Prolog
„Frühling, Sommer, Herbst und Winter sind des lieben Gottes Kinder“. So zumindest heißt es in einem Kinderreim. Eine schöne Vorstellung. Da hat uns ein liebender Gott das Leben mit wechselhaften Jahreszeiten bereichert, die alle ihre eigene Schönheit besitzen. Damit wir uns im Frühling küssen, im Sommer sonnen, im Herbst durch die Blätterhaufen tanzen und im Winter durch verschneite Märchenlandschaften stapfen können. Aber das ist nur ein Teil der Wahrheit. Derjenige, der gut aussieht. Der Teil für die Plakate und Prospekte, die verkünden: „Kommt auch du auf die Erde, den Planeten auf dem wir gut und gerne leben.“
Aber das ist nichts als Blendwerk. Nichts als eine süße Lüge, die sich die Welt seit Jahrhunderten erzählt, um besser schlafen zu können. Aktuell mögen die Jahreszeiten, zumindest in unseren Breiten, mild und harmonisch daherkommen. Aber die alten Aufzeichnungen lang vergessener Völker berichten etwas anderes. Sie erzählen von Jahreszeiten, die nicht aus dem Schoß Gottes kommen, sondern aus dem stinkenden Herzen der Hölle.
Sie berichten vom „Fäulnisfrühling“, dem „Staubsommer“, dem „Hungrigen Herbst“ und dem „Schwarzen Winter“. Vier Jahreszeiten, die die Welt zu verschiedenen Zeiten heimsuchten und die uns jederzeit wieder begegnen können. Ich werde sie euch allesamt vorstellen, damit ihr vorbereitet seid, wenn es soweit ist. Doch eins solltet ihr wissen: Wenn alle Jahreszeiten aufeinander folgen, wird unsere Welt ein Ende haben.
Fäulnisfrühling
„Frühling lässt sein blaues Band
Wieder flattern durch die Lüfte;
Süße, wohlbekannte Düfte
Streifen ahnungsvoll das Land.“
– Eduard Mörike
Im Frühling erwacht das Leben. Alles drängt in die Existenz und breitet sich zu voller Blüte aus. Im Fäulnisfrühling ist es nicht anders. Nur dass die Dinge, die dann wachsen und gedeihen vor allem Mikroorganismen und Pilze sind. Krankheiten verbreiten sich wie Brände an heißen Sommertagen. Viren und Bakterien vermehren sich schneller als jedes Medikament sie eindämmen könnte. Menschen laufen hustend, eiternd, brechend, blutend und scheißend durch die Städte und stecken einen jeden an, der in ihre Nähe kommt. Seelig ist der, der Zugang zu sterilen Laborräumen hat, sich nie weit von starken Desinfektionsmitteln entfernt oder der weitab von der Zivilisation lebt.
Doch auch diese Glücklichen sollten sich an den Hunger gewöhnen. Denn giftige Pilzflechten, die gleich einer Welle über das Land schwappen, überziehen Felder und zerstören Ernten. Und auch Fleisch, Obst und andere frische Lebensmittel verderben innerhalb kürzester Zeit. Selbst Konserven müssen Minuten nach dem Öffnen verzehrt werden, um nicht mehr Schaden als Nutzen im Körper anzurichten.
Tod und Krankheit erblühen in allem was lebt und machen es zu einem Spiel mit dem Feuer, im freien Unterwegs zu sein. Aber auch in geschlossenen Räumen ist es oft nicht viel sicherer. Schimmel und Fäulnis breiten sich in Wohnungen und Kellern aus und ihre in dichten Wolken umhertreibenden Sporen verstopfen die Lungen.
Immerhin kommen auch die Frühlingsgefühle nicht zu kurz. Einige der Parasiten und Bakterien, die im Fäulnisfrühling die wahren Götter auf dieser Welt sind, setzen sich auch in den Gehirnen der bedauernswerten Menschen fest und sorgen dafür, dass dort die Hormone sprudeln wie ein frischer Quell im lichten Sonnenschein.
Hormone, die dafür sorgen, dass sie nichts lieber tun als die Gesellschaft von anderen Menschen zu suchen und ihre Leiber mit ihnen in einem frühlingshaften Tanz der Liebe zu vereinen. Auch dann, wenn sie sie unter gewöhnlichen Umständen unsympathisch, unattraktiv oder abstoßend gefunden hätten oder wenn sie vor lauter Geschwüren, Flechten und Ekzemen kaum noch als Menschen zu erkennen sind. Und ehe man sich versieht, hat man neben Schmetterlingen
auch eine ganze Menge Krankheitserreger und Sporen im Bauch.
Natürlich erblüht auch im Fäulnisfrühling die Pflanzenwelt. Ganz besonders die „Rosacea Morbus“, deren Samen tausende von Jahren ungeöffnet in der Erde überleben können und die nur im Fäulnisfrühling zu blühendem Leben erwacht.
Die Rosacea Morbus ist eine seltene, wunderschöne Rosenart mit intesiven Duft, der ein ganz spezielles Insekt anlockt. Dieses wespenartige Insekt hat keinen Namen außer dem Tod und ist dafür bekannt in großer Schwärmen aufzutreten und seine Eier tief im Fleisch von Menschen und Säugetieren abzulegen, wo sich die frisch geschlüpften Larven gierig und genüsslich durch ihr Gewebe fressen. Mit einem Eifer wie er nur neugeborenen Geschöpfen gegeben ist, die noch hungrig auf das Leben sind.
Es ist eine Zeit in der jede Hoffnung fern scheint. Und doch gibt es Immerhin einen Trost für jene, die in dieser Jahreszeit um ihr Überleben kämpfen. Wenn der Fäulnisfrühling endlich endet, verfliegen alle Schrecken und Gefahren und all Diejenigen, die nicht bereits qualvoll zugrunde geangen sind, erfahren eine plötzliche, wundersame Heilung.
Aber selbst die Überlebenden tragen den erschütternden Anblick der Erkrankten und Verstorbenen und den allgegenwärtigen, süßlichen Duft nach Eiter, Fäulnis und Tod noch lange in ihren Nasen und ihrem Gedächtnis. Falls sie ihn überhaupt je loswerden.
Achtet also auf die Zeichen. Denn nicht immer, wenn die Luft im Frühling süße Düfte trägt, ist dies auch ein Zeichen der Hoffnung.
Nächstes Mal berichte ich euch von den Heimsuchungen des Staubsommers. Wenn ihr es denn hören wollt …