„Durch die Wälder streif‘ ich munter,
Wenn der Wind die Stämme rüttelt
Und im Rascheln bunt und bunter
Blatt auf Blatt herunterschüttelt.“
– Friedrich von Sallet
Der Herbst. Die Zeit der Melancholie und der inneren Einkehr. Die Zeit der Dichter und Philosophen. Wenn gnadenlose Stürme den langsamen Tod des Jahres einleiten und verfärbte Blätter von kraftlosen Bäumen herabsinken wie die Haut eines Leprakranken. Die Zeit in der Geister und Dämonen ein Stück näher an die Mauern unserer heilen Welt gerückt sind und prüfend ihre Klauen nach winzigsten Öffnungen ausstrecken.
Schon der normale Herbst ist eine unheimliche Zeit. Kalt, trist und ungemütlich. Doch er ist auch immer gewürzt mit diesem Versprechen von Gemütlichkeit, Romantik, Tiefsinn und rauer Schönheit. Eigenschaften, die dem Hungrigen Hersbt völlig fehlen.
Der Hungrige Herbst beginnt mit dem „Heulen“. Starken Stürmen, die bereits größte Vewüstungen anrichten, Menschen und Tiere wie Blätter umherwehen und die Dächer vieler Häuser und Geschäfte abdecken. In diesen verheerenden Winden wohnen schrille, klagende Stimmen. Sie klingen wie ein Heer verzweifelter Seelen, die wegen all der Dinge trauern, die noch kommen werden.
Als Nächstes folgt das „Fallen“, wie die alten Bücher es nennen. Hierbei mag der unschuldige Laie an das Fallen von Blättern denken. Das ist nicht gänzlich falsch, trifft aber nicht den eigentlichen Sinn des „Fallens“. Natürlich fallen auch im Hungrigen Herbst die Blätter und zwar in bemerkenswert großer Zahl und sogar bei immergrünen Bäumen. Aber die Blätter sind nicht das einzige Opfer, dass die schweigenden Riesen des Pflanzenreichs bringen müssen.
Viele Bäume verlieren auch ihre Zweige und selbst dicke Äste fallen einfach ab. Bei anderen löst sich sogar die Rinde vom Stamm und lässt den bedauernswerten Baum schutzlos zurück. Nicht jeder Baum erlebt einen solchen Verfall, aber die Legenden erzählen, dass von einem von drei Bäumen nicht mehr als ein lebloser Stumpf verbleibt.
Dort, wo die Blätter und Zweige im gewöhnlichen Herbst ein Segen für den Boden sind, ihn mit Nährstoffen versorgen und den Keim für neues Wachstum bilden, verbreiten sie im Hungrigen Herbst ein gefährliches Gift, welches jegliches Leben auslöscht und den Boden für viele Jahre sterilisiert.
Doch das „Fallen“ mach bei den Bäumen nicht halt. Auch die Menschen sind seinen fatalen Auswirkungen unterworfen. Es beginnt meist harmlos, mit ausfallenden Haaren. Selbst jenen Menschen, die zuvor nie unter Haarausfall litten, fallen sie in großen Büscheln aus und keine Kur oder Tinktur kann etwas dagegen ausrichten. Diese erste Phase des „Fallens“ betrifft alle Menschen und Tiere.
Wirklich schlimm wird es aber erst für all jene, bei denen das „Fallen“ sich vollkommen entfaltet. Der schwere Verlauf beginnt mit dem „Wilden Hunger“, zu dem wir später noch kommen werden. In der nächsten Stufe lösen sich dann Fußnägel und Fingernägel aus Fingern und Zehen und lassen empfindliches, rohes Fleisch zurück, ohne je wieder nachzuwachsen. Schmerzen und Entzündungen sind die Folge. Als Nächstes werden die Zähne der Unglücklichen locker und fallen letzlich einer nach dem anderen wie welke, abgestorbene Blätter aus dem Kiefer und auch jede Art von Prothese ereilt das gleiche Schicksal. In der letzten Stufe fällt die Haut ab. Zunächst nur die obersten Schichten – ähnlich wie bei einer Schuppenflechte – dann aber ganze Hautpartien bis tief hinunter zum Fleisch. Am Ende steht der Tod durch Blutvergiftungen, Erstickung oder Kreislaufkollaps.
Viele Säugetiere, Fische, Vögel und Reptilien sind auf ähnliche Weise betroffen, und Wenn der Hungrige Herbst endet, bedecken oft mehr Leichen, Hautfetzen, Fellstücke, Schuppen, Federn Nägel, Krallen und Haare als Blätter den Boden.
Der bereits erwähnte „Wilde Hunger“ ist für die Betroffenen Fluch und Ausweg zugleich. Denn die einzige Chance den körperlichen Verfall aufzuhalten besteht darin das Fleisch jener zu verzehren, die von der gleichen Art wie man selbst sind. Ihr mögt es „Kannibalismus“ nennen und sofort hart darüber urteilen. Aber ich bin sicher, wenn ihr erst beginnt euch aufzulösen, werdet ihr sehr schnell anders darüber denken. Ohnehin sind jene im Vorteil, die ihre Skrupell möglichst bald überwinden. Denn ohne Fingernägel, Zehennägel oder gar Zähne ist es sehr schwer seine Beute zu stellen, zu erlegen oder etwas von dem wertvollen Fleisch zu verzehren. Kreativere Zeitgenossen werden vielleicht einen Mixer bemühen, um Hände, Arme oder Beine in einen nahrhaften Brei zu verwandeln und auch ganz ohne Zähne am heilenden Effekt des Fleisches teilzuhaben. Selbstverständich sollte eins solcher Mixer stark und robust sein, da Knochen nicht so einfach brechen.
So oder so ist eines sicher: Die Betroffenen werden jagen müssen. Denn Friedhöfe und Leichenschauhäuser bieten nicht lange einen moralischen Ausweg wenn Tausende und Abertausende nach neuen Nahrungsquellen suchen. Die Gesunden werden dabei eine besonders beliebte Beute sein. Zum einen sind sie besonders nahrhaft und zum anderen sind sie leichter zu erlegen. Denn da in ihnen kein „Wilder Hunger“ wohnt, sind sie weniger agressiv und weniger bereit für ihr Überleben bis zum Äußersten zu gehen. Diese Besonnenheit kann aber auch ein Vorteil sein und alles in allem hat eine gut organisierte Gruppe von gesunden Menschen wohl noch die besten Chancen den Hungrigen Herbst zu überleben. Denn für die Erkrankten gibt es wenig Hoffnung.
Die erfolgreichsten Jäger mögen ihren Verfall eine Zeit lang verlangsamen, aber sie können ihn nicht stoppen. Und auch das beste Fleisch kann nicht zurückgeben, was einmal verloren ist. So werden jene Menschen bestenfalls als verstümmelte, zahnlose Wracks das Ende dieser grauenhaften Jahreszeit erleben.
Doch auch für die Gesunden gibt es noch zwei erwähnenswerte Gefahren, die zwischen ihnen und einem Happy End stehen. Zum einen gilt es alles Obst und alle Früchte zu meiden, die mit dem vergifteten Laub in Kontakt gekommen oder auf derart verseuchtem Boden gewachsen sind. Wer von einer solchen Frucht kostet, stirbt innerhalb von Stunden an schmerzhaften, blutigen Brechdurchfall. Ein guter Grund, bereits früh Vorräte an sicheren, unbelasteten Nahrungsmitteln anzulegen.
Zum anderen schwebt über jedem von ihnen das dunkle, kalte Schwert einer unnatürlichen Todessehnsucht und Depression. Der dunklen Schwester der bekannten herbstlichen Melancholie. Und dieses Schwert bietet sich Tag um Tag und Nacht um Nacht lockend und verheißend all jenen an, die einen schnellen Ausweg aus dieser Welt des Wahnsinns und Vergehens suchen. Auch das fröhlichste Gemüt mag diesen Stimmen irgendwann Gehör schenken, wenn Freunde und Familie erst zu verstümmelten, skrupellosen Bestien verkommen sind und das Auge nichts anderes mehr als Leid und Verzweiflung erblicken kann. Umso mehr, da diese Stimmen ihr Bestes tun, jedes Körnchen Hoffnung und Lebensfreude aufzusaugen, das sie noch erspähen können.
Und so finden viele von denen, die gute Chancen aufs Überleben gehabt hätten, den Tod durch ihre eigene Hand und baumeln glubschäugig und blaugesichtig an einem Strick, wenn der Hungrige Herbst sich zurückzieht und die Welt in einen friedlichen und gewöhnlichen Winter entlässt.
Nächstes Mal sei die Rede vom Schwarzen Winter. Ihr solltet euch besser warm anziehen.