Aufmerksam sehe ich dabei zu, wie ihre Gabel in das zarte Fleisch der Hähnchenbrust schneidet. Der Winkel ist etwas anders. Natürlich habe ich da früher nicht so genau darauf geachtet, habe solche Details einfach ausgeblendet. Und doch bin ich mir fast sicher, dass der Winkel früher etwas anders war. Genau wie diese nerven zerreibenden kleinen Sägebewegungen. Es ist fast so, als wolle sie das Fleisch zermürben, wie ein steter Wassertropfen auf dem Kopf eines Gefangenen mit der Zeit dessen Verstand zerstören kann. An ihrem Kinn klebt ein wenig Chilisauce. Nicht viel. Nur ein paar Tropfen. Und doch sind es Tropfen, die sie früher sofort abgewischt hätte. Jetzt aber scheint ihr das egal zu sein. Die Tropfen erinnern mich an Blut. Ja, ich glaube fast den herb-süßen Eisengeruch von Blut wahrzunehmen, aber zumindest das MUSS Einbildung sein. Ich habe gesehen, wie sie die Sauce aus der Flasche geschüttet hat. Ich habe die gleiche Sauce auf dem Teller und sie schmeckt wie immer. Nein, es ist kein Blut. Aber der Gedanken daran, dass es Blut sein KÖNNTE, die Vorstellung, dass das nicht ausgeschlossen ist, ist schlimm genug.
Ich schaue zu ihr hoch. Zwinge mich dazu. Sie lächelt. Aber ihre Lippen zittern. Und manchmal sinkt ihr rechter Mundwinkel leicht herab. So als würde ihr Gesicht von Innen heraus durch eine Hand bewegt, die die menschliche Mimik lange studiert, aber nie zuvor angewendet hat und deshalb noch immer kleine Fehler macht. Ich muss genau hinsehen, um es zu bemerken, aber dann lässt es sich nicht mehr leugnen. Es ist wie bei diesem Bild bei dem sich die Silhouette einer Tänzerin mal mit und mal gegen den Uhrzeigersinn dreht: Wenn man sich einmal für eine Richtung entschieden hat, ist es schwer noch etwas anderes zu sehen.
Endlich reißt sie das Stück Fleisch ab. Die letzten Fasern wehren sich noch einen Moment gegen die Trennung vom leblosen Rest des Tieres, zu dem sie einst gehörten, dann geben sie nach und sie steckt sich den Bissen in den Mund. Sie kaut regelmäßig. Beinah mechanisch. Nicht aus Genuss, sondern weil man Nahrung zerkleinern muss, bevor man sie verdauen kann, oder vielleicht auch nur, weil etwas weiß, dass Menschen für gewöhnlich kauen, wenn Dinge in ihren Mund gelangen.
Ein knurrendes Geräusch, wie ein von fremdartigen Stimmbändern geschriener Befehl, dringt aus ihrem Magen. Aber es sind die üblichen Verdauungsprozesse. Chemische Reaktionen, wie sie nun mal in jedem Menschen ablaufen. Oder etwa nicht?
Meine Nasenflügel saugen ihren Duft ein. Eindeutig ihr Parfüm. Aber war es immer schon so süß? Fast schon unangenehm süß und beinah vergoren? Oder ist das nur die Hitze dieses Tages? Die gleiche Hitze, die diese klebrigen kleinen Schweißtropfen aus den Poren ihrer Hand hervorpresst.
Ihre Hand bewegt sich zu mir. Sie erinnert mich an eine Spinne, die sich vorsichtig durch unbekanntes Terrain vortastet. Dann setzt sie sich auf ihre Beute, umhüllt meine Hand wie eine saftige Fliege. Ich spüre das Gewicht von kalten Fingern auf meiner Hand lasten. Nass, kalt und ohne jede Spannung. Beinah leblos. Wie labbriger, rauer Teig. Ich will meine Hand instinktiv zurückziehen, aber ich beherrsche mich. Sie darf nicht wissen, was ich ahne. Meine Mimikry gegen ihre Mimikry. Womöglich ist das meine Lebensversicherung.
Mein Blick wandert zu ihren Augen. Zu den Fenstern der Seele. Aber was schaut heraus? Ist es noch immer sie oder etwas anderes? Wann hat es angefangen? War es etwas im Wasser? In der Nahrung? Irgendetwas in den Wänden? Ist es auf der Arbeit passiert oder auf dem Heimweg? Ist sie noch irgendwo da drin? Ein Gefangener in einer dunklen Höhle, abgeschnitten von der Außenwelt und eingewoben in einen klebrigen, undurchdringlichen Kokon? Oder ist sie bereits fort? Trägt es sie wie einen alten Mantel, der noch nicht perfekt sitzt, an den es sich aber mehr und mehr gewöhnt? Oder liegt es nur an mir? Werde ich verrückt? Oder war sie vielleicht schon immer so und ich erkenne erst jetzt ihr wahres Wesen?
Endlich schluckt sie den Bissen hinunter. Die Muskeln in ihrem Hals bewegen sich stotternd und ruckartig. Sie beugt ihren Kopf vor. Einige Strähnen ihres dunkelblonden Haares fallen nun nach vorn und hängen wie die Fäden eines zerstörten Spinnennetzes von ihrem Kopf herab. Andere sind vom Schweiß so fest an ihre Stirn geklebt, dass die Schwerkraft keine Chance hat. Lediglich einige Schweißtropfen fallen von ihnen herunter und bilden kleine, dunkle Flecken auf der Tischdecke. Sogar ihr Haar wirkt unecht. Es sitzt wie eine schiefe Perücke auf ihrem wie von Fieber glänzendem Kopf. Sie beugt sich weiter vor. Ihr Hals dehnt sich immer weiter in die Länge und ihre Lippen ziehen sich von Zähnen zurück zwischen denen noch immer kleine Fleischfasern kleben. Sie ist nun fast bei mir. Ihre Zähne öffnen sich. Ihre Zunge lauert wie ein schlafendes, rotes Raubtier zwischen ihnen. Sie will mich fressen, denke ich zuerst. Aber während der ungeschickte Puppenspieler ihre Lippen auffaltet wie die Blätter einer verwelkten Rose, dämmert mir die noch viel grauenhaftere Wahrheit. Sie will mich nicht fressen. Zumindest noch nicht.
Nein, sie will mich küssen …