„Stein in Himmel, drüben Loch“. Das zumindest lese ich aus dem Gekritzel heraus, das SIE auf den Höhlenboden gemalt hat, den wir für unsere Übungen verwenden, um wertvolle Katalogseiten zu sparen. Natürlich könnte es sein, dass dort etwas ganz anderes steht und ich lediglich nicht in der Lage bin, ihre zittrige, unbeholfene Schrift zu entziffern. Doch ich denke eher, dass sie nach wie vor große Probleme damit hat das Konzept von Grammatik und auch die Bedeutung der meisten Vokabeln zu begreifen, die ich ihr versucht habe, beizubringen. Ich bin ein beschissener Lehrer. Eigentlich hätte ich mir das denken können. Ich war in vielen Bereichen ja nicht einmal ein besonders guter Schüler gewesen und auch wenn ich auf meinen Reisen Imperien zu Fall gebracht, halb göttliche Gegner bezwungen oder überlistet und die schrecklichsten Krankheiten und Qualen überstanden habe, so hatte ich doch selten Gelegenheit gehabt, an meinen didaktischen Fähigkeiten zu arbeiten.
Hinzu kommt, dass ich hier keinen Menschen unterrichte. IHR Verstand funktionierte vollkommen anders als meiner. Das Erlernen der Buchstaben des Alphabets fällt ihr dabei noch überraschend leicht. Es hatte nur wenige Tage gedauert, bis sie in der Lage war sie einigermaßen nachzuzeichnen und sogar ganze Wörter daraus zu bilden, aber sie scheint das mehr als ein lustiges Spiel zu verstehen und wenn sie sich nicht an zweifelsohne kreativen aber nichtsdestotrotz sinnfreien Buchstabenkombinationen versucht, setzt sie die Worte, die ich ihr zeigte ohne jeglichen vernünftigen Zusammenhang aneinander. Irgendwie scheint ihr die Übertragungsleistung von den Wörtern zu ihrer Bedeutung nicht recht gelingen zu wollen. Das Einzige produktive, was dabei bislang herumgekommen ist, ist, dass wir anscheinend ihren Namen herausgefunden haben. Irgendwann reihte sie einige Buchstaben aneinander, zeigte dann auf sich und wann immer ich sie seitdem mit dem Wort „Tarena“ rufe, scheint sie sich davon angesprochen zu fühlen. Immerhin muss ich sie also künftig nicht mehr als SIE bezeichnen.
Leider ist Tarena nicht die aller geduldigste Schülerin. Oft genug gerät sie in wilden Zorn, wenn ich sie zum wiederholten Male durch Gesten darauf hinweise, dass sie ein Wort nicht korrekt gebraucht, oder dass ich sie nicht verstehe. Einmal hat sie mich deswegen sogar so schlimm gewürgt, dass ich dachte, dass mein Ende gekommen wäre, bevor sie endlich auf mein Flehen und Betteln reagierte und von mir abließ. Ein anderes Mal hat sie versucht, meinen Katalog zu zerfetzen, was mir erschreckenderweise noch mehr Angst eingejagt hat. Dieses neue Leben scheint jedenfalls nicht ganz so harmonisch zu werden, wie ich es mir erhofft hatte.
Und das liegt nicht nur an ihrer Wut oder den Schwierigkeiten, die sie beim Lernen zeigt. Zwar gibt es nach wie vor Momente, in denen Tarena auf fast zärtliche Weise meine Nähe sucht oder mich zu einer … Vereinigung ermuntert, aber fast genauso oft starrt sie ins Leere, kaut abwesend auf einem Käfer und hängt brütend ihren fremdartigen, aber zweifellos trübsinnigen Gedanken nach, die ich noch weniger ergründen kann, als den Sinn der von ihr verfassten Sätze.
Dennoch, immerhin machen wir gewisse Fortschritte und trotz aller Konflikte bin ich im Grunde meines Herzens froh darüber, nicht mehr allein zu sein, auch wenn ich Tarena noch immer nicht entlocken konnte, was mit unseren Kindern geschehen ist oder woher ihre wundersame Heilung kommt. Doch wahrscheinlich muss ich mich in Geduld üben. Sobald sie in der Lage ist, meine Sprache zu beherrschen werde ich meine Antworten bekommen. Ich glaube nicht, dass sie mir die Wahrheit vorenthalten wird, sobald sie mich erst versteht. Nichts an Tarenas Verhalten oder dem ihrer ehemaligen Schwarmgenossen, deutet darauf hin, dass ihr das Konzept des Lügens oder der Täuschung bekannt sein könnte.
Außerdem bietet mir meine Tätigkeit als Lehrer eine wunderbare Ausrede, um das Geheimnis des Tunnels nicht ergründen zu müssen. Es klingt paradox, ich weiß, aber so sehr ich auch wissen will, was sich dort verbirgt, so sehr widerstrebt es mir auch, dort hinabzusteigen. Ich habe schon so oft vor dem Eingang gestanden, dass ich ihn bereits in meinen Träumen sehe, aber es bislang nie gewagt, auch nur den Kopf dort hineinzustecken, obwohl die Anziehungskraft anfangs fast magnetisch gewesen war.
Dieses simple Loch im Gestein verströmt etwas zutiefst abartiges, dass ich zunächst kaum bemerkt hatte, dass für mich aber nun immer deutlicher zutage tritt. Es ist kein Grauen im eigentlichen Sinne. Eher ist es ein saugendes Gefühl von grundloser Trauer, tonnenschwerer Leere und überbordender Sinnlosigkeit. Selbst die kühle, aber schale Luft, die aus dem Loch hinauf weht, reicht aus, um mich in eine grüblerische, schlechtgelaunte Stimmung zu versetzen. Vielleicht ist dies auch der Grund für Tarenas Zustand.
Doch natürlich darf mich all das nicht auf ewig davon abhalten diesem Mysterium nachzugehen. Ich bin ein Fortgeschrittener und ich habe – so glaube ich zumindest – schon schrecklicheren Herausforderungen ins Gesicht gesehen. Ich werde dort hinabsteigen, so schwer es mir auch fallen mag. Immerhin müssen all meine Reisen, muss die Geschichte, die mir der Katalog durch die in ihm versammelten Welten erzählt hat, schließlich zu irgendeinem Ende führen und es mag gut sein, dass es in dieser Welt noch etwas zu entdecken gibt, dass mir hilft, wenn es so weit ist. Wenn ich endlich bereit bin, mich der letzten Seite zu stellen. Womöglich finde ich es dort unten, so wie in den Geschichten oft die schrecklichsten Drachen die größten Schätze bewachen. Doch vorher habe ich meine Pflichten als Lehrer zu erfüllen, so wie Tarena jeden Tag tapfer und – da sie sich weigert sich von mir begleiten zu lassen – ganz allein ihre Pflicht als Jägerin erfüllt und dafür sorgt, dass wir in unserem gemeinsamen Unterschlupf nicht verhungern. Und dann gibt es da ja noch meine Aufzeichnungen über die blendenden Himmel von Uranor. Auch sie wollen geschrieben werden.
~o~
„Du hast WAS in dir?“, fragte Sandra. Sie hatte diesen Unterton in der Stimme, mit dem sie der Welt zu sagen schien: Niemand hat das Recht mich zu verarschen.
„Einen Kwang Grong“, sagte ich, „einen bravianischen Symbionten.“
„Und wie zur Hölle hast du dir den eingefangen?“, wollte Sandra wissen, so als wäre ich ein Hund, in dessen Fell sich eine fette, hässliche Zecke versteckte.
„In den Seuchenhöhlen von Hyronanin“, antwortete ich wahrheitsgemäß.
„I … ist das ansteckend?“, fragte Sandra mit einem angewiderten Gesicht und rückte einige Zentimeter von mir weg.
„Nein!“, sagte ich bestimmt und zugleich ein bisschen genervt, „es ist ein intelligenter Symbiont, keine verfluchte Kopflaus.“
Es war ein spontaner und fast schon verzweifelter Entschluss gewesen, Sandra von Karmon zu erzählen, als mich die Glasfrau fürs Erste verlassen hatte, aber so langsam fragte ich mich, ob es tatsächlich eine so gute Idee gewesen war.
„Was weiß ich schon“, sagte sie schulterzuckend, „nachdem wir gemeinsam ein Imperium geführt und mehrfach das Bett geteilt hatten, dachte ich eigentlich, dass du mir von so kleinen, persönlichen Dingen wie Heuschnupfen, Angst vor Spinnen oder Symbionten in deiner Bauchhöhle erzählen würdest. So viel Offenheit wäre doch ganz nett gewesen, oder etwa nicht?“
„Er sitzt nicht in meiner Bauchhöhle“, erwiderte ich.
„Dann eben in deinem Arsch!“, keifte Sandra wütend, „der Punkt ist doch, Adrian, dass du es mir verheimlicht hast, so wie zuvor schon das mit Korf und ganz nebenbei dein Abenteuer mit dieser Rara. Wenn du ernsthaft daran interessiert sein solltest, dass zwischen uns beiden was anderes als Hass und Misstrauen herrscht, ist das kein guter Anfang.“
„Tut mir leid“, sagte ich aufrichtig, „ich … hab es verbockt. Mal wieder.“
Sandra seufzte tief, „immerhin gibst du es zu. Das ist ja schon mal etwas. Aber nun verlange ich, dass du mir alles erzählst. Jedes noch so dreckige, hässliche Detail. Ich bin keine schwächliche zitternde Maid, die du vor dem Schlammmonster gerettet hast: Ich bin noch immer deine Sahkscha, deine verdammte Oberdiantin, ganz gleich, ob wir jetzt gerade nicht in Konor sind oder ob mir Korfs Tochter den Thron gestohlen hat. Also hast du mir zu antworten!“
„Ja Herrin!“, sagte ich ironisch.
„So gehört sich das“, lobte Sandra, die nun selbst ein wenig lachen musste, „aber an deinem schnippischen Unterton müssen wir noch arbeiten, mein Sklave. Doch nun sag mir für den Anfang erstmal, warum du nicht froh darüber bist, dass Sie diesen … Kwang Grong aus dir herausleuchten wollen oder was auch immer sie genau damit vorhaben. Immerhin sparst du dir auf diese Weise eine schmerzhafte OP.“
„Weil Karmon kein PARASIT ist, sondern ein SYMBIONT. Er nimmt nicht nur von mir, sondern gibt auch. Ähnlich wie die Rüstung, die du als Sahkscha getragen hast.“
„Karmon? Das Ding hat einen Namen?“, fragte Sandra skeptisch.
„Ja“, antwortete ich, „wie gesagt, er ist ein intelligentes Wesen mit einer eigenen Persönlichkeit.“
„Und was schenkt dir dieser Karmon, dass er dafür in meinem Körper herumspuken darf?“, fragte Sandra.
„Vieles“, gab ich zurück, „Zielgenauigkeit, Stärke; Schnelligkeit, unglaubliche Heilkräfte, Wissen und eine ganz besondere Waffe.“
Ich hob demonstrativ meinen Waffenarm.
Sandra hob eine Augenbraue. „Dieser Karmon ist dort drin? In dieser Waffe?“
„Ja und nein“, erwiderte ich, „ursprünglich war er tatsächlich ein Teil der Waffe. Aber inzwischen sind wir Grong-Shin. Das heißt, wir sind miteinander verschränkt. Lange Zeit waren wir sogar ein und dieselbe Person. Unsere Körper, unsere Gedanken, unsere Seelen waren miteinander verschmolzen, auch wenn Uranor diese Verbindung zu stören scheint.“
Erneut zeigte sich ein angeekeltes Zucken in Sandras schlammverschmiertem Gesicht. „Verstehe ich das richtig? Ich habe mich von einem bravianischen Wurm vögeln lassen?“
„Er ist kein Wurm“, protestierte ich, „eher ein … insektoides Geschöpf.“
„Ach, dann ist ja alles gut“, sagte Sandra mit einem gackernden Lachen und rollte dabei mit den Augen, „dann hat mich halt die Biene Maja geknallt.“
„Ich verstehe nicht, wie du dich darüber so lustig machen kannst“, sagte ich, da es mich tatsächlich kränkte, dass sie so geschmacklos über meine Verbindung zu Karmon sprach. Auch ich mochte gelegentlich meine Differenzen mit ihm haben, aber die Verbindung mit ihm erschien mir doch zu besonders, zu spirituell, um sie auf eine derart vulgäre Ebene hinabzustufen.
„Du solltest lieber froh sein, dass ich mich darüber lustig mache“, sagte Sandra lauernd, „die Alternative dazu wäre nämlich, dass ich vollkommen die Fassung verliere und dir deinen halbinsektoiden Schädel zwei Meter tief in den Schlamm drücke.“
Sie atmete erneut tief durch und schluckte ihren Zorn herunter.
„Aber okay“, sagte sie, „eigentlich ist das alles ja auch nicht viel absurder, als alles andere, was ich erlebt habe, seit ich den Katalog gefunden habe.“
„Damit könntest du recht haben“, stimmte ich ihr zu, „und damit das klar ist: Ich bin noch immer ein Mensch, soweit ich das beurteilen kann. Weder schießen mir Spinnennetze aus den Fingern, noch entwickle ich eine Vorliebe für Kot, Zuckerwasser oder für das Anfliegen von Blüten und auch Facettenaugen habe ich nicht entwickelt. Ohnehin glaube ich nicht, dass Karmon in dem Sinne ein Insekt ist. Das war einfach nur die Metaphorik, die sein wahres Äußeres am besten beschreibt. Eigentlich gibt es kein Lebewesen auf der Erde oder einer der anderen Welten, das ihm gleichkommt. Außerdem ist unsere körperliche Verschränkung ohnehin zweitrangig. Viel bedeutsamer ist unsere seelische Verbindung. Es ist mit keiner anderen Erfahrung vergleichbar, eine solche Erweiterung seines Bewusstseins zu erfahren und auf gewisse Weise ist es extrem erfüllend.“
„Anscheinend nicht erfüllend genug, um sich nicht mehr für andere Wesen zu interessieren“, bemerkte Sandra trocken.
„Nein“, antwortete ich ernst, „es lässt sich nicht mit einer Beziehung oder mit Sex vergleichen und es ersetzt beides nicht. Zwischen Karmon und mir gibt es – zumindest wenn wir vollkommen vereint sind – praktisch keine Geheimnisse und Unterschiede mehr. Aber gerade diese reizen einen ja an einem anderen Menschen.“
„Sehr philosophisch“, sagte Sandra.
Es ließ sich nicht sagen, ob es sarkastisch oder als Kompliment gemeint war, also schwieg ich lieber.
„Also gut“, fuhr sie fort,“dann versuche ich das ganze einfach mal rein rational zu sehen. Ich stecke wohl oder übel mit dir hier in diesem wurmverseuchten Schlamm fest und da du deinen Symbiontenfreund nicht loswerden willst, werde ich dir dabei helfen, einen Ausweg zu finden. Immerhin kann ich dich sogar ein Stück weit verstehen. Nicht wegen irgendwelchem spirituellen Gedöns, oder weil ihr in der Lage seid, euch gegenseitig die Seele zu lecken, sondern weil deine Heil- und Kampffähigkeiten davon abhängen. Es wäre wirklich sehr schade, wenn du diese Kräfte verlierst, nachdem ich schon meine Rüstung eingebüßt habe. Wir könnten sie noch brauchen.“
„Danke“, sagte ich aufrichtig, „was schlägst du vor?“
„Also ich …“, sagte Sandra nachdenklich, „vielleicht könnte man …“
Sie verfiel in Schweigen und suchte sichtlich nach Worten.
„Du hast keine Ahnung, oder?“, kommentierte ich, nachdem sie beinah eine Minute herumgedruckst und gegrübelt hatte.
„Einen Plan zur Täuschung von Kreaturen mit solcher Macht schüttelt man nicht so einfach aus dem Ärmel“, erwiderte Sandra leicht säuerlich.
„Vielleicht kann ich helfen“, erklang eine Stimme, die zumindest mir bekannt vorkam.
„Wer bist du?“, fragte Sandra barsch, während Sie den Kristallmann, der aus seiner Totenstarre erwacht und durch den Schlamm zu uns gekrochen sein musste, von oben bis oben musterte.
„Das ist Pingo“, antwortete ich an seiner Stelle, „ich hatte dir von ihm erzählt.“
„Ach ja“, sagte Sandra und der gereizte Ausdruck auf ihrem Gesicht wurde ein klein wenig freundlicher. Zögerlich streckte sie dem Steingeweihten ihre Hand entgegen, „ich bin Sandra.“
„Danke“, sagte Pingo mit einem schillernden Lächeln, „aber sei vorsichtig, wenn du mir die Hand gibst. Falls du dich an meinen Nägeln schneidest, könntest du dich infizieren.“
„Dann verzichte ich lieber“, sagte Sandra angewidert und auch wenn Pingo verständnisvoll nickte, bemerkte ich in seinen Augen eine tiefe Traurigkeit anlässlich dieser Zurückweisung. Ich fühlte durchaus Mitleid mit ihm, brachte es aber nicht fertig, ihm das irgendwie mitzuteilen.
„Wie wolltest du uns denn helfen und vor allem wobei?“, fragte ich stattdessen lauernd. Immerhin hatte ich ihm nicht vom Kwang Grong erzählt.
„Dabei, deinen Symbionten zu schützen natürlich“, antwortete Pingo geradeheraus.
„Du hast uns belauscht?“, fragte Sandra mit finsterem Blick.
„Es ließ sich leider kaum verhindern, den Wissensrückstand zu vermindern. Da eure Stimmen lautstark schallen, mir folglich in die Ohren fallen“, antwortete Pingo.
Sofort fing Sandra prustend an zu lachen und leider konnte ich nicht verhindern darin einzustimmen als ich ihren amüsierten Blick auffing. Scheiß sozialer Zwang.
„Worüber lacht ihr?“, sagte Pingo bitter, „über die Reime, die ich gezwungen bin auszusprechen, über den langsamen Verlust meines Selbst oder darüber, dass ich wildfremden meine Hilfe anbieten will? Wenn ihr sie nicht wollt, findet sich sicher was Sinnvolleres, was ich mit meiner Zeit anfangen kann. Selbst an diesem Ort.“
„Es tut mir leid“, sagte ich und wendete jedes Quäntchen Willenskraft auf, das ich mobilisieren konnte, um mein Lachen zu unterdrücken. Dass ich erkannte, wie unheimlich dumm es war, mögliche Verbündete auf diese Weise zu vergraulen, war dabei sehr hilfreich.
„Natürlich wollen wir deine Hilfe und wir wollten dich auch nicht verletzen“, sagte ich, „es ist nur … das alles hier ist so absurd. Gefangen zu sein zwischen stinkendem Schlamm und unerreichbarem Licht und dann diese fröhlichen Reime zu hören. Es ist schwer, dabei seine Fassung zu bewahren und sein Gelächter zu unterdrücken. So wie man sein Husten nicht unterdrücken kann, wenn man in eine Staubwolke gerät.“
„Ich verstehe“, sagte Pingo und auch wenn die Trauer nicht aus seiner Stimme gewichen war, schien er meine Erklärung akzeptiert und den durchaus verletzenden Unterton in Sandras Gelächter überhört zu haben, „wahrscheinlich würde ich an eurer Stelle nicht anders reagieren. Sogar ich selbst finde – bei aller Tragik – meinen Zustand auf eine verdrehte Weise amüsant. Doch er bietet auch gewisse Vorteile. Die Pyrit-Kristalle an meinem Körper haben besondere Eigenschaften“, sagte er und strich sich mit der Hand über den Bauchnabel, in dem gleich mehrere dicke Pyritkristalle festgewachsen waren. „So wie auch alle anderen Kristalle, die an den Körpern von Steingeweihten wachsen. Ich habe im Archiv mal davon gelesen. In meiner Heimatwelt, in Rihn, gibt es sogar ruchlose Banden, die sich der Ernte dieser Kristalle verschrieben haben oder sogar Leute absichtlich infizieren und sie gefangen halten, um sie nach und nach auseinanderzunehmen.“
„Das klingt widerlich“, sagte ich und meinte das auch so, „Was für Kräfte wohnen in diesen Kristallen, dass Leute bereit sind, so weit dafür zu gehen?“
„Ein jedes Steinchen, dass man kennt, verbirgt ein eigenes Talent. Der Onyx etwa brütet Schatten, die ungeseh’nen Mord gestatten. Aventurine lindern Trauer, zumindest für bestimmte Frist, bevor die Wirkung sich verflüchtigt, und der Stein nur noch Asche ist. Hingegen liegt tief im Pyrit, ein sonderliches Potenzial, wenn man ihn trägt und Unheil wartet, geschieht ein Wunder jedes Mal. Niemand kann mit Gewissheit sagen, wie seine Hilfe sich ihm zeigt. Doch oft mehrt er des Trägers Freude und mindert selbst sein schlimmstes Leid“, sagte Pingo.
„Hab ich das richtig verstanden“, fasste ich zusammen, „was der Pyrit bewirkt, ist rein zufällig, aber fast immer positiv?“
Pingo nickte.
„Kannst du selbst von diesen Kräften auch profitieren?“, fragte Sandra.
„Nein, wir Infizierte sind von diesen Segnungen ausgenommen. Unser Leben soll ja auch bloß nicht zu einfach werden“, antwortete Pingo traurig.
Ein kurzer Blick in Sandras Augen verriet mir, dass sie das Gleiche dachte wie ich: Vor uns stand ein lebender Glücksbringer-Steinbruch, der nur darauf wartete geplündert zu werden und unser Leben leichter zu machen.
„Was genau willst du denn …“, begann ich, doch noch bevor ich die Frage vollenden konnte, brach sich Pingo Mithilfe seiner stabilen Fingernägel und begleitet von einem geplagten Ächzen ein Stück des Steins aus seinem Bauchnabel und reichte ihn mir.
,„Nimm das hier an dich“, sagte er, während eine kleine goldene Träne seine Wange hinabrann, „verberge es während des nächsten Gesprächs in deiner Kleidung und spreche oder denke die Worte ‚En Pyris“ wenn du seine Macht gebrauchen willst, aber achte darauf, dass du dich nicht daran schneidest. Ich kann das Leben, das ich führe, nicht empfehlen.“
„Warum tust du das?“, fragte ich vollkommen überrumpelt und fühlte mich eigenartig beschämt von seinem selbstlosen Angebot und meinen gerade erst gehegten Gedanken. Ich wollte mich nicht auf eine Stufe mit den Räubern in Pingos Heimatwelt begeben, unabhängig davon, dass ich nicht minder grausame Dinge getan hatte.
Pingo sah mich verwirrt an, so als verstünde er meine Frage überhaupt nicht. Dann jedoch antwortete er. „Dieser Ort ist – trotz all des wunderbaren Lichts um uns herum – sehr düster. Aber er wäre noch viel düsterer, wenn wir nicht wenigstens versuchen würden einander zu helfen. Ob wir das tun oder nicht, ist nämlich so ziemlich das einzige, auf das wir hier noch etwas Einfluss haben.“
„Vielen Dank“, sagte ich bewegt, nahm den Stein an mich und ließ ihn in meine dreckige Hose gleiten.
„Können wir dir irgendwie helfen?“, fragte ich aus einem Reflex heraus.
Pingo lächelte warmherzig und auch wenn seine Augen nur aus Pyrit bestanden, hatte ich das Gefühl, dass dieses Lächeln sie dennoch erreichte.
„Nur wenn ihr könntet zauber weben. Den Schleier dieser Welt zerteil’n. Mich heilen und voll Kraft und Leben mit mir in meine Heimat eilen. Doch leider bleibt dies Tor verschlossen, führt keine Tür durch Zeit und Raum. Mein Schicksal ist in Stein gegossen und unter ihm erstickt mein Traum.“
Selbst die künstliche Fröhlichkeit, mit der ihn der Stein erfüllte, konnte diesmal nicht die Melancholie seiner Worte vertreiben und ein schmerzhafter Stich durchfuhr meine Brust. Es war, als wäre ich plötzlich wieder zurück in Hyronanin. Wieder setzte ein Kranker seine Hoffnungen in mich und wieder stand ich an einem Punkt, an dem ich ihm eine falsche Erlösung versprechen und irgendwas von der Macht des Katalogs erzählen konnte, in dem seine Heimatwelt enthalten sein mochte oder auch nicht, in die ich ihn aber nicht würde mitnehmen können. Doch ich hatte zu diesem Zeitpunkt keine Lügen mehr in mir. Jedenfalls nicht für jene, die daran zugrunde gehen würden.
„Damit kann ich leider nicht dienen“, sagte ich ehrlich, „weder wüsste ich von einem Heilmittel, noch von einer Möglichkeit, dich zurück nach Hause zu bringen.“
„Schon gut“, sagte Pingo, auch wenn er dabei fast unmerklich den Kopf senkte, „vielleicht könntet ihr ja wenigstens bei den Gläsernen ein gutes Wort für mich einlegen.“
„Gerne“, sagte ich, „auch wenn ich kaum glaube, dass sie auf mich hören werden.“
„Das glaube ich eigentlich auch nicht“, sagte Pingo, „aber ein Narr kann sich wohl ein wenig närrische Hoffnung leisten. Doch nun entschuldigt mich. Ich werde mir ein wenig Schlaf gönnen.“
„Du hast doch gerade erst geschlafen“, bemerkte Sandra skeptisch, „zumindest hat Adrian mir das erzählt.“
„Das war kein wirklicher Schlaf“, erwiderte Pingo, „Nur ein Zwang des Steins und weder erholsam noch angenehm. Normaler, natürlicher Schlaf ist etwas völlig anderes und für mich ein seltenes Privileg geworden. Außerdem hat mich die Steinspende erschöpft. Es ist nicht nur der Schmerz, ich glaube auch, dass der Stein wütend über das ist, was ich getan habe. Er wird sich vielleicht dafür rächen und versuchen meinen Charakter noch aggressiver zu zersetzen. Wenn ich dagegen ankämpfen will, muss ich ausgeruht sein. Werdet ihr beide über mich wachen?“
„Ja“, versprach ich und auch Sandra nickte.
„Danke“, sagte Pingo, begab sich dann in eine Art Embryonalhaltung, legte seine Hände unter seinen Kopf und fing bereits nach wenigen Augenblicken an zu schnarchen, obwohl just in diesem Moment ein hässlicher, fetter Wurm über sein Gesicht kroch.
Nachdem sie ihn einige Minuten schweigend betrachtet hatte, beugte sich Sandra zu mir und flüsterte mir ins Ohr. „Wir brauchen Werkzeug“, sagte sie.
„Was?“, fragte ich sie verwirrt.
„Nun, mit bloßen Händen werden wir kaum noch mehr dieser Kristalle aus ihm herausbekommen“, erklärte Sandra, „schon gar nicht, ohne uns dabei zu infizieren. Vielleicht hat irgendeiner der anderen Verdammten hier ein Schwert, eine Spitzhacke oder sonst etwas Nützliches dabei. Wir könnten demjenigen versprechen die Kristalle mit ihm zu teilen, wenn er uns auch dabei hilft, Pingo zu fixieren, während wir die Kristalle aus ihm entfernen. Man könnte ihn natürlich auch töten, aber wer sagt uns dann, dass die Wirkung nicht verloren geht und …“
„Was zum Teufel redest du da?“, flüsterte ich empört, „wir können doch nicht einfach unseren Verbündeten schlachten. Der Mann hat gerade ein Stück von sich abgerissen, um uns zu helfen.“
„Um DIR zu helfen“, betonte Sandra, „ich habe davon rein gar nichts. Dabei hätte ich auch ganz gerne einen Glücksstein, was das betrifft. Und mit der Moralkeule brauchst du mir schon gar nicht zu kommen. Das wäre in etwa so, als wenn Freddy Krüger, Pennywise über Kinderrechte belehren würde.“
„Nur weil wir früher Scheiße gebaut haben, müssen wir nicht noch mehr davon bauen“, wandte ich ein und warf zugleich einen nervösen Blick auf Pingo, der aber fest zu schlafen schien.
„Nein“, sagte Sandra etwas weniger scharf, „wahrscheinlich ist es sogar gut, wenn wir nicht da weitermachen, wo wir aufgehört haben. Du bist nicht der Einzige mit Gewissensbissen, Adrian. Nur weil ich deswegen nicht ständig rumheule heißt das nicht, dass ich aus Stein bin. Ich bin auf einiges, was ich getan habe, nicht stolz, aber jetzt ist ein verdammt beschissener Zeitpunkt, um zum Heiligen zu werden. Jetzt müssen wir pragmatisch denken. Pingo mag ein netter Kerl sein, aber schon bald wird er so oder so tot sein, während wir noch die Aussicht auf ein langes Leben haben, wenn wir es geschickt anstellen. So eine Chance nicht zu nutzen, wäre dumm. Zum einen wird man auch mich sicher noch befragen und auch wenn ich keinen Symbionten in mir verstecke, traue ich diesen Glasgestalten ganz und gar nicht und würde mich deutlich wohler fühlen, wenn ich noch einen Trumpf in der Hinterhand hätte. Zum anderen: Wenn es überhaupt eine Chance gibt aus diesem Schlamm herauszukommen, ohne gefressen zu werden, dann wahrscheinlich nur mit einem dieser Wunderkristalle. Nach dem, was du mir von unseren Gastgebern erzählt hast, glaube ich keine Sekunde, dass ein bisschen nettes Plaudern uns hier weiterhilft.“
„Pragmatiker“, rief mir das noch nicht entkernte Erinnerungsabbild von On-Grarin höhnisch zu. Dieser Pragmatismus war es gewesen, der mich und auch Sandra letztlich in diese Lage gebracht hatte. „Du könntest ihn auch einfach um einen weiteren Kristall bitten“, schlug ich vor.
„Das könnte ich, ja“, erwiderte Sandra, „und vielleicht gibt er ihn mir. Wenn ich Glück habe. Aber wir müssen weiterdenken, Adrian. Wir beide sind Fortgeschrittene. Diese Welt hier ist nichts weiter, als ein einzelner Pflasterstein in einer langen Straße des Schreckens und wenn wir auf unserem Weg nicht überrollt werden wollen oder sogar das Ende erreichen wollen, brauchen wir jede Hilfe, die wir bekommen können. Selbst wenn wir das hier überleben, weißt du nicht, was in der nächsten Welt auf uns lauert.“
„Ich weiß nun immerhin, was in UNS lauert“, sagte ich düster, „und das ist ziemlich übel.“
„Jetzt hör mit diesem selbstmitleidigen Gewinsel auf“, zischte Sandra, „hilfst du mir jetzt oder nicht?“
„Nein“, antwortete ich, „das kann ich nicht.“
„Wunderbar“, empörte sich Sandra, „dann darf ich das also ganz allein machen.“
„Nein“, sagte ich wieder, „wenn du nämlich versuchst ihn anzurühren, werde ich ihn beschützen!“
„Du wirst was?!“, fragte Sandra fassungslos, „du willst mir tatsächlich in den Rücken fallen?“
„Ich will dich nur von einer großen Dummheit abhalten“, antwortete ich.
„Was ich tue oder lasse ist nicht mehr deine Sache, falls es das überhaupt je war“, sagte Sandra zornig, „wir beide sind fertig miteinander. Ich wollte wirklich versuchen das hier mit dir gemeinsam durchzustehen, aber von mir aus kannst du bei deinem nächsten Scheiß Traum den Verstand verlieren oder an einem Herzinfarkt sterben!“
„Was ist los?“, erklang Pingos verschlafene Stimme. Da wir zumindest unsere letzten Sätze nicht eben leise gesprochen hatten, schien ihn der Lärm geweckt zu haben.
„Das geht dich gar nichts an, du reimender Steinbruch!“, zischte Sandra, „aber wenn du es wissen willst: ich werde gerade einen Idioten los.“
„Wo willst du denn hin, Sandra?“, fragte ich sie, „hier ist doch überall nur Schlamm.“
„Aber woanders gibt es bessere Gesellschaft. Vielleicht finde ich da auch einen Mann“, sagte Sandra und versuchte einen wütenden Abgang, was aber schon daran scheiterte, dass sie halb kriechend und halb aufrecht durch den Schlamm waten musste.
„Ach komm schon!“, sagte ich lachend, „Jetzt komm mir nicht mit dieser – ‚Ich brauche einen richtigen Macho‘-Nummer. Das ist unter deiner Würde.“
Sandra drehte sich noch einmal um. Ihre schlammverkrusteten Haare lagen wild in ihrem Gesicht. „Wer sagt, dass ich einen Macho suche“, sagte sie mit hochgezogener Augenbraue, „Vielleicht suche ich zur Abwechslung auch nur nach ein wenig Intelligenz.“
„Was auch immer es ist, weswegen ihr euch streitet …“, begann Pingo, „ihr könnt doch sicher …“
In diesem Moment erbebte die Erde unter uns. Der Schlamm begann Blasen zu werfen und die Käfer und Würmer um mich herum flohen, als wäre der Tod persönlich hinter ihnen her, sodass sich schnell ein kreisförmiger ungezieferfreier Bereich bildete. Gleichzeitig wurde es merklich dunkler. Da jedoch das faszinierende Licht aus der Festung in ungebrochener Intensität erstrahlte, blickte ich zum Himmel und erkannte dort einen schwarzen, sich schnell drehenden Wirbel, der nach unten hin eine Ausbeulung ausbildete, die mit jeder Sekunde wuchs, was ihr das Aussehen eines unförmig aufgeblähten, schwarzen Tornados gab. Dazu passte auch der auffrischende Wind, der mit einem Mal wie eine riesige Hand gegen meinen Rücken drückte und in dessen klagendes Heulen sich die panischen Rufe und erschreckten Schreie der anderen Verdammten mischten. Fast jeder, der in unserer Nähe im Schlamm ausharrte, war bemüht, aus dem inzwischen sicher einen Kilometer im Radius messenden Kreis herauszukommen.
Sandra, die ohnehin erst wenige Meter weit gekommen war, blieb jedoch schreckstarr stehen und auch Pingo blickte nur besorgt in den Himmel, anstatt wegzulaufen. Außer ihm blieben nur wenige andere so ruhig.
„Hat das etwas mit dem schwarzen Malmer zu tun?“, vermutete ich, während ich mein Bestes tat, nicht in dem immer weicher werdenden Schlamm zu versinken und der Wind an meiner Kleidung und meinen Haaren zerrte.
„Ja“, sagte Pingo.
„Aber keiner von uns hat sämtliche Befragungen durchlaufen. Heißt das, dass wir sicher sind?“, fragte ich.
„Nicht ganz“, schrie Pingo durch den Lärm, „nur, wenn wir keine Dummheiten machen, wie zum Beispiel hektisch wegzurennen.“
„Was?“, fragte ich verwundert, „wir sollen nicht wegrennen?“
Pingo antwortete nicht, sondern starrte nur wie gebannt auf den wachsenden schwarzen Strudel, der nun beinah den Boden erreicht hatte. In diesem Moment geriet der ohnehin unsichere Untergrund noch mehr in Bewegung und eine Unzahl kleiner grauer Fäden schoss daraus hervor, so das mich der Untergrund an ein im Wind hin und her wogendes Meer aus Haaren erinnerte, von denen einige mir unangenehm nah kamen und sogar auf widerliche Weise an meiner Haut kitzelten ..
„Ihr müsst um jeden Preis stehen bleiben“, schrie Pingo gegen den Wind, „der Malmer wird jeden innerhalb des Kreises prüfen und jene, die die Herren der Glasfeste nicht als unläuterbar markiert haben, wird er verschonen. Außer, sie versuchen, sich dieser Prüfung zu entziehen. Auch dann betrachtet er sie als schuldig.“
„Woher sollen Neuankömmlinge das wissen?“, fragte ich.
„Gar nicht“, sagte Pingo, „ich denke, auch das gehört zu ihrem Auslesesystem. Nur jene, die von sich aus bereit sind, sich der eigenen Dunkelheit zu stellen, sollen verschont werden.“
„Und du hast dazu gehört?“, fragte ich, „ich meine, du scheinst ja schon Kontakt mit diesem Vieh gehabt zu haben.“
„Nein“, sagte Pingo, „Ich hatte zu viel Schiss gehabt, um mich zu bewegen. Ähnlich wie Sandra, offenbar. Zu ihrem Glück.“
„Warum hast du uns nicht vorher davon erzählt?!“, fuhr ich Pingo an, der zerknirscht zu Boden blickte.
„Ich … ich habe nicht daran gedacht“, stotterte er.
„Nicht daran gedacht? Wie kann man so etwas vergessen. Sie weiß von all dem nichts, Pingo. Sobald der Schock nachlässt, wird sie sicher versuchen wegzulaufen. Das würde jeder ohne ausgeprägte Todessehnsucht, der nichts von der damit verbundenen Gefahr weiß. Ich muss zu ihr“, sagte ich und rannte los.
„Du darfst nicht rennen, Adrian“, rief mir Pingo hinterher, „der Malmer könnte das falsch verstehen.“
Doch ich achtete nicht darauf, lief weiter und brüllte immer wieder „Sandra, bleib stehen, sonst wird das Ding dich töten“, während der Sturm die Worte von meinen Lippen riss. Egal wie ich brüllte, sie schien mich nicht zu hören oder sich nicht für meine Worte zu interessieren, selbst als ich nur noch ein paar Schritte von ihr entfernt war. Plötzlich wurden einige der bislang noch kurzen „Haare“ länger, verbanden sich zu immer dickeren Strängen, wanden sich wie Tentakel durch die Luft und griffen nach allen, die sich noch im insektenfreien Kreis befanden. Sandra wurde als eine der ersten erwischt. Für einen schrecklichen Moment dachte ich, dass sie versuchen würde vor den auf sie zufliegenden „Haaren“ zu fliehen, aber irgendwie schien sie mich doch gehört zu haben oder instinktiv richtig zu handeln. Jedes gelang es ihr doch stillzuhalten, während das Ding auf ihren Brustkorb traf, sich noch weiter auffächerte und sich wie ein Gewirr aus miteinander verwobenen Würmern um ihren gesamten Körper schlang, so dass es aussah, als ob sie in unglaublich dünnem aber dichtem Wurzelwerk gefangen wäre. Kurz darauf begann ihr Körper spasmisch zu zucken und sie stieß unwillkürliche, abgehackte Laute aus, die irgendwie nach einer Schwachsinnigen klangen. Der Anblick stieß mich dermaßen ab, dass ich nun beinah selbst versucht hätte wegzulaufen.
Als einer der grauen, organischen Haarpeitschen jedoch einen fliehenden Pflanzenmenschen erwischte, der mich vage an Nonnunon aus Konor erinnerte und der nur noch wenige Meter vom Rand des Kreises entfernt gewesen war, überlegte ich es mir jedoch anders. Bereits Sekundenbruchteile, nachdem der Malmer ihn auf dieselbe Weise durchdrungen hatte, wurde der Mann in die Luft gehoben, strampelte dort ein, zweimal mit den Beinen und wurde dann mit einem gewaltigen Ruck in die tiefen des Schlamms gezogen. Seine darauf folgenden Schreie und das Knirschen und Knacken von gewaltigen, unsichtbaren malmenden Zähnen und Kieferknochen waren so laut, dass sie durch die Schlammschicht zu uns hinauf drangen und kurz nachdem sie endeten, würgte das Ding blubbernd einen Schwall von grünlichem Blut an die nun wieder ebene Oberfläche. Ich glaubte nicht, dass es mir viel anders ergehen würde, als diesem bedauernswerten Geschöpf, also blieb ich, wo ich war, zumal der Pflanzenmann längst nicht das einzige Opfer war.
Eine muskulöse, echsenköpfige Frau mit kleinen Stummelflügeln, versuchte sich den „Haaren“ durch unbeholfene, mühsam wirkende Flugbewegungen zu entziehen, wurde jedoch ebenfalls erwischt und erlitt das gleiche Schicksal, nur dass das diesmal vom schwarzen Malmer hervorgewürgte Blut eine hellrote Farbe hatte.
Der Rorakkrieger, mit dem ich noch vor einigen Stunden vergeblich versucht hatte ein Gespräch zu beginnen und zwei weitere seiner Artgenossen, eröffneten sogar das Feuer auf das unter dem Schlamm lauernde Ungetüm. Doch entweder trafen sie den Malmer nicht, oder die Kugeln und Gräber schienen ihn nicht weiter zu stören. Jedenfalls schickte er ungerührt seine „Haare“ nach ihnen aus, prüfte sie und erklärte ihr Leben für beendet, in dem er sie hinab in einen feuchten, schmerzhaften Tod zog.
Ein vierarmiges Geschöpf mit dunkelblauer Haut und schaufelartigen Händen versuchte sich der Prüfung zu entziehen, indem es sich geschwind wie ein Maulwurf in den Schlamm hineinbohrte und darin verschwand, wahrscheinlich in der Hoffnung so schneller voranzukommen als auf der unsicheren, matschigen Oberfläche. Doch der Malmer ließ sich auch davon nicht täuschen, wie schon kurz darauf erklingende Schmerzensschreie, Fressgeräusche und ein heraufgewürgter Schwall gelblichen Blutes bewiesen.
Neben all diesem Grauen beobachtete ich aber immerhin auch, wie sich das Geschöpf von Sandra löste, die zwar mit einem Keuchen in die Knie sank, aber offenbar noch lebte. Meine Erleichterung darüber währte jedoch nicht sonderlich lange. Denn bereits einen Wimpernschlag später begannen die „Haare“ sich auch für mich zu interessieren.
Der Aufprall des verwobenen Haarstranges auf meiner Brust war nicht so weich und schleimig, wie ich es erwartet hatte, sondern traf mich mit der Wucht eines Hammerschlages und trieb mir die Luft aus den Lungen. Als Nächstes begann meine Haut zu kribbeln, während feine Abspaltungen der grauen Substanz über meinen Leib krochen und sich mir in Ohren, Mund und Nase bohrten. Meine Schleimhäute standen in Flammen. Und nicht nur sie. Die Haarfäden des Malmers bildeten feinste Verästlungen aus und krochen durch Blutgefäße, Nervenbahnen, Fettgewebe, Knochen, Sehnen und vor allem bis in mein Gehirn hinein. Ja, ich war sogar fest davon überzeugt, dass sie in jede einzelne Zelle meines Körpers eindrangen, meine Mitochondrien auf links drehten, die DNS analysierten und die Zellkerne katalogisierten. Vor allem quetschte er meine Synapsen aus, um jede Erinnerung, jede Überzeugung, jeden unterbewussten Gedanken aus mir herauszupressen. Das Ding ließ nichts an mir – und dem Kwang Grong – unerforscht und als ich wieder in der Lage war, mir solche Fragen zu stellen, fragte ich mich ernsthaft, warum es so einen Aufwand betrieb, nur um festzustellen, ob die Glasmenschen mich abgelehnt hatten. Was ich damals höchstens dunkel ahnte, ist mir heute eine Gewissheit: Der schwarze Malmer war kein urzeitliches Ungeheuer, welches zufällig im Schlamm wohnte und das von den Glasmenschen abgerichtet worden war. Es war kein Wesen mit Bewusstsein oder eigenem Willen, wie etwa der Kwang Grong. Es war vielmehr ein Automat, eine Art Bioroboter, den die Herren dieser Welt dazu erschaffen hatten, jedes kleinste Geheimnis aus ihren „Gästen“ herauszuziehen und zu katalogisieren. Die Prüfung an sich, war nun ein Nebeneffekt.
Doch so unangenehm, schmerzhaft und entblößend die Prozedur auch war – immerhin überlebte ich sie und als mir wieder möglich war, mich auf die Umgebung zu konzentrieren, stellte ich fest, dass auch Pingo und Sandra wieder unter den Lebenden weilten. Und nicht nur das. Der Wirbelsturm war verschwunden, der Wind hatte sich gelegt und auch die grauen „Haare“ des Malmers hatten sich in den Untergrund zurückgezogen, während sich die Würmer und Käfer wie von Pingo angekündigt über die kläglichen Überreste seiner Opfer hermachten.
„GEHT ES DIR GUT?“, fragte der Kwang Grong mit einer Besorgnis in der Stimme, wie ich sie von ihm ganz und gar nicht gewohnt war.
„Nein“, sagte ich ehrlich, „aber immerhin bin ich kein Malmerfutter. Und was ist mit dir?“
„ICH KOMME KLAR. IM SEELENWIRBEL, IN DEM ICH ENTSTANDEN BIN, MUSSTE ICH WEITAUS SCHLIMMERES ERTRAGEN“, antwortete der Kwang Grong.
„Seelenwirbel?“, fragte ich verwundert, „Davon hast du mir nie erzählt. Und dabei dachte ich, dass wir während unserer vollständigen Verschmelzung keine Geheimnisse voreinander haben konnten.“
„ES WAR KEIN GEHEIMNIS IN DEM SINNE. ES IST EINFACH NUR SCHWER ZU BESCHREIBEN. ZU … FREMD FÜR EINEN AUCH NUR ZUM TEIL MENSCHLICHEN VERSTAND. EIN TANZ DER BEHAUPTUNG UND VERNICHTUNG, EIN KALEIDOSKOP AUS LEID UND TRIUMPH, EIN GNADENLOSES SCHLACHTFEST DER ESSENZEN. ALLEIN DIE BILDER, DIE ICH VON DIESER ZEIT IN MIR TRAGE, KÖNNTEN DEINEN GEIST ZERSPRENGEN. DESHALB HABE ICH SIE ABGESPALTEN. UM DICH UND DADURCH AUCH MICH ZU SCHÜTZEN. DOCH DAS IST OHNEHIN GERADE NICHT VON BEDEUTUNG. WIR STEHEN BALD ANDEREN HERAUSFORDERUNGEN GEGENÜBER.“
„Du meinst die Prüfung?“, fragte ich.
„JA“, antwortete Karmon.
„Meinst du, es kann ihnen gelingen dich aus mir zu vertreiben? Dich vielleicht sogar zu vernichten?“, fragte ich.
„ICH BIN MIR NICHT SICHER“, sagte Karmon, „ICH BIN ES GEWOHNT ZU ÜBERLEBEN, ABER DIE MACHT, DIE ICH GERADE UND AUCH BEI DEINEM ERSTEN GESPRÄCH MIT DEN GLASWESEN GEFÜHLT HABE, WAR GEWALTIG. KAUM ZU BEGREIFEN. AN DIESEM ORT IST EINE MENGE POTENZIAL KONZENTRIERT. TROTZDEM VERMUTE ICH, DASS ICH WIDERSTEHEN KÖNNTE, WENN ICH ALLES GEBE, ABER DAS WERDE ICH NICHT TUN.“
„Was?!?“, fragte ich fassungslos, „warum denn nicht?“
„ES KÖNNTE DICH ZERSTÖREN, ADRIAN. DEINEN GEIST AUSLÖSCHEN UND MICH ZUM ALLEINIGEN BEWOHNER DEINES KÖRPERS MACHEN. ABER SELBST WENN NICHT, KANN ES SEIN, DASS SIE DICH TÖTEN WERDEN, WENN SIE BEMERKEN, DASS DU MICH NICHT LOSGEWORDEN BIST.“
„Was, wenn ich dich nicht loswerden will?“, fragte ich. Tatsächlich schien mir die Vorstellung Karmon zu verlieren mit einem Mal schier grauenhaft. Er hatte mir natürlich längst nicht nur Gutes eingebracht, aber dennoch würde sein Verlust gleichbedeutend mit einer Einsamkeit sein, wie ich sie noch nie zuvor erlebt hatte, nun, da ich diese Verbindung schon so lange gewohnt war.
„VOR EINIGEN STUNDEN KLANG DAS NOCH ANDERS“, sagte Karmon mit einem etwa zynischen Unterton.
„Das war etwas anders“, sagte ich, „ich war … emotional überlastet. Da sagt man so einiges.“
„UND JETZT BIST DU ENTSPANNT?“, fragte Karmon skeptisch.
„Nein, aber …“, suchte ich vergeblich nach Worten.
„DU WILLST NICHT, DASS MAN DIR ETWAS WEGNIMMT, NICHT?“, schloss Karmon, „DAS KANN ICH GUT VERSTEHEN. DAS WILL ICH AUCH NICHT. WIE AUCH DU, BEGEHRE ICH SOGAR ALLES AN MACHT UND ERFAHRUNGEN FÜR MICH, WAS ICH BEKOMMEN KANN. ABER ICH BIN KEIN NARR. EINER VON UNS WIRD VERLOREN GEHEN UND DU SOLLST ES NICHT SEIN.“
„So selbstlos hätte ich dich gar nicht eingeschätzt. Erst recht nicht, nachdem du mir bei meinem Albtraum auch nicht geholfen hast“, sagte ich.
„WAS DEN TRAUM BETRAF, SO HABE ICH VERSAGT. DENNOCH HABE ICH VERSUCHT, DICH ZU BESCHÜTZEN. ABER ICH BIN NICHT SELBSTLOS“, sagte Karmon, „ICH BIN ZUTIEFST EGOISTISCH. DOCH SELBST JETZT BIST DU NOCH EIN TEIL VON MIR, ALSO WILL ICH DICH AUCH SCHÜTZEN. ABER DAS IST NICHT ALLES. ICH BIN REALIST. DU BIST DER STÄRKERE VON UNS BEIDEN. DU BIST DERJENIGE VON UNS, DER EINE CHANCE HAT IN DIESER WELT ZU BESTEHEN. UND DA DU MEINE ERINNERUNGEN MIT DIR TRÄGST, DA DU MEIN WESEN KENNST, WERDE ICH IN DIR WEITERLEBEN, EGAL WAS DIESE GLASGESCHÖPFE MIT UNS ANSTELLEN.“
„Ich soll stärker sein als du?“, fragte ich verblüfft, „alles an Fähigkeiten und Talenten, was ich besitze, verdanke ich dir.“
„SCHWACHSINN“, sagte Karmon entschieden, „DU BIST SCHLAU UND ERFINDUNGSREICH UND HAST EINEN EISERNEN WILLEN. DU HAST SEHNSÜCHTE UND LEIDENSCHAFTEN, DIE ALLES ÜBERSTRAHLEN UND EINEN HUNGER, DER SCHIER UNERSÄTTLICH IST. DU LÄSST DICH VON RÜCKSCHLÄGEN NICHT ENTMUTIGEN UND BIST BEREIT UND IN DER LAGE DICH AN NEUE GEGEBENHEITEN ANZUPASSEN. WÄRE ES ANDERS, HÄTTEST DU MICH NIE VON UNSERER VEREINIGUNG ÜBERZEUGEN KÖNNEN. WÄRE ES ANDERS, HÄTTE ICH DEINE SEELE GEFRESSEN UND JEDE SPUR VON DIR AUSGELÖSCHT. ABER ES IST, WIE ES IST. WENN DU WAFFEN UND TALENTE BRAUCHST, WIRST DU SIE FINDEN, SO WIE DU AUCH MICH GEFUNDEN HAST.“
„Was also verlangst du?“, fragte ich.
„DU DARFST PINGOS STEIN NICHT BENUTZEN“, antwortete Karmon, „JEDENFALLS NICHT, UM MICH ZU RETTEN. VERSPRICH ES MIR.“
Ich schwieg eine Zeitlang und suchte nach einem Ausweg, den ich jedoch nicht finden konnte. „in Ordnung. Ich verspreche es“, sagte ich schließlich, wusste aber selbst nicht, ob ich die Wahrheit sprach.
„GUT“, sagte Karmon, „AM BESTEN, DU GIBST DEN STEIN AN PINGO ZURÜCK. ODER DU GIBST IHN SANDRA. SIE WILL IHN DOCH OHNEHIN.“
„Nein“, sagte ich bestimmt.
„WARUM?“, fragte Karmon.
„Ich bin kein kleines Kind“, antwortete ich, „du sagst, dass ich einen starken Willen habe und das stimmt. Ich brauche mich Versuchungen nicht zu entziehen, indem ich sie weit von mir wegschiebe.“
„GUTE ANTWORT“, sagte Karmon wobei ich sein Grinsen gedanklich hören konnte.
„Huhu, jemand zu Hause?“, unterbrach plötzlich Sandras helle Stimme unser gedankliches Zwiegespräch.
„Ja“, sagte ich noch immer etwas gedankenverloren.
„Das ist erfreulich“, sagte Sandra, „Du stehst seit bestimmt fünf Minuten hier rum und starrst ins Leere. Ich dachte schon, dass du dich an Pingos Stein geschnitten hast und nun auch in so eine komische Totenstarre fällst.“
„Wohl eher nicht“, sagte Pingo, „mir hängt dann für gewöhnlich kein Sabberfaden von den Lippen.“
Der sonst so melancholische Steingeweihte fing an zu Lachen und Sandra stimmte darin ein, was ich umso absurder fand, da sie noch vor einigen Minuten drauf und dran war ihn auszuschlachten.
„Da ihr beide euch gerade vortrefflich auf meine Kosten amüsiert, gehe ich davon aus, dass es euch gut geht“, bemerkte ich trocken.
„Naja“, sagte Sandra, der der Schock über die gerade durchlittenen Ereignisse noch immer ins Gesicht geschrieben stand, „so gut wie es einem eben geht, wenn man gerade von einem Gestalt gewordenen Albtraum von innen begrabscht wurde. Aber ich werde es überstehen. Danke, dass du mich gewarnt hast.“
Ich nickte knapp. Dann wanderte mein Blick zu Pingo, „Wer so wie ich dem Stein geweiht, den Tod stets bei sich weiß, geht ungerührt durch vieles Leid, brennt es auch noch so heiß“, antwortete er beschwingt.
„Schön gesagt“, erwiderte ich, „und was nun? Haben wir jetzt erst mal Ruhe vor dem Malmer? Und was ist mit dir Sandra? Willst du noch immer nach einem besseren Mann suchen“
„Die besten wurden mir gerade vom Malmer weggeschnappt“, sagte sie scherzhaft, „dann kann ich genauso gut bei dir bleiben.“
Natürlich war mir bewusst, dass sie in Pingos Gegenwart nicht offen über unseren Konflikt sprechen konnte. Aber ihre Augen machten mir auch so klar, wie ihre Worte und ihr Sinneswandel zu verstehen war: Ihr war wieder bewusst geworden wie unberechenbar und gefährlich dieser Ort war und so würde sie sich bis auf Weiteres an dem orientieren, was sie kannte. Verziehen hatte sie mir meine vermeintliche Treulosigkeit aber nicht. Daran ließ ihr Blick kein Zweifel.
„Das freut mich“, sagte ich, „dann kann ich mich ja beim Malmer für deinen Sinneswandel bedanken. Wenn wir ihn das nächste Mal sehen.“
„Das könnte schneller passieren, als dir lieb ist“, sagte Pingo, „sein Auftauchen folgt keinem festen Muster, sondern geschieht genauso unregelmäßig und scheinbar zufällig wie die Befragungen. Manchmal zeigt er sich über Wochen nicht, dann wieder taucht er drei oder viermal am selben Tag auf.“
„Das liebe ich an diesem Ort“, seufzte Sandra, „er erfreut einen ständig mit neuen Überraschungen.“
„Wo wir gerade bei Befragungen sind: Warum wurde ich bereits befragt, und du und Sandra noch nicht?“, fragte ich.
„Ich weiß es nicht“, sagte Pingo, „aber eigentlich ist sogar sehr ungewöhnlich, dass sie sich schon so früh an dich gewandt haben. Wahrscheinlich finden sie dich interessant. Die meisten der Neuankömmlinge lassen sie länger zappeln. So wie auch mich. Nicht, dass ich scharf darauf bin als Blutpfütze aus dem Schlamm gerülpst zu werden, aber diese Ungewissheit ist eine ganz eigene Qual. Ganz zu schweigen von den Prüfungen des Malmers.“
„Ich weiß ganz genau, was du meinst“, sagte ich, „Wie oft hat er dich schon …“
„Vierzehn mal“, sagte Pingo niedergeschlagen, „gerade nicht mitgerechnet.“
„Wie hältst du das aus?“, fragte Sandra sichtlich beeindruckt.
„So lang des Atems feines Band mich an das Leben bindet, so bleibt mir kaum ein andres Los, als zu nehmen, was mich findet“, antwortete Pingo.
„Das klingt sehr fatalistisch“, bemerkte Sandra.
„Normalerweise bin ich nicht so“, sagte Pingo traurig und mit einer Spur von Selbsthass, „aber an diesem Ort bleibt einem quasi keine andere Wahl. Er erzieht einen förmlich zur Passivität und Schicksalsergebenheit.“
„Wo wir gerade von ‘Schicksal‘ reden“, sagte ich düster und mit gepresster Stimme, „meines naht gerade mit großen Schritten.“
Tatsächlich bewegte sich dieselbe strenge Glasfrau auf uns zu, die mich schon einmal geprüft hatte. Diesmal jedoch hielt sie etwas in der Hand, das wie ein gläsernes Schwert mit mehreren dünnen, nadelförmigen Spitzen an seinem Ende aussah. Allein beim Anblick dieses Gegenstandes bildete sich ein dicker Kloß in meinem Hals. Ich kam mir vor, wie ein mittelalterlicher Delinquent, dem man die Folterwerkzeuge zeigte. Erst recht, da ein heißer, gnadenloser Zorn von der Frau auszugehen schien, der noch heller strahlte, als das Licht der Festung.
„Viel Glück“, sagte Sandra und legte eine Hand auf meine Schulter. Die Berührung war zärtlich und auch in ihrer Stimme war diesmal weder Wut noch Zynismus. Nur aufrichtiges Mitleid. Leider tröstete mich das nicht, denn es erinnerte mich an diese Art von Mitleid, die man gelegentlich zum Tode verurteilten Straftätern entgegenbrachte. Menschen die schreckliches getan hatten, denen man aber – nun wo es so weit war – doch kein so grauenhaftes Schicksal gönnte, wie jenes, dem sie nun entgegensahen.
„Danke“, sagte ich nur knapp, da ich nicht mehr herausbrachte ohne vor Selbstmitleid in Tränen auszubrechen.
„Ich sollte dir vielleicht besser nicht auf die Schulter klopfen“, sagte Pingo verlegen, „aber auch ich wünsche dir alles Gute. Denk an den Stein. Vielleicht bringt er dir mehr Glück als mir.“
Ich nickte. Ja, der Stein, dachte ich, der Stein, den ich nicht verwenden soll. Was für ein Trost.
Kurz darauf traf die Glasfrau ein. Alles Grübeln endete und die Befragung begann.
~o~
„Ihr hättet mir ruhig etwas Ruhe gönnen können, nachdem ihr dieses Ungetüm auf uns losgelassen habt“, sagte ich zu der Frau, als ich ihr erneut in dem improvisierten, kugelförmigen Verhörzimmer aus feinstofflichem Milchglas gegenübersaß.
Sie schien meine Worte überhaupt nicht zur hören, sondern machte sich lediglich an der Klinge ihres seltsamen Schwertes zu schaffen, worauf es aufzuleuchten begann. Aus der Nähe erkannte ich nun, dass es eine scheibenförmigen Aufsatz besaß, auf dem neun kreisförmig angeordnete, scharf aussehende Metallspitzen angebracht worden waren.
„Wie heißt du überhaupt?“, fragte ich mit wachsender Nervosität.
„Für einen Träger der Dunkelheit habe ich keinen Namen“, antworte sie knapp.
„Du machst es dir sehr einfach, oder?“, fragte ich.
„Wenn du das sagst, Verlorener“, sagte sie, während sie das seltsame Schwert auf meine Brust richtete und ein angedeutetes, strenges Lächeln auf ihren Lippen erschien, „Das hier wird für dich jedenfalls ganz und gar nicht einfach.“
„Was hast du damit vor?“, fragte ich, auch wenn ich mir das natürlich sehr gut vorstellen konnte und rückte gleichzeitig so weit es ging von ihr weg. Leider war das nicht besonders weit. Die Kuppel war eng und auch, wenn sie an eine Seifenblase erinnerte, war sie äußerst stabil. Ich versuchte den Schattenstrahler zum Einsatz zu bringen, aber der reagierte nicht und als ich eine innere Frage an den Kwang Grong stellte, versicherte er mir, dass es nicht an ihm lag „ICH BLOCKIERE DIE WAFFE NICHT, ADRIAN. ES IST DIESE FRAU. SIE STÖRT UNSERE KONTROLLE.“ Wenigstens schien sie meinen missglückten Angriffsversuch nicht zu bemerken oder sie ignorierte es schlicht.
„Wie ich bereits sagte. Ich werde dich reinigen. Dein Fleisch wie auch deinen Geist“, erklärte sie während sie die scharfen Spitzen genau auf Herzhöhe gegen meine Brust presste. Ich spürte sofort, wie Blut aus den entstehenden Wunden sickerte und ein zwar noch nicht schlimmer, aber doch unangenehmer brennender Schmerz durch meine Brust fuhr. Ich versuchte ihren Arm mit dem meinen Wegzudrücken, aber zu meinem Erschrecken stellte ich fest, dass die Frau stärker war als ich.
„Damit wirst du mich höchstens töten“, sagte ich.
„Ich werde die Dunkelheit in dir töten“, widersprach sie und drückte fester zu. Die Nadeln gruben sich tiefer ins Fleisch und verstärkten den Schmerz während ich gleichzeitig ein irritierendes, kühles, elektrisches Kribbeln spürte, das sich in meiner Brust ausbreitete, „wenn der Rest von dir zu schwach ist, um deinen Leib mit Leben zu füllen, dann ist dies ein angebrachtes Schicksal.“
„Warum machst du das?“, fragte ich keuchend, „ich habe dir nichts getan.“ Auch wenn ich das gerade sehr gerne ändern würde, dachte ich.
„Ich weiß, Verlorener“, sagte die Frau, „Deshalb ist das hier auch eine Prüfung und keine Bestrafung.“
Sie drückte noch fester und drehte das Schwert in meiner Wunde. Ich schrie auf und spürte wie Tränen in meine Augen traten.
„Hilf mir, Karmon!“, flehte ich, aber ich erhielt keine Antwort. Jedenfalls nicht vom Kwang Grong.
„Die Dunkelheit wird dir nicht helfen“, sagte meine Peinigerin. Offenbar hatte ich meine Bitte laut ausgesprochen, „lass es einfach geschehen und wende dich dem Licht zu.“
„Das Licht scheint mir noch weniger Gnade zu kennen, als die Dunkelheit“, brüllte ich trotzig, während das kalte Kribbeln sich durch meine Brust arbeitete, sich in meinen Armen, meinen Bauch und schließlich in meinem ganzen Körper ausbreitete und sich zuletzt wie ein elektrisches Netz um mein Herz legte. Kalter Schweiß trat auf meine Stirn. Ich hatte das Gefühl, dass mein Herz gleich mehrere Schläge aussetzte, die verpassten Schläge durch wildes Rasen wieder ausglich, dann wie unter dem Griff eines eisernen Handschuhs zusammengepresst wurde, um sich mit einem schmerzhaften Hüpfer aus der Umklammerung zu befreien, nur um dann den ganzen Kreislauf aufs Neue zu durchlaufen.
„Gnade muss man sich verdienen“, sagte die Gläserne mitleidlos.
Dann hörte ich ihre Stimme nicht mehr und auch die Umgebung um mich herum begann zu verblassen. Dabei verschwand sie nicht im eigentlichen Sinne. Meine Augen nahmen sie weiterhin war, sowie auch meine Ohren und meine Nase noch immer funktionierten. Aber mein Gehirn schien nicht mehr in der Lage zu sein, diese Sinnesreize zu verarbeiten. Stattdessen wurde mein Bewusstsein nach innen katapultiert und das nicht etwa in einem übertragenen, sondern in einem sehr wörtlichen Sinne. Ich sah aus den eigentlich nicht vorhanden Augen von roten Blutkörperchen, Gewebezellen, Immunzellen, Knochenzellen, Gehirnzellen, DNA-Strängen und anderen winzigen Teilen meines Körpers und beobachtete die grauschwarze Zellmasse des Kwang Grong, die sich wie ein Netz um meine Gefäße gelegt hatten, meine Knochen durchwuchert hatten, als winzige, klumpige Fragmente durch meine Adern rauschten, als kräftige dunkle Stränge meine Muskeln verstärkten oder eine schützende Schicht um meine Organe gebildet hatten. Und überall sah ich, wie sie auf dem Rückzug waren. Wie sie abgetrennt, zerschnitten oder aufgelöst wurden von kleinen, silbern glänzenden Lichtimpulsen, die sich wie unstoffliche Spinnen durch meinen Körper bewegten. Dabei erbebte ich angesichts dessen, was aus meinem Körper geworden war und was in ihm vorging gleichermaßen in Staunen und Ekel.
Während ich all das sah, hörte, nein spürte ich einen verzweifelten Schrei, der wie ein Erdbeben durch mein ganzes Wesen donnerte und mein Gehirn in Schwingung versetzte. Der Kwang Grong, dachte ich und gleichzeitig empfand ich ein unerträgliches Gefühl von Einsamkeit, so als würde mich der letzte Mensch an meiner Seite gerade in absoluter Dunkelheit zurücklassen. Bilder blitzten in meinem Kopf auf. Bilder aus meinem Traum. Von meinem Vater, der meine Mutter fraß, doch auch aus meiner Erinnerung. Erinnerungen an meine Jugend, an das Gefühl von Machtlosigkeit und Enge, an die Angst, an dem Ort begraben zu werden, an dem ich geboren wurde, ohne je etwas anderes gesehen zu haben, Erinnerungen an Hyronanin, an Verrat, aber auch an Triumph und ungekannte Macht und an die Verschmelzung in Konor. Erinnerungen an die Verschränkung, an das unbeschreibliche Gefühl der Seeleneinheit.
Diese Lichter, diese grausamen Eindringlinge wurden allein von der Absicht getrieben, uns voneinander zu trennen. Karmon zu vernichten und mich wieder zu einer vollkommen gewöhnlichen, machtlosen Person zu machen. Diese Dinger wollten mich, wollten uns zerstören. Und das durften sie nicht.
Ich suchte nach Karmon, versuchte ihm Mut zuzusprechen, ihm irgendwie zu helfen, aber er schien bereits unendlich fern zu sein.
Scheiß auf mein Versprechen, dachte ich, ich bin ohnehin gut darin sie zu brechen.
„En Pyris“, flüsterte ich oder vielleicht dachte ich es auch und trotz meines seltsamen Bewusstseinszustandes bemerkte ich, wie sich der Stein in meiner Hosentasche erwärmte. Bring mir Glück, dachte ich und wartete auf eine Veränderung. Ich weiß nicht genau, was ich erwartet hatte. Vielleicht, dass sich plötzlich doch ein Schuss aus meinem Schattenstrahler lösen und meine „Prüferin“ in Asche verwandeln oder zumindest samt ihres teuflischen Folterinstruments davon schleudern würde. Womöglich auch, dass sich meine Wunde schließen, sich meine Verbindung zu Karmon erneuern und wir die Schlampe mit vereinten Kräften zu einem Häufchen Glassplitter verarbeiten würden. Doch stattdessen sah ich, wie sich die schwarzen Zellen in mir nun noch schneller auflösten, und zwar auch dort, wo die eigentümlichen Lichter sie nicht bestrahlten.
„Nein!“, brüllte ich, „Verdammt Pingo, was hast du mir da für ein Drecksding gegeben! Wozu zur Hölle soll das gut sein!?“
Ich versuchte, die sich verflüchtigende Essenz des Kwang Grong irgendwie festzuhalten, aber genauso gut hätte ich versuchen können, das Meer mit bloßen Händen auszuschöpfen. Binnen weniger Sekunden war ich allein. Vollkommen allein. Ich lebte nach wie vor, ich atmete, auch wenn jeder Atemzug wie Blei auf meinen Lungen lastete, aber ich fühlte mich dennoch wie eine leblose Hülle. Nackt, einsam, unbedeutend, entkernt. Und nun, wo der Kwang Grong nicht länger in mir wohnte, wo nichts mehr mich daran hinderte, mir die Leere in mir anzusehen, nutzten all die verdrängen Emotionen der vergangenen Wochen und Monate die Gelegenheit mein Bewusstsein zu überfallen. Schuld, Lügen, Grausamkeit, Folter. All das, was ich anderen angetan hatte. All die Leben, die ich zerstört hatte. All die Grenzen, die ich überschritten hatte fügte sich in ein hässliches verzerrtes Gesicht nicht unähnlich dem Bildnis des Dorian Gray, grinsten mich widerwärtig an und spuckte mir ins Gesicht. Die Gebirge der Selbstsicherheit, die Festungen der Arroganz, die Denkmale der Selbstvergötterung, die ich mir errichtet hatte, stürzten in sich zusammen und hinterließen nichts weiter als ein wimmerndes, weinendes, erbärmliches Wrack, dass auf dem schlammigen Boden vor seiner Richterin hockte und alles erzählte, alles entblößte. Jede Tat, jeden Gedanken, jedes unbewusste und unterbewusste Motiv, jede kühle Rationalität, alle geheimen Gelüste. Und sie hörte zu, sie sprach kein Wort, aber sie sog meine Beichte dennoch in mich auf wie eine Biene den Nektar.
Zum Schluss, als ich wieder wahrnahm, was um mich herum geschah, sah ich an mir herab und stellte fest, dass alles Künstliche und Fremde an mir verschwunden war. Mein Arm endete auf Höhe des Ellenbogens in einem blutigen Klumpen Fleisch und auch meine Beine hörten auf Höhe der Knie auf. Ich war verkrüppelt und doch fühlte ich mich so sehr als vollständiger Mensch, wie seit langem nicht mehr.
„Lebe ich noch?“, fragte ich und meine Stimme klang schrill, jämmerlich und zugleich so rein, wie die eines plärrenden Kleinkindes.
„Ja“, sagte die Glasfrau sanfter als zuvor, „und nicht nur das. Du bist neu geboren und von allem Bösen gereinigt. Du hast dich offenbart und trotz all deiner grausamen Taten und Gedanken erkenne ich Potenzial in dir. Eine Chance auf Erlösung. Die Chance ein mächtiges Werkzeug der Reinheit zu werden.“
„Bin ich denn jetzt wieder rein“, fragte ich.
„Oh Nein, mein Freund“, kicherte die Glasfrau, „vor dir liegt noch ein weiter Weg bis zur Reinheit. Aber du bist nun nicht länger Verloren und das ist ein Anfang. Und du darfst mit mir ins Licht gehen.“
„Ins Licht?“, fragte ich ungläubig, „In die Festung? Wirklich?“
Die Glasfrau nickte und mein Elend wurde von einer neuen Hoffnung überdeckt. Ich würde tatsächlich die Festung von innen sehen, diesen Segensort betreten. Ihr Licht, da war ich mir sicher, würde all die Schmerzen heilen, die ich meiner Seele selbst zugefügt hatte. Vielleicht sogar mein brennendes, verzehrendes Fernweh.
„Aber wie soll ich dorthin? Ich kann nicht laufen“, sagte ich und deutete auf meine verstümmelten Beine.
„Sorge dich nicht“, sagte sie, „das ist nur Fleisch und Fleisch lässt sich leichter heilen als die Seele“
Sie machte eine beiläufige Geste. Kurz darauf verspürte ich ein Kribbeln in meinen Beinen und meinem linken Arm und während ich sie betrachtete, konnte ich dabei zusehen, wie sie sich vollständig rekonstruierten, und zwar ganz genauso wie ich sie vor meiner Zeit in Hyronanin kannte. Jedes Muttermal, jedes Haar, jeder Nagel besaß die mir bekannte Form.
„Danke!“, sagte ich unter Tränen und konnte es dabei kaum glauben, „Danke …“
“Onyra“, sagte die Glasfrau, „mein Name ist Onyra und nun wo du wieder gehen kannst, sollten wir keine Zeit verlieren.“
Sie streckte mir die Hand entgegen und als ich sie ergriff, zog sie mich auf die Beine.
Nichts wollte ich lieber tun, als ihr so schnell wie möglich in die Festung zu folgen, aber zuvor musste ich noch etwas anderes tun. Ich nahm den Rucksack von meinem Rücken, öffnete ihn und holte den Reisekatalog hervor. „Ich heiße Adrian. Und ich will, dass du das hier an dich nimmst. Es führt mich in Versuchung und es ist für den schlechten Zustand meiner Seele mitverantwortlich. Bei dir ist es in besseren Händen.“
„Das ehrt dich, Adrian“, sagte sie mit einem bedeutungsvollen Nicken und einem überraschten Funkeln in den Augen, „doch nun lass uns gehen“, beharrte sie, während sie den Katalog entgegennahm, „deine nächste Prüfung beginnt. Und vielleicht beginnt auch ein neues Leben für dich. Falls du sie bestehst.“