als ich mich jedoch darauf vorbereitete ihm erneut einen Schlag zu versetzen, stellte ich zu meinem Erschrecken fest, dass meine rechte Hand in einem sehr unnatürlichen Winkel Abstand.

Offensichtlich hatte mein fehlendes Schmerzempfinden dazu geführt, dass ich zu heftig zugeschlagen und mir dabei das Handgelenk gebrochen hatte. Dem Andrin entging mein Zustand nicht und so stieß er seine beiden Zeigefinger gezielt in meinen ungeschützten Bauch. Erneut spürte ich keinen Schmerz. Aber dafür spürte ich, wie eine nie gekannte Übelkeit in mir hochstieg. Zuckend übergab ich mich, während mein Bewusstsein zu schwinden drohte.

„Korf, hilf mir!“, rief ich verzweifelt, doch der Rorak hatte sich in einen Blutrausch hineingesteigert und war noch immer damit beschäftigt, den Kopf der bereits toten Andrin weiter zu demolieren.

Dem Andrin entging auch das nicht. Er lächelte böse und begann hemmungslos auf mich einzuschlagen, während ich mich nicht wirklich in der Lage fühlte mich zu wehren. Der Schock über den Zustand meiner Hand saß tief, Übelkeit und aufkommender Schwindel begannen mich zu schwächen und ohne den Kwang Grong fühlte ich mich plötzlich vollkommen machtlos und erbärmlich. Auch wenn ich den Schmerz nicht spürte, so bemerkte ich dennoch, wie mir der unbekannte Andrin einige Zähne ausschlug, die ich hustend aus meinem Rachen hervorwürgen musste, um nicht zu ersticken. Der Wunsch einfach aufzugeben wurde übermächtig und mischte sich mit einer finsteren Verzweiflung, als mir bewusst wurde, was das bedeuten würde. Wenn ich hier starb und Korf recht hatte, würde ich wahrscheinlich nicht einfach nur sterben, sondern vollkommen verschwinden. Ich würde mich einfach in nichts auflösen.

Plötzlich sah ich, wie sich Hände um den Hals meines Gegners legten. Hände, die viel zu schlank und glatt waren, um Korf gehören zu können. Weibliche Hände. Gehörten sie der Kapuzengestalt?

Der Andrin hörte damit auf, auf mich einzuprügeln, würgte hörbar und versuchte sich aus dem Griff der Frau zu befreien, hinter sich zu treten und zu schlagen, aber seine Angreiferin ließ sich nicht abschütteln und drückte ihm schließlich so lange die Luft ab, bis er kraftlos zu Boden sank.

„Danke“, sagte ich, was durch meine verlorenen Zähne ein bisschen lispelnd klang.

„Gerne“, sagte die Stimme der Kapuzenfrau und irgendetwas an dieser Stimme kam mir erneut verdammt bekannt vor.

„Wer bist du?“, fragte ich, „ich habe das Gefühl dich irgendwoher zu kennen.“

„Das könnte schon sein“, sagte die Frau und schlug die Kapuze zurück. Ich blickte in das Gesicht von Garwenia. Zunächst hielt ich das für schlicht unmöglich. Nicht nur, dass sie so ziemlich die letzte Person war, die ich hier unten erwartet hätte, es gab an dieser Frau auch keinen Geruch nach Eiter, keine Hinweise auf Schmerzen oder fehlende Hautpartien und doch war eine Verwechslung vollkommen ausgeschlossen. Ich hatte zu viel Zeit mit ihr verbracht und zu viel mit ihr erlebt, um mich in dieser Hinsicht zu irren.

Hören die Wunder hier denn nie auf, fragte ich mich und beantwortete mir diese Frage gleich selbst: Nein, genauso wenig wie die Schrecken.

„Garwenia?“, fragte ich verwirrt, „Bist du gestorben?“

Als ich das aussprach, fühlte ich mich sofort wieder schuldig. Ich hatte sie und ihre Leute beim Keimpfuhl zurückgelassen, als Ryxah, die anderen Gesunder und ihre Bakteroiden sie in die Enge gedrängt hatten. Wenn sie tatsächlich tot war, war das meine Schuld. Wie so vieles. Aber war sie das wirklich? Immerhin konnte in Hyronanin niemand sterben. Dafür hatte ich dutzende, ja sogar hunderte von Beweisen gesehen.

„Ja“, sagte Garwenia entgegen meiner Annahmen, „Ryxah hat mich für meine Rebellion so sehr gehasst, dass es ihr nicht ausreichte mich in den Verwahrer zu sperren. Sie wollte nicht, dass von mir oder einem der anderen von uns noch einmal der Geist des Widerstandes ausgehen konnte, aber vor allem wollte sie mich nicht mehr länger in ihrer Nähe wissen. Sie haben uns also an die Oberfläche von Hyronanin gebracht. Ein schrecklicher, kalter, zerstörter, finsterer Ort, mit unzähligen Kratern, zerbombten Ruinen, einem rotschwarzem Himmel, Aschewolken, die durch die Luft treiben und gerade genug Sauerstoff, um das Ersticken zu einer sehr langwierigen Angelegenheit zu machen. Kurzum: Der perfekte Ort für Ryxah, um dort zufrieden zusehen zu können, wie mich die vielen Wunden meines Körpers, die außerhalb der Seuchenhöhlen ihre volle Wirkung entfalteten, langsam umbringen.“

„Warum hast du mir vorher nicht davon erzählt“, fragte ich überrascht, „und warum habt ihr vorher nie versucht zur Oberfläche zu gelangen? Selbst wenn dort der Tod wartet, sollte er doch für viele von euch nach all den Qualen doch eine Erlösung gewesen sein.“

Kaum hatte ich diese Worte ausgesprochen, schämte ich mich auch schon dafür. Erst hatte ich diese Frau und ihre Leute einfach im Stich gelassen und nun, nur kurze Zeit nach unserem überraschenden Wiedersehen stellte ich ihren Tod als etwas Gutes dar.

Garwenia jedoch schien das nicht sonderlich zu verletzen. Zumindest ließ sie sich das nicht anmerken. „Einige von uns haben es versucht“, sagte sie, „aber der Einzige, gewundene Weg dorthin, wird von unzähligen Bakteroiden und anderen Dienern der Gesunder bewacht. Dennoch hatte es einmal einen Sturm darauf gegeben, der sogar erfolgreich gewesen war. Auch wenn viele von uns teuer dafür bezahlt hatten, ist es uns gelungen, die stählerne Tür zu erreichen, die zur Oberfläche führt. Jedoch war dort unsere Reise zu Ende gewesen, da es niemandem gelang sie zu öffnen und die Tunnel von Hyronanin zu verlassen. Das immerhin hat sich nun geändert.“

„Es tut mir leid“, sagte ich zerknirscht, „das alles war meine Schuld. Ohne die falsche Hoffnung, die ich bei euch geschürt habe, wärt ihr nie in diese Falle geraten. Und wenn ich euch nicht im Stich gelassen hätte, hätte ich vielleicht …“

Plötzlich fing Garwenia zu lächeln an und drückte mir einen Kuss auf den Mund. Auch wenn ich körperlich nichts spürte, da meine Lippen vollkommen taub waren, tobte in mir ein Sturm der Gefühle. Immerhin war das hier das letzte womit ich bei einem hypothetischen Wiedersehen mit Garwenia gerechnet hätte. Ohrfeigen? Ja. Ein Messer ins Herz? Vielleicht. Aber ein Kuss? Wohl eher nicht.

„Ich habe keine Lust auf diese ganze Schuldscheiße“, sagte Garwenia, „dass du dich wie der letzte Vollidiot aufgeführt hast, weißt du selbst. Aber ich verzeihe dir. Und ich habe dich wirklich vermisst. Damals in all dem Chaos und erfüllt von scheinbar niemals endendem Schmerz habe ich es nicht so richtig begriffen, aber ich genieße deine Gesellschaft wirklich sehr und ich hoffe, dass du genauso empfindest.“

Was zur Hölle geht hier ab, dachte ich. Selbst ich, der in emotionalen Dingen manchmal ein waschechter Volldepp war, erkannte, dass dies zumindest eine angedeutete Liebeserklärung war. Und auch, wenn das hier all den in mir tobenden Konflikten einen weiteren Sprengsatz hinzufügte, tat diese vollkommen unverdiente Zuneigung durchaus gut. Dennoch war ich weit davon entfernt mir eine Meinung darüber zu bilden. Aber das musste ich wahrscheinlich auch nicht, da wir uns hier auf einem fucking Schlachtfeld befanden, woran mich Korf auch kurz darauf erinnerte.

„Ich will euren Balztanz ja echt ungern stören“, knurrte Korf, „aber wenn wir jetzt nicht mal langsam in die Gänge kommen, können wir auch gleich wieder brav in unsere Zellen wandern.“

Ich blickte zum Tunneleingang und sah, dass sich dort bereits ein regelrechter Leichenberg aufgetürmt hatte. Nun, wahrscheinlich waren das nicht alles nur Leichen. Einige von ihnen zuckten noch und manche mochten auch nur bewusstlos sein, aber keiner von diesen armen Seelen schien aktuell noch in der Lage zu sein, am Rennen zum Ausgang teilzunehmen. So hatte sich die Zahl der Kämpfer auf zehn reduziert, von denen einer – ein breit gebauter Rorak, der sogar noch dickere Muskeln hatte als Korf – gerade versuchte sich abzusetzen, jedoch direkt fünf scharfkantige Steine gegen Kopf, Nacken und Hals bekam und daraufhin ebenfalls zusammenbrach. Derweil trat ein Bravianer auf einen am Boden kauernden Echsenmenschen ein, der ihm seinerseits eine Mischung aus Blut und Speichel entgegenspuckte. Dieser Speichel schien wohl korrosiv zu sein, da sich die Kleidung des Bravianers augenblicklich in ihre Bestandteile auflöste und sich kurz darauf ein dampfender, roter Fleck auf seinem Bauch zeigte. Ich musste dabei sofort an Scavinee denken, auch wenn der Speichel dieser Kreatur ungleich potenter zu sein schien, als jener der Jyllen.

„Du hast recht“, sagte ich zu Korf und war sehr froh, so nicht auf Garwenias implizite Frage antworten zu müssen, „wir müssen unsere Chance nutzen. Kommst du mit uns Garwenia?“

„Natürlich“, antwortete sie lächelnd.

„Na endlich“, sagte Korf und rannte los. Wir folgten ihm.

Wir hatten keinen festen Plan, sondern folgten einfach unserer Intuition und hofften auf das Überraschungsmoment.

Korf, der schneller rannte, als ich es bei ihm je beobachtet hatte, war innerhalb von Lidschlägen bei dem Echsenmann – der wohl auch den gefährlichen Gegner darstellte – und trat mit einer solchen Wucht gegen dessen Kopf, dass dieser nach hinten abknickte und seine toten Augen fortan dazu verdammt waren an die Kerkerdecke zu starren. Der bisherige Gegner der Echsenkreatur hoffte natürlich, daraus einen Vorteil zu ziehen und packte Korfs Bein noch im Tritt, um ihn so zu Fall zu bringen, aber er unterschätzte die Kraft und Standfestigkeit des Rorak, der nicht mal schwankte, sondern ihn mit einem kräftigen Hieb seiner rechten Pranke bewusstlos schlug.

Kurz darauf trafen auch Garwenia und ich ein und während Garwenia eine unvorsichtige Frau aus Dank Qua, die ihr noch immer den Rücken zugewandt hatte, auf dieselbe Art erwürgte, wie zuvor den Andrin, stellte ich mich weniger geschickt an. Denn gerade, als ich mich auf eine Bravianerin stürzen wollte, die damit beschäftigt war, sich neben einem bärtigen Andrin durch den Tunnel zu zwängen, stolperte ich. Zumindest hielt ich es so lange für ein Stolpern, bis ich realisierte, dass mich eine der vermeintlichen „Leichen“ am Fuß gepackt hatte und diesen nun genüsslich verdrehte, was ich nicht an dem Schmerz, sondern lediglich am Geräusch meines brechenden Knochens feststellte. Während ich der Länge nach auf den Boden aufschlug und gar nicht erst versuchte, mich mit den Händen abzustützen, um diese nicht auch noch weiter zu ruinieren, hielt ich eine strahlende Zukunft als Dauerinvalider für immer wahrscheinlicher und vor allem hielt ich es beinah für gesichert, dass ich den Ausgang nicht würde erreichen können.

Dennoch gab ich nicht auf, stemmte mich mit meiner rechten, am Handgelenk gebrochenen Hand und meiner linken, gesunden Hand mühsam halb in die Höhe. Dadurch konnte ich sehen, wie die Bravianerin von einem Skorpion-Humanoiden in den Rücken gestochen wurde, dessen Giftstachel kurz darauf von einer Rorak mit einem Felsbrocken zerschmettert wurde und stoßweise sein Gift auf dem schmutzigen Boden entlud. Jedoch gelang es mir nicht, mich aus dem Griff der Hand des Unbekannten zu befreien, der mich gnadenlos festhielt und mich mit einem kräftigen Ruck wieder so plötzlich und hart auf den Boden beförderte, dass mir die Luft aus den Lungen getrieben wurde. Eine bleierne Erschöpfung ergriff Besitz von mir und ich war wahrscheinlich nicht allzu weit davon entfernt in Ohnmacht zu sinken.

Dann jedoch vernahm ich einen matten, erstickten Schrei, der wahrscheinlich von meinem missgünstigen Angreifer stammte und kurz darauf beobachtete ich, wie sich der muskulöse Arm von Korf und der schlanke, aber dennoch kräftige Arm von Garwenia bei mir unterhakten und mich vorsichtig in die Höhe stemmten. „Wir lassen dich nicht zurück, Kleiner“, brummte Korf väterlich und als ich den Kopf nach links wandte und Garwenias aufmunterndes Lächeln und ihre von tiefer Sympathie, vielleicht sogar von Liebe erfüllten Augen erblickte, wusste ich, dass alles gut werden konnte. Ich selbst mochte inzwischen schwach und machtlos sein. Ein Nichts, wie Onyra gesagt hatte, aber das war nicht schlimm, denn ich war nicht allein. Ich hatte Freunde, die für mich da waren. Freunde die mir alles verziehen hatten, was ich ihnen angetan hatte. Das war wirkliche Gnade, ja das war sogar noch schöner, noch wertvoller als das Licht der Festung.

„Siehst du“, sprach Garwenia sanft, „wir schaffen es, wir kommen frei! Wir können uns alle retten!“

Sie küsste mich erneut und ich bedauerte in diesem Moment sehr, dass ich es nicht fühlen konnte.

Doch auch das würde sich wieder ändern, sagte ich mir. Wieso sollte es für meine Taubheit keine Lösung geben nach all den Wundern, die mir in so kurzer Zeit begegnet waren?

Diesen Wundern gesellte sich nun auch ein Weiteres hinzu: Korf und Garwenia hatten offenbar alle Gefangenen außer Gefecht gesetzt, die das nicht bereits gegenseitig erledigt hatte. Wir drei waren folglich die einzigen in dieser Höhle, die noch in der Lage waren, sich zu bewegen. Die an die Wand geworfene Uhr zeigte noch immer mehr als zweieinhalb Minuten an. Bald würden wir aus diesem stinkenden Loch entkommen und von Licht und Hoffnung umgeben sein, dachte ich verklärt. Wir alle drei.

„Wie habt ihr …?“, begann ich schwach.

„Ich brauch‘ keine Waffen um Arschlöcher aufzumischen“, sagte Korf grinsend, „und deine Braut hier war ’ne große Hilfe. Sieh echt schmächtig aus, aber hat Pfeffer im Arsch für ’ne Harex. Das muss man ihr lassen.“

Während wir durch den Haufen ausgeschalteter Gegner auf die offene Tür zugingen, aus der uns bereits das strahlende Licht der Festung entgegenflutete, bemerkte ich, dass der einst so schmale Tunnel sich anscheinend so weit verbreitert hatte, dass wir drei bequem hindurchpassten.

„Wir schaffen es“, flüsterte ich glücklich und sah, wie eine Träne an meiner Wange herunterrollte. Ich war unendlich erleichtert, auch wenn ich mich zugleich auch unglaublich schwach und erschöpft fühlte.

Mit einem Mal – der Ausgang war nur noch wenige Meter entfernt und ich konnte bereits den lichtdurchfluteten Hof sehen, der mich wie das Versprechen einer innigen Umarmung erwartete – ließen Korf und Garwenia mich unvermittelt auf den Boden herab.

„Hey?“, sagte ich verwirrt, „könnt ihr mich nicht mehr tragen? Wir sind doch gleich schon Draußen. Hört mal Leute, wir haben nicht mehr viel Zeit. Ich gebe euch beiden auch die längste Rückenmassage eures Lebens, wenn wir hier raus sind und meine Hand wieder funktioniert, aber verdammt, etwas müsst ihr mich noch schleppen. Nur dieses kleine Stück.“

Doch Garwenia und Korf schienen mich nicht zu hören und gingen stattdessen ungerührt in Richtung des Lichts.

„Das ist nicht lustig!“, schrie ich nun fast, „uns läuft die Zeit davon.“

„Nein“, sagte Garwenia gehässig lachend, ohne sich dabei umzudrehen, „DIR läuft die Zeit davon, nicht uns. Hast du ernsthaft geglaubt, ich würde dir aus der Patsche helfen, nachdem du mich in Hyronanin so feige im Stich gelassen hast?“

Ihre Worte bohrten sich wie rostige Nägel in mein geschundenes Herz. „Nein!“, rief ich weinend, „du hast gesagt, du würdest mir vergeben.“

„Und du hast gesagt, dass dein stinkender Katalog mich und meine Freunde aus Hyronanin wegbringen könnte. Sieht so aus als hätten wir beide gelogen?“, sagte Garwenia wobei ihre Stimme mit jedem Schritt den sie tat etwas leiser klang.

„Nein, Bitte! Lass mich nicht zurück. Korf, ich flehe dich an. Wenigstens du nicht. Bitte, hilf mir!“

Ich mobilisierte alle Kraftreserven und schob meinen vollkommen tauben Körper zentimeterweise über den harten, schmutzigen Kerkerboden. Ich kam nur sehr langsam voran. Womöglich zu langsam, aber vielleicht …

Dann drehte Korf sich um und mir fiel ein Stein von der Brust. Das war bestimmt sein alter Soldatenhumor, dachte ich. Sein finsterer, geschmackloser Soldatenhumor, der ihn schon dazu gebracht hatte mir in Konor die Beine mit einem Panzer abzufahren. Wahrscheinlich wollte er mich auch ein wenig ärgern für das, was ich ihm angetan hatte. Aber jetzt würde er mir aufhelfen und dann würden wir gemeinsam darüber lachen und alles bei einem Schluck Scharfwasser begraben.

„Gib mir deine Hand, Kleiner“, sagte Korf und ich streckte ihm meine gesunde Linke entgegen, während ich hoffte, dass er sich beeilen würde. Wir mochten nur noch zwanzig oder dreißig Sekunden haben, wenn mein Zeitgefühl mich nicht trog.

„Die andere“, verlangte Korf.

„Sehr lustig!“, sagte ich und hielt meine linke Hand ausgestreckt.

„Die andere, hab ich gesagt!“, brüllte Korf wie ein Drill Sergeant bei der Armee.

Verwirrt und mit einem äußerst unguten Gefühl streckte ich ihm meine gebrochene Hand entgegen, die abgenickt am Handgelenk baumelte. Sein Humor war wirklich unterste Schublade.

Doch immerhin packte er meine Hand, bei der ich mir Sorgen machte, ob sie noch in der Lage war mein Gewicht zu halten, zog daran und …

… trat mit seinem schweren Stiefel mit solcher Wucht gegen mein Handgelenk, sodass der Knochen endgültig nachgab und ein Gutteil der Sehnen und Muskeln peitschend riss.

Ich schrie. Nicht aus Schmerz, sondern aus Wut, Enttäuschung und blankem Entsetzen.

Dann zog Korf mit aller Kraft an meiner Hand und riss sie mit einem Ruck ab.

„Warum Korf?“, fragte ich, wobei ich heulte wie ein Kleinkind, welches sich die Knie aufgeschürft hatte.

„Hände sind einfach nicht dein Stil, Kleiner“, sagte Korf lachend, „aber Rache ist meiner!“

Mit diesen Worten trat mir der Rorak auch noch auf die andere Hand und ließ meine Hand- und Fingerknochen knirschen. Dann knotete er meine abgerissene Hand an seinem Gürtel fest, spuckte mir zähflüssigen (wenn auch nicht ätzenden) Speichel ins Gesicht und ließ mich hilflos zurück. Garwenia war inzwischen längst im Licht verschwunden und wenige Sekunden später ging auch Korf durch die Tür ins Freie.

Kurz dachte ich noch darüber nach, mich trotz allem irgendwie ins Freie zu robben, auch wenn das ohne benutzbare Hände und mit verdrehtem rechten Fuß vollkommen aussichtslos war, doch kaum da Korf verschwunden war, fiel die Tür wieder ins Schloss und das tröstende Licht verschwand, genau wie jegliche noch so kleine Chance auf eine Flucht.

Einsam, verlassen und zerstört blieb ich im Dreck liegen und wunderte mich nur, dass mich der Blutverlust noch nicht erledigt und meine Existenz endgültig beendet hatte. Wahrscheinlich war das nur eine Frage der Zeit, aber selbst wenn nicht, war ein Entkommen vollkommen ausgeschlossen. Garwenia und Korf hatten mich verraten (so wie ich zuvor sie) und ich war nun ein hilfloser Krüppel.

Man würde mich in diese schreckliche Zelle bringen, in der jene auf ihr Ende warteten, die zu schwach waren, um zu kämpfen. Und weder Sandra noch Pingo würden hier runterkommen um mich zu retten. Zum einen war ich mir nicht einmal sicher, dass sie das überhaupt versuchen würden. Wahrscheinlich dachten sie, dass ich mich gerade im Paradies befinde. Und selbst, wenn sie es trotzdem wagten oder ihre Prüfungen bestehen und die Wahrheit über die Festung erfahren würden, würden sie mich in dieser Mülldeponie für biologischen Abfall womöglich nie und nimmer entdecken.

Aber in diesem Moment erschien mir das alles nur gerecht. Was brachte es dem Multiversum überhaupt, dass ich existierte? Was machte es für einen Unterschied? Ich hatte überhaupt kein Anrecht auf Vergebung oder Mitleid. Ich war nicht mal ein Symbiont – wie Karmon -, sondern lediglich ein widerlicher, bösartiger Parasit auf dem Gewebe der Existenz. Ich hatte jeden verraten, dem ich etwas bedeutet hatte.

Im Grunde hatte es bereits mit meinen Eltern begonnen. Damals, als mich der Katalog nach China gebracht hatte hätte ich es sicher irgendwie schaffen könne nach Hause zu kommen oder ihnen wenigstens eine Nachricht zukommen zu lassen und selbst als mich der Katalog an alle möglichen abgelegenen Orte meiner Welt gebracht hatte, hätte es diese Möglichkeit gegeben. Doch es war mir im Grunde egal gewesen, ob sie sich Sorgen um mich machten oder um mich trauern. Oder zumindest war es mir nicht wichtig genug gewesen angesichts all der spannenden Wunder, die ich seitdem erlebt habe. Alles, was danach geschehen war, war ohnehin indiskutabel gewesen. Korf und Garwenia hatten jedes recht mich im Stich zu lassen oder auch schlimmeres, immerhin hatte mich ihr Schicksal über ein paar Krokodilstränen hinaus auch nicht geschert.

„Ich bin ein Nichts“, brüllte ich resigniert und fand einen seltsamen Frieden in dieser Erkenntnis. Es war wie das ultimative Loslassen eines schmerzhaft in meine Hand schneidenden Strohhalms, an den ich mich bislang verzweifelt geklammert hatte, auch wenn ein Aufstieg unmöglich gewesen war. Endlich war ich bereit zu fallen, so tief mich dieser Fall auch führen würde.

An diesem Punkt, dachte ich, dass es nicht mehr schlimmer werden konnte, das es nichts mehr gab, was ich noch fürchtete. Doch anscheinend irrte ich mich.

Die Tür zum Kerker öffnete sich erneut. Ich besaß nicht mehr die Kraft – oder auch nur die Motivation – den Kopf zu heben und da die Gestalt vom Licht überstrahlt wurde, dachte ich für einen kurzen, segensreichen Moment, dass es vielleicht Garwenia sein könnte. Denn immerhin trug die Gestalt einen Mantel.

Doch ihre Gangart passte nicht, die Schuhe passten nicht und als ich etwas mehr erkennen konnte, verfestigte sich die Gewissheit in mir, dass es sich nur um eine einzige Person handeln konnte: Scavinee. Sie war gekommen, um ihre berechtigte Rache zu üben und meine Folter fortzusetzen, auch wenn ich wenigstens darauf hoffen konnte, dass mein baldiger Tod ihr einen Strich durch die Rechnung machte.

Der Tod war der Feind jedes Foltermeisters. Andererseits, wusste ich, dass man vieles möglich machen konnte, wenn man den unbedingten Wunsch hegte, jemandem zu schaden.

Während die rachsüchtige Frau (diese zu sammeln gehörte wohl langsam zu meinen Hobbys) schweigend auf mich zuging, malte ich mir aus, was mir bald schon bevorstehen würde, wenn ich Pech hatte.

Eingesperrt zu sein in meinem eigenen Körper. Ohne jeglichen äußeren Reiz. Allein mit einem verkrüppelten Verstand, der zu tumb geworden wäre, um sich eine tröstende Wahnwelt zu erdenken und einem toten Herzen, welches nicht mal mehr zu Trauer oder Selbstmitleid fähig sein würde.

Es wäre ein grauenhaftes Schicksal. Ich sollte mich wehren, dagegen ankämpfen, wenigstens meinen Tot herbeiführen, aber zu nichts davon sah ich mich in der Lage. Sämtliche Kraft, jeglicher Antrieb war aus mir gewichen. Ich war am Ground Zero meines Lebens und bald würde es hier nur noch Ruinen zu besichtigen geben.

Ich bemerkte, wie eine Hand meinen Kopf nach oben hob und … sah in das gläserne Gesicht von Onyra.

Erleichterung war einen Stein ins aufgewühlte Meer meiner Emotionen, doch schaffte es kaum Wellen zu schlagen. Zu oft hatte mich dieses Gefühl schon betrogen.

„Steh auf!“, verlangte Onyra.

„Ich kann nicht“, jammerte ich.

„Doch“, widersprach Onyra, „versuch es einfach, oder ich lasse dich hier liegen.“

Aus irgendeinem Grund wirkte das. Und auch wenn es mir völlig aussichtslos erschien, versuchte ich mich Mithilfe meiner zerstörten Hand, meines gebrochenen Fußes und meines blutenden Armstumpfes in die Höhe zu stemmen. Zu meiner Überraschung gelang es mir völlig problemlos.

Verwundert blickte ich auf meine Arme und sah zwei gesunde Hände, in die zu allem Überfluss das Gefühl zurückgekehrt zu sein schien.

Und das war noch längst nicht alles. Die Tür blieb dieselbe, aber aus dem dreckigen, stinkenden Kerker war mit einem Mal ein gut gepflegter, hallenartiger Raum aus weißem, an Marmor gemahnendem Gestein geworden, der mich ein wenig an die Räumlichkeiten eines Museums oder einer altehrwürdigen Bibliothek erinnerte. Die Luft roch sauber und weitgehend neutral, vielleicht mit einem Hauch von Zitrone oder Rosmarin oder zumindest Düften, die dem Nahe kamen. Keine Spur von Schmutz, Blut oder Verwesung.

Ich lag auf einer weichen, halbdurchsichtigen Decke, die so gefaltet war, dass sie beinah so dick wie eine Matratze war. Und ich war nicht der Einzige. Neben mir lagen hunderte weiterer Angehörige der verschiedensten Völker – Männer, Frauen und Wesen von unbekanntem Geschlecht –, die sich auf den Matratzen vor Schmerzen krümmten, verzweifelt weinten, triumphierend brüllten oder wütend und verzweifelt um sich schlugen. Jeder von ihnen hatte seine Augen fest geschlossen. Zwischen ihnen verteilt lagen auch einige wenige Glasmenschen, die sich zum Teil ebenfalls bewegten. Zudem entdeckte ich nahe der Wand eine gläserne Kabine, die etwas enthielt, dass mich stark an eine Art gläsernen Aufzug erinnerte. Was auch immer das hier für ein Ort war, er musste mehrere Ebenen umfassen, vermutete ich.

Alles in allem kam ich mir vor wie in einer Neuauflage des Films „Matrix“, nur dass hier die Welt innerhalb der Simulation weit schrecklicher war als die Äußere.

All die unpassenden Puzzleteile, die mein Bewusstsein gesammelt hatte, klackten nun ineinander. Die Decke und der Tunnel, die ihre Größe änderten, das unvermittelte Auftauchen von Scavinee mitten in meiner Zelle, ja selbst das überraschende Erscheinen von Korf und Garwenia. Waren sie letztlich doch nicht wirklich hier?

„Ich sehe die Fragen in deinen Augen“, sagte Onyra, „aber du sprichst sie nicht aus. Das ist ein großer Fortschritt. Und du kannst ruhig weiterhin schweigen. Ich werde dir alles sagen, was du wissen musst.“

Onyra, die bislang gestanden hatte, ließ sich nun im Schneidersitz nieder, bevor sie weitersprach. Ich schwieg, wie mir geheißen wurde.

„Dies hier ist der Turm der Selbsterkenntnis. Du befindest dich – wenn man so will – an seiner Spitze. Doch er reicht tief hinab bis in die heilige Erde von Uranor und er prüft tausende Seelen darauf, ob sie bereit sind, den nächsten Schritt auf ihrem Weg zum Licht zu gehen. Du hast ihn getan. Das sehe ich nun.

Was ich in dir sehe, ist wahre Demut. Endlich hast du erkannt, was du bislang falsch gemacht hast und das du keinerlei Rechte in dieser Welt oder irgendeiner Anderen besitzt. Endlich bist du ein leeres, urteilsloses, duldsames Gefäß geworden, wie es jeder von uns sein sollte. Du musst wissen, dass wir hier drin deine Gedanken lesen können. Nicht alle, aber doch jene, die etwas in dir auslösen. Die Wellen schlagen in deiner Seele. Deshalb wissen wir, dass dein Zorn verflogen ist, dein Hochmut vergangen. In dir ist es still geworden, Verlorener, nun da DU alles verloren hast. Dein Ego tobt noch und schreit nach Antworten, aber du hörst ihm nicht länger zu. Dennoch gibt es Dinge, die du wissen sollst. Ja, die du sogar wissen musst, wenn du nun in unsere Dienste trittst. Jene die du sahst, dort im Kerker, sind wirklich hier, auch wenn ihre Leiber auf einer anderen Ebene des Turms weilen. Ihre Handlungen im Kerker entspringen ihrem Denken, ihren Gefühlen und ihren Rachegelüsten, so wie dies auch im Wachzustand oder zu ihren Lebzeiten der Fall wäre.

Doch solange sie diesen niederen Trieben folgen, werden sie keinen Ausweg aus ihrem Traum finden. Du magst denken, dass Korf und Garwenia in die Freiheit gegangen sind, aber das stimmt nicht. Genauso wenig wie für Scavinee. Es gibt keine Freiheit, solange Dämonen in einem wohnen. Die beiden werden wieder erwachen in diesem Kerker. Immer und immer wieder, bis sie ihre eigene Bedeutungslosigkeit erkannt haben oder bis wir entscheiden, dass sie jenseits jeder Hoffnung auf Besserung sind. Dann wecken wir sie auf und überlassen sie dem schwarzen Malmer, wo sie den einzigen Frieden finden, den sie je erhalten werden: die vollständige, kompromisslose Auslöschung ihrer Existenz.

Wer sich jedoch bewährt, so wie du, wird in unsere Dienste treten und helfen das Licht zu verbreiten.

Komm mit mir, Adrian, der nun nicht mehr verloren ist und fortan Olevan heißen soll. Ich bringe dich zum Allrichter. Er wird dir deine Aufgabe zuweisen.“

Sie stand auf, reichte mir meine Hand und ich ergriff sie. Dann schritten wir durch die Tür auf den hellen Innenhof hinaus und ich lächelte, als mich das Licht wieder mit unverminderter Stärke berührte.

Während wir den Hof überquerten und auf das große Haupttor unweit der Himmelstreppe zugingen, fuhr Onyra mit ihren Erklärungen fort.

„Es gibt drei Sinnpfade, drei Arten von Aufgaben, die wir Rilandi in dieser Festung erfüllen können. Ich bin eine Hirtin und kümmere mich um die Prüfungen und Läuterungen jener Seelen, die uns erreichen. Dann gibt es noch die Sucher, die ihre Existenz dem Gebet und der Meditation widmen und allem Weltlichen entsagen. Sie haben die wichtigste Aufgabe von allen. Sie versorgen uns mit Energie und sind auch verantwortlich für das wunderbare Licht, welches uns hier umgibt. Zu guter Letzt gibt es die Weber. Ihre Mission ist jedoch geheim. Was genau sie tun, erfährst du nur, falls man dich der Allrichter zu einem von ihnen bestimmen sollte. Solltest du ein Weber oder ein Hirte werden, wird es dir auch wieder erlaubt sein Fragen zu stellen. Ein Privileg, von dem du dennoch nicht im Übermaß Gebrauch machen solltest. Bis dahin jedoch solltest du in jedem Fall schweigen.“

Inzwischen hatten wir die große, weiße Tür erreicht und Onyra bewegte ihre gläserne Hand auf die Tür zu, wahrscheinlich, um sie zu öffnen, hielt dann jedoch inne.

„Hinter der Tür erwartet dich der Allrichter und wird über dein Schicksal bestimmen. Sprich ihn nicht als erster an und zeige am besten keinerlei Regung. Du bist ein Gefäß, und er wird dich füllen. Solltest du ein Hirte werden, Olevan, werden wir uns wiedersehen. Andernfalls ist dies hier ein Abschied.“

Dann legte sie ihre Finger auf einen weißen Kreis in der Mitte der Tür, woraufhin sie erst milchig, dann gläsern wurde bevor sie vollständig verschwand.

Dann wandte sich Onyra zum Gehen und ich sah ihr nicht hinterher, sondern trat ein.

Anders als Onyra vielleicht annahm, war ich kein völlig leeres Gefäß, auch wenn mein Stolz und mein Selbstbewusstsein tatsächlich in Trümmern lagen. Der Gedanke daran, dass Korf, Garwenia und – ja auch Scavinee – in dieser Illusion gefangen waren betrübte mich mehr als ihr vermeintlicher Verrat oder ihre Grausamkeiten mir gegenüber. Immerhin hatte insbesondere Garwenia, zumindest so weit ich wusste, nichts getan, was eine solche Strafe rechtfertigte. Und auch mein eigenes Schicksal war mir nicht gänzlich egal, auch wenn ich bereit war es zu empfangen, ja sogar etwas froh darüber war, dass ausnahmsweise einmal jemand anders für mich entscheiden würde. Immerhin nahm mir das die Last der Verantwortung.

„Komm herein“ ertönte eine Stimme, von der sich nicht genau sagen ließ, ob sie weiblich oder männlich war.

Ich gehorchte, oder versuchte es zumindest, denn der Raum, der hinter der Tür lag, war so hell, dass ich beinah geblendet wurde und so konnte ich zunächst überhaupt keine Details erkennen, aber dennoch ging ich voran und hoffte, mit keinem Hindernis zu kollidieren.

Der Boden war glatt, kühl und hart und schien aus Marmor oder Metall, vielleicht sogar aus Glas zu bestehen, auch wenn ich das ebenfalls nicht genau sagen konnte.

„Ein paar Schritte nach Links“, warnte mich die schon näher klingende Stimme und ich tat wie geheißen.

„So ist es perfekt“, sagte die Stimme schließlich und ich blieb stehen, „Du bist Olevan, nicht? Onyra hat mir eine Menge von dir erzählt.“

Ich nickte lediglich, schon allein aus Angst zu früh das Wort zu ergreifen.

„Mein Name ist Wornaara. Ich denke, da ich dich sehe, sollte ich so fair sein, mich auch dir zu zeigen.“

Als es dies sagte, wurde es schlagartig etwas dunkler und auch, wenn es noch etwas dauerte, bis sich meine Augen von dem hellen Licht erholt hatten, konnte ich nach und nach sowohl Wornaara, als auch den Raum um uns herum erkennen. Wornaara war hatte eine grob humanoide Gestalt, zumindest was seinen Oberkörper betraf. Er besaß zwei Arme und einen einigermaßen menschlich aussehenden Rumpf. Sein Unterkörper war hingegen ganz und gar nicht menschlich, sondern erinnerte an eine Mischung aus einem Zentauren, einer Krabbe und einem Tausendfüßler, da er sicher fünfmal so breit war wie sein Oberkörper und sich dort acht ziemlich dünne, sich nach unten hin verjüngende Krebsbeinchen befanden. Dies war doch nichts gegen seinen Kopf, der auf einem dünnen, vielleicht vierzig Zentimeter langen Hals ruhte. Dieser war äußerst flach und breit und dabei so ringförmig wie ein Donut. Der hintere Halbkreis seines Schädels wurde von einem majestätischen Kranz aus fast zwei Meter langen, leicht nach oben gebogenen Stacheln gekrönt, während sich im vorderen Segment ein winziger, zahnloser Mund mit dünnen, blassroten Lippen und seitlich davon jeweils acht kleine Augen befanden.

Die Haut und der gesamte Körper von Wornaara, der keinerlei Kleidung trug, war fast gänzlich gläsern. Die einzigen Ausnahmen bildeten sein Mund und die kleinen, weißen Augen mit ihren silbernen Pupillen.

Was den Raum selbst betraf, so waren dessen Wände, die Decke und der Boden eine einzelne spiegelnde Oberfläche, in der ich sowohl den fremdartigen Allrichter, als auch mein eigenes Spiegelbild sehen konnte, welches einen erbärmlichen Anblick bot. Bärtig, ungewaschen, mit verfilzten, schlammigen, langen Haaren und gehüllt in eine Kleidung, die man vor lauter Dreck überhaupt nicht mehr erkennen konnte. Ich konnte es kaum ertragen dieses Spiegelbild zu betrachten. Ja, für mich zeigte es eine traurige und zugleich verachtenswerte Kreatur, bei der ich erhebliche Schwierigkeiten hatte, sie mit meinem Selbstbild überein zu bringen. Ich mochte akzeptiert haben, dass ich ein Arschloch gewesen war, aber ich hatte mich zumindest immer für ein gutaussehendes Arschloch gehalten. Nun war ich mir da nicht mehr so sicher. Wornaara hingegen verstörte mich nicht halb so sehr. Er bot gewiss keinen erbaulichen Anblick, aber er strahlte dennoch eine gewisse Würde aus, die verhinderte, dass man ihn als hässlich oder abstoßend empfand.

Die einzigen Möbel, die es in dem Raum gab, waren weich aussehende, durchsichtige Sitzgelegenheiten, die etwas an diese großen Sitzkissen in einigen Chillout-Areas erinnerten. Wornaara saß auf keinem davon, was ihm Angesichts seiner Anatomie wahrscheinlich auch nicht möglich war.

„Setz dich!“, verlangte Wornaara und ich wählte den Sessel aus, der mir am nächsten stand. Er war bequem, wenn auch nicht ganz so weich, wie ich nach meiner Erfahrung mit der Decke angenommen hatte.

„Fühlst du dich wohl hier im Licht, Olevan?“, fragte mich Wornaara, nachdem ich mich niedergelassen hatte, woraufhin ich ihn verwirrt und schweigend ansah.

Ich wusste nicht so recht, was ich darauf antworten sollte. Immerhin fühlte ich mich gerade so stark von mir selbst entfremdet, dass ich mir nicht zutraute mir ein Urteil über die Person „Adrian“ – oder „Olevan“, wie ich ja nun anscheinend hieß – zu erlauben.

Eine Art Lächeln huschte über Wornaaras bizarres Gesicht, welches eine erstaunlich aussagekräftige Mimik und sogar Bewegungen und Falten wie bei einem Menschen aufwies.

„Onyra hat dich wahrscheinlich gut gelehrt, dass es dir noch nicht erlaubt ist Fragen zu stellen. Aber du darfst durchaus auf meine Fragen antworten. Fragen sind ein schmutziges Werkzeug, denn beim Befragten fordern sie die Lüge und den Drang zur Selbstdarstellung geradezu heraus und beim Fragenden können sie schnell zu Anmaßung und zu gefährlichen Gedanken führen. Dennoch kommt man von Zeit zu Zeit nicht darum herum sie zu stellen. Ich würde dich also bitten, auf meine Fragen zu antworten.“

„Ich fühle mich nicht wohl“, antwortete ich schließlich, „auch wenn das Licht wunderschön ist, habe ich das Gefühl, ihm nicht würdig zu sein.“

„Eine weise Antwort“, lobte Wornaara, „selbst ich kenne dieses Gefühl. Das Licht hilft und heilt ungemein, aber es urteilt auch. Es kann nicht anders. Das ist sein Wesen. Doch man lernt damit zu leben. Du hast eine Menge Prüfungen bestanden und so bist du würdig zu dieser Zeit an diesem Ort zu sein. Das sollte dich etwas trösten.“

Das tat es tatsächlich, wenn auch nicht sehr. Dennoch nickte ich.

„Weißt du, warum du hier bist?“, stellte Wornaara eine weitere seiner ungeliebten Fragen.

„Um geprüft und einer der drei Sinnpfade zugeteilt zu werden“, antwortete ich.

„So ist es“, sagte der Allrichter und beugte sich dann etwas zu mir hinab.

„Sag mir Olevan, wenn du ein Gott wärst und sähest eine Stadt vor dir, in der die vollkommene Sünde herrscht, in der sich die Einwohner gegenseitig betrügen, totschlagen, bestehlen und verachten. Einen Ort, an dem die schlimmsten Perversionen blühen, wo du die Tugendhaften mit der Lupe suchen musst und man es liebt die Schwachen zu unterdrücken und sich an ihrem Schmerz zu laben: Was würdest du tun, um diesem Übel zu begegnen?“

Natürlich kamen mir bei seinen Worten eine Menge meiner bisherigen Reiseziele in den Sinn. Aber das war es wahrscheinlich nicht, was Wornaara von mir hören wollte. Also überlegte ich gründlich, wie ich mich in einem solchen Szenario verhalten würde. Dabei half es mir durchaus, dass ich bereits einmal in einer ähnlichen Situation gewesen war. In Konor war ich im Grunde fast so etwas wie ein Gott gewesen, auch wenn ich mir diese Macht mit Sandra und Razza hatte teilen müssen. Die Entscheidungen, die ich dort getroffen hatte, konnten aber nicht die Grundlage meiner Antwort sein. Man hätte mich wohl gleich hochkant aus der Festung geworfen, wenn ich vorgeschlagen hätte den eifrigsten Killern in dieser fiktiven Stadt bessere Waffen zu geben und die kreativsten Folterer mit Orden auszuzeichnen.

Doch wie sollte man mit so einem Ort umgehen? Ihn zu vernichten und die Leute für ihr grausames Handeln zu bestrafen, wie es der alttestamentarische Gott bei Sodom und Gomorrha getan hatte, wäre wohl das einfachste. Doch diese Lösung erschien mir schon in der Bibel als grausam und sinnlos. Immerhin lernte man für gewöhnlich eher wenig daraus, dass man brutal hingemetzelt wird. Auch mein göttliches Licht zu schicken und sie alle in liebe und freundliche Menschen zu verwandeln, erschien mir falsch. Das wäre zwar gnädiger, würde ihnen aber auch jeden freien Willen nehmen. Doch vielleicht gäbe es noch eine dritte Möglichkeit.

„Ich würde zu ihnen sprechen und ihnen erklären, warum ihr Verhalten falsch ist. Dann würde ich vernünftige Regeln aufstellen und sie anweisen sich daranzuhalten“, gab ich meinem Prüfer zur Antwort.

Ein von Lachfalten umrahmtes Lächeln wuchs auf Wornaaras Gesicht. Offensichtlich fand er Gefallen an meiner Antwort.

„Das klingt gut“, lobte er, „doch wie würdest du dafür Sorge tragen, dass sie sich auch an diese Regeln halten? Mit Gewalt?“

Wieder musste ich kurz überlegen. Dann jedoch antwortete ich: „Nein, ich denke mit göttlicher Gewalt würde ich da nicht weiterkommen. Ich würde mich stattdessen an jene wenigen Tugendhaften und Schwachen wenden, sie unterstützen und sie zu Botschaftern dieser Regeln machen. Sie wissen wahrscheinlich am besten, wie sie mit ihren eigenen Leuten umgehen müssen.“

„Vorzüglich!“, sagte Wornaara und ein glockenhelles Lachen waberte durch die Halle, „ich glaube ich habe noch niemanden erlebt, der so vollkommen zum Weber bestimmt ist wie du.“

„Heißt das, das ist nun meine neue Aufgabe?“, fragte ich getrieben von Erleichterung keiner dieser Sucher geworden zu sein. Ich war einfach nicht der Typ für Gebet und innere Einkehr und die Entsagung von allem Weltlichen klang für mich nicht gerade sehr attraktiv. Selbst, wenn ich zu diesem Zeitpunkt gebrochen und relativ demütig war, hätte ich mich damit schwerlich abfinden können. Aber auch darauf, Leute in ihren Träumen heimzusuchen und zu prüfen, wie es Onyra tat, konnte ich gut verzichten. Andererseits wusste ich natürlich auch noch nicht, was die Aufgabe eines Webers war.

„Zu deinem Glück ist das der Fall“, stellte Wornaara süffisant fest, „denn als Weber hast du das Recht Fragen zu stellen. Andernfalls hättest du deine Prüfung nun als gescheitert betrachten können. So jedoch heiße ich dich offiziell in unserer Gemeinschaft willkommen.“

Wäre ja mal wieder typisch für mich gewesen, mich ohne Not derart in Schwierigkeiten zu bringen. Oder zumindest typisch für Adrian.

„Ich danke euch“, sagte ich und verbeugte mich respektvoll, auch wenn ich nicht wusste, ob es hier so üblich war, „wenn dem so ist, will ich mein Privileg auch nutzen: Was genau tut ein Weber?“

„Das zu erklären liegt nicht an mir“, sagte Wornaara und legte dann beide Hände an seine ringförmige Stirn.

Einige Momente später öffnete sich hinter uns die Tür und las ich mich reflexartig umdrehte, sah ich einen … nun … Glasmann, dessen Gesicht und Hals jedoch nicht nur aus Fleisch und Blut bestanden, sondern ihn eindeutig als Bravianer kennzeichneten. Wie viele Bravianer hatte er auf dem Kopf fast Haare, besaß jedoch – wie ich erkannte, als er näherkam – einen kleinen blonden Zopf am Hinterkopf. Sein Gesicht war ernst, aber irgendetwas an ihm wirkte auf mich sehr sympathisch. Sein gläserner Körper wurde größtenteils von einer weißen Robe verdeckt, die sich durch den Schwung seiner Bewegung aufblähte und auf der sich ein mit silbernem Faden gestickter, stilisierter Webstuhl befand.

„Nujon“, begrüßte Wornaara ihn, „wir haben ein neues Mitglied für die Weber gefunden.“

„Mir war nicht bewusst, dass wir neuerdings auch Waldschrate rekrutieren“, sagte Nujon in einem so herzlichen Tonfall, dass der Beleidigung jede Spitze genommen wurde.

Er streckte mir seine gläserne Hand entgegen, die ich ergriff. „Olevan“, stellte ich mich vor, „und wenn überhaupt, dann bin ich ein Schlammonster.“

„Angenehm“, sagte Nujalon lachend, „Ob nun Schrat oder Schlammonster, in jedem Fall können wir jeden aufgeweckten Kopf in den Reihen der Weber sehr gut gebrauchen.“

„Kannst du mir denn nun sagen, was genau die Aufgabe eines Webers ist?“, fragte ich, da nun, da ich wieder eine wie auch immer geartete Perspektive hatte, meine alte Neugier wieder in mir erwachte.

„Das kann ich wohl“, sagte Nujalon, „aber solche Dinge besprechen wir lieber in unserer eigenen Halle. Wenn ich dich wohl bitten dürfte, mir zu folgen.“

Ich nickte und schloss mich Nujon an, der sich kurz darauf zum Gehen wendete.

„Viel Glück, Olevan“, sagte Wornaara, „mögest du dem Licht gut dienen.“

Ich bedankte mich und verließ gemeinsam mit Nujon die Halle der Prüfung.

~o~

„Dürfte ich dir eine Frage stellen?“, sagte ich, als uns das Licht des Innenhofes wieder einhüllte.

Nujon lachte herzlich, „natürlich. Sobald es einem wieder erlaubt ist, kann man gar nicht damit aufhören, nicht?“

„Vermutlich“, sagte ich ebenfalls lächelnd.

„Dann schieß mal los“, ermutigte mich Nujon

„Warum sind einige von euch vollständig aus Glas und andere – wie du und Wornaara – nicht?“, stellte ich meine Frage, auch wenn ich ein wenig Angst davor hatte, indiskret zu wirken.

„Oh, das ist ganz einfach“, antwortete Nujon, „das ist eine Nebenwirkung des Lichts. Je länger man ihm ausgesetzt ist, desto mehr passt man sich daran an. Das wird auch mit dir passieren. Nur ganz mächtige Wesen – wie etwa Wornaara – verändern sich nicht gänzlich. Und dann gibt es da noch geborene Rilandi, die so auf die Welt kommen. Am Anfang hat es mir richtig Angst gemacht, aber eigentlich ist es nicht so schlimm. Es macht die Wirkung des Lichts sogar noch stärker. Und eigentlich sieht es sogar ganz hübsch aus.“

„Definitiv“, stimmte ich zu und versuchte den unangenehmen Gedanken zu verdrängen, wortwörtlich zu einem gläsernen Menschen zu werden, „jetzt hätte ich aber noch eine Frage.“

„Ja?“, sagte Nujon.

„Wo befindet sich die Halle, von der du gesprochen hast“.

„Dort“, sagte der Glasmann und zeigte in den von grauen Wolken, mit regenbogenfarbenen, leuchtenden Streifen erfüllten Himmel, jenseits der gewaltigen Treppe an deren Fuß wir nun standen, „die Wolken, Olevan, sind unsere Webstube.“

~o~

Pingo fragte sich nicht zum ersten Mal, was er hier unten eigentlich tat. Natürlich, er hatte gemeint, was er gesagt hatte und wollte Adrian tatsächlich helfen, aber dieser Ort, wie auch die Gesellschaft, in der er sich befand, war ihm nicht Geheuer.

Er wusste aus seinen Studien in Rihn genau, dass Leute aus Deovan nicht gerade die zuverlässigsten Verbündeten waren, insbesondere dann nicht, wenn sich für sie ein Vorteil daraus ergab ihre „Partner“ zu verraten. Und was diesen Kwang Grong anging, so machte er ihm regelrecht Angst. Er mochte wie er ein Interesse an Adrians Rettung haben, soweit vertraute Pingo ihm. Aber er konnte auch extrem empathielos und einschüchternd sein und sein gewaltiger Körper, mit dem bizarren Gesicht und dem verzehrendem schwarzen Licht in seiner Brust bescherte ihm immer wieder kalte Schauer. Er wünschte von ganzem Herzen, dass der Kristall Karmon nicht diesen Körper gegeben hätte. Was Sandra betraf, so wusste er durchaus, dass auch sie voller Dunkelheit war und keine großartigen Sympathien für ihn besaß. Dennoch war sie ihm von all seinen Reisegefährten noch am liebsten, was ihm jedoch auch nicht viel nützte, da Kollom sie offensichtlich gefangen hielt, ganz gleich, was er sonst behauptete.

Mehr Angst als jeder seiner Gefährten machten ihm jedoch zwei andere Dinge. Er selbst und dieser Ort hier. Was ihn selbst betraf, so spürte er eine unangenehme Leichtigkeit, die mehr und mehr von ihm Besitz ergriff und die ihm mit Nachdruck empfahl über Alles und Jeden zu Lachen. Über den Verfall seiner Seele, das Leid seiner Reisefährten, alle Grausamkeit und Ungerechtigkeit, die ihn umgab. Es war der Stein, das wusste er, der mit dieser Leichtigkeit alles wegtragen wollte, was ihn einst ausgemacht hatte. Die Erinnerungen an Rihn, an seine Aufgabe, an seinen Widerstand gegen die überkommenen Traditionen und Regeln der Archive. Ja, auch an Para und Lanno, seine beiden Auserwählten, zu denen er freiwillig den Kontakt abgebrochen hatte, nachdem ihn der Stein infiziert hatte. Vor allem jedoch die tiefe Empathie zu anderen Lebewesen, die immer ein wesentlicher Charakterzug von ihm gewesen war. Er versuchte sie sich zu bewahren, doch das schadenfrohe, kalte Lachen des Steins drängte sich mehr und mehr in sein Bewusstsein.

Genauso ängstigte ihn aber auch die Umgebung. Die hohen, alten Steinsäulen, die so perfekt gearbeitet waren, dass sie mindestens aus der Hand der kundigen, aber grausamen und wahnsinnigen Handwerker von Drah-Joot stammten, vielleicht aber sogar von Hueias-Schoß geboren worden waren. Einem semi-intelligenten Netzwerk von Pilzsporen, welches es liebte, künstliche Strukturen zu imitieren und zu perfektionieren. Ein Prozess, der sich gezielt steuern ließ. Leider musste es neben Baumaterial auch lebende Beute zugeführt bekommen, damit dies funktionierte. Welche dieser Erklärungen zutraf, ließ sich leider auch nicht anhand der eingearbeiteten Verzierungen sagen, bei denen es sich nicht um Schriftzeichen oder dergleichen, sondern um reine Schmuckelemente handelte. Lediglich eine Urheberschaft durch die „Dor-Riwan“, die rätselhaften Erbauer der unterirdischen laborähnlichen Kultstätten in den Eingeweiden von Braviania ließ sich ausschließen. Dagegen sprach sowohl, die kunstvolle Art der Verzierungen, als auch der Umstand, dass sich Karmon bislang nicht im geringsten für die Säulen interessiert hatte. Als Wesen, dessen Geburtsstätte sich in eben jenen Kultstätten befunden hatte, hätte ihn das nicht kaltgelassen.

Doch wer auch immer diese Säulen errichtet hatte, es waren in jedem Fall nicht die Rilandi selbst gewesen. Auch wenn er aus seiner Zeit in den Archiven nicht viel über dieses Volk wusste, so war doch schon allein die Bauart ihrer Festung eine vollkommen andere.

Die mächtigen, runden Säulen, die – weiß wie polierte Knochen – über ihm aufragten und im diffusen Licht der (vielleicht wegen der Verdauungsprozesse exotischer Pilze?) rötlich leuchtenden Höhlendecke ihre Schatten über ihn ausgossen, waren jedoch nicht das einzige, was ihn beunruhigte.

Die Luft hier unten roch wie erwartet nach kaltem Lehm, feuchter Erde und altem Stein, aber darin war auch eine feine, süßliche Note, die Pingo an Blut denken ließ. Dass dieses Blut – so es denn existierte – von den Opfern des schwarzen Malmers stammte, hielt Pingo für ausgeschlossen. Soweit er es mitbekommen hatte, verspeiste der Malmer früher oder später sämtliche Überreste seiner Beute und selbst wenn er etwas übersehen haben sollte, so geschahen seine Gelage doch zumeist nahe der Oberfläche. Nein, dachte Pingo, dieser Geruch muss einen anderen Ursprung haben. Hinzu kam das unangenehme Gefühl beobachtet zu werden und da ihre Schritte – ganz besonders die von Karmon – relativ laut auf den dunkelgrauen Fliesen widerhallten, mit denen der Boden ausgelegt war, würde es für einen versteckten Angreifer leicht sein, sie zu überraschen. Pingo schloss seine Finger fester um die unscheinbare Waffe, die Kollom ihm gegeben hatte, zog jedoch nur wenig Trost daraus. Er war kein Kämpfer, sondern ein Gelehrter. Zumindest war er das gewesen.

„Gibt es hier unten noch andere Gefahren, als den Malmer?“, fragte Pingo den Mann aus Deovan, vor allem um sich von der gestaltlosen Angst abzulenken, die sich wie ein hartnäckiger Schmutzfilm auf sein Herz legte.

Dieser sah zu ihm herüber und machte ein nachdenkliches Gesicht.

„Bislang ist mir noch nie jemand anders hier unten begegnet“, sagte er schließlich, „aber wenn sich uns etwas nährt, erfahren wir es.“

Er hielt seinen Arm hoch und zeigte das Display, auf dem für gewöhnlich sein Kontostand zu sehen war, der aber nun eine Art Radaransicht zeigte, auf der man in Weiß die Umrisse der Umgebung und in Grün ihre eigene Position erkennen konnte. Weitere Punkte waren nicht darauf zu erkennen.

Diese Antwort beruhigte Pingo nur mäßig. Dass das Gerät keine Gefahren anzeigte, mochte alles bedeuten oder auch gar nichts. Immerhin hatte Kolloms Firma dieses Apparatur wahrscheinlich konstruiert und es war zumindest nicht ausgeschlossen, dass er bestimmen konnte, was es zeigte. Trotzdem wusste er dadurch zumindest, dass es in ihrer Nähe nichts befand, was sie ALLE bedrohte, denn das hätte Kollom ihnen garantiert nicht verheimlicht. Das war immer etwas.

„Wieso ist die Luft hier drin eigentlich so sauerstoffhaltig?“, fragte der sonst eher schweigsame Karmon.

„Die Rilandi haben hier einst ein Belüftungssystem installiert, das noch immer funktioniert, auch wenn sie diesen Teil von Uranor inzwischen längst aufgegeben haben“, erklärte Kollom.

„Das erscheint mir seltsam“, bemerkte Karmon, „immerhin ist das hier ja ein potenzielles Sicherheitsrisiko.“

„Nur wenn man davon ausgeht, dass Eindringlinge in der Lage sind sich überhaupt hier runter zu begeben oder wissen, dass dieser Ort existiert und ich denke nicht, dass sie davon ausgehen. Nicht nur, dass es keinen regulären Weg von der Oberfläche zu diesem unterirdischen Komplex gibt, die Rilandi halten sich auch für ziemlich unangreifbar und das ist ja durchaus verständlich, solange niemand wie ich sie herausfordert“, erwiderte Kollom.

„An Selbstbewusstsein mangelt es Ihnen jedenfalls nicht“, kommentierte Pingo.

„Mir mangelt es an kaum etwas“, sagte Kollom mit einem amüsierten Blitzen in den kreisrunden Augen.

„Was ist das?“, fragte Karmon plötzlich und zeigte auf etwas, das an einer der Säulen klebte.

Pingo und Kollom kamen näher, um es sich anzusehen. Pingo hielt es dabei zunächst für einen Fetzen lachsfarbenen Stoffes, dann jedoch erkannte er, worum es sich wirklich handelte.

„Haut“, hauchte Pingo, wobei es ihm irgendwie gelang den aufkommenden Reimreflex zu unterdrücken.

„Von einem Menschen?“, vermutete Karmon, der in dieser Hinsicht von Adrian und Sandra geprägt war.

„Möglich“, antwortete Kollom, „vielleicht auch von einem Bravianer oder Andrin. Selbst ein Rorak wäre denkbar.“

„Ich frage mich bei allem Leid in diesem bösen Land, wenn niemand doch hier unten ist, woher dies Stück dann stammt“, wandte Pingo ein, der dem Zwang zu Reimen nun nicht länger widerstehen konnte.

„Pingo hat recht“, sprang Karmon ihm bei, „hatten Sie uns nicht eigentlich weiß machen wollen, dass sich niemand außer uns und dem Malmer hier unten befindet?“

„Das habe ich nie behauptet“, widersprach Kollom, „ich habe nur gesagt, dass ich nie jemand anderen hier gesehen habe.“

„Warum sollte es hier abgerissene Haut geben?“, überlegte Pingo, „legt der Malmer hier doch irgendwo seine Beute ab?“

Kollom schüttelte den Kopf. „Das sähe ihm nicht ähnlich“, sagte er, ging noch etwas näher und schnüffelte an dem Hautfetzen. „Er ist noch frisch“, sagte er, „keine Spur von Verwesung.“

„Was immer es von wem auch immer abgerissen hat, muss also noch in der Nähe sein. Kann keines Ihrer Wundergeräte bestimmen, woher er stammt?“, fragte Karmon.

„Leider nein“, erwiderte Kollom kopfschüttelnd.

„Was immer dies auch heißen mag, es ist kein gutes Zeichen. Geht es nach mir, so würden wir von diesem Ort schnell weichen“, trällerte Pingo.

„Das sehe ich genauso“, stimmte Kollom zu, „wir sollten einen Zahn zulegen.“

Also beschleunigten die drei ihre Schritte, was es zugleich noch schwerer machte etwas anderes als das Geräusch ihrer eigenen Füße zu vernehmen, die sich deutlich hörbar über die Fliesen bewegten. Dafür hatte Pingo mehrmals den Eindruck Schatten zu erblicken, die nicht zu jenen passten, die von den mächtigen Säulen geworfen wurden. Doch da sie stets verschwanden, wenn er versuchte sie näher in Augenschein zu nehmen, machte er die beiden anderen nicht darauf aufmerksam, um sich nicht noch lächerlicher zu machen als er es ohnehin schon war.

Nachdem sie jedoch eine Weile im Laufschritt dem relativ gleichförmigen Säulengang gefolgt waren, registrierte er etwas, was er nicht verschweigen wollte.

„Die Fliesen“, sagte er, „seht euch die Fliesen an!“

Sowohl Kollom als auch Karmon senkten ihre Blicke und stellten fest, dass auf den bislang schmucklosen Fliesen nun Symbole und Zeichnungen bemerkenswerter Geschöpfe zu sehen waren. Diese Wesen – die allesamt recht detailliert und in Farbe dargestellt waren, zeichneten sich für gewöhnlich dadurch aus, dass sie ziemlich finstere Gesichter trugen und oft genug über zu viele Arme, Beine, Tentakel und Klauen verfügten. Auch stählerne Kronen, blutunterlaufene Augen, weit aufgerissene Münder, scharfe Zähne, blutige Richterhämmer, gezackte Messer und Peitschen oder Planeten, die in Stücke gerissen oder gefressen wurden, waren keine Seltenheit. Die Symbole waren nicht weniger finster und bedienen sich gerne an Strudeln, Spiralen, verzerrten Vielecken, Tränen, Totenschädeln und dergleichen mehr.

„Was ist das für ein Gekritzel?“, fragte Karmon.

„Das ist nicht irgendein Gekritzel“, bemerkte Pingo, „Das sind religiöse Symbole. Ich erkenne den Allfresser, das kalte Kind von Naal, den Mondsäufer, die Wurmranke von Rattooll, den letzten Richter, den Verlassenen und viele weitere.“

„Sind das Götter?“, fragte Kollom.

„Nein“, sagte Pingo, „das genaue Gegenteil. Das sind die Verkörperungen des Bösen und Falschen in den verschiedensten Religionen. Teufel oder Dämonen, wenn Sie so wollen.“

„Nett“, fand Kollom, „und irgendwie passend. Bei meinem letzten Besuch ist es mir überhaupt nicht aufgefallen.“

„Heißt das, dieser Ort ist so etwas wie die Antithese zur Festung auf der Oberfläche?“, erkundigte sich Karmon.

„Gut möglich“, antwortete Pingo, „Jedenfalls tragen diese Verzierungen nicht gerade dazu bei, diesen Ort vertrauenswürdiger zu machen.“

Plötzlich erscholl ein Warnton und Kollom blickte auf das Display an seinem Arm.

„Unerwarteter Besuch?“, fragte Karmon.

„Nein, erwarteter Besuch“, antwortete Kollom, „der Malmer nährt sich unserer Position.“

„Scheiße“, sagte Pingo und wünschte sich mit einem Mal sehnlichst wieder oben im Schlamm zu sein, „gibt es irgendeine Möglichkeit ihn zu bekämpfen?“

„Das schon“, räumte Kollom ein, „aber nicht, ihn zu besiegen. Jedenfalls nicht mit unseren Mitteln. Wir haben nur eine Chance: Wir müssen die Festung der Rilandi betreten, bevor er uns erwischt. Zum Glück ist es nicht mehr weit.“

Hatten die drei sich vorher schon schnell bewegt, so begaben sie sich nun in einen regelrechten Dauerlauf.

Pingo ging zuerst noch halb davon aus (und hoffte auch darauf), das Kollom ihnen irgendein Märchen erzählte, um schneller an sein Ziel zu gelangen. Doch seine Zweifel schwanden, als hinter ihnen die Erde bebte und überall um sie herum Staub und kleine Steine herabrieselten.

Pingo spürte, wie seine Beine immer schwerer wurden. Der Stein mochte ihn unempfindlicher gegen physische Angriffe gemacht haben, aber seiner Ausdauer war er ganz und gar nicht zuträglich. Immerhin war ein Stein nicht dazu geschaffen zu laufen.

Umso erleichterter war Pingo, als eine Weggabelung in Sicht kam und Kollom rief: „Dort hinten ist es. Wir müssen den rechten Gang nehmen. Dann sind wir so gut wie da.“

Sie legten noch mal an Tempo zu und als die Gabelung näherkam, entdeckte Pingo genau an der Wegscheide etwas, dass sein Gelehrtenherz schneller schlagen ließ. „Ein Terminal der Whe-Ann!“, rief er und lief wie ferngesteuert darauf zu.

„Was soll dieser Unfug?“, rief Kollom, „Der Malmer ist uns auf den Fersen, wir haben keine Zeit, um irgendwelche Artefakte zu betrachten.“

„Ich dachte, Sie mögen Artefakte“, konterte Pingo, „Außerdem MÜSSEN wir dafür Zeit haben“, fügte er aufgeregt hinzu, wobei seine akademische Neugier den Einfluss des Steins für den Moment fast vollkommen zurückdrängte, „die Whe-Ann haben mich schon fasziniert, seit ich in den Archiven das erste Mal von ihnen hörte. Eine höher entwickelte Verschmelzung aus natürlicher und künstlicher Intelligenz hat es nie gegeben. Es hätte nicht viel gefehlt und sie hätten das gesamte Multiversum unter ihre Kontrolle gebracht. Ich muss mir das ansehen.“

Erneut ging ein Beben durch den unterirdischen Gang. „Es fehlt nicht viel und wir alle werden zu Malmerfutter werden verdammt“, sagte Kollom streng, „wir müssen uns in Sicherheit bringen!“

Doch Pingo hörte ihn gar nicht. Er sah nur das Terminal aus dem grünlich schimmernden Metall namens Aranium, welches für die Whe-Ann charakteristisch war. Das Gerät ruhte auf einem Ständer aus acht dünnen, kreuzweise übereinander angeordneten Beinen und bestand im Wesentlichen aus einem ovalen, etwa neunzig Zentimeter breiten und fünfzig Zentimeter hohen Monitor, der wie ein Touchscreen zu bedienen war. Pingo, dessen Steckenpferd die Whe-Ann-Technologie gewesen war, wusste alles über die Bedienung und die Funktionnen des Terminals und deshalb wusste er auch, dass dieses Gerät hier praktisch unbenutzbar war. Irgendetwas – oder irgendjemand – hatte das Display so schwer beschädigt, dass es nur noch ein Netz aus Rissen aufwies. Diese sinnlose Zerstörung machte Pingo wütend. Aber dennoch beherrschte er sich so gut wie möglich und versuchte zu erkennen, was der Bildschirm des zwar unbenutzbaren, aber noch immer aktiven Terminals anzeigte. Die Risse machten das nicht eben einfach, aber er erkannte Farbflächen und Linien, die auf eine Karte des Gebiets hinwiesen. Er glaubte außerdem unter dem zerstörten Glas zwei grüne Pfeile zu erkennen, die wohl auf die beiden Gänge hinwiesen, die vor ihnen lagen. Die Beschriftung des rechten Pfeils war vollkommen unleserlich. Aber am linken Pfeil konnte er Fragmente von Schriftzeichen erkennen. Doch was war das für ein Wort? Es begann mit „Wuld“, aber wie ging es weiter? „Wuldin“ wäre das Whe-Ann-Wort für ein künstliches Arm-Implantat, was wenig Sinn ergeben würde, „Wulder“ bezeichnete eine Sitzgelegenheit, was noch viel Sinnfreier war. Verdammt, dachte er, es gibt einfach zu viele Begriffe in der Whe-Ann-Sprache. Angestrengt blickte er auf die Risse und versuchte irgendwie zu erraten, wie das Wort sinnvoll weitergehen könnte.

Plötzlich brachte ihn ein ohrenbetäubend lautes Donnern aus dem Konzept, gefolgt von einem schleifenden Geräusch. Ein stürmischer, kühler Wind fegte durch die Wärme der Höhle.

„Der Malmer kommt!“, schrie Kollom. Doch noch immer interessierte dies Pingo nur am Rande. So war es nicht selten, wenn er auf ein intellektuelles Problem konzentriert war. Danach könnte ein „r“ folgen, überlegte Pingo. Wuldru? Nein, das stand für ein Fleischgericht aus der vordigitalen, rein körperlichen Epoche der Whe-Ann.

Eine Hand packte Pingos Arm. Wahrscheinlich Kollom. Er versuchte ihn mit sich zu zerren, aber Pingo nutzte die Standfestigkeit, die ihm sein Zustand bot und blieb, wo er war.

„Karmon, helfen sie mir diesen Irren mitzunehmen. Wir sind gleich alle am Arsch!“, brüllte Kollom.

Wuldrex? Wuldruk? Ach verdammt, das ergab alles keinen Sinn.

Mit einem Mal spürte Pingo einen heftigen Ruck, als der hünenhafte Kwang Grong ihn einfach anhob und er das Terminal aus dem Blick verlor. „Nein! Ich muss erkennen, was dort steht!“, protestierte Pingo, aber Karmon zerrte ihn unbarmherzig mit sich. Als dieser sich umdrehte, kehrte Pingo endlich wieder ins Hier und jetzt zurück und sah den hässlichen, wurmartigen Malmer, der seine haarartigen Fäden nach ihnen ausstreckte und sein gewaltiges, kreisrundes Maul weit geöffnet hielt.

„Na endlich“, sagte Kollom aufgeregt, „folgt mir! Hier lang!“

Er bog wie angekündigt in den rechten Gang ein, während die ersten Ausläufer der Fäden knapp hinter ihnen ins Gestein einschlugen.

Vor ihnen tauchte eine eiserne, rostige Tür auf, die ihnen abweisend wie eine Festungstür den Weg versperrte.

Plötzlich machte es „Klick“ in Pingos ruhelosem Kopf. Natürlich. Es musste „Wuldran“ heißen. Das Whee-Annische Wort für „Festung“. Wo auch immer dieser Gang hier hinführte, er führte nicht an ihr Ziel. Sie waren auf dem falschen Weg.

„Auf jenem Pfad, auf dem wir sind, gelangen wir nicht weit, wir …“, begann Pingo.

„Niemand hat jetzt Lust auf Gedichte“, sagte Kollom genervt, „stopfen Sie ihm bitte das Maul!“

Pingo wollte erneut ansetzen in der Hoffnung dieses Mal einen normalen Satz herausbringen zu können, aber da hatte sich bereits Karmons Hand über seinen Mund gelegt und machte es ihm unmöglich ein verständliches Wort hervorzubringen.

„Können Sie diese Tür öffnen?“, erkundigte sich Karmon.

„Das kann ich“, bestätigte Kollom, „aber es wird einen Augenblick dauern. Versuchen Sie den Malmer so lange zu beschäftigten!“

Karmon schnaubte verärgert, aber als sich die Fäden durch den Tunnel schoben und gierig auf sie zurasten, feuerte Karmon Blitz um Blitz aus seiner Brust ab. Jedes Mal, wenn eines der Geschosse traf, zog sich einer der Fäden ein Stück weit zurück. Jedoch wurden es immer mehr und Karmon war bewusst, dass er das nicht ewig würde durchhalten können, zumal bislang noch nicht einmal das Maul des Malmers aufgetaucht war. Zudem spürte er, dass er mit jedem Schuss, den er abfeuerte, etwas von seiner Energie verlor. Sein Körper hungerte. Ein Hunger, den er früher oder später würde stillen müssen. Dass er Pingo dabei so festhalten musste, dass er nicht von den Geschossen seines Schattenstrahlers zerfetzt wurde, machte es nicht gerade besser.

Derweil umklammerte Kollom eines seiner Amulette und sprach ein paar unverständliche Worte.

Ein paar Herzschläge lang geschah gar nichts. Dann jedoch begann die Tür knarrend aufzugehen. Sehr langsam, so als würde sich jemand von der anderen Seite dagegenstemmen.

Dann ging ein erneuter, heftiger Windstoß durch den Gang und warf sowohl Kollom als auch Karmon und Pingo zu Boden.

Karmon rappelte sich als erster wieder auf und sah das gewaltige Maul des schwarzen Malmers über sich aufragen. Es bestand aus mehreren Reihen versetzt angeordneter Zähne, die sich in seinem Maul drehten wie Kreissägen und einem rotgrau geäderten, LKW-großem Rachen, der einen heftigen Sog auf alles ausübte, was sich in seiner Nähe befand. Erkennbare Augen besaß die Kreatur hingegen nicht.

Auch wenn er all das erfasste, hatte Karmon nicht die geringste Chance den heranpeitschenden Fäden auszuweichen, die sich sofort an seinen Körper hefteten. Pingo, der zwischen Karmon und Kollom gelandet war, hatte das Glück, dass die Kreatur nur immer eine Prüfung zur gleichen Zeit durchführen konnte.

Erneut grub sich das sezierende Messer des geistlosen Malmerwillens wie eine Klinge in Karmons Verstand. Anders als bei seiner ersten Prüfung zusammen mit Adrian, stand der Kwang Grong allein. Doch in diesem Fall erwies sich das als vorteilhaft. Karmon musste diesmal keine Rücksicht nehmen. Es war ein erbarmungsloser Kampf zwischen ihm und dieser fremden Biomaschine und solche Kämpfe auszutragen, hatte er gelernt.

„Ich bin entsprungen aus dem Seelenwirbel“, brüllte er dem Malmer innerlich entgegen, „aus dem Malstrom der ewigen Geburt. Ich habe das wimmelnde, reine, gnadenlose Chaos überwunden. Ich habe den Tod und die Trennung von meinem Grong Shin überlebt. Ich akzeptiere dein Urteil nicht, seelenloses Ding! Ganz gleich, wie es ausfällt.“

Mit diesen Worten ergriff Karmon die Fäden, die sich an seinen Körper geheftet hatten und riss sie mit einem Ruck ab. Einige davon wurden dabei zerstört, sodass die Enden in Karmon stecken blieben und kurz darauf verendeten.

Das Ding schrie nicht, da es nicht im eigentlichen Sinne lebte, aber es war damit ganz und gar nicht einverstanden. Der riesige Kopf des Wesens ruckte zurück, um Schwung zu holen und …

… Karmon rannte los, griff sich Pingo und Kollom, die beide noch nicht wieder aufgestanden waren im Lauf, hastete durch die Tür, deren Öffnung inzwischen groß genug war, um seinen massigen Körper durchzulassen und schlug sie mit aller Kraft zu.

Einen Augenblick später erbebte die Eisentür so heftig, dass Karmon fürchtete, sie würde aus den Angeln springen, aber die Tür hielt und da die Wände hier unten – anders als die Decke – aus massivem Gestein zu bestehen schienen, grub sich der Malmer auch nicht daran vorbei. Die Kreatur beließ es glücklicherweise auch bei dem einen Versuch. Sie schien nicht unnötig Kraft verschwenden zu wollen, wenn eine Sache aussichtslos war, oder aber sie wurde für eine Prüfung an der Oberfläche gebraucht.

Jenseits der Tür war es stockdunkel. Doch Kollom, der inzwischen wieder ganz bei Bewusstsein war, rief mit irgendeinem seiner vielen Artefakte eine kleine Lichtkugel hervor, die über seinem Kopf schwebte und den Gang einige Meter weiter erhellte.

Die Augen von Pingo, der ebenfalls wieder bei Bewusstsein war, weiteten sich, als er einen Blick auf das warf, was vor ihnen lag. Und als er sprach, war seine Stimme bis zum Rand gefüllt mit Ekel und Entsetzen.

„Bei den Bergen von Rihn, was ist das?!“

4 thoughts on “Fortgeschritten – Die blendenden Himmel von Uranor 5

  1. Also ich muss ja sagen das ich dich dafür hasse das ich deine Werke so liebe.. ?
    Nein spaß..(also mit dem hassen)
    Ich lese für mein Leben gerne aber noch nie hab ich Textwerk so schnell und Sehnsüchtig verschlungen wie deine Geschichten und am schlimmsten erwischt hat mich Fortgeschritten. Seit der erste Folge auf Kati’s Kanal bin ich süchtig danach. Allerdings habe ich ein paar Fragen die du mir hoffentlich beantworten kannst:
    1.Wird es irgendwann eine Gesamtausgabe in Buchform geben oder werden es mehrere Teile wenn ja wie genau werden diese aufgegliedert da ich nicht alle Episoden doppelt oder dreifach im Regal haben will? Da ich irgendwann nicht mehr warten konnte bis kati weiter vertont und dich auch bei diesem Werk unterstützen wollte habe ich mir das Buch gekauft jedoch möchte ich die ganze Geschichte irgendwann in schriftlicher Form im Regal stehen haben.
    2.Gibt es irgendeine Chance darauf das man Fortgeschritten irgendwann als hörbuch erwerben können wird? (am liebsten natürlich mit kati als lesestimme?)
    3.Wird es die Hintergrundinfos um Fortgeschritten welche ja hoffentlich noch mehr werden eventuell auch irgendwann als Taschenbuch oder ähnliches geben?
    Uuuund 4. Die wichtigste Frage weißt du schon wann man ungefähr damit rechen können wird das das nächste Kapitel deine Meisterschmiede verlassen wird?
    Zum Abschluss möchte ich einfach nur nochmal Danke sagen, danke dafür das du mein Leben mit deinen Fantastischen Geschichten um so vieles bereichert hast und hoffentlich noch viel mehr bereichern wirst.
    Liebe Grüße

    1. Hallo Andreas,

      mit dieser Form von Hass komme ich doch mal wunderbar klar ;D. Freut mich wirklich, dass dir meine Texte so gefallen. Da will ich dir natürlich auch Antwort auf deine Fragen geben. Zu 1) Ob es eine Gesamtausgabe in eigentlichen geben wird (also so klassisch im Pappschuber) weiß ich noch nicht, da ich ja im Selbstverlag über Books on Demand veröffentliche und sowas dort meines Wissens nicht angeboten wird. Ich werde aber in jedem Fall alle Geschichten in Bücher fassen. 2) Ein Hörbuch würde mir auch sehr gefallen, aber das hängt ja letztlich von Kati ab und da so etwas schon mit einem großen Aufwand verbunden ist. 3) Auf jeden Fall wird es das geben, sobald genug Backgroundinfos zusammengetragen sind. Habe da auch weitere Fragmente in Planung, aber da es so viele Projekte gibt, auf die ich Bock habe (Fortgeschritten, Fragmente, diverse Kurzgeschichten, irgendwann auch wieder Knochenwald) und leider viel zu wenig Zeit, kann das auch noch ein bisschen dauern. Das führt mich gleich zu Frage 4) Morgen werde ich mich an den nächsten Teil von Fortgeschritten setzen. Ich schätze mal, dass der Teil dann Ende Oktober oder Anfang November erscheinen dürfte. Vielleicht auch etwas früher oder später. Hängt auch davon ab, wie viel so auf der Arbeit los ist. Aber da Fortgeschritten mein Herzensprojekt ist, werde ich mein Bestes geben ;).
      Ich hoffe, ich konnte dir deine Fragen zufriedenstellend beantworten, danke dir für deinen lieben Worte und deinen Support und wünsche dir noch eine wunderschöne Restwoche.
      Liebe Grüße
      Angstkreis

  2. Nun traue ich mich endlich mal einen Kommentar dazulassen, da ich mit Sehnsucht (und einer Prise Fernweh) auf einen neuen Teil warte. Wann dürfen wir damit rechnen?
    Glg 🙂

    1. Hallo Aylin,

      du kannst gerne Kommentare dalassen. Ich freu mich immer sehr darüber :). Der neue Teil wird wohl im Laufe der nächsten Woche erscheinen. Bin mit dem Haupttext beinahe fertig, muss aber noch das „Intro“ in der Insektenwelt schreiben und noch ein paar mal Korrektur lesen, etc. Wäre gern früher fertig geworden, aber bei meinem Brotjob ist gerade recht viel los, weswegen ich nicht immer so zum Schreiben kam, wie ich gerne wollte. Der neue Part wird aber auf jeden Fall recht lang werden. Insofern gibt es dann wenigstens genügend Lesestoff ;).

      Liebe Grüße, Angstkreis

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