Sie suchen schon so lange nach Leben dort draußen. Planet um Planet wird gescannt und katalogisiert. Anhand von winzigsten Lichtschwankungen werden die Eigenschaften von Himmelskörpern geschätzt, die teils viele Lichtjahre entfernt sind, in der Hoffnung etwas über ihre Lebensfreundlichkeit zu erfahren. Bis dato – wir schreiben den 8. Dezember 2052 – haben wir noch immer keine endgültigen Ergebnisse für die Suche nach Leben. Dabei liegen einige der besten Kandidaten für außerirdische Lebensformen quasi in unserer direkten Nachbarschaft.
Einer davon ist der Jupitermond Europa. Er ist nur 628.300.000 Kilometer von der Erde entfernt, was kosmisch gesehen ein Katzensprung ist. Europa ist ein Eismond mit einer Oberflächentemperatur von lebensfeindlichen -150 Grad Celsius, und ist zudem ständig der vernichtenden Strahlung des Gasriesen Jupiter ausgesetzt, der an seinem Firmament thront und ihn mit seiner gewaltigen Schwerkraft knetet und verformt wie ein dunkler rachsüchtiger Gott. Und genau darin liegt der Grund dafür, warum Europa für die Suche nach Leben so interessant ist. Jupiters eiserne Gravitationsfaust erzeugt Reibungshitze, die das Eis unterhalb der Oberfläche schmelzen ließ und dadurch einen 160 Kilometer tiefen Ozean erschuf. Durch die ständige Strahlung werden unablässig Sauerstoffmoleküle freigesetzt und durch Krater und andere Öffnungen in das gigantische Meer gespült. Unterseeische Vulkane bilden die Nahrungsgrundlage und Wärmequelle für Bakterien, die wiederum die Basis für ein ganzes Ökosystem voller Leben bilden könnte.
Stellt euch das einmal vor. Ein außerirdisches unter dem Eis verborgenes Meer, mehr als vierzehn mal so tief wie der Marianengraben. Lichtlos und doch nicht unbedingt lebensfeindlich.
Was mag dort alles existieren, in der ewigen schier endlosen nassen Finsternis? Mikroorganismen? Wirbellose? Fische? Oder sogar noch viel weiter entwickelte Lebewesen?
Um genau das herauszufinden, befand ich mich gerade jetzt mit meinem Team auf der eisigen Oberfläche von Europa. Über uns erstreckte sich die sternengesprenkelte eiskalte Schwärze des Alls, und am Horizont prangte der beeindruckende Gasriese Jupiter und schien argwöhnisch jeden unserer Schritte zu beobachten. Auch wenn ich als Astronaut bereits über eine gewisse Erfahrung verfügte und – genau wie die anderen beiden Mitglieder meines Teams – die obligatorischen Oberflächenmissionen auf dem Mond und dem Mars bereits mehrmals absolviert hatte, machte mir die Vorstellung, dass in diesem Moment starke zerstörerische Strahlung, lebensvernichtende Kälte und das allgegenwärtige Vakuum des Alls nur darauf warteten, meine zerbrechliche Lebensflamme auszulöschen, und dass sie allein von meinem Raumanzug davon abgehalten wurden, noch immer Angst. Ich brauchte mich nur an einem scharfkantigen Stück Eis zu schneiden oder den Technikern, die den Anzug entwickelt hatten, musste nur der winzigste Fehler unterlaufen sein, und schon wäre es vorbei. Ich würde ersticken, erfrieren, verstrahlt und auseinandergerissen werden, innerhalb von Sekundenbruchteilen. Auch wenn wir es gerne verdrängten: Das Weltall war im Grunde kein Ort für uns Menschen. Wir waren hier nicht willkommen. Es war ein riesiger Ozean aus giftiger Leere, in dem im besten Falle einsam und verloren einige lebensfreundliche Inseln schwebten, die in jedem Moment untergehen konnten.
Ich verdrängte dieses ungute Gefühl und konzentrierte mich wieder auf die Aufgabe, die vor mir lag. Steve und Jennifer hatten bereits den gewaltigen Bohrer in Stellung gebracht, der dafür gedacht war, sich durch die dicke Eiskruste zu bohren. Daneben lag das kleine U-Boot, mit dem ich anschließend die Tiefen des dunklen Ozeans von Europa erkunden sollte, sobald der Bohrer das Eis erst durchbrochen haben würde. Jedenfalls einen kleinen Teil davon. Denn wenn ich nicht vom gewaltigen Druck der außerirdischen Wassermassen zerquetscht werden wollte, durfte ich nur bis zu einer bestimmten Tiefe vordringen.
Auf diese Weise nach Leben zu suchen hatte etwas davon, sich eine Hand voll Sand aus dem Meeresboden zu greifen, in der Hoffnung, dort einen Wurm zu entdecken. Es war durchaus möglich, dass wir am Ende wieder ergebnislos nach Hause reisen würden. Jahre meines Lebens wären dann verschwendet und die enorme Strahlenbelastung des Fluges, die mein Krebsrisiko massiv erhöht und meine Fruchtbarkeit extrem vermindert hatte, hätte ich umsonst in Kauf genommen. Das gleiche galt natürlich auch für meine Kollegen. Es konnte aber auch sein, dass wir auf Leben stoßen und in die Geschichte eingehen würden. Immerhin gab es in einer Hand voll Sand auf der Erde ja auch eine Menge Leben. Wenn schon keine Würmer, dann doch wenigstens Mikroorganismen.
Jennifer gab mir mit einer knappen Geste das Zeichen, dass der Bohrer seine Arbeit aufgenommen hatte. Nun hieß es warten. Zwar war die Eiskruste an dieser Stelle viel dünner als auf dem Rest des Mondes, aber dennoch würden viele Stunden vergehen, bis ich endlich auf Tauchstation gehen konnte.
Ich vertrieb mir die Zeit damit, Jupiter zu beobachten. Ich versuchte mir vorzustellen, wie es wäre, durch diesen dichten Gasmantel zu tauchen oder vom ewigen gewaltigen Sturm umhergeschleudert zu werden, der in dem dunklen Fleck auf seiner Oberfläche tobte. Natürlich waren das alles rein hypothetische Überlegungen, da kein Mensch diesen Bedingungen trotzen konnte. Aber die Fantasie hatte das seltene Privileg, solche Reisen dennoch anzutreten. Ganz ohne teure Investitionen, jahrelange Entwicklungen oder irgendwelche Risiken. Einmal, als mein Blick von Jupiter fort und wieder auf die Oberfläche des Mondes schweifte, sah ich in der Ferne das atemberaubende Schauspiel eines ausbrechenden Kryovulkans. Eine gewaltige Fontäne aus Wasser – und womöglich auch Ammoniak, Kohlendioxid oder Methan – wurde blauweiß glitzernd an die Oberfläche geschossen, wo sie innerhalb weniger Augenblicke zu Eis erstarrte und klirrend zu Boden fiel. Es war ein Anblick bizarrer Schönheit, der mir trotzdem noch deutlicher machte, wie wenig wir Menschen eigentlich in diese fremde Welt passten.
Irgendwann – ich muss kurz eingedöst sein – war es endlich so weit. Steve berührte mich an der Schulter und zeigte mir das riesige Loch, dass sie in die Eiskruste gebohrt hatten. Was sich dort unten befand, versetzte mich ebenso in Aufregung wie ihn und Jennifer. Zum ersten Mal hatten wir den sichtbaren und messbaren Beweis, dass sich unter der Eiskruste von Europa wirklich ein Ozean befand. Denn die Flüssigkeit dort unten, von der der Bohrer eine kleine Probe nach oben geholt hatte, sah nicht nur so aus wie Wasser. Eine schnelle chemische Analyse bestätigte auch, dass es sich genau darum handelte. Nun konnte meine abenteuerliche Reise also beginnen. Das U-Boot stand schon bereit. Ich brauchte nur noch einzusteigen und mich 2,5 Kilometer in die Tiefe sinken zu lassen, bevor ich in die schier unermessliche Weite von Europas geheimen Meer eintauchen und meine eigentliche Suche nach Leben beginnen würde.
Wir hatten nicht ewig Zeit, zumal die Gefahr bestand, dass die Eisfläche nach und nach wieder zufror. Also stieg ich ohne lange Umschweife ins U-Boot.
Der Innenraum bot gerade so genug Platz für eine Person. Es gab dort nur einen Sitz, ein Sichtfenster aus einer superstabilen speziellen Kunststoffverbindung, die verschiedenen Bordinstrumente und natürlich ein komplettes Lebenserhaltungssystem, dass unter anderem Sauerstoff für acht Stunden zur Verfügung stellte. Bis dahin musste ich wieder aufgetaucht sein. Zwar hatte ich als Reserve noch die Sauerstofftanks meines Raumanzugs, da ich während der Fahrt den Helm abnehmen konnte, aber die brauchte ich ja auch noch für die Oberfläche. Ohnehin wollte ich kein Risiko eingehen.
Ich schnallte mich an und spürte bereits kurze Zeit später den Ruck des verstärkten Karbonseils, mit dem mich Jennifer und Steve in das frisch gebohrte Loch hievten. Als ich genau darüber schwebte, sah ich noch Jennifer, die vor dem Sichtfenster ihren Daumen nach oben reckte, und wurde dann langsam in die eisige Dunkelheit hinabgelassen. Draußen befand sich nichts außer vollkommener Schwärze und Stille. Ich schaltete die Bordsysteme an. Das grelle Licht der LED-Beleuchtung nahm den Platz der roten Notbeleuchtung ein, und auch die Außenscheinwerfer schalteten sich sofort ein. Nun konnte ich die Struktur des aufgebohrten Eises an meinem Sichtfenster vorbeirasen sehen. Auch hörte ich nun einen Funkspruch. Er kam von Steve. „Hey Dennis. Also bis jetzt sieht alles gut aus. Die Außenhülle ist intakt. Es gab noch keine Kollision, und du hast schon ganze 500 Höhenmeter hinter dir. Wenn das so weitergeht, bist du bald im Alienaquarium angekommen.“ Normalerweise mochte ich Steves überdrehten Humor nicht besonders. Aber gerade war er das beste, was es gegen diese verfluchte Anspannung gab.
„Hier läuft auch alles wie geschmiert. Die Systeme funktionieren. Nichts rüttelt oder wackelt. Ich glaube ich, schnappe mal ein bisschen Frischluft.“ Die Sauerstoffanzeige zeigte mir, dass in der Kabine bereits ausreichend Sauerstoff vorhanden war. Endlich konnte ich meinen Helm abnehmen und mir den Schweiß aus dem Gesicht wischen. Außerdem war da diese eine Stelle an meiner Nase, die seit einer gefühlten Ewigkeit juckte und an der ich mich jetzt endlich genüsslich kratzen konnte. Ich atmete tief durch und sog die Kabinenluft in meine Lungen, auch wenn sich in der Kabine natürlich die gleiche sterile Konservenluft befand, wie in meinem Anzug. Trotzdem fühlte es sich weniger beengt an.
„Wie weit sind wir?“ fragte ich, diesmal nicht über mein Helmmikrofon, sondern über die Freisprechanlage des U-Boots.
„750 Meter“ schallte jetzt Jennifers Stimme aus dem Mikrofon zurück. „Du kannst es wohl kaum erwarten dort einzutauchen, oder?“
„Logisch.“ antwortete ich lakonisch. So richtig sicher war ich mir da aber eigentlich nicht. Klar, natürlich hatte ich mich seit Ewigkeiten auf diese Mission gefreut, und ich wusste, dass viele Menschen gerne mit mir tauschen und an meiner Stelle Geschichte schreiben würden, aber nun, wo es so weit war, hatte ich dennoch ein ungutes Gefühl. Und das, obwohl wir die Mission sicher schon fünfzig mal geübt hatten. Die beste Simulation konnte einen eben nicht auf die Wirklichkeit vorbereiten. Da ich sonst nicht wusste, was ich sagen sollte, blieb ich still und starrte einfach nur auf die Eiswand, an der ich herunterfuhr. Es war schon eine seltsame Vorstellung. Über mir – abgesehen von einer hauchdünnen Atmosphäre – das Vakuum des Weltalls, unter mir ein gigantischer Ozean und rund um mich herum nichts als uraltes Eis. Ich fragte mich, ob ….
Plötzlich ging ein Ruck durch die Kabine. Die Warnlampen im U-Boot leuchteten alarmierend auf, und eine nervtötende Sirene ging an. Eisige Panik packte mich. Wenn das U-Boot ein Leck hatte, war ich in ernsthaften Schwierigkeiten. Hastig setzte ich wieder meinen Helm auf. So wäre ich wenigstens nicht schutzlos, wenn Wasser eindrang oder die Lebenserhaltungssysteme versagten. „Hey! Was ist da los? Was ist passiert?“, fragte ich, während ich einen kurzen Blick auf die Instrumente warf, aber dort auf die Schnelle nichts auffälliges entdecken konnte.
„Gott sei Dank, Dennis. Du lebst noch.“ schallte es mir aus dem Lautsprecher Jennifers Stimme entgegen. „So eben noch.“ antwortete ich. „Was ist denn geschehen?“
Jennifer zögerte kurz, bevor sie antwortete. „ Also … Du bist mit dem Eis kollidiert. Die Außenhülle hat ein paar ordentliche Kratzer abbekommen. Die Struktur ist aber noch intakt. Auch sonst scheinen die Systeme noch alle funktionsfähig zu sein. Ich kann aber für nichts garantieren.“ Sie räusperte sich verlegen „Jedenfalls hätte das nicht passieren dürfen. Es tut uns so leid. Sollen wir die Mission abbrechen und dich wieder hochziehen? Niemand würde dir einen Vorwurf machen. Es war ja unser beschissener Fehler.“
Ich überlegte einen Moment lang ernsthaft ihr Angebot anzunehmen. Es war ja tatsächlich unklar, ob irgendwelche schlimmeren Schäden am U-Boot entstanden waren. Trotzdem wollte ich so kurz vor meinem großen Augenblick nicht aufgeben. „Ich mache weiter!“ sagte ich knapp und mit belegter Stimme. „Wie du willst. Dann machen wir weiter. Die Hälfte hast du ja sowieso schon hinter dir.“ antwortete Jennifer. Ihre Stimme drückte Anerkennung aus, die mir durchaus schmeichelte. Aber auch Sorge.
Der Rest der Operation verlief glücklicherweise still und ohne größere Zwischenfälle. Erst kurz bevor ich an der Wasseroberfläche ankam, meldete sich wieder jemand aus den Lautsprechern. Diesmal sprach dort Steves kratzige Stimme. „Gleich ist es so weit, Kumpel. Hast du noch irgendwelche bedeutenden historischen Worte parat?“
„Ein großes Platsch für die Menschheit!“ schlug ich vor und erntete laute Lacher von meinen Kollegen. „Dann hoffen wir mal, dass deine Suche nach Außerirdischen erfolgreicher verläuft als die nach Worten.“ bemerkte Steve noch spitz, bevor sie mich endgültig ins Wasser hinabließen und die Kette von meiner Kapsel lösten.
Es war ein wirklich erhebendes Gefühl, zum ersten Mal in die völlig unbekannten Tiefen von Europas Ozean einzutauchen. Es war immerhin der erste äußere Eingriff in ein Ökosystem, dass dort womöglich bereits seit Millionen von Jahren existierte. In den ersten paar Sekunden nach dem Eintauchen hielt ich ganz bewusst den Atem an und presste mein Gesicht förmlich an das kleine Sichtfenster. Mir war durchaus bewusst, dass mir die Bordinstrumente jede noch so kleine Bewegung melden würden. Aber trotzdem wollte ich das erste außerirdische Leben unbedingt mit den eigenen Augen entdecken.
Zunächst geschah aber überhaupt nichts. Ich sah nichts als endlose Massen von leerem dunklen Wasser, was mich auch nicht weiter verwundern oder enttäuschen sollte. Denn hier oben war die Wassertemperatur für Leben noch viel zu niedrig. Ich würde größere Tiefen tauchen müssen, wo Reibungshitze und vulkanische Aktivität das Wasser erwärmten.
Dennoch konnte ich den Blick nicht vom Sichtfenster des U-Boots nehmen, als ich tiefer und tiefer Richtung Boden sank. Inzwischen war die Wassertemperatur bereits auf 11 Grad gestiegen. Aber auch der Außendruck war inzwischen gewaltig. Die entsprechende Anzeige wies darauf hin, dass er bereits fast die Hälfte der maximalen Belastbarkeitsgrenze meines Gefährts erreicht hatte. Die Schäden an der Außenhülle waren dabei noch nicht mitgerechnet.
„Hey Kollege. Hast du schon was gefunden?“ kam knisternd und von Störgeräuschen begleitet eine Stimme aus dem Lautsprecher. Wahrscheinlich die von Jennifer. Aber so ganz genau konnte ich das nicht sagen. Der Empfang hier unten war wirklich miserabel. „Noch nicht, aber ich bleibe dran. Ist bei euch da oben alles in Ordnung?“ Erneut hörte ich ein Knistern. Dann einige Wortfetzen „… schon …, aber … Steve ist leider … merkwürdig … melden uns …“.
„Was ist mit Steve?“ fragte ich verunsichert. Aber niemand antwortete mir. Alles, was ich als Antwort erhielt, war weiteres Knistern und Knacken. Das beunruhigte mich ziemlich, aber ich hoffte einfach darauf, dass es allein an den Wassermassen über mir lag, und dass Steve Jennifer einfach nur wieder – wie so oft – auf die Nerven ging. Trotzdem ließ sich meine Unruhe nicht wirklich verscheuchen.
Zumindest, bis ich auf einmal ein lautes Piepen hörte. Das Geräusch stammte eindeutig vom integrierten Bewegungsmelder meines Gefährts. Unbändige Aufregung fegte meine Besorgnis hinweg. Endlich ein Zeichen von Leben. Das Objekt befand sich direkt in meiner Nähe und wenn ich den Instrumenten Glauben schenkte, war es riesig. Ich heftete meine Augen ans Sichtfenster und starrte in die spärlich erleuchtete Dunkelheit.
Und tatsächlich: Plötzlich sah ich graue, dicke und rau strukturierte Haut vor mir, die mich ein wenig an die Haut eines Wals oder auch eines Elefanten erinnerte. Durch das kleine Sichtfenster konnte ich nicht alles erkennen, aber das Wesen, dem diese Haut gehörte, musste riesig sein, denn sein Körper bewegte sich ganz nah an meinem U-Boot vorbei und ließ in seiner Bewegung kein Ende erkennen.
„Jennifer! Steve! Ich habe was entdeckt. Ich habe hier unten Leben entdeckt“ schrie ich regelrecht in die Bordmikrofone. Aber ich erhielt keine Antwort. Dafür schien das Wesen meine Schreie irgendwie gehört zu haben, denn plötzlich entfernte es sich mit einem Ruck vom Sichtfenster und verschwand in der Dunkelheit. Erst war ich sehr enttäuscht, es verscheucht zu haben, denn es stand in den Sternen, ob ich es mit meinen kleinen Scheinwerfern wiederfinden würde. Aber anscheinend war es nicht noch nicht allzu weit weg, wie ich mit einem kurzen Blick auf die Instrumente feststellte: Das Sonar hatte seinen Körper nach wie vor auf der Anzeige.
Plötzlich wurde es taghell. Erst dachte ich, dass eine Supernova den Mond getroffen oder Jupiter sich dazu entschlossen hätte, plötzlich doch zu dem Zwergstern zu werden, den er massetechnisch eigentlich verfehlt hatte. Als sich aber meine Augen an die unerwartete Helligkeit gewöhnt hatten, sah ich die wirkliche Ursache. Das Licht ging direkt von dem Wesen aus, welches ich nun zum ersten Mal in seiner vollständigen Gestalt sah. Und es war wahrhaft ein grotesker Anblick.
Das Ding hatte die Form dieser typischen UFO-Darstellungen, nur dass es aus lebendem, von grauer Haut überzogenem Fleisch bestand. An seiner Unterseite besaß es eine Reihe dünner Tentakel, mit denen es sich anscheinend fortbewegte. Ich konnte weder Augen noch einen Mund erkennen, auch wenn ich instinktiv annahm, dass sein Mund sich im Zentrum seiner Unterseite befinden müsste. Ich kann gar nicht in Worte fassen, wie mich der Anblick faszinierte. Nicht nur, dass es unter Europas Oberfläche leben gab. Es war auch noch so groß wie ein ausgewachsener Wal und erleuchtete seine Umgebung aus eigener Kraft mit der Intensität einer Stadionbeleuchtung. Welche chemischen und biologischen Vorgänge für so eine Lightshow verantwortlich sein mochten, konnte ich nicht einmal erahnen. Mindestens genauso faszinierend wie das Wesen selbst war die Umgebung, die es mit seinem Licht enthüllte. Denn erst jetzt sah ich, dass Europas Ozean von Leben wimmelte. Nur war es zu klein gewesen, um von den Instrumenten des U-Boots erfasst zu werden. Unzählige quallenartige und halb durchsichtige Geschöpfe schwammen durch das Wasser, und ab und an sah ich auch blasenartige Wesen, die ein wenig an eine Kreuzung aus Qualle und Kugelfisch erinnerten. Zum Glück wurden all diese Bilder von den bordeigenen Kameras aufgezeichnet und festgehalten. Andernfalls hätte es mir keiner geglaubt.
Am beeindruckendsten blieb aber noch immer das riesige scheibenartige Geschöpf, dass ich zuerst gesehen hatte. Ich fragte mich, ob es so etwas wie eine Intelligenz besaß. Das wäre natürlich eine noch fantastischere Entdeckung, als es die bloße Existenz von höheren Lebensformen außerhalb unseres Planeten ohnehin schon war. So oder so: Ich platze beinah innerlich, weil ich diese großartige Entdeckung mit niemandem teilen konnte. Also versuchte ich es erneut. „Jennifer. Steve! Ihr glaubt nicht, was hier unten abgeht.“. Erst kam wieder keine Antwort. Dann aber hörte ich eine Stimme, die weder Steve noch Jennifer gehörte. Sie sagte nur ein Wort: „Erlösung!“ und klang dabei extrem eigenartig. Hohl und metallisch und ein wenig gedämpft, als käme sie direkt aus dem Wasser.
„Erlösung? Was für eine Erlösung?“ fragte ich verblüfft. Wo kam nur diese andere Stimme her? Außer Steve, Jennifer und mir gab es keine Menschenseele auf dieser hartgefrorenen Eiskugel von einem Mond. Ich erhielt aber keine Antwort. Stattdessen sah ich durch das Sichtfenster, wie urplötzlich zwei weitere von diesen lebendigen grauen Scheiben neben der ersten auftauchten. Sie rasten mit unglaublicher Geschwindigkeit heran, und die Druckwelle drohte mein Boot abzutreiben. Reflexartig startete ich das Triebwerk und kämpfte gegen die Strömung an. Das U-Boot wurde augenblicklich hart durchgerüttelt, und ich musste mich an die Haltegriffe klammern, um nicht auf den Boden zu knallen. Dabei hörte ich knirschende Geräusche, und der Drucksensor befand sich inzwischen beinah im roten Bereich. Die extreme Strömung war fast zu viel für die Außenhülle. Wenn das so weiter ginge, würde ich hier unten ertrinken. Was für ein poetisches Ende: Die Lungen voll mit extraterrestrischem Wasser und wahrscheinlich verspeist von den ersten außerirdischen Lebewesen, die je entdeckt worden waren. Glücklicherweise war die Druckwelle aber bereits nach einigen Sekunden ausgestanden.
Dafür sah ich nun auf der Anzeige des Bewegungsmelders, dass inzwischen mehrere Dutzend dieser Wesen mein Boot regelrecht umzingelt hatten. Auch wenn ich nur drei von ihnen vom Sichtfenster aus sehen konnte, konnte ich mir auch die anderen in Gedanken genau ausmalen. Graue flache Kolosse mit zuckenden Tentakeln, die sich in einem unhörbaren Atemrhythmus ausdehnten und zusammenzogen.
Ich hatte keine Ahnung, warum sie mich derart einkreisten, aber es erinnerte mich unangenehm an das Verhalten von Raubtieren. Irgendwas in mir schaltete sich ein. Ein uralter Überlebensinstinkt. Ich beschloss, dass ich genug von unseren außerirdischen Freunden gesehen hatte. Ich hatte immerhin alles auf Video. Sollten sich andere – und vor allem größere und besser ausgerüstete – Teams in Zukunft näher mit ihnen auseinandersetzen. Meinen Platz in den Geschichtsbüchern hatte ich auch jetzt schon sicher. Ich setzte Kurs auf die Oberfläche und hoffte, dass Jennifer oder Steve meinen Funkspruch hören und mich wieder nach oben ziehen würden.
Als die Triebwerke ihre Arbeit aufnahmen, beobachtete ich erleichtert, dass die grauen Giganten hinter mir zurückblieben. Anscheinend hatten sie nicht damit gerechnet, wie wendig mein U-Boot war. Lediglich die kleinen quallenartigen Geschöpfe folgten mir.
Während ich mehr und mehr an Höhe gewann, versuchte ich immer wieder Steve und Jennifer zu erreichen, aber ich erntete nur Störgeräusche. Ich betete zu jedem mir bekannten Gott, dass mein Funkspruch bald durchkommen würde. Andernfalls wäre ich verloren. Eine zynische Stimme in meinem Kopf wollte mir erzählen, dass die beiden nicht mehr lebten, aber ich verdrängte sie mit aller Macht. Das durfte einfach nicht sein.
Plötzlich hörte ich wieder diese metallische Unterwasserstimme „Erlösung!“ rufen. Noch immer hatte ich keine Ahnung, was das bedeutete, aber eigentlich gab es nur eine Erklärung, die mir einen eisigen Schauer über den Rücken jagte. Die Stimme musste zu einem der Wesen dort unten gehören. Anscheinend waren sie intelligent. Und sie hatten mich doch nicht vergessen.
Aber wenn das so war? Warum folgten sie mir dann nicht? Und warum riefen sie dauernd „Erlösung.“? Wollten sie, dass ich sie umbrachte? Waren sie vielleicht gar unsterblich und ihrer Existenz müde? Ich konnte mir einfach keinen Reim darauf machen.
Ein lautes Signal machte mich auf die Anzeige des Bewegungsmelders aufmerksam. Dort zeigte sich nun wieder ein roter großer Punkt. War eines der Wesen mir also doch gefolgt? Ich ging erneut zum Fenster und sah in die dunklen Tiefen des Wassers. Statt den lebendigen Ufos erblickte ich dort eine riesige Ansammlung der quallenartigen Geschöpfe. Es waren sicher Millionen. Und sie bildeten einen dichten Schwarm, der urplötzlich mit brutaler Gewalt wie eine riesige Faust gegen mein U-Boot schlug. Sofort verlor ich den Halt und wurde zu Boden geschleudert, während in der Außenhülle augenblicklich eine tiefe Delle erschien. Sämtliche Warnlampen an den Instrumenten flackerten auf.
Ich wusste nicht, ob ich eine weitere Kollision mit diesen eigenartigen Schwarmgeschöpfen überstehen würde, also pfiff ich auf Sicherheitsvoschriften und stellte den Motor auf das Maximum ein. Nun begann das U-Boot zwar umso mehr zu rütteln, aber glücklicherweise ließ ich auch den Quallenschwarm hinter mir. Schon nach kurzer Zeit konnte ich die Oberfläche sehen. Zwar wäre das U-Boot nach dieser Aktion sicher schrottreif, aber wenn ich so entkommen konnte, hatte es sich dennoch gelohnt. Jetzt mussten mich nur noch Steve oder Jennifer hören. „Zieht mich hoch!“ schrie ich ins Mikrofon. „Ich verrecke hier sonst! Zieht mich endlich hoch!“. Niemand antwortete.
Lediglich eisiges Schweigen schlug mir entgegen. Ich hörte, wie mein Gefährt durch die dünne Eisdecke brach, die sich der Zwischenzeit erneut gebildet hatte, und sah, wie ich auftauchte und wieder auf der eisigen Oberfläche des Mondes trieb. „Steve! Jennifer! Um Gottes Willen! Zieht mich hoch. Ich werde verfolgt und angegriffen. Bitte. Zieht mich verdammt noch mal hoch!“. Diesmal kam eine Antwort.
Aber es war nicht die, die ich erwartet hatte. „Erlösung!“ dröhnte es erneut und diesmal ohrenbetäubend laut aus dem Lautsprecher und beinah im gleichen Moment traf ein weiteres Mal die eiserner Faust des Quallenkollektivs mein U-Boot. Irgendwie schaffte ich es noch, meinen Helm aufzusetzen, da wurde mein Gefährt auch schon von den Quallen und dem einströmenden Wassermassen auseinandergerissen. Wrackteile explodierten in alle Richtungen und wurden davongetrieben, elektrische Funken schossen blitzend durch das Wasser, und ich schwebte hilflos umher und wurde regelrecht umzingelt von Millionen von Quallengeschöpfen. Nur ganz unten gab es noch eine Lücke. Durch diese Öffnung sah ich sicher hunderte von den gigantischen grauen Scheibenwesen auf mich zuschweben, die das Wasser in ein gespenstisches Licht tauchten. Sie kamen immer näher. Langsam, aber mit tödlicher Sicherheit.
Mehr Sorgen bereiteten mir aber die kleinen Quallenwesen. Ich hatte gesehen, zu was sie in der Lage waren. Eines von ihnen schwebte direkt vor meinen Helm. Ich konnte jede Einzelheit des zerbrechlich wirkenden, halb durchsichtigen Körpers erkennen. Die kleine Qualle leuchtete aus sich selbst heraus und sah mit ihrem feinen filigranen Leib durchaus hübsch aus. Ein wenig wie eine Fee aus einem Märchen, dachte ich, so absurd der Gedanke auch war. Dann machte das Wesen eine eigentlich harmlos aussehende Ausholbewegung mit einem seiner dünnen Tentakel – und zerstörte augenblicklich meinen Helm, mit einer Wucht, die jeden Fangschreckenkrebs auf der Erde neidisch gemacht hätte. Wasser strömte in meinen Hals, und mit ihm flossen hunderte von kleinen zuckenden Quallengeschöpfen in mich hinein.
Frieden breitete sich in mir aus. Ich war nun Teil von etwas größerem. Etwas viel größerem. Mein Körper umfasste jetzt Milliarden kleine und tausende große Körperteile, die sich nun langsam aus der Öffnung im ewigen Eis erhoben und ungerührt durch die dünne Sauerstoffatmosphäre von Europa in die Leere des Alls schwebten. Völlig unbeeindruckt von Kälte, Strahlung und Vakuum. Die riesigen grauen Scheibenwesen verdeckten die ferne Sonne und ließen ihre Tentakel entspannt herunterhängen. Sie hatten nichts zu befürchten. Sie waren so gut wie unverwundbar, und ihre unzähligen kleinen Kinder gaben ihnen Schutz. Sie alle gehörten zu mir. Und ich zu ihnen. Und auch die Menschen, die ich einst als Jennifer und Steve kannte, hatten sich bereits vor mir zu ihnen gesellt, während ihre Körper – wie auch meiner – den scheibenförmigen Leviathanen als Nahrung dienten. Deswegen hatten sie auch nicht mehr auf meine Funksprüche reagiert. Aber das war nun wirklich nicht mehr von Bedeutung. Die Erinnerung an sie begann ohnehin bereits zu verblassen. Genau wie die an mein eigenes Leben. Zu unbedeutend waren diese lächerlichen Ereignisse und Bilder im Vergleich zu so viel äonenalter Weisheit.
Ja, ich war nun ein Teil dieser Weisheit. Und deshalb wusste ich nun auch, was „Erlösung“ bedeutete. Zum einen, dass wir nun endlich von der dicken Barriere aus Eis befreit worden waren, die uns seit Jahrmillionen gefangen hielt, und die wir aus irgendeinem Grund nie durchbrechen konnten. Zum anderen, dass wir bald auch der Erde und ihren Bewohnern die Erlösung von der Einsamkeit ihrer Individualität bringen würden. Bald schon, wenn unsere kleinen und großen Körper den Himmel über der Erde verdunkeln und unzählige winzige, aber unnachgiebige Befreier sich auf den Weg in warme feuchte Menschenkehlen machen würden, würde sich eine alte terranische Weisheit einmal aufs Neue bewahrheiten. Alles Gute kommt von oben.