Fortgeschritten – Die blendenden Himmel von Uranor 3

Ich bin gar kein so beschissener Lehrer, wie ich dachte. Dafür ein umso miserablerer Vater. Seit ich mit unseren Lektionen begonnen habe, habe ich mich schlichtweg nicht mehr für Andy interessiert, ja sogar fast vergessen, dass er überhaupt bei uns ist. Zugegeben, es ist einfach ihn zu vergessen. Er ist nicht gerade der Sohn, den ich mir gewünscht habe und das liegt nicht allein an seiner ausgesuchten Hässlichkeit, sondern vor allem an seiner mangelnden Intelligenz. Er liegt die meiste Zeit apathisch herum und versucht nicht mal in der Höhle herumzukrabbeln. Wäre da nicht ab und zu sein zwar süßes, aber auch groteskes Lächeln, würde ich annehmen, dass er bereits tot ist. Das klingt hart, Arschlochhaft, ja geradezu behindertenfeindlich und wahrscheinlich ist es das auch. Die Sache ist nur … verdammt, ich will ihn ja lieben und auf eine abstrakte Weise tue ich das auch, aber gleichzeitig kostet es mich schon große Überwindung in seine Nähe zu kommen, geschweige denn ihn zu füttern oder zu streicheln, weswegen ich das immer Tarena überlasse. Ist es die Angst vor der Verantwortung? Vor dem Verlust meiner Unabhängigkeit? Oder bin ich doch kein so guter Mensch geworden, wie ich eigentlich gedacht hatte?

Davon abgesehen war es ein guter Tag gewesen. Jedenfalls wenn man die Umstände bedenkt, in denen sich meine Tage in letzter Zeit abspielen. Dass er ein solcher Tag gewesen war, lag vor allem daran, dass wir bei unseren Sprachlektionen einen echten Durchbruch gehabt hatten. Zum ersten Mal seit Beginn unserer Übungen, war es Tarena tatsächlich gelungen, einen sinnvollen und verständlichen Satz zu formulieren. Mehr noch: Es war eine Frage gewesen. Sie hatte gelautet: „Was heute essen?“

Zugegeben, diese Worte waren ganz nicht von besonderer linguistischer Eleganz gewesen, aber da Tarena ihr Geschriebenes mit entsprechenden Gesten untermauert hatte, konnte ich immerhin ausschließen, dass sie erneut Vokabeln durcheinandergebracht hatte.

Trotzdem hatten ihre Worte mich verwirrt, denn immerhin schien es in dieser düsteren Einöde kaum etwas anderes essbares zu geben, als das verfluchte Käferfleisch. Aber da ich glücklich und auch etwas stolz gewesen war, wegen dieses nicht unbedeutenden Erfolges, beeilte ich mich, auf ihre Frage zu antworten. „Käfer. Was denn sonst?“

Weniger aus meinen wenigen Worten, als aus meinem Gesicht, schien sie abzulesen, dass diese Aussicht keine übergroße Freude in mir auslöste.

„Muss nicht“, schrieb sie daraufhin zu meiner Überraschung, „was du willst?“

Sie blickte zu mir auf, und auch wenn das eigentlich nicht möglich sein sollte, glaubte ich aus ihrem unbewegten Gesicht so etwas wie schalkhafte Freude herauszulesen. Vielleicht waren es auch ihre Duftstoffe, die mir dieses Gefühl übermittelten. Eine unerwartete Aufregung wuchs in mir, schon bei der bloßen Hoffnung wieder einmal etwas anderes zu essen, als dieses zwar nahrhafte, aber widerliche Insektenfleisch. Ich überlegte kurz, was ich ihr zurückschreiben könnte. Eine ganze Menge möglicher Köstlichkeiten schied aus, entweder weil es sie – oder auch nur etwas vergleichbares – in dieser Welt nicht gab oder weil ich ihr die entsprechende Vokabel noch nicht beigebracht hatte. Doch am Ende fiel mir dann doch etwas ein. Etwas, dass sich kulinarisch so weit von Käferfleisch unterschied, wie es überhaupt möglich war.

„Obst wäre toll“, kritzelte ich in den Dreck und zu meiner großen Freude nickte sie, nachdem sie meine Worte gelesen hatte. Ich hatte es noch nicht geschafft, ihr den Unterschied zwischen Obst und Gemüse klar zu machen, aber zumindest hatte sie begriffen, dass ich damit die essbaren Früchte von Pflanzen meinte.

„Ich versuche“, schrieb sie und als sie diesmal auf die Jagd ging, beschäftigten mich in ihrer Abwesenheit erstmals nicht allein die Angst um ihr Wohlergehen, sondern auch die Hoffnung auf etwas Frisches, Saftiges, das nicht vor kurzem noch gekrabbelt hatte.

Als sie nach einigen Stunden zurückkehrte, brachte sie tatsächlich, neben den obligatorischen Käfern, vier etwa Ananas-große, hellgelbe Früchte mit einer harten, stacheligen Schale mit. Nachdem ich mich meinen Dank in den Dreck geschrieben und sie dafür umarmt hatte, nahm ich eine davon in die Hand und roch daran, jedoch ohne Ergebnis. Die Frucht besaß absolut keinen Geruch und als ich prüfend gegen ihre Schale klopfte, glaubte ich auch zu wissen, warum das so war: Ihre Schale war so hart und dick wie bei einer Kokosnuss. Also hob ich die Frucht hoch und holte aus, um sie gegen einen herumliegenden Stein zu schlagen, aber Tarena hielt mich mit einem energischen Kopfschütteln davon ab und schrieb nur „So“.

Dann nahm sie ebenfalls eine Frucht, griff sich mit der anderen Klaue eine Käferscherbe, setzte sie zielsicher an der Spitze der Frucht an und schnitt scheinbar mühelos den „Deckel“ ab.

Vorsichtig tat ich es ihr gleich und stellte dabei fest, dass die ansonsten so stabile Schale genau dort eine Schwachstelle besaß, wo Tarena den Schnitt angesetzt hatte. Nun kam ich mir tatsächlich wie ein Höhlenmensch vor, der alles mit roher Gewalt lösen wollte.

Die geöffnete Frucht hatte ein wässriges, schwammiges, kalkweißes, Fruchtfleisch und verströmte ein … komplexes Aroma. Es war süß, blumig aber auch sehr sauer und leicht bitter und meine (in dieser Frage ohnehin zweifelhaften) körpereigenen Instinkte konnten mir nicht eindeutig sagen, ob sie für mich genießbar sein würde oder nicht. Tarena konnte ich deshalb auch nicht fragen. Zum einen würde ich ihr damit unterstellen, mich vergiften zu wollen. Das hielt ich nicht nur ganz und gar für ausgeschlossen, sondern diese Unterstellung würde sie verständlicherweise auch sehr verärgern. Zum anderen hatte Tarena, bei all ihrer von mir doch anscheinend bislang unterschätzten Intelligenz, keine Ahnung von meiner Biologie. Selbst wenn sie nur mein Bestes wollte, konnte es sein, dass sie meinen Tod mit in diese Höhle gebracht hatte.

Doch nun musste ich es praktisch auf einen Test ankommen lassen, wenn ich keinen Streit mit ihr provozieren wollte. Immerhin hätte mir das Risiko von vorneherein bewusst sein sollen. Während sie also bereits fleißig dabei war, sich die Frucht zwischen Zunge und Mandibeln zu schieben, begann nun auch ich damit den ersten Klumpen mit den Fingern herauszulöffeln und davon zu kosten. Die Säure des Fleisches kribbelte bereits leicht auf meinen Fingern und noch viel mehr auf meiner Zunge und mein erster Impuls war, den Bissen wieder auszuspucken. Doch kurz darauf schmeckte ich auch eine durchaus angenehme und erfrischende Süße und selbst wenn die Frucht zudem einen scharfen, beinah chilliartigen Nachgeschmack besaß, wurden weder Säure noch Schärfe so stark, dass ich nicht weiter essen konnte. Im Gegenteil tat es wirklich unfassbar gut mal wieder etwas so erfrischendes und pflanzliches zu mir zu nehmen und so kratze ich zuletzt jedes bisschen Fruchtfleisch aus der harten Schale heraus. Auch wenn nach dieser Mahlzeit mein Mund etwas brannte, fühlte ich mich, schon allein durch die Abwechslung, wohl. Auch hatte ich bislang noch nicht den Eindruck, mich vergiftet zu haben, auch wenn die Angst davor nicht gänzlich verschwunden war.

„Danke dir. Das war gut“, bedankte ich mich bei Tarena, die mit „Freut mich. Wieder, wenn Gelegenheit. Nicht leicht zu bekommen“, antwortete. Offenbar schien sie inzwischen beim Schreiben den Dreh ganz gut rauszuhaben. Als Tarena mir jedoch eine weitere Frucht anbot, lehnte ich ab.

„Später“, schrieb ich, „will ich mir aufheben.“

Da inzwischen die Nacht hereingebrochen war und ich wenig Lust darauf hatte, mich weiter damit verrückt zu machen, jedes Jucken oder Räuspern als mögliches Vergiftungssymptom zu deuten und da ich mich in meiner Nervosität nicht dazu in der Lage fühlte meine Aufzeichnungen fortzusetzen, sagte ich ihr, dass ich nun schlafen wollte und legte mich auf den Höhlenboden.

Sie nickte und schloss sich mir an, wobei sie mich in ihre dürren Insektenarme nahm, jedoch erneut nicht versuchte mich zum Paarungsakt zu bewegen. Auch wenn ich durchaus den Eindruck gehabt hatte, dass ihr Lernerfolg und die Begeisterung, mit der ich mir ihre Jagdbeute am Ende einverleibt hatte, sie erfreut hatte, so bemerkte ich doch eine unbestimmte Traurigkeit und Apathie an ihr. Etwas Dunkles, Drückendes, dass an ihr zu nagen schien. Hatte es vielleicht mit diesem seltsamen Gang zu tun, der die Traurigkeit ausatmete wie einen Pesthauch, oder lag der Grund dafür in ihr? Ich schloss sie meinerseits in die Arme und hoffte, dass ich bald in der Lage sein würde, die Ursache für diese Stimmung in Erfahrung zu bringen, sobald ihre Sprachkenntnisse und mein Mut für solche Gespräche ausreichen würden.

Schon bald darauf übermannte mich der Schlaf. Doch seine Herrschaft über mich währte nicht lange. Es war noch tiefste Nacht, als mein schlaftrunkener Körper von leichten Bauchkrämpfen, heftigem Sodbrennen und üblen Blähungen geweckt wurde. Die Frucht, realisierte ich schnell. Anscheinend war sie für mich wirklich nicht sonderlich gut verträglich gewesen. Doch auch, wenn ich nicht behaupten konnte, dass ich mich gut fühlte, so hatte ich doch noch immer nicht den Eindruck in akuter Lebensgefahr zu schweben. In Hyronanin war mich schon deutlich elender zumute gewesen und selbst die eine oder andere Magenverstimmung auf der Erde, hatte mir schon stärker zugesetzt.

Sicher konnte sich das noch ändern, doch im Moment machte mir etwas anderes viel mehr Sorgen als das brennende Gefühl in meinen Eingeweiden: Tarena war fort. Nicht nur, dass sie mich nicht länger in den Armen hielt, sie ließ sich auch Mithilfe meiner Taschenlampe nirgends innerhalb unseres Unterschlupfs ausfindig machen und sie hatte auch Andy, der weiter friedlich in der Nähe der Höhlenwand schlummerte, nicht mitgenommen. Bei einem Menschen hätte ich vermutet, dass er irgendwo sein Geschäft erledigte, aber Tarena schien dies nicht häufig tun zu müssen und wenn, dann erledigte sie das für gewöhnlich auf der Jagd. Natürlich konnte es sein, dass ihr diese Frucht genauso auf den Magen geschlagen hatte wie mir, oder dass sie sich in den unheilvollen Tunnel gewagt hatte. Aber da mir meine Intuition mitteilte, dass beides nicht der Fall war, führte mich meine Suche nach ihr geradewegs nach Draußen in die feindliche Welt von Xakraschidaa.

Das schien keine falsche Entscheidung gewesen zu sein, denn nun, da ich die Höhle verlassen habe, dringt neben dem Heulen des Windes auch ein aufgeregtes Klicken an mein Ohr. Sofort versuchte ich die Quelle des Geräusches ausfindig zu machen, entdecke jedoch mit meiner Taschenlampe nichts weiter als schroffe Felsen unter einem dunklen Himmel, wobei ich mir nicht mal mehr sicher bin, von wo genau das Klicken gekommen war.

Dann jedoch erklingt das Geräusch erneut und diesmal kann ich nicht nur zweifelsfrei ausmachen, aus welcher Richtung es kommt, sondern auch, dass es nicht von Tarena stammt. Und als zielstrebig ich darauf zugehe, enthüllt der Strahl meiner Tascheneinlampe schließlich auch etwas, dass mein Interesse weckt: Eine gelbe, stachelige Schale. Genau wie die Schale der Früchte, die Tarena uns beiden mitgebracht hatte. Eine ungute Vorahnung befällt mich und ich setze meinen Weg, so schnell und leise wie ich kann, fort. Wieder höre ich ein Klicken. Lauter und vielstimmig diesmal. Zudem ein leises Scharren und Schmatzen. Mir wird eiskalt. Mein Herz beginnt hart gegen meine Brust zu hämmern. Die Geräusche – daran habe ich nun keine Zweifel mehr – entspringen direkt hinter einer Reihe größerer Felsen, die sehr eng beieinander stehen und zu beiden Seiten an Felswände angrenzen, weswegen sie sich nicht einfach umgehen lassen.

Mit der Sicherheit eines langjährigen Reisenden erklimme ich die Steine und blicke auf den Bereich dahinter. Dort sehe ich Käfer von jener Art, von der wir uns die ganze Zeit über ernährt haben. Doch nun, ernähren sie sich, wie ich mit Erschrecken feststellen muss, von Tarena.

Zu dutzenden krabbeln sie über ihren halb humanoiden Körper. Nagen an ihm. Reißen an ihm. Bedienen sich nach Herzenslust daran. Doch sie wehrt sich nicht, versucht nicht einmal wegzulaufen. Ist sie tot?

Ich denke nicht lange über diese Frage nach, entschließe mich stattdessen lieber zu handeln und lande mit einem gut gezielten Sprung direkt neben Tarenas Angreifern. Ihre Überzahl schreckt mich nicht. Ich mag keinen Kwang Grong mehr an meiner Seite haben, aber ich bin nicht gänzlich wehrlos.

Sobald der erste Käfer in Reichweite kommt, versuche ich ihn mit einem herzhaften Tritt zu zerquetschen. Doch auch wenn sein Panzer Risse bekommt, scheint ihn das nur wütender zu machen und er versucht nun auch sich in mein Bein zu verbeißen. Nicht mit mir mein Freund, denke ich, während ich einen weiteren Trumpf aus meiner Tasche hole:

Eine mit einem dunkelroten Edelstein versehene, münzgroße schwarze, gezackte Metallscheibe, die ich schon fast so lange mit mir rumtrage, wie meine bravianische Uhr. Und anders als diese funktioniert sie noch, auch wenn ich eigentlich darauf verzichten wollte, sie zu benutzen, da sie eng mit meiner dunklen Seite verknüpft ist und er mich noch dazu an den üblen Charakter ihre nun wesensentkernten Trägers erinnert. Doch leider habe ich gerade keine Zeit für solch feingeistige Abwägungen. Mit einer simplen Berührung des Edelsteins aktiviere ich On-Grarins Peitsche und sehe zufrieden dabei zu, wie ich den Käfer mit ihrer Hilfe mit nur wenigen kräftigen Schlägen in Mus verwandele und Käferblut und Panzerstücke in alle Richtungen davonspritzen. Doch ich habe keine Zeit für Siegesfeiern. Noch immer wird Tarena von Käfern bedrängt und wenn ich nicht bald etwas unternehme, könnte es für sie zu spät sein, falls es das nicht schon ist.

Mit einer normalen Waffe würde ich Gefahr laufen, sie zu verletzen, aber auch wenn sie nicht halb so effektiv wie mein alter Schattenstrahler ist, ist die mit Widerhaken versehene Peitsche glücklicherweise dazu in der Lage ihre Ziele sehr präzise zu wählen.

Einige Schläge später ist Tarena bedeckt von Käfermatsch und Chitinscherben, was ihr ein noch unmenschlicheres Aussehen verleiht. Trotzdem bin ich unglaublich erleichtert zu sehen, dass sie scheinbar noch am Leben ist, auch wenn sie aus mehreren Wunden blutet.

Als ich aber die Peitsche wieder einfahre und mich zu ihr herunterbeugen will, höre ich plötzlich ein lautes Summen und spüre einen jähen Schmerz in meiner rechten Hand.

Ich blicke an mir hinab und sehe eine besonders hässliche und noch dazu, geflügelte Version eines der Käfer, die sich mit ihren Beißwerkzeugen herzhaft in meine Hand verbissen hat. Reflexhaft und gegen meinen Willen öffne ich meine Finger und lasse dadurch die Peitschenscheibe direkt in den Rachen des Wesens fallen.

Genau das scheint das Wesen beabsichtigt zu haben. Denn statt meine Hand zu fressen oder wenigstens weiter zu attackieren, lässt es plötzlich los und versucht mitsamt des wertvollen Artefakts davonzufliegen, so als wäre dem Käfer bewusst, dass es eine Bedrohung für ihn und die anderen darstellt.

„Nichts da, du geflügelter Gesichtsunfall!“, schreie ich und besinne mich auf einen weiteren ungeliebten Trumpf, den ich meinen Reisen zu verdanken habe.

„Innita“, spreche ich im Geiste das Wort aus, welches diese Fähigkeit aktiviert und noch bevor sich das Mistvieh mit der Peitsche davon machen kann, glüht es in weißem Licht auf und zerfällt einen Augenblick später zu Staub, während die Münze scheppernd auf den Boden fällt. Schon wenige Herzschläge später zahle ich den Preis für mein lange nicht angewandtes Kunststück.

Als Erstes kommt die Aura. Bunte Farbkringel blitzen vor meinen Augen auf. Mein Sichtfeld verengte sich und bekommt Lücken und kaum da ich die Scheibe erreicht und die Hand darum geschlossen habe, beginnen die Schmerzen. Ich habe früher nie unter Migräne leiden müssen, doch ungefähr so stelle ich sie mir vor. Ein allgegenwärtiger, kaum aushaltbarer Schmerz, der es praktisch unmöglich macht, an irgendwas anderes zu denken, als daran, wann er endlich wieder aufhört. Zugleich überkommt mich eine starke Übelkeit, die sich jenem Unwohlsein anschließt, das ich der Frucht zu verdanken habe. Ohnmacht klopft bei mir an und macht mir das verlockende Angebot, all das loszulassen.

Doch ich darf ihr nicht nachgeben. Ich muss zu Tarena. Sie ist verletzt. Sie wird sterben, wenn ich ihr nicht helfe.

Unsicher und langsam stolpere ich vorwärts, als ich plötzlich wieder dieses Summen höre. Wie ein Betrunkener drehe ich mich um und sehe mich weiteren der Flugkäfer gegenüber. Es sind nur drei, doch in meinem aktuellen Zustand wäre bereits einer zu viel für mich. Meine telekinetischen Kräfte zu benutzen, scheidet aus. Eine erneute Anwendung würde mein Gehirn komplett zerstören.

Stattdessen versuche ich die Peitsche zu aktivieren, aber irgendwie erwische ich den verfluchten Edelstein nicht, da meine Finger zu sehr zittern, und ich die Münze entweder doppelt oder praktisch gar nicht sehe. Dann greifen die Käfer an. Ähnlich wie vorher Tarena habe ich ihnen nichts entgegenzusetzen, sondern merke nur, wie ihre scharfen Münder in mein Fleisch zwicken, während ihr Summen wie durch Watte an mein Ohr dringt. Hier, das wird mir trotz aller Schwäche und der Schmerzen in meinem Kopf bewusst, wird meine Geschichte enden. Nicht nur die meines Lebens, sondern auch die, die ich bislang in meinen Aufzeichnungen festgehalten habe. Paradoxerweise ist es Letzteres, was mich am meisten betrübt. Fernweh ist eine Sucht, eine Krankheit, denke ich benebelt, und der Tod ist die Heilung.

Noch kurz bevor ich das gnädige Angebot einer Ohnmacht annehme, die nichts weiter ist, als die Vorstufe zu meinem sicheren Ende, nehme ich am Rande meines eingeschränkten Sichtfelds eine schattenhafte Bewegung war. Das ist der Tod, der bleiche Gevatter, denke ich einen letzten Gedanken, Fortgeschrittene besucht er höchstpersönlich, um sie mit auf ihre letzte Reise zu nehmen und sich über ihre endlose Folge von dummen Entscheidungen und sinnlosen Hoffnungen zu amüsieren.

~o~

Was ich sehe, als ich entgegen meiner Erwartung wieder erwache, ist jedoch weder der schadenfrohe Tod, noch sein unbekanntes Reich, sondern ein starres, mir wohlbekanntes Gesicht. Tarena. Sie blutete noch immer aus mehreren Wunden, auch wenn sie nicht ganz so schlimm zu sein scheinen, wie ich zunächst gedacht hatte. Ich hingegen, fühle mich noch immer recht Elend. Ein Blick zu meiner Brust zeigt mir, dass ich dort mehrere Bisswunden trage. Nicht tief, aber an diesem Ort könnten sie trotzdem zu einer Gefahr werden, da es hier nichts gibt, mit dem ich sie desinfizieren kann. Auch mein Sodbrennen ist noch da, doch zumindest ist meine „Migräne“ zu einem gewöhnlichen Kopfschmerz abgeflaut.

Um mich herum liegen mehrere zerbrochene, geflügelte Käfer. Tarena musste sie getötet haben, als ich bewusstlos war. Eigentlich sollte mich das nicht überraschen, denn immerhin ist sie eine Jägerin. Andererseits …

Tarena beugt sich zu mir herunter. Sie scheint froh darüber zu sein, dass ich noch lebe und diesmal bin ich mir sicher, dass es ihre chemischen Botenstoffe sind, die mir das mitteilen. Doch neben diesen Duftstoffen, die an meiner bewussten Wahrnehmung vorbei direkt auf mein Gehirn wirken, rieche ich auch etwas anderes an ihr. Den Geruch der unbekannten Frucht, und zwar so intensiv, als hätte sie sich damit von Kopf bis Fuß eingerieben.

Ich breche etwas von einem Käfer ab, was mir diesmal besondere Genugtuung bereitet und schreibe „Danke“ auf den staubigen Boden.

„Gerne. Danke dir. Auch!“, schreibt sie zurück.

„Warum warst du hier draußen?“, frage ich.

Diesmal zögert sie und sieht mich lange an.

„Sterben“, schreibt sie schließlich und als ich das Wort lese, kann ich es kaum glauben, sondern vermute eher, dass sie sich nur vertan hat und eigentlich ein anderes Wort hatte verwenden wollen.

„Du willst sterben?“, frage ich und mache eine Geste, bei der ich mit dem Zeigefinger über meinen Hals streiche, in der Hoffnung, dass sie versteht, was damit gemeint ist.

„Ja“, antwortet sie und fügt nach kurzem Zögern hinzu, „Käfer. Mögen Obst.“

Nun begreife ich. Sie hat sich wirklich mit der Frucht eingerieben, um die Käfer anzulocken und sie hat sich nicht gewehrt, weil sie sterben wollte.

„Warum?“, frage ich und habe dabei einen Kloß im Hals. Tarena ist für mich längst mehr als ein fremdartiges Monster. Sie ist mindestens eine Freundin.

Diesmal klickt und zirpt sie nervös und legt dann verzweifelt ihr Gesicht in ihre Hände, bevor sie antwortet.
„Ich hab Kinder getötet“, schreibt sie mit zitternden Händen, „alle außer Andy.“

„Du hast was?“, frage ich laut, bevor ich das gesagte niederschreibe, da sie zwar geschriebene Worte verstehen kann, jedoch keine Gesprochenen, auch wenn ihr meine Emotionen sicher nicht entgangen sind.

„Hab getötet. Wollte leben. Damals. Als du gegangen. Ihre Kraft. Hab sie genommen. Und überlebt“, sagte sie.

„Du hast sie gefressen?!“, kritzelte ich fassungslos.

„Ja“, antwortete Tarena, „hasse mich dafür. Deshalb Tod. Einziger Ausweg.“

Ein Teil von mir will ihr zustimmen. Immerhin habe ich meine Kinder trotz ihrer Fremdartigkeit geliebt. Wenn ich ehrlich bin, weit mehr als Andy. Doch ich schlucke meine Wut und meine Abscheu über ihre Tat herunter. Wer bin ich, andere für Taten zu verdammen, die sie begangen haben, noch dazu, wenn sie sie bereuen? Ich habe so viel Leid verursacht und anders als Tarena habe ich nicht immer nur gehandelt, um zu überleben. Fuck, ich habe sogar Tarena und unsere Kinder zurückgelassen und bin deshalb für ihren Tod mindestens genauso verantwortlich.

„Kein Ausweg“, schreibe ich deshalb, „Der Tod ist feige. Er ist eine Flucht und einer Jägerin unwürdig. Damit würdest du sie in gewisser Weise zum zweiten Mal töten. Und außerdem würdest du damit auch mich im Stich lassen. Nein, Sterben würde nichts bringen. Leben ist besser.“

„Du willst, dass ich lebe? Du gerne bei mir?“, schreibt sie und sieht mir in die Augen. Zum ersten Mal erkenne ich wirklich, was für ein komplexes Seelen- und vielleicht auch Gedankenleben sich hinter ihrer scheinbar monströsen Fassade abspielt.

„Ja“, sage ich und lächele ein Lächeln, zu dem ich mich trotz allem nicht zwingen muss, „ich hätte dich nie verlassen sollen.“

Eine fast schon riechbare Pheromonwolke hüllt mich daraufhin ein, während Tarena plötzlich auf mich zugeht und mich so sanft in ihre dürren Arme schließt, wie ich es kaum für möglich gehalten hatte. In diesem Moment verstehe ich, wie ähnlich wir uns sind: Zwei geplagte Kreaturen, die nach einem geraden Weg durch das Chaos ihres Lebens suchen und dabei bislang so ziemlich alles falsch machten, was sie falsch machen konnten.

Ich weiß nicht, wie lange wir uns umarmten. Doch als der unangenehme und potenzielle gesundheitsschädliche Regen wieder anfängt, löst sie sich von mir.

„Wir müssen weg“, schreibt sie und fügt dann ein mehrfach unterstrichenes „Danke“ hinzu, gefolgt von den Worten: „Nicht mehr sterben. Leben für dich. Und für Andy. Verspreche.“

Ich nicke dankbar. Dann sammeln wir gemeinsam die Käfer ein (die ja immerhin wertvolles Eiweiß und zum Schreiben geeignetes Blut enthalten) und gehen zurück zur Höhle.

Da wir beide erschöpft und verwundet sind, legen wir uns wieder zum Schlafen hin. Doch während sie bereits kurz darauf wegdämmert, lassen mich meine Gedanken nicht los und so stehe ich schon bald wieder auf, um mir meinen Katalog zu greifen und meine Aufzeichnungen fortzusetzen. Sicherheitshalber werde ich natürlich ein Auge auf Tarena und auch auf Andy haben. Aber auch mein eigenes, aufgewühltes Seelenleben bedarf einer Therapie. Und welche kann besser sein – zumindest hier in dieser gottverlassenen Ecke des Multiversums – als Erinnerungen niederzuschreiben? Ganz besonders, wenn es darin um eine Zeit der Läuterung geht.

~o~

Die Kannibalin aus Dank Qua staunte nicht schlecht, als sich vor ihren Augen eine gut zweieinhalb Meter große Gestalt materialisierte. Sie hatte an diesem fremden Ort schon eine Menge seltsamer Dinge gesehen, doch das Geschöpf, das direkt vor ihr wie fest gewordener Nebel aus der Luft wuchs, war ihr vollkommen fremd. Es besaß einen grob humanoiden, leicht quadratisch wirkenden, dunkelgrauen Kopf mit kantigem Kinn, in dem winzige, aber intensiv leuchtende, eisblaue Augen glitzerten, die den Eindruck erweckten über alles und jeden zu urteilen, auf den sie ihren prüfenden Blick werfen konnten. Auf der Stirn der Kreatur leuchtete ein krebsartiges, rot glühendes Geschwür in Form eines fleischigen Auges, welches sich wie in langsamen Herzschlagen ausdehnte und zusammenzog. Der Mund des Geschöpfes hatte sie Form eines organischen Gitters, dessen „Gitterstäbe“ aus dem gleichen schwarzgrauen Fleisch wie sein ganzer Körper bestanden. Einem Fleisch, das zu gleichen Teilen an Echsenhaut, Insektenpanzer, menschliches Fleisch, Metall und synthetisches Gewebe erinnerte. Sein Körper bestand aus übereinander geschichteten, dreieckigen Platten, deren Spitzen nach Unten wiesen und die ihm ein rüstungsartiges Aussehen verschafften. In der Mitte dieser „Rüstung“, etwa auf Höhe seines Sonnengeflechts, war eine kreisrunde Öffnung zu sehen. Seine Arme waren dick und etwas zu lang und führten zu breiten Handflächen, die in spitzen, kräftigen Fingern endeten, welche, wenn es sie nicht bewegte, zu einer nicht unterscheidbaren Einheit verschmolzen. Am Ende seines breiten Rückens entsprang ein schimmernder, fast durchsichtiger, unruhig umherpeitschender Schwanz auf dem orangerot schimmernde Perlen aufgereiht waren. Ein sichtbares Geschlechtsteil besaß das Geschöpf hingegen nicht. Seine muskulösen Beine endeten in großen, nackten, humanoiden Füßen, aus denen jedoch statt Zehennägeln hornartige, dünne Fäden aus dem Fleisch ragten, deren von Krallen gekrönten Spitzen sich Halt suchend in den Schlamm gruben.

„Was bist du?“, fragte die Frau ängstlich und leckte sich nervös über ihre spitzen Zähne.

Karmon spürte ihre Angst, schmeckte sie in seinem Mund, so wie er auch ihre anderen Emotionen und sogar grobe Gedankenfetzen von ihr aufgefangen hatte. Zunächst hatte er es für eine Art Traum gehalten, die Gnade eines unerwarteten Jenseits, doch auch wenn er weit davon entfernt war, sich an diesen neuen Körper zu gewöhnen, hatte er schnell begriffen, wie die Dinge lagen. Er war nicht tot, nicht ausgelöscht, auch wenn er nicht länger ein Teil von Adrian war. Dieser ungehorsame Narr hatte sich nicht davon abhalten lassen, den Pyrit zu verwenden und nun hatte dieser Stein ihm einen neuen Körper geschenkt. Und dieser Körper hatte Bedürfnisse. Auch das spürte er.

Er kam einen Schritt näher, wobei ihm seine besonderen Füße und die zusätzliche Balance dabei halfen, mühelos über den Schlamm zu gehen. Die Frau, deren rote, verfilzte Haare wild vom Kopf abstanden, fletschte die Zähne und zückte ein schlecht gearbeitetes, bronzenes Messer.

Angstaggression, stellte Karmon fest. „Wie heißt du?“, fragte er.

„Umrida“, antwortete die Kannibalin, „komm keinen Schritt näher, oder ich spieß dich auf“, warnte sie.
Karmon kam noch näher und wunderte sich, warum sie weder um Hilfe rief, noch wegrannte. Doch dann begriff er es. Stolz, Mut und ein eiserner Ehrenkodex. Die Zutaten, aus denen frühe Gräber gemacht wurden.

„Mein Name ist Karmon“, sagte er mit tiefer, aber durchaus sanfter Stimme, „ich bin ein Kwang Grong. Und du bist leider zur falschen Zeit am falschen Ort.“

Wütend und erfüllt von der speziellen Dummheit großen Mutes rannte sie auf ihn zu und schlug ihre Zähne und ihren Dolch in sein hartes Fleisch. Karmon ließ es geschehen, ohne mehr als ein Zwicken zu spüren, dann ergriff er die Frau wie eine lästige Mücke, und hob sie so hoch, dass sich ihre Gesichter auf gleicher Höhe befanden. Er sah, dass ihre Zähne verschmiert waren mit seinem grauen Blut, auch wenn einige davon abgebrochen waren. Sein Fleisch war offenbar deutlich härter, als sie gedacht hatte. Trotz der Schmerzen, die sie empfand – was er genau wusste, da er auch diese Emotion von ihr auffing – war ihr Blick fest und entschlossen und sie gab keinen Laut von sich, außer dem, den ihre Lippen machten, als sie ihm Speichel und Blut ins Gesicht spuckte.

„Es tut mir leid“, sagte Karmon. Dann saugte er. Feine, hellrote Ströme aus Blut lösten sich aus dem Mund der Frau und flogen durch die Gitter von Karmons Mund hindurch in ihn herein, gefolgt von Fett und Gewebsflüssigkeit. Als er fertig war, war die Frau nur noch ein vertrockneter, brüchiger Haufen Haut, der wie ein totes Blatt auf die Erde sank. Einige der anderen Anwesenden hatten bislang neugierig zu dem Vorfall geblickt, wie Karmon sehr wohl bemerkt hatte, doch nun ihr Gesicht abgewendet. Niemand schien seinen Zorn wecken zu wollen.

Nun, da der Großteil der Frau in ihm war, fühlte er sich stärker, vitaler. Und dennoch war das hier nicht richtig. Er war kein Parasit. Er war für die Symbiose geboren, für das Geben und Nehmen. Nicht für DAS hier. Er war kein verfluchter Kwang Anan, kein Selentöter. Deshalb fühlte er sich nun schmutzig und widerlich. Und nicht nur das: Er fühlte sich – trotz der Stärke, die in diesem neuen Körper zu wohnen schien – auch so klein und verletzlich wie er es einst als Larve im Seelenwirbel gewesen war, nur dass da nun auch noch diese Sehnsucht nach Adrian war. Nach seinem Grong-Shin, seinem starken Verbündeten, mit dem er gemeinsam der Welt seinen Stempel hatte aufdrücken wollen. Er musste ihn finden. Seine Abwesenheit brannte in ihm wie eine frische Wunde. Zum Glück wusste er, wo er mit der Suche anfangen musste.

~o~

„Was hast du vor?“, fragte Pingo, als er sah, wie Sandra fluchend den Matsch von einem Buch abwischte, welches sie offenbar im Schlamm verborgen gehalten hatte.

„Verschwinden“, erwiderte sie und schlug den Katalog auf, den sie wieder aus Adrians Rucksack genommen und versteckt hatte, während Adrian nach dem Auftauchen des schwarzen Malmers wie eine sabbernde Salzsäule im Schlamm gestanden hatte.

„Indem du ein Buch aufschlägst?“, fragte Pingo skeptisch.

„Kein Buch. Ein Katalog“, sagte Sandra abwesend, während sie durch die Seiten blätterte, die vom Schlamm ziemlich mitgenommen gewesen waren.

Plötzlich breitete sich Erkenntnis auf Pingos Gesicht aus, „Ein Katalog? Ist das einer von denen, die Endless Horizons hergestellt hat?“

Sandra hörte auf zu blättern und drehte sich zu Pingo um, „Du weißt davon?“, fragte sie lauernd, klappte den Katalog zu und nahm ihn in ihre linke Hand, während sie vorsprang und ihre Rechte um Pingos versteinerten Hals legte, „Rede, WAS weißt du?!“

„Mehr weiß ich nicht zu sagen, es war nicht mein Gebiet, es bleiben tausend Fragen, gleich was mit mir geschieht“, erwiderte Pingo ruhig.

„Du lügst“, beharrte Sandra.

Pingo schüttelte den Kopf, „Nein, das tue ich nicht. Aber selbst wenn du mir das nicht glaubst, würde ich dir raten, mich nicht weiter zu würgen. Erstens ist es unhöflich, zweitens ist es nicht effektiv, da mein Körper zu stabil ist, um ihn auf diese Weise zu brechen und drittens besteht – wie ich bereits erwähnte – durch jede länger andauernde Berührung die Gefahr einer Infektion.

Das wirkte. Sandra ließ von ihm ab und sah misstrauisch auf ihre Hand, bevor sie mit den Schultern zuckte und den Katalog erneut aufklappte „Eigentlich ist es egal, ob du mir die Wahrheit sagst oder nicht. Ich habe genug von dieser Welt hier. Ich habe keine Lust mehr auf all den stinkenden Schlamm, das Geheule und das Elend, den verfluchten Malmer oder darauf mich von diesen Glasmenschen prüfen zu lassen. Und ich habe weiß Gott keine Lust auf deine Reime. Selbst dieses Licht reicht nicht, um all das Elend aufzuwiegen. Ich verschwinde und versuche mein Glück in der nächsten Welt. Freu dich darüber, dann bist du mich los.“

„Und was ist mit Adrian?“, fragte Pingo

„Was kümmert dich das?“, fragte Sandra.

„Ich mag ihn“, erwiderte Pingo.

„Warum?“, fragte Sandra, „immerhin kennst du ihn kaum.“

„Das ist keine Voraussetzung. Ich spüre für gewöhnlich, ob jemand ein guter Mensch ist“, sagte Pingo.

„Adrian? Ein guter Mensch?“, sagte Sandra laut lachend, „du bist wirklich ein Narr. Das ist der beste Witz des Jahrtausends.“

„Warum nur führst du solche Rede, wenn doch auch du ihm zugetan? Aus eurem Zwist spricht dennoch Liebe, wie ich sehr wohl erkennen kann“, antwortete Pingo.

„Ich habe ihn geliebt“, antwortete Sandra, „oder zumindest eine Zeitlang sehr gemocht. Aber das spielt keine Rolle mehr. Er ist und bleibt ein Verräter. Ein Blender und Täuscher. Wenn du klug bist, erkennst du das und hältst dich von ihm fern.“

„Das ist meine Entscheidung“, sagte Pingo.

„So ist es“, sagte Sandra während sie sich durch die schwarzen Seiten blätterte, „und ihn zu verlassen, ist meine. Er wird klarkommen. Immerhin haben diese gläsernen Heiligen ihn anscheinend in ihre Mitte aufgenommen. Er und der Spinnenbastard, der in seinem Körper wohnt, werden ihnen sicher eine hübsche, kunstvolle Geschichte aufgetischt haben und eh du dich versiehst, wird er sich zum Herrscher dieses Dreckhaufens emporgelogen haben. Vielleicht darfst du dann sein Herold werden oder so was, aber ich bin aus der Nummer raus.“

„Du bleibst, wo du bist, Sandra“, dröhnte eine tiefe Stimme, die einer weit mehr als zwei Meter großen, dunkelgrauen, humanoiden Gestalt gehörte, die es trotz ihrer Größe geschafft hatte, sich unbemerkt an die beiden anzuschleichen. Er stand nun nicht einmal zwei Meter von Sandra entfernt.

„Wer bist du, dass du meinst, mir irgendetwas befehlen zu können?“, fragte Sandra abschätzig, „Und woher zur Hölle kennst du meinen Namen?“. Sie hatte keine wirkliche Angst vor der Kreatur, da sie ihre Exit-Option direkt in Händen hielt. Eigentlich hätte sie sofort abhauen können. Aber sie war neugierig, immerhin war sie eine Fortgeschrittene.

„Ich heiße Karmon“, sagte das Geschöpf, „Und ich kenne dich sehr gut.“

„Karmon?“, fragte Sandra, während ihre Augen sich vor Überraschung weiteten, „wie der …“

„Ja“, sagte Karmon, „wie der Symbiont, mit dem Adrian bis vor kurzem seinen Körper geteilt hat.“

Sandra machte ein angewidertes Gesicht, als ihr erneut bewusst wurde, dass sie praktisch mit diesem Ding intim gewesen war, „aber wie ist das möglich?“, fragte Sandra, „Du solltest doch entweder noch immer in Adrian sein, oder im Nirwana schweben, oder wo Viecher wie du auch immer hingehen.“

„Der Narrenstein“, sagte Pingo leise.

„Das denke ich auch“, antwortete Karmon, „Diese Frau – Onyra – hat mich aus Adrian vertrieben, aber der Stein scheint mein Leben gerettet zu haben, indem er mir diesen Körper gegeben hat. Wahrscheinlich sollte ich mich bei dir bedanken, Pingo, auch wenn ich noch nicht weiß, ob es wirklich ein Segen ist oder nicht.“

„Gern geschehen“, sagte Pingo, „das Leben ist immer ein Segen.“

Nach kurzem Zögern fügte er hinzu: „Zumindest, wenn man nicht gerade drauf und dran ist, sich in einen Stein zu verwandeln.“

„Das alles freut mich wirklich für dich“, bemerkte Sandra, „aber wenn du jetzt erlaubst, würde ich diese illustre Runde gerne verlassen.“

„Ich erlaube es nicht“, sagte Karmon, und schneller, als Sandra es für möglich gehalten hatte, beugte er sich nach vorn und legte eine seiner Pranken um den aufgeschlagenen Katalog.

„Lass ihn sofort los“, verlangte Sandra.

„Sonst was?“, wollte Karmon wissen.

Sandra funkelte den Symbionten nur düster an und versuchte ihm den Reisekatalog zu entwinden, jedoch erkannte sie schnell, dass sie Gefahr lief, ihn dabei zu zerreißen.

„Was kümmert es dich, ob ich bleibe?“, fragte Sandra als sie einsah, dass sie keine Chance hatte, ihren Besitz mit Gewalt zurückzuerlangen und zuließ, dass der Kwang Grong den Katalog an sich nahm, bevor noch ein Unglück geschah.

„Ich will zu Adrian zurück“, sagte Karmon, „und das werde ich nicht allein schaffen.“
„Das wirst du auch nicht mit unserer Hilfe schaffen“, entgegnete Sandra kühl, „Wir kommen genauso wenig durch die Lichtbarriere wie du und damit nicht in die Festung hinein. Außer natürlich, du willst darauf warten, dass wir alle drei die Prüfungen von Onyra und ihren Freunden bestehen.“

„Es gibt andere Möglichkeiten“, sagte Karmon, „wir können einen von ihnen gefangennehmen und ihn dazu zwingen uns hindurchzulassen.“

„Das haben andere schon versucht“, wandte Pingo ein, „viele sogar. Die meisten verglühten zu Asche, als die Glaswesen ihr Licht gegen sie einsetzte. Einer der Verdammten, dessen Körper im Wesentlichen aus Feuer bestand, hatte es tatsächlich geschafft, einen von ihnen als Geisel zu nehmen. Aber selbst als er ihn Stück für Stück eingeschmolzen hat, hatte das Glaswesen sich entweder standhaft geweigert die Barriere zu öffnen, oder hatte tatsächlich nicht die Möglichkeit dazu gehabt. Auf diesem Weg werden wir nicht in die Festung kommen.“

„Vielleicht kann ich euch helfen“, sagte eine Stimme und als sich die drei zu ihr umdrehten, erkannten sie einen männliche, ganz von Schlamm und Käfern bedeckte Gestalt, die wie aus dem Nichts erschienen war. Doch sie war nicht aus dem Nichts gekommen, begriff Sandra sofort, sie war – auf welche Weise auch immer – aus dem Schlamm emporgestiegen. Entsprechend verdreckt und von Ungeziefer bedeckt war sie auch, weshalb sich ihr genaues Aussehen auch nicht bestimmen ließ.

„Hast du uns etwa ausspioniert?“, fragte Sandra drohend.

„Ja“, gab der Mann unumwunden zu, „aber nicht, um Ihnen in irgendeiner Weise zu schaden.“

„Wozu dann?“, fragte Karmon, dessen stechende Augen den Mann durch die Kruste aus Käfern und Schlamm zu beobachten schienen.

„Es ist jedenfalls keine gute Idee, sich dort zu verkriechen, wo der Malmer wohnt“, kommentierte Pingo.

„Ich bin ganz einfach auf der Suche nach Informationen“, sagte der Schlammbedeckte, ohne Pingos Einwurf zu beachten, „und nach Artefakten.“

„Nach Artefakten?“, fragte Pingo, „was für Artefakte?“

Statt zu antworten, verschränkte der Mann die Hände ineinander. Eine Sekunde verstrich, dann spritze unvermittelt eine Wolke aus Schlamm und Käfern auf Sandra, Pingo und Karmon. Während das den Mann aus Rihn nicht weiter zu stören schien und Karmon den Fremden nur finster anblickte, funkelte in Sandras Augen reine Mordlust.

Dafür war der Unbekannte selbst nun wieder vollkommen sauber. Er trug einen weißen Anzug und eine ebenso weiße Hose mit Bügelfalten. In den Anzug war eine digitale Anzeige eingelassen, die ihn als „Kollom Nehmer. Geschäftsführer vom Machtkomplex der kalten Hand“ auswies. Ein weiteres Display auf seinem rechten Handrücken zeigte die Zahlen- und Buchstabenkombination: „5G800M173F“. Seine Körperform war relativ menschenähnlich, jedoch gab es bestimmte Besonderheiten. So zeigte seine gesamte, sichtbare Haut eine intensive, rotbraune Musterung, wie von extremen und zu großen Sommersprossen. Dabei war sie von einem ungewöhnlich hellen, alabasterfarbenen Ton, wodurch sie leicht transparent wurde und man die Adern darunter erahnen konnte. Zudem besaßen seine Hände sechs Finger und seine Augen waren vollkommen rund, was ihnen einen starrenden, totenschädelhaften Ausdruck verlieh. An einem dünnen, schwarzen Gürtel trug er ein silbernes Etwas, das wie eine futuristische Mischung aus Aktenkoffer, Laptop und Tablet aussah. Um seinen Hals baumelte eine ganze Reihe von altmodisch erscheinenden Amuletten und an seinen Armen trug er diverse, lederne und goldene Armbänder.

„Was fällt dir ein, du lebensmüde Schlammratte“, zischte Sandra, während sie sich einmal mehr widerlichen Schlamm aus ihrem Gesicht wischte, „ich habe schon Leute für Geringeres hinrichten lassen.“

„Das glaub ich gern, geehrte Frau Tyrannin“, sagte der Mann unbeeindruckt und mit einem schier unglaublichen Selbstbewusstsein, „sicher haben Sie ganz vorzügliche Hinrichtungen veranstaltet, als Sie noch in ihrem Thronsaal saßen und nicht im kalten Schlamm. Mein Name ist, wie Sie vielleicht bereits gelesen haben, Kollom Nehmer. Ich bin der CEO vom Machtkomplex der kalten Hand, Hochhändler der Lebensmärkte von Deovan und leidenschaftlicher Sammler von Artefakten.“

„Mein Name ist Sandra und ich lasse mich nicht verhöhnen, du Witzfigur, ganz egal, wie du heißt“, Sandras Gesicht verdüsterte sich weiter, „wenn du es auf den Katalog abgesehen hast, dann …“

„Keine Sorge“, erwiderte Kollom, „ich will nicht leugnen, dass diese Kataloge sehr begehrt sind. Selbst im Beschädigten und benutzten Zustand. Aber erstens bin ich kein gemeiner Dieb und zweitens nicht dumm genug Streit mit dessen neuem Besitzer anzufangen.“

„Er ist nicht sein Besitzer!“, betonte Sandra wütend.

Kollom klimperte überheblich lächelnd mit seinen ungewöhnlich langen Wimpern. „Derjenige, der die Verfügungsgewalt über einen Gegenstand hat, ist nun mal sein Besitzer, Teuerste und im Moment scheint mir das ihr großer Freund zu sein. Wenn ich mich mit etwas auskenne, dann ist es Besitz und das ist eben die Definition.“

„Dafür kenne ich mich mit ganz anderen Dingen aus. Das wirst du schon noch erleben, du Bastard“, zischte Sandra, ohne Kollom damit aus der Ruhe bringen zu können.

„Wer sagt eigentlich, dass Sie mich nicht bereits verärgert haben?“, knurrte Karmon dunkel.

„Womöglich habe ich das“, antwortete Kollom, „aber sicher nicht so sehr, dass Sie sich durch eine unüberlegte Reaktion aufgrund gekränkter Eitelkeiten, die Chance nehmen würden, das zu bekommen, was Sie ersehnen.“

„Sie könnten mich tatsächlich zu Adrian bringen?“, fragte Karmon, wobei er sich etwas herunterbeugte, um Kollom direkt in die Augen zu sehen. Seine Spitzen Finger klappten dabei immer wieder nervös auseinander. In der Öffnung in seiner Brust knisterten schwarze Blitze.

„Ja, das kann ich in der Tat“, erwiderte Kollom.

„Und wie soll dies vonstattengeh‘n, wenn all der Mühe sinnlos war, selbst beim verzweifeltsten Versuch, stets die Barriere standhaft war?“, fragte Pingo, der sich lange zurückgehalten hatte, wahrscheinlich aus Abscheu davor, wieder in Reimen sprechen zu müssen.

„Ihr seid ein Pyritgeweihter, nicht“, fragte Kollom und bedachte Pingo mit einem Blick, der in Sekundenbruchteilen seinen monetären Wert abzuschätzen schien, „euren Typus habe ich immer für besonders interessant gehalten. Wunderbare Eigenschaften, die ihr da habt, auch wenn das Reimen nicht unbedingt dazu gehört. Dafür bietet euer Körper vielerlei Schätze.“

„Von denen Sie keinen einzigen bekommen werden“, sagte Pingo verletzt, „Ich bin nicht nur irgendein Pyritgeweihter. Ich habe eine Geschichte. Einen individuellen Geist. Mein Name ist Pingo Dellahan aus Rihn, ehemaliger Sucher der gläsernen Archive. Ich bin ein Lebewesen. Keine Ware.“

„Das eine muss das andere nicht ausschließen“, sagte Kollom verschmitzt, „und natürlich würde ich Sie angemessen dafür bezahlen, wenn Sie mir einige Pyritstücke überlassen würden. Damit Sie den sicher kurzen Rest ihres Lebens in angemessenem Wohlstand genießen können. Aber darüber können wir später verhandeln. Erst einmal zu ihrer Frage: Ja, ich kann die Barriere überwinden wo andere gescheitert sind, weil ich die entsprechenden Hilfsmittel besitze.“

„Du willst uns also erzählen, dass diese albernen Amulette an deinem Hals die Lichtbarriere öffnen können?“, fragte Sandra mehr als nur skeptisch.

„Nein“, antwortete Kollom, „aber sie erlauben mir und – falls Sie mir helfen wollen – auch Ihnen, sie zu unterlaufen.“

Pingo entfuhr daraufhin ein hohes Kichern, „Sie wollen doch nicht ernsthaft vorschlagen, dass wir uns durch den Schlamm wühlen, oder? Mal abgesehen davon, dass wir keinen Schlamm atmen können, wohnt dort unten der schwarze Malmer. Wir wären in Sekunden tot. Und selbst wenn nicht, garantiert uns niemand, dass es von unten überhaupt einen Zugang gibt.“

„Ich war bereits dort unten, wie Sie vielleicht mitbekommen haben. Ich lebe trotzdem noch“, erinnerte Kollom, „und nicht nur das: Ich war auch bereits direkt unterhalb der Festung und kann Ihnen deshalb sagen, dass das Reich des Malmers zwar groß ist, aber auch endlich. Es gibt sichere Bereiche, in die er sich nicht begibt. Natürlich ist es dennoch riskant, aber das sind große Investitionen oft.“

„Das wird doch immer absurder“, protestierte Sandra, „wenn du bereits dort unten gewesen bist, wenn du bereits die Festung betreten hast und ohne jede Prüfung dorthin gelang bist – warum bist du dann zurückgekehrt und bittest irgendwelche Wildfremden um Hilfe? Und vor allem: Welchen Grund hast du dann, durch den Schlamm zu kriechen und uns dorthin führen zu wollen? Was springt für dich dabei heraus?“

Kollom nickte zustimmend, so als wäre er ein Lehrer, der eine Schülerin für eine unerwartet geistreiche Bemerkung loben wollte.

„Gute Frage“, sagte er, „Aber wenn Sie noch etwas angestrengter nachdenken würden, könnten Sie sie sich vielleicht selbst beantworten. Zum einen, habe ich nie behauptet, IN der Festung gewesen zu sein. Lediglich darunter. Zum anderen bin ich vor allem deshalb nicht alleine und unbefugt dort eingedrungen, weil es meiner Gesundheit womöglich nicht zuträglich sein könnte, wenn die Rilandi mich ganz alleine dort antreffen. Mit etwas Hilfe und einem Wesen wie Karmon an meiner Seite, sähe das vielleicht anders aus. Was meine Motivation betrifft, so ist dies meine Angelegenheit. Nur so viel: Ich habe durchaus meine Gründe an diesen Ort gelangen zu wollen. Mein Deal wäre also folgender: Ich helfe Ihnen in die Festung zu kommen und Sie helfen mir bei eventuell auftauchenden Schwierigkeiten. Also, was sagen Sie?“

„Ich wäre dabei“, sagte Pingo, „Zwar traue ich Kollom nicht und habe wenig Lust dem Malmer zu begegnen, aber da ich im Grunde schon so gut wie tot bin, habe ich nicht viel zu verlieren. Außerdem interessiert mich brennend, wie es im Inneren der Festung der Rilandi – ich denke damit meinen Sie die Glasmenschen – aussieht und auch, wie sie Adrian und die anderen dort drin behandeln.“

„Ich bin ebenfalls einverstanden“, sagte Karmon, „es scheint mir der einzige Weg zu sein, Adrian wieder nahezukommen. Doch wenn das irgendeine Falle ist, werden Sie das bereuen, Kollom.“

„Das ist mir bewusst“, antwortete Kollom, „Von Zeit zu Zeit gehe ich durchaus große Risiken ein, wenn die Gewinnaussicht hoch genug ist. Doch Sie zu betrügen wäre selbst mir eine Nummer zu riskant. Sie können mir also vertrauen.“

„Das tue ich nicht“, erwiderte Sandra, „und ich werde mich auch nicht mit dir unter die Erde begeben und mich deinen hinterhältigen Plänen ausliefern. Das könnt ihr beiden gern alleine tun.“

„In Ordnung“, sagte Karmon mit einem ironischen Glitzern in den Augen, „ich werde gut auf deinen Katalog achten, Sandra. Und wenn wir Adrian gefunden haben und heil zurückgekehrt sind, werde ich ihn dir auch wieder aushändigen.“

„Du gehst damit nirgendwo hin, Karmon!“, brüllte Sandra.

„Oh doch“, beharrte Karmon, „und wenn du nicht bald damit aufhörst, mir gegenüber einen solchen Ton anzuschlagen, werde ich den Katalog zerstören.“

„Das wagst du nicht!“, protestierte Sandra.

„Warum nicht?“, fragte Karmon, „weder für mich noch für Adrian ist er in irgendeiner Weise nützlich.“

„Ich würde nur ungern auf ihre Gesellschaft verzichten“, mischte sich Kollom, der Sandras noch immer nur von Unterwäsche und Schlamm bekleideten Körper gerade von oben bis unten musterte, in die Diskussion ein, „Sehen Sie es doch einmal so: Wenn Sie hierbleiben, liefern Sie sich den Prüfungen und dem schwarzen Malmer aus. Mit ungewissem Ausgang. Wenn sie aber mitkommen, entgehen Sie all dem, wissen ihren Katalog in der Nähe, genießen meine amüsante Gesellschaft und bekommen zudem Gelegenheit im Licht zu baden.“

„Ich bade lieber in Wasser“, sagte Sandra trocken.

„Das stimmt nicht“, widersprach Kollom, „ich bin recht geschickt darin die Bedürfnisse und Sehnsüchte anderer zu lesen und in ihrem Gesicht lese ich, dass ihnen das Licht nicht gleichgültig ist. Sie wollen sich davon reinigen lassen. Sie hoffen, dass es ihr chaotisches inneres beruhigt. Lediglich ihr Stolz verhindert, dass Sie sich das eingestehen.“

Sandra blickte Kollom wütend an. Bevor Sie jedoch antwortete verstrichen ein paar Sekunden, „als Psychologe bist du ein Totalausfall“, sagte sie schließlich, „aber mit einer Sache hast du Recht: Ich werde meinen Katalog nicht aus den Augen lassen. Und wenn diese größenwahnsinnige Hausspinne“ – sie blickte zu Karmon – „mich damit erpresst, bleibt mir wohl keine andere Wahl, als mich diesem Himmelfahrtskommando anzuschließen. Aber wenn ich mitkommen soll, stelle ich zwei Bedingungen!“

„Und die wären?“, fragte Kollom.

„Erstens brauche ich eine Waffe. Ich bin nicht ungeübt im Nahkampf, aber wenn ich mich selbst oder deinen Juppie-Arsch effektiv schützen soll, will ich mich nicht auf meine Fäuste verlassen müssen. Das sollte auch in deinem Interesse sein. Hast du da irgendwas in deinem tollen Koffer?“

„Das erscheint mir vernünftig“, sagte Kollom lächelnd, „Zufällig habe ich tatsächlich etwas Passendes dabei. Sogar für uns alle. Und wie lautet ihre zweite Forderung?“

„Ich brauche etwas zum Anziehen. Mir egal, ob du sie jemanden von den anderen Schlammkriechern hier klaust oder mir deinen Fummel übergibst: Ich habe jedenfalls keinen Bock mehr auf die gierigen Blicke, die du mir zuwirfst.“

„Das wird nicht nötig sein“, sagte Kollom und tippte auf seinen seltsamen Koffer, „Auch Kleidung habe ich bei mir. Auch wenn ich nicht verstehe, was für ein Problem Sie mit gierigen Blicken haben. Bei uns in Deovan sagt man: Gier ist das Lob des Begehrten.“

„Bei uns auf der Erde sagt man: Halt deine sexistische Fresse und lass die Klamotten und die Waffen rüberwachsen“, konterte Sandra.

„Nur Geduld“, sagte Kollom, strich mit der Handfläche seiner linken Hand über den Koffer, der daraufhin aufklappte und auf der einen Seite Fächer mit Scheckkarten, Amuletten und weiteren kleinen Objekten offenbarte auf der anderen Seite ein Display, über dem die holografische Projektion einer weiß leuchtenden Kugel schwebte.

„Also ich kann da drin weder Waffen, noch Kleidung erkennen“, merkte Pingo an.

Kollom grinste nur und ließ seine Finger über das Display fliegen, woraufhin das Hologramm sich in einen weißen Overall verwandelte. Dann tippte er erneut auf das Display, streckte seinen linken Arm aus und das stoffliche Ebenbild der Projektion manifestierte sich darüber, wie über einem Wäscheständer. „Bitteschön“, sagte er und bedeutete Sandra mit einem Nicken das scheinbar aus dem Nichts erschaffene Kleidungsstück zu ergreifen.

„Nettes Kunststück“, sagte Pingo, „auch ein Artefakt?“

„Technologie“, antwortete Kollom, „meine Firma stellt das ein oder andere nützliche Spielzeug her.“

„Das ziehe ich nicht an“, protestierte Sandra verärgert, während sie den Overall begutachtete.

„Warum denn nicht?“, fragte Kollom.

„Auf dem Rücken steht ‚Property of Kollom Nehmer‘“, sagte Sandra, „Halten Sie mich für bescheuert? Ich will etwas anderes.“

„Ich habe leider nichts anderes“, antworte Kollom süffisant, „außerdem können Sie mir doch wohl kaum übelnehmen, dass ich mein EIGENTUM kennzeichne.“

Die Art, wie er das Wort „Eigentum“ betonte und wie er Sandra dabei ansah, machte überdeutlich, dass er damit nicht alleine den Overall meinte. Dennoch schluckte Sandra ihren Zorn schweren Herzen herunter, als Karmon ihr einen warnenden Blick zuwarf. Der Kwang Grong duldete keine Spielchen mehr und Sandra konnte es nicht dulden, dass er ihren Katalog beschädigte. Sie zog sich also, wenn auch murrend, an.

„Was ist mit den Waffen?“, fragte Karmon währenddessen.

„Kein Problem“, sagte Kollom, wiederholte die gleiche Prozedur wie zuvor bei dem Kleidungsstück und präsentierte drei kleine, weiße Pistolen, die nicht viel mehr waren als gebogene Rohre aus einem harten, matten, unbekannten Kunststoff, mit einem Auslöser und einer Kennzeichnung in Form einer hellgrauen Hand, die sich um einen Planeten schloss, an ihrem Griff. Dasselbe Symbol prangte auch auf dem Overall, den Kollom Sandra gegeben hatte.

„Was Ihr uns gebt an Schussgewalt, scheint mir von mickriger Gestalt“, kommentierte Pingo, als er seine Waffe entgegennahm.

„Wartet es ab“, widersprach Kollom, „ihre Größe sagt nichts über ihre Leistungsfähigkeit aus. Es gab nur keinen Grund sie mit unnötigem Ballast zu überfrachten. Sie muss töten, nicht schwer sein.“

Als Sandra, die sich nun fertig angezogen hatte, ihr Exemplar mit einem so wütenden wie begierigen Blick entgegennahm und Kollom dabei ein kaltes Lächeln schenkte, fügte dieser hinzu, „Damit Sie es wissen: Diese Waffen sind gegen mich wirkungslos. Sie geben keinen einzigen Schuss ab, wenn Sie sie gegen mich richten und selbst, wenn sie versuchen würden, mir damit gegen den Kopf zu schlagen, würde Ihnen das höchstens schmerzhafte Stromstöße einbringen.

Sandras Lächeln erlosch, „was ist, wenn wir dich zufällig treffen?“, fragte sie.

„Das ist kein Problem“, erwiderte Kollom, „die Waffe liest Verhalten, Stresslevel, Körpersprache, Hautspannung und Hormonstoffwechsel ihres Trägers. Wenn es wirklich Zufall wäre, hätten Sie nichts zu befürchten. Ich hoffe, das beruhigt Sie.“

„Ungemein“, sagte Sandra frustriert.

Kollom streckte die letzte Waffe Karmon entgegen, der jedoch kopfschüttelnd ablehnte. „Ich brauche keine Waffe“, brummte er, „ich bin eine.“

Wie zum Beweis ließ er das Loch auf seiner Brust etwas aufglühen.

„Gut, dann können wir uns noch endlich ans Werk machen“, sagte Kollom.

„Ganz meine Meinung, sagte Karmon, „aber wie genau soll das funktionieren? Haben sie dort unten einen Tunnel gegraben, der für uns alle groß genug ist und der genügend Sauerstoff bietet, damit wir nicht ersticken?“

„In gewisser Weise hatte ich das tatsächlich“, antwortete Kollom, „aber die Tunnel sind instabil, wenn man sie nicht aufrechterhält. Das ist aber kein Problem, wenn man das richtige Werkzeug hat.“

„Noch ein Artefakt?“, wollte Pingo wissen.

„Nicht direkt“, gab Kollom zurück, „sehen Sie einfach selbst.“

Zum dritten mal bediente er seinen Kofferlaptop, nur dass sich diesmal kein Gegenstand als holografische Projektion und kurz darauf in Natura zeigte, sondern eine kleine, muskulöse haarlose Frau, die demselben Volk anzugehören schien, wie auch Kollom. Sie trug denselben Overall, wie nun auch Sandra, nur dass dieser bei ihr sehr schmutzig war. Ihre runden Augen wirkten durchaus intelligent, aber auch erschöpft, traurig und leer. Besonders auffällig waren aber ihre Hände. An ihnen waren keinen einzelnen Finger. Stattdessen waren diese zu zwei schaufelförmigen Gebilden aus Fleisch zusammengewachsen, die so groß und schwer waren, dass die Frau sich leicht gebeugt halten musste, so als würde sie sonst nach vorne überkippen.

„Das ist ein Witz, oder?“, fragte Sandra mit einer Mischung aus viel Abscheu und etwas Mitleid.

„Nein, das ist Schaufel“, antwortete Kollom.

„Das ist doch kein Name“, widersprach Pingo, den der Anblick der teilnahmslos auf den Boden blickenden Frau offenbar deutlich stärker mitnahm.

„Das stimmt“, sagte Kollom, „Es ist eine Funktion. Und nur um diese zu erfüllen, habe ich sie gekauft. Ihr Name ist für mich nicht von Bedeutung. Sie soll mir – und nun uns – den Weg freiräumen und das tut sie adäquat.“

„Also ist sie eure Sklavin?“, fragte Pingo erschüttert.

„Es ist ein Handel“, widersprach Kollom, „Sie bekommt dafür Nahrung und darf in meinem Manifester wohnen, solange sie nicht gebraucht wird. Daran ist nichts Verwerfliches.“

„Und was ist mit ihren Händen?“, hakte Pingo nach, „Gehört das etwa auch zu eurem ‚Handel‘?“

„Ja“, erwiderte Kollom, „wenn ich jemanden einstelle, muss er auch bereit sein, seinen Aufgaben bestmöglich nachzukommen. Körperliche Modifikationen sind da eine Selbstverständlichkeit.“

„Sie scheint mir nicht gerade glücklich zu sein“, sagte Pingo, während er erneut auf die in sich gekehrte „Schaufel“ blickte, die den Versuch zu unternehmen schien, sich unsichtbar zu machen. Scham, erkannte Pingo. Scham über das, was aus ihr geworden war.

„Mag sein“, sagte Kollom schulterzuckend, „das war auch nicht Teil unseres Vertrags.“

„Vielleicht sollte man sie einfach selbst fragen, was sie davon hält“, schlug Sandra vor, „ich habe gehört, manche Frauen sollen tatsächlich in der Lage sein zu sprechen.“

„Diese hier nicht“, sagte Kollom, „das wird für ihre Aufgabe nicht benötigt. Die Fähigkeit zu sprechen sorgt nur dafür, dass ihr Gehirn mehr Energie verbraucht und dadurch würde sie mehr Nahrung benötigen, um zu funktionieren. Sie versteht meine Anweisungen. Das genügt.“

„Du bist ein eiskalter Bastard“, sagte Sandra, „selbst nach meinen Maßstäben.“

„Ich bin ein Geschäftsmann“, gab Kollom zurück „Nicht mehr und nicht weniger. Und Ihre Maßstäbe interessieren mich – bei allem Respekt – nur in zweiter Linie. Wichtig ist, was Karmon sagt. Er ist – so könnte man sagen – in dieser Angelegenheit im Lead. Also, Karmon, bleibt unser Handel bestehen, oder wollen Sie wegen ein paar kultureller Unterschiede auf das verzichten, was Sie sich wünschen?“

Alle blickten den dunklen Koloss an, an dessen Gesicht sich gerade keinerlei Regung ablesen ließ.

„Ich bitte dich, mein großer Freund, und nicht nur ich allein. Egal wie sehr du davon träumst, bei Adrian zu sein. Bei diesem ungeheuren Mann da wartet nur Verrat. Drum lass ihn ziehen, wir finden schon uns‘ren ganz eigenen Pfad“, versuchte Pingo an das Gewissen des ehemaligen Symbionten zu appellieren.

„Wir gehen“, sagte Karmon schließlich, „ich muss zu Adrian. Alles andere ist gerade zweitrangig.“

„Gut“, sagte Kollom lächelnd, „Schaufel, fang an zu graben.“

~o~

Das Licht war schöner und zugleich schrecklicher, als ich es je für möglich gehalten hätte. Es tröstete mich, wärmte mich, heilte mich, machte mir in jedem einzelnen Augenblick klar, dass ich nicht länger verloren war. Dass es für mich nicht zu spät war. Dass es jedes noch so verkorkste Leben wert war, dafür zu kämpfen.

Aber es machte mir auch einmal mehr bewusst, was ich alles falsch gemacht hatte. Welche grausamen Dinge ich getan, welche Fehler ich begangen hatte. Ja und auch wie unglaublich weit ich mich von dem neugierigen, unschuldigen Kind entfernt hatte, welches ich einst gewesen war. Reue und Scham, die fast das Ausmaß körperlicher Schmerzen annahmen, erfüllten mein Wesen. Und das war noch nicht alles, was mich quälte. Gleichzeitig fühlte ich noch immer eine andere Sehnsucht, die nichts mit dem Licht zu tun hatte. Dort, wo Karmon gewesen war, wo man mir den Symbionten entrissen hatte, spürte ich ein verzweifeltes Verlangen, eine nagende Leere, die gefüllt werden musste. Und auch, wenn der Katalog jetzt sicher in Onyras Händen ruhte, spürte ich noch immer jenes verfluchte Fernweh, das mich hierher gebracht hatte. Auch dafür schämte ich mich. Onyra hatte recht gehabt. Ich mochte nicht mehr verloren sein, aber ich hatte noch einen langen Weg vor mir. Dennoch, bei aller Scham und allem Schmerz lächelte ich auch, denn inmitten des Lichtes war es sehr schwer, das nicht zu tun.

„Beim ersten Mal ist es immer etwas ganz besonderes“, sagte Onyra.

„Das ist es gewiss“, sagte ich nachdenklich und wahrheitsgemäß. Und damit meinte ich nicht nur das Licht, das hier drinnen ungetrübt herrschte.

Anfangs, als wir über den Sternengraben durch das breite Tor gegangen waren, hatte es noch fast alles überstrahlt. Aber nun, wo meine Augen sich etwas an die Helligkeit gewöhnten hatten, erkannte ich auch Details. Die Festung war riesig. Sie wurde von einem großen Innenhof aus weißem Marmor dominiert auf dem auch wir beide uns bewegten. Auf den Boden war mit hellgrauer Farbe ein ebenfalls gigantischer Kreis mit unzähligen Segmenten gemalt, in denen sich die verschiedensten religiösen Symbole befanden. Ich erkannte dort das christliche Kreuz, den islamischen Halbmond, das ägyptische Ankh, Thors Hammer, aber auch das Symbol des Glaubens von Kandro (für dessen Tod ich mitverantwortlich war) und das heilige Symbol von Mutter Flamme und Vater Koros, der durch meine Schuld ausgelöschten Jyllen (was mir einen schmerzhaften Stich in die Brust versetzte). Hinzu kamen hunderte von mir völlig unbekannten Symbolen, wie etwa ein dreigeteilter Schädel inmitten von Dornenranken, ein Strudel mit einem Reptilienauge in der Mitte oder einer Pyramide, die auf dem Rücken eines gebeugten Mannes ruhte. Neben diesen Bodenverzierungen gab es große Töpfe aus Glas, in denen unbekannte Pflanzen mit reifen, flaschenförmigen, roten Früchten wuchsen, die unheimlich süß dufteten und es gab Springbrunnen aus Glas oder Marmor, in denen fröhlich das Wasser plätscherte. Der Platz war zudem umringt von überdachten Säulengängen, in die zu unserer Linken und zu unserer Rechten jeweils vier Eingänge in das eigentliche Innenleben der Festung führten. Die beiden äußeren waren dabei kleiner, wobei der vordere Eingang offen und der hintere mit einer gläsernen Tür versperrt war. Die beiden inneren waren viel höher und mit glänzenden, silbernen Toren versperrt, die das Licht schmerzhaft in meine Augen hinein reflektierten.

Am meisten faszinierte mich jedoch der obere Teil der Festung. Und damit meine ich nicht einmal die üppigen Gärten, die auf den ansonsten ungenutzten Wehrgängen wuchsen und die ich schon von außen wahrgenommen hatte. Vielmehr war es die titanische Treppe aus Milchglas, die über ungezählte Stufen bis hinauf in den bizarren Himmel von Uranor reichte. „Stairway to Heaven“, schlich sich ein Ohrwurm aus einer anderen Welt, aus einem anderen Leben in meinen Kopf. Mein Vater hatte das Lied immer geliebt. Mein Vater, der, als ich ihn das letzte Mal gesehen hatte, meine Mutter gefressen hatte. Auch um mich von diesem Gedanken abzulenken, fragte ich mich, ob die Treppe tatsächlich hinauf bis in die Wolken führte und welchen Sinn sie hatte. Gab es dort oben eine Art verborgene, schwebende Plattform, oder konnten die Glasmenschen tatsächlich auf den Wolken laufen? Und war es überhaupt jemanden möglich, diese Treppe zu erklimmen? Der Aufstieg musste Stunden dauern.

Onyra musste mir angesehen haben, wie beeindruckt ich war. „Ehrfurcht ist die wichtigste Emotion“, sagte sie, „sie erinnert uns daran, wo unser Platz ist. Also tauche darin ein. Erkenne, was für ein unbedeutendes Staubkorn du sein musst, wenn schon dieses Gebäude in dir solche Gefühle auslöst, wo es doch selbst nur ein Witz ist verglichen mit der Größe des Multiversums.“

„Ich versuche es“, sagte ich, „Es fällt schwer, wenn man so lange so viel Macht hatte wie ich.“

„Das war keine Macht“, sagte Onyra verächtlich, „Das war nichts als finsteres Blendwerk. Nichts, auf das du stolz sein darfst. Und es ist ohnehin Vergangenheit. Jede unnatürliche Stärke, alle gestohlenen Talente, ja selbst die Fähigkeit entgegen der Natur in andere Welten zu reisen …“

Sie zeigte auf meinen Katalog in ihrer Hand, bei dessen Anblick ich nun doch ein wenig bereute, ihn ihr gegeben zu haben.

„… ist von dir genommen. Du bist nun wieder das jämmerliche Nichts, als das du geboren wurdest. Und das ist gut so. Denn erst, wenn du deine eigene Unzulänglichkeit erkennst, wirst du in der Lage sein, zu wachsen, wie eine Blume, die sich aus schmutziger Erde hervorkämpft. Erst dann, Adrian, wirst du deine neu entdeckten Fähigkeiten für das Licht einsetzen können. Aber ob es soweit kommt, liegt ganz bei dir.“

„Ich verstehe“, zwang ich mich zu sagen, auch wenn mich ihre Worte durchaus in meinem Stolz kränkten.

„Nein“, sagte Onyra streng, „aber das wirst du bald.“

Ich nickte gehorsam, doch dann kam eine Frage in mir auf, da mir nun auffiel, dass sich schlichtweg niemand im Innehof der Festung befand „Wo sind die anderen deines Volkes und wie nennt ihr euch überhaupt?“

„Sie sind beim Gebet in der Halle der Herschafft“, antwortete Onyra, „von meinem Volk werde ich dir erzählen, wenn du es dir verdient hast. Vorher nicht.“

„Gut, dann erzähl mir wenigstens von der Halle der Herrschaft, der Treppe, der Festung, von eurem Glauben, von dem, was mich hier erwartet“, verlangte ich.

Onyras Gesicht verfinsterte sich und bevor ich es wirklich realisierte, schlug sie mir mit ihrer harten, gläsernen Hand ins Gesicht, woraufhin meine Wange feuerrot wurde und ein unangenehmes Ziehen durch meinen Kieferknochen ging, „Neugier ist die schlimmste Form der Gier“, erwiderte Onyra hart, „Schweig fortan und lästere diesen Ort nicht länger mit deine unverschämten Fragen. Wenn du mir schweigend dorthin folgst, wo ich dich hinbringe, hast du eine Chance auf eine lichtere Zukunft. Andernfalls verstoße ich dich auf der Festung und überlasse dich dem schwarzen Malmer. Haben wir uns verstanden?“

Ich nickte und rieb dabei über meine brennende Wange. Der Knochen schien nicht gebrochen zu sein, aber viel hätte nicht mehr gefehlt. Ich konnte von Glück sagen, dass sie nicht die Waffe benutzt hatte, die sie für mein Verhör verwendet hatte und die noch immer in ihrer anderen Hand lag. Trotzdem blieb ihr Schlag nicht ohne Wirkung. Eigentlich hätte ich nicht erwartet, dass dies nach der entwürdigenden Befragung, meinem ausführlichen Geständnis und dem Verlust meiner Fähigkeiten überhaupt noch möglich sein könnte, aber tatsächlich fühlte ich mich erheblich in meinem Stolz gekränkt, selbst wenn ich nicht einmal im Traum daran dachte, mich darüber zu beschweren.

Onyra führte mich zu dem linken Säulengang, jedoch weder in eines der strahlenden Tore, noch durch die kleine, gläserne Tür, sondern in den winzigen, dunklen Gang, der gerade groß genug war, damit ich mich nicht bücken musste, auch wenn ich die raue Decke gelegentlich unangenehm auf meiner Kopfhaut spürte. Der Gang war beinah das genaue Gegenteil der Festung. Er war stockfinster, hässlich und auch wenn die Wirkung des Lichtes hier nicht ganz verschwand, so spürte ich doch, wie sein tröstender Einfluss stetig abnahm, während ich Onyra in den Gang hinein folgte. Die hässlichen, unbehauenen Wände und den unebenen Boden konnte ich nur wegen des schwachen, schummrigen Lichts erkennen, welches Onyra für uns aus ihrer Waffe aussandte. Aus der Ferne drang ein muffiger, unangenehmer Geruch an meine Nase, der deutlicher wurde, je weiter wir gingen. Zudem glaube ich Stimmen zu hören, wobei ich mir aber nicht ganz sicher war. Frage um Frage stieg in mir auf, bis sie sich wie eine sich auftürmende Flutwelle vor meinem Mund stauten, die zurückzuhalten mir immer unmöglicher wurde. Aber ich durfte nicht nachgeben. Onyra schien mir wegen des Malmers keinen Scherz gemacht zu haben und davon abgesehen war das hier meine Chance auf eine Läuterung. Auf einen Neuanfang. Vielleicht sogar auf eine Heimat. Womöglich gehörte es zu einer weiteren Prüfung, dass ich lernte, meine Neugier in Zaum zu halten.

Um mich abzulenken, warf ich den ein oder anderen verstohlenen Blick auf Onyra. Sie war, bei aller Strenge, eine durchaus gutaussehende Frau und das ihr exotisches Aussehen für mich kein Problem darstellte, sollte mittlerweile niemanden mehr verwundern. Ich ertappte mich dabei, wie ich mir vorstellte nach meiner Läuterung und der endgültigen Aufnahme in die Festung vielleicht ihr Gefährte sein zu dürfen. Natürlich gab es da noch Sandra, aber auch wenn sie mir nicht völlig gleichgültig war, waren meine Gefühle für sie mit einem mal eigenartig fern und schwach. Konnte das womöglich daran liegen, dass es auch, oder sogar maßgeblich, Karmon gewesen war, der sich in sie verliebt hatte? Das erschien mir durchaus denkbar, da er sich als ein Wesen der Dunkelheit vielleicht zu einem so finsteren Geist wie der der ehemaligen Sahkscha hingezogen gefühlt hatte. Doch selbst, wenn er nicht der Grund für meine Gefühle gewesen sein sollte,
wäre es wohl das beste Sandra hinter mir zu lassen. Sie hatte einen schlechten Einfluss auf mich und war so etwas wie der kleine Teufel auf meiner Schulter. Sie gehörte zu einer Vergangenheit, die mich in eine Sackgasse geführt hatte. Onyra hingegen würde meine gute Seite stärken. Doch natürlich waren all das nur Gedankenspiele. Für sie war ich ein Nichts. Das hatte sie selbst gesagt. Wenn ich ihr gegenüber in diesem Moment erwähnt hätte, dass ich gerne mit ihr zusammen wäre, hätte sie mich wahrscheinlich höchstpersönlich zum Malmer getragen.

Inzwischen war die Decke noch niedriger geworden und so musste ich mich oft gebeugt fortbewegen. Das Eigenartige daran war jedoch, dass Onyra, obwohl sie ungefähr so groß war wie ich, das nicht tun musste. Es war nicht so, dass ihr Kopf wie der eines Geistes in der Decke verschwand oder dass sie immer dann kleiner wurde, wenn es gerade nötig war. Vielmehr schien sich die Decke wie ein flexibler Schlauch ihrer Körpergröße anzupassen, während sie bei mir wieder hart und unerbittlich wurde. Wahrscheinlich war dieses bemerkenswerte Phänomen ebenfalls dazu gedacht, mich Demut zu lehren, aber vor allem fügte es meinem Meer aus Fragen einen weiteren dicken Tropfen hinzu. Plötzlich machte der Gang eine scharfe Biegung nach rechts und der bislang einigermaßen dezente Geruch verstärkte sich zu einem unangenehmen Gestank, dessen Quelle ich nicht identifizieren konnte, der mich jedoch an Exkremente und Verwesung denken ließ. Alles in mir riet mir umzukehren und zu fliehen. Aber zum einen wollte ich bei dieser unausgesprochenen Prüfung nicht versagen und zum anderen war mir klar, dass eine Flucht nicht nur unmöglich, sondern ohne meinen Katalog auch sinnlos gewesen wäre. Also kämpfte ich meine Instinkte nieder und setzte einen Fuß vor den anderen, wobei ich inzwischen so gebeugt gehen musste, dass mein Rücken schmerzte und ich kurz davor war, mich auf die Knie zu begeben.

Die zuvor rauen und höhlenartigen Wände wurden nun glatter und bestanden aus einstmals wohl weißen, inzwischen aber äußerst schmutzigen Ziegelsteinen, die neben Staub und Erde auch mit bröckeligen, braunen, oder rostroten schmierigen Schlieren beschmiert und außerdem mit Kratzern und Kerben versehen waren. Das ungute Gefühl in mir wurde stärker. Doch erst, nachdem der schwache Lichtschein, den Onyra aus ihrer Waffe ausschickte, auf eine Reihe von beidseitig in die Wände eingelassenen, rostig-roten Türen fiel, erkannte ich, wo ich mich wirklich befand.

In einem Gefängnis. Gewiss, ich hatte nicht damit gerechnet heute Nacht in Samt und Seide zu ruhen, während eine barbusige Nymphe mich mit zauberhaften Liedern in den Schlaf singt, aber das hier, war dann doch eine Nummer zu heftig. Ich war zur Buße bereit, aber nicht zur Folter. Ein letztes Mal riss ich mich zusammen und hoffte darauf, dass die Zelle im Inneren ein wenig besser aussehen würde. Das ist eine Prüfung, sagte ich mir und biss die Szene zusammen, während der durchdringende Duft aus Verwesung und Scheiße mir das Atmen immer schwerer machte. Als wir die erste Tür zu meiner Linken erreicht hatten, sagte Onyra:

„Dort rein. Das ist dein Zimmer!“, und öffnete die Tür.

Der Gestank, der mir dort entgegenschlug, war noch um ein vielfaches grauenhafter und gegen diese Zelle war wahrscheinlich selbst das hinterste Loch eines chinesischen oder nordkoreanischen Knastes eine Erholung. Die Wände und der Boden der etwa drei Quadratmeter großen Zelle bestanden aus rostigem Stahl, der an vielen Stellen mit Schimmel und Exkrementen verschmiert war, um die mir unbekannte, riesige, fliegenähnliche Insekten mit großen Saugrüsseln schwirrten.

Möbel gab es keine. Dafür war der Boden unebenen und mit vielen, welligen, bis zu einem Meter tiefen Löchern versehen, die aussahen als hätte dort ein Riese seinen Kopf reingerammt, während drei der Wände in der unteren Hälfte mit langen, spitzen Stacheln gespickt waren. Es würde unmöglich sein, an diesen Ort Ruhe zu finden. Von der pilzbewucherten Decke tropfte stinkendes Wasser, während es an der linken Seite keine Wand, sondern nur dicht stehende, dicke Gitterstäbe gab, durch die ich jedoch kaum etwas anderes als Dunkelheit erkennen konnte. Dafür hörte ich dort leises, gequältes Wimmern, wie von Stimmen, die keine Kraft mehr hatten zu schreien.

An diesem Punkt entschied ich, dass meine Sünden dann doch nicht SO schlimm gewesen waren, drängte mich an Onyra vorbei, ohne mich in diesem Moment noch groß um den Katalog zu kümmern und strebte auf den Ausgang zu. Ich hatte keinen Plan, keine Vorstellung von der Zukunft, sondern einfach nur den Wunsch, diesen grauenhaften Ort zu verlassen.

Ich kam keine drei Schritte weit. Mit übermenschlichen Reflexen packte Onyra mich, zog mich so mühelos mit sich, als wäre ich ein kleines Kind und schleuderte mich auf den unebenen Zellenboden. Ich fühlte mich erbärmlich, hilflos und schwach. Der Aufprall trieb mir die Luft aus den Lungen. Als ich es wieder geschafft hatte, mich aufzurappeln und eine Position zu finden, in der zumindest das Stehen in der Zelle halbwegs möglich war, sah ich, dass Onyra nun wie eine drohende Statue im Türrahmen stand und mir ihre Waffe warnend entgegen reckte.

„Lass mich sofort hier raus!“, schrie ich, „ich habe nichts getan!“

Onyra lachte ein humorloses Lachen, „Du willst nichts getan haben? Da hast du mir aber etwas ganz anderes erzählt. Wir hatten schon Tyrannen und Kriegsverbrecher in den Eingeweiden von Linnan, die ein leichteres Gewissen hatten als du. Du hast vielfach gesündigt, Adrian. Denkst du, dass das alles nun einfach so vergessen und vergeben ist?“

„Ich habe schon dafür gebüßt“, rief ich verzweifelt, „du hast mich geläutert, du hast den Kwang Grong aus mir vertrieben, der bei den meisten meiner Sünden seine Finger im Spiel hatte. Das hier ist nicht nötig!“

„Lächerlich“, sagte Onyra hart, „du hast für gar nichts gebüßt. Und wenn du noch immer Anderen die Verantwortung für deine Taten in die Schuhe schieben willst, hast du auch nichts gelernt. Die Dunkelheit ist blind und nicht dafür verantwortlich, wenn durch sie dunkle Taten geschehen. Es ist allein derjenige, der ihr sein Herz öffnet, der die Schuld trägt. Wahrscheinlich habe ich mich geirrt, Verlorener. Du bist noch immer verloren. Und was verloren ist, kann vom Licht nicht gebraucht werden.“

„Aber ich bin nicht verloren!“, brüllte ich, während Tränen über mein Gesicht liefen. „Ich bin nun ein besserer Mensch, ich habe dir sogar meinen Katalog überlassen. Ich bin bereit mich zu ändern!“

„Dann ändere dich“, sagte Onyra, „du wirst nun eine ganze Weile Zeit dafür haben.“

„Was muss ich dafür tun?“, schrie ich wie von Sinnen, „Was verlangst du? Wie lange soll ich hierbleiben?“

„Das musst du selbst herausfinden“, sagte Onyra ruhig, während die zurücktrat und langsam die Tür schloss. Als ich versuchte sie davon abzuhalten, schoss sie einen hochenergetischen Lichtstrahl aus ihrer Waffe und schleuderte mich zurück auf den Boden „vielleicht solltest du aufhören Fragen zu stellen und anfangen zuzuhören.“

Mit diesen Worten knallte sie die Tür zu. Erneut kämpfte ich mich hoch, wobei ich mir beinah den Knöchel verstautet und klopfte wie wahnsinnig an der Tür, die von Innen weder ein Schloss noch einen Griff besaß.

„Öffne diese Tür, Onyra“, donnerte ich, „Lass mich raus, ich BEFEHLE ES DIR!“

Aber niemand antwortete. Trotzdem versuchte ich es weiter und erst als meine Fäuste begannen zu schmerzen und zu bluten, stellte ich meine sinnlosen Versuche ein. Mutlos wollte ich mich auf den Boden sinken lassen, stellte aber sofort fest, dass das keinen Sinn hatte. Schon nach wenigen Sekunden begann mir alles wehzutun. Also erhob ich mich erneut und spähte durch die Gitterstäbe hindurch, in die Dunkelheit hinein, wo ich zuvor das Wimmern gehört hatte. Offensichtlich war ich nicht allein. Vielleicht waren dort Mitgefangene und vielleicht konnten wir gemeinsam entkommen.
„Hallo“, rief ich, „ist dort noch jemand?“

Erneut regte sich das gequälte Wimmern und ich hatte fast das Gefühl, dass es Worte trug, die ich jedoch leider nicht verstand.

„Hallo, mein Name ist Adrian. Wie heißt du? Bist du etwa verletzt. Haben Sie dir etwas angetan?“, fragte ich erleichtert darüber, wenigstens nicht ganz allein zu sein.

Wieder ein Wimmern, doch diesmal schwächer, leidender und noch unverständlicher.

„Das hat keinen Sinn, Kleiner“, antwortete mir eine Stimme aus der entgegengesetzten Richtung, „Diese Typen sind Hackfleisch. Aus denen wirste kein Sterbenswörtchen rauskitzeln. Die haben nur bislang vergessen abzukratzen und sind nun fleißig dabei, es nachzuholen.“

„Korf!?“, fragte ich nun vollkommen perplex.

„Worauf du deinen Verräterarsch verwetten kannst, Kleiner!“

4 thoughts on “Fortgeschritten – Die blendenden Himmel von Uranor 3

  1. Einfach mal wieder ein mega Teil, wie immer eigentlich. Es ist gut, auch mal was über das „jetzt“ und Adrian’s Beziehung zu Tarena zu erfahren.
    Und der Cliffhanger mit Korf, ich kann es kaum erwarten, wie es weiter geht 🙂

    1. Danke dir vielmals! Ja, ich bin auch froh, dass sich die beiden jetzt näherkommen können ;). Sitze schon am nächsten Teil und hoffe mal, dass er noch diesen Monat erscheint.

  2. Waaaas? OMG. Lass uns bloß nicht zu lange warten lieber Angstkreis. Diese Serie macht unglaublich viel Spaß. Bisher habe ich es bei Youtube verfolgt war nach „Uranor 2“ aber so neugierig auf die Fortsetzung und jetzt muss doch weiter warten.
    Na gut ich werde mich in Geduld üben.

    Danke dir für dieses tolle Werk.

    1. Danke dir, Jana. Es tut echt gut zu lesen, dass dir die Story Freude bereitet und das du auch auf meinem Blog mitliest. Ich tue mein bestes, um dich nicht zu lange auf die Folter zu spannen, aber ein bisschen werde ich noch brauchen.

      LG Angstkreis

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