Manche von euch würden mich als Monster bezeichnen. Als Psychopathen. Als Mörder womöglich. Dabei arbeite ich nicht anders als jeder Bildhauer. Ich entferne das unwichtige, damit die Schönheit vom Ballast befreit wird, der sie trübt und gefangen hält. Ein Maler hat es leichter. Er kann bei Null anfangen, kann einfach erschaffen ohne sich mit dem zu beschäftigten, was bereits vorgegeben ist. Er ist in seiner Schöpfung völlig frei. Ich dagegen habe es nicht so einfach. Ich muss mit dem Material beginnen und arbeiten, welches mir zur Verfügung steht. Aber das ist schon in Ordnung. Ich liebe diese Herausforderung. Ich lebe dafür. Und ich bin gut darin, mit ihr zu arbeiten. Mein Auge erkennt sofort, welche Elemente abgeschlagen und herausgelöst werden müssen, um die verborgene Schönheit zu befreien. Egal ob aus dem Stein, aus der Gesellschaft, aus einem einzelnen Menschen oder aus einem Gesicht. Im Grunde macht es kaum einen Unterschied.
Nehmen wir zum Beispiel diesen Mann hier. Er hat ein wunderschönes Gesicht. Feine Wangenknochen. Ein makelloses Äußeres. Aber seine Zunge kann nicht aufhören Lügen zu verbreiten und andere niederzumachen und zu beleidigen. Dadurch entstellt er nicht nur sich selbst. Er zerstört auch die Schönheit in anderen. Ihr sonniges Lächeln, ihre Lebensfreude, ihre Schaffenskraft. Seine Zunge ist das Gegenteil von Schönheit. Sie stört das Gesamtbild. Und deshalb muss sie entfernt werden. Ohne unnötige Qualen versteht sich. Mit einem sauberen, glatten und ästhetischen Schnitt. Dann kann er gehen. Natürlich wird er mich anzeigen wollen und mir die Polizei hinterherschicken oder selbst Rache nehmen wollen. Aber das haben schon viele versucht. Gewieftere als er und mit mehr Verbündeten und Geldmitteln wollten mich töten oder einsperren lassen. Manche wollten mich sogar foltern, so wie ich sie angeblich gefoltert hätte. So eine Verleumdung. Dabei versuche ich doch stets, all die hässlichen Schmerzen zu minimieren.
Geschafft hat es keiner. Am Ende wird dieser Mann aufgeben und einfach weiter leben und die Welt kann sich weiter an seiner äußeren Schönheit erfreuen. Natürlich könnten auch seine Hände Lügen verbreiten. Das ist mir durchaus bewusst. Aber sie sind so schön und glatt. Ich würde sie ihm ungern abschneiden. Ich werde mich erst darum kümmern, wenn er sich erneut mit Lügen und Anfeindungen versündigt. Dann werde ich ihn finden und sie ihm nehmen. Jeden Finger und auch die Handfläche. Das ist mein stilles Versprechen an ihn. Denn ich finde sie alle wieder. Egal wo sie sich verstecken. Auch das ist eine Gabe von mir. Genau wie bei dieser Frau – Julia hieß sie – von letzer Woche. Erst hatte ich ihr nur ihr Haar genommen, weil ich ihre Frisur nicht ertragen konnte. Im Grunde hätte man ihren Friseur dafür umbringen müssen. Immerhin hat er dieses Desaster verbrochen.
Aber das sollen andere tun. Ich kümmere mich um Schönheit, nicht um Gerechtigkeit. Jedenfalls hatte sie einen schönen Körper und durfte vorerst weiterleben. Dann aber kam dieser Autounfall. Die Schönheitschirurgen hatten ihr bestes versucht. Aber sie haben auf ganzer Linie versagt. Julia war nicht länger eine Zier für ihre Umwelt. Nicht nur die hässlichen Narben und das verbrannte Fleisch störten mich. Auch ihr Selbstmitleid und ihre abnehmende Lebensfreude. Sie hatte all ihren Tatendrang verloren. Hätte sie weiter gemalt und Geschichten und Lieder geschrieben, wie sie es früher getan hatte, so hätte ich über ihr entstelltes Gesicht hinwegsehen können. Denn sie hatte wirklich beachtliches Talent. Aber sie hat ihre Tage vor dem Fernseher oder im Bett ihres abgedunkelten Zimmers verbracht.
Und so habe ich sie eines Nachts besucht und sie mit ihrem tränennassen Kissen erstickt. Dann bin ich wieder verschwunden und weitergezogen. Es gibt so viel für mich zu tun. Diese Welt ist voller Potenzial, aber auch voller Hässlichkeit. Um nicht noch einen Burnout zu bekommen, habe ich vorerst einen Kompromiss mit mir selbst geschlossen. So lange ein Mensch der Welt mehr Schönheit gibt als nimmt, lasse ich ihn in Ruhe. Deshalb ertrage ich auch den Anblick so vieler äußerlich hässlicher Menschen – durch ihre Taten und ihr Wesen, machen sie diese Welt zu einem besseren Ort als es ihre abscheulichen Körper vermuten lassen. Wenn aber dieses Gleichgewicht kippt, muss ich aktiv werden. Natürlich auch bei hübschen Menschen, die zu viel hässliche Taten vollbracht haben. Das ist mir ein inneres Bedürfnis, dem ich nicht widerstehen kann und will.
Manche Menschen lösche ich dann vollständig aus. Bei anderen – wie unserem Freund hier – nur die schlechten Teile. Die Verzweiflung in seinen Augen, jetzt wo ich das Messer an seine Zungenwurzel setze, besitzt fast wieder eine eigene Schönheit. Seine nuschelnden Schreie als ich mich durch sein Fleisch schneide schon weniger. Außerdem bewegt er sich viel zu viel. So bekomme ich niemals eine schöne Schnittkante hin. Falls ich abrutsche und sein Gesicht entstelle, muss ich seine Existenz vielleicht ganz beenden. Also sollte er lieber still halten. Schon in seinem eigenen Interesse. Genau das sage ich ihm auch. Und ich glaube er versteht mich. Als ich seine Zunge ganz entfernt habe, betrachte ich die Schnittkante und bin zufrieden. Beinah perfekt. Heute Abend kann ich mich mit einem guten Glas Wein belohnen.
Glücklicherweise habe ich genug Vermögen, um keiner anderen Arbeit nachgehen zu müssen. Ich kann mich ganz und gar der Schönheit widmen. Morgen geht es dann weiter. Dann werde ich einen meiner üblichen Gänge durch die Fußgängerzonen irgendeiner Stadt in Deutschland machen und nach Makeln in meiner Skulptur suchen. Ich werde sie verfolgen und beobachten und mehr über sie erfahren. Auch dazu habe ich die Mittel. Du fragst dich jetzt vielleicht, wer ich bin, dass ich einfach so über Leben und Tod entscheide. Du wirst einwenden, dass Schönheit im Auge des Betrachters liegt. Und damit hast du recht. Aber ich bin dieser Betrachter und ich muss nur entscheiden, was für mich schön ist. So wie jeder von uns. Dir steht es frei, deinen Idealen zu folgen. Deiner Vision. Ich aber arbeite nur an MEINER Skulptur und daran, sie zur Perfektion zu bringen.
Ich danke dir trotzdem, dass du meinen Ausführungen zugehört hast. Vielleicht sehen wir uns ja eines Tages auch im wirklichen Leben. Dann werde ich ganz bestimmt feststellen, wie schön du bist.