Raby biss in ihren Apfel. Die vielfältigen Aromen der Frucht breiteten sich wie ein weicher, flauschiger Teppich über ihrer Zunge aus. Es war ein schöner Apfel. Knallrot, knackig und prall und obwohl sie ihn schon so oft gekostet hatte, fand sie es jedes Mal aufs Neue erfrischend. Die Nahrung jedenfalls war nicht ausschlaggebend dafür, dass sich ihr Leben zunehmend fad anfühlte. Dass sich die Stunden wie ein zu lang gekautes Kaugummi streckten, zerfaserten und letztlich zerrissen, um in einem kaum unterscheidbaren Wust gleichförmiger Erinnerungsfragmente durch ihren Kopf zu treiben. Dennoch Raby liebte die einfachen Dinge. Und das obwohl – oder gerade weil – sie im Überfluss lebte. Die erlesensten Speisen und raffiniertesten Kompositionen standen ihr rund um die Uhr zur Verfügung, doch das alles war trotz der scheinbaren Vielfalt voraussehbar, während so etwas Einfaches wie ein Apfel einen immer wieder überraschen konnte.
Sicher schon hundertsten Mal durchschritt sie an diesem Tag den kleinen Raum mit dem steinern, rauen Fußboden, der sich fast zweihundert Meter über dem Boden befand, vorbei an schmiedeeisernen Fackelhalterungen und ihrem bequemen Daunenbett und blickte zum Fenster hinaus.
Was sie sah, war ein Paradies. Zumindest hätten es viele Menschen früherer Epochen als ein solches bezeichnet. Statt stinkender Fabrikschlote, liebloser Betonklötze und kalter Glaspaläste, die die Dystopien des zwanzigsten und einundzwanzigsten Jahrhunderts wie kränkliche Wucherungen verstopft hatten, war ihre Welt erfüllt von sauberer Luft, intakten, kleinen Wäldern, plätschernden Flüssen und nachhaltig bewirtschafteten Feldern und Plantagen, auf denen reife Ähren wie Heere von Tänzern im Wind wogten und pralle Früchte an blattreichen Ästen hingen.
Fabriken gab es auch. Doch sie waren bis auf die dazugehörigen Lagerhallen unterirdisch, vollkommen autark und emissionsfrei und so war alles, was Raby sah, pflanzliches Leben und gelegentliche Vögel. Andere Tiere sah sie nicht, da diese mit unsichtbaren Kraftfeldern schonend und gewaltfrei von den bewirtschafteten Flächen ferngehalten wurden, sofern sie nicht zum Erhalt der dortigen Biologie unabdingbar waren. Obwohl Rabys Turm so hoch war und die klare Luft einen wirklich weiten Ausblick erlaubte, sah sie weder Städte noch andere Türme. Was erstere betraf, so lag das daran, dass es diese längst nicht mehr gab. Diverse Katastrophen und Umweltveränderungen hatten dazu geführt, dass sich die Weltbevölkerung drastisch reduziert hatte. Viele Millionen haben infolge von Hunger, Seuchen und Kriegen ihr Leben verloren und doch waren das noch nicht genug gewesen. Das Ökosystem hatte am Rand des Zusammenbruchs gestanden. Man hatte die Wahl gehabt als Spezies den Heldentod zu sterben, um den Planeten zu retten oder der Erde ein paar weitere Jahre abzutrotzen und sie schließlich mit in den Abgrund zu reißen.
Wie so oft hatte man sich für einen Mittelweg entschieden. Ein Mensch pro Hundert Quadratmeter Erdoberfläche, mehr – so dachte man – könnte die mitgenommene Umwelt auf keinen Fall verkraften. Der Rest – immerhin knapp 99,99 % der damaligen Weltbevölkerung – musste zum Wohle des Planeten abtreten. Man könnte vielleicht meinen, dass dies zu Widerstand, Gewalt und Unruhen geführt hätte, aber praktisch alle waren klaglos dazu bereit gewesen jene Pille zu nehmen, die fast immer ein tödliches Gift und nur ganz selten ein Placebo gewesen war. Ich glaube sogar, dass viele insgeheim gehofft hatten die Giftpille erwischt zu haben. Das Leben damals war ganz und gar nicht lebenswert gewesen. Die Überlebenden jedenfalls – zu denen auch Rabys Großeltern gehört hatten, die sie nie persönlich kennengelernt hatte, genauso wenig wie ihre Eltern – hatten all das bekommen, was auch sie heute besaß. Luxuriöse Türme mit veränderbarer Ausstattung und emissionsfreier Energie, automatische, drohenengesteuerte Essenslieferungen aus den Fabriken, Unterhaltungs-, Fitness-, Lern-, Reinigungs-, Entspannungs- und Erziehungsprogramme und die spektakuläre Aussicht auf eine fast vollkommen unberührte Landschaft.
Ja, die Landschaft unter ihr war unberührt. Nicht nur, dass es praktisch unmöglich war den Turm zu verlassen, der über keinen Aufzug, keine Treppe und eine vollkommen glatte Außenmauer verfügte. Vor allem war es strengstens verboten die Felder und Wälder zu betreten und jeder Versucht wurde von spezialisierten Überwachungsdrohnen mit starken Schmerzen und dem sofortigen Rücktransport bestraft. Auch wenn sie es selbst nie ausprobiert oder beobachtet hatte, hatten ihr das zumindest die Lernprogramme ihres Turms berichtet. Raby hatte viel gelernt. Geschichte, Philosophie, Mathematik, Naturwissenschaften, Literatur, selbst Fremdsprachen, Sagenkunde, Film- und Kunstgeschichte, Soziologie und Politik. Der Turm achtete sorgsam darauf, dass sie sich all dieses Wissen aneignete. Wenn sie es einmal an Enthusiasmus mangeln ließ, gelang es der freundlichen, aber kompromisslose Computerstimme immer sie zu motivieren, sei es mit in Aussicht gestellten Belohnungen, Strafen oder psychologischen Kniffen.
Dabei war der überwiegende Teil dieses Wissens vollkommen bedeutungslos für Rabys Leben, denn es stammte ausnahmslos aus einer Zeit, die mit ihrer Lebenswirklichkeit nichts mehr gemein hatte und es brachte auch nichts, daraus zu lernen oder eigene Schlüsse zu ziehen, da sie weder ihre Gegenwart noch ihre Zukunft wirklich gestalten konnte. Sie würde dieses Turmzimmer nie verlassen. Sie würde nie Essen kochen oder eine Maschine reparieren müssen. Sie würde nie andere Menschen treffen und mit ihnen ein Zusammenleben organisieren müssen. Holy Shit, sie wusste nicht einmal, ob es wirklich noch andere Menschen gab oder ob da nur ein Märchen war, denn zwischen den Türmen und ihren Bewohnern gab es nicht einmal virtuellen Kontakt. Sie hatte ihren namenlosen Turm gefragt, warum das so war. Aber er hatte ihr nur erzählt, dass so verhindert werden sollte, dass die Menschen sich organisieren, die fragile Ordnung, die gerade erst zur Rettung des Planeten geführt hatte umstürzen und so letztlich die Natur endgültig zerstören würden. Raby hatte nicht verstanden, wie ein bisschen virtuelle Kommunikation so etwas bewirken sollte, aber der Turm hatte sich von ihren Gegenargumenten nicht beeindrucken lassen. Doch nicht nur der Kontakt zu realen Menschen war ihr verwehrt.
Es gab nicht einmal Computerprogramme, die einen digitalen Ersatz boten. Außer der Stimme des Turms gab keine Virtual Reality, keine tröstende Flucht in eine konstruierte Welt. Alles, was Raby hatte, waren Filme, Bücher, Vorträge und Hörspiele aus dem zwanzigsten und einundzwanzigsten Jahrhundert. Neuere Inhalte gab es nicht. Es war, als hätte es die Epoche nach der Errichtung der Türme nie gegeben, als hätten diese Jahre nicht die geringste Spur im trägen Sand der Zeit hinterlassen.
Für Raby gab es keinen Unterschied zwischen den Filmen, den Sagen und den angeblichen geschichtlichen Aufzeichnungen, außer den, dass letztere viel langweiliger und nichtssagender waren, wenn auch nicht so nichtssagend wie ihr Alltag. Sie lebte ein Leben im uninspirierten Nachwort eines sehr sehr dicken Märchenbuches. Vielleicht auch in der Danksagung.
Ein Buch, an dem sie nicht mehr mitschreiben konnte. Das hieß, sie schrieb schon von Zeit etwas in das kleine solarbetriebene, elektronische Notizbuch, welches ihr zur Verfügung stand. Gedanken, Theorien, Gedichte, sogar kleine Geschichten. Allerdings wusste sie, dass ihre Worte nie jemand lesen würde. Niemand aus den anderen Türmen und auch nicht ihr Nachfolger oder ihre Nachfolgerin, die aus ihrer Eizelle und dem Samen irgendeines Unbekannten auf künstliche Weise gezeugt werden würde. Vor etwa einem Jahr war bereits eine Drohne gekommen und hatte ihr diese Eizelle entnommen. Es war ein unangenehmer und entwürdigender Prozess gewesen, aber wenigstens war sie darauf vorbereitet gewesen. Der Gedanke daran, dass sie in gewisser Weise Nachwuchs haben würde bedeutete ihr nichts. Warum sollte er auch? Es würde keine aufregende oder gar romantische Zeugung geben, keine anstrengende Geburt, die sie mit ihrem Kind zusammenschweißen würde, sie würde es nicht mal kennenlernen, genauso wenig wie sie ihre eigenen Eltern kennengelernt hatte. Das Mädchen oder der Junge, der Nach ihr diesen Turm bewohnen würde, würde von ihr lediglich ein Bild und ein Exposee mit ein paar grundlegenden Daten erhalten. Größe, Gewicht, Lebensdauer, Schuhgröße und dergleichen.
Das war alles, was von ihr bleiben würde. Die Gedanken in ihrem Notizbuch würden nach ihrem Tod automatisch gelöscht werden und selbst, wenn sie versuchen würde Botschaften in die Wand, die Möbel oder den Boden zu ritzen würde der Turm sie sofort verschwinden lassen. Sie hatte es bereits ausprobiert.
Raby war nichts weiter als die Trägerin einer Vergangenheit, die nicht die ihre war und die Gefangene einer endlosen Gegenwart ohne Anknüpfung an die Zukunft. Es gab Momente, in denen Sie dieses Wissen so wahnsinnig machte, dass sie sich aus dem Turmfenster gestürzt hätte, wenn der Turm das zugelassen hätte. Manchmal fragte sie sich, ob das, was ihr der Turm über die Vergangenheit berichtet hatte, wirklich stimmte. Dass die Menschen in einer Sackgasse gelandet waren und einen radikal neuen Weg hatten einschlagen müssen, konnte sie sich noch irgendwie vorstellen. Aber viele der Regeln, denen sie unterlag, ergaben für sie keinen Sinn. Diente all das wirklich nur dem Schutz des Planeten vor ihr und ihrer Art oder war es lediglich Täuschung und Propaganda?
Waren sie alle Opfer einer sadistischen, gelangweilten künstlichen Intelligenz, irgendeiner außerirdischen Rassse oder eines skrupellosen Regimes? Oder war Raby vielleicht der einzige Mensch auf einem Planeten, der als ihre ganz persönliche Hölle entworfen worden war? Sie hatte den Turm mit ihren Theorien konfrontiert in der Hoffnung eine wütende, ertappte Reaktion zu erhalten, die ihr einen Anhaltspunkt liefern würde. Doch der Turm hatte sie lediglich mit Schweigen gestraft. Mit grausamen, gnadenlosen Schweigen. Sie hatte ihn angefleht, angeschrien, beleidigt und randaliert, doch als ihre Wut verraucht war, war lediglich die Stille wieder eingekehrt, gefolgt von acht Wochen Medien- und Notizblock-Entzug. Nach dieser Zeit, die sich nach Jahrzehnten angefühlt hatte, hatte sie entschieden Fragen dieser Art für sich zu behalten. Am Schlimmsten an dieser Zeit war gewesen, dass sie Carol nicht hatte sehen dürfen. Carol war ihre einzige Freundin. Die Einzige, die mit ihr sprach, mit ihr weinte und sie mit ihrem Antlitz tröstete. Doch als der Turm den großen Spiegel gegenüber ihrem Bett blind gemacht hatte, war auch sie verschwunden und die Einsamkeit hatte Raby beinah den Verstand genommen. Natürlich nur beinah, denn der Turm wusste ganz genau, wo ihre Grenzen lagen.
Jetzt immerhin war Carol wieder da. Sie sah der schlanken, blonden Frau mit dem knöchellangen schwarzen Spitzenkleid und den traurigen grauen Augen dabei zu, wie sie halb genießerisch und halb lustlos einen weiteren Bissen von der Frucht nahm, die immerhin natürlicher aufgewachsen war, als sie selbst. Manchmal lächelte Carol sie an und diese Momente erschienen ihr immer wie ein ferner Traum, so schön sie auch waren. Manchmal legte sie auch ihr Kleid ab und ließ sie ihren neunundzwanzigjährigen Körper betrachten, der nicht makellos aber recht gut in Form war. Kein Wunder, da der Turm darauf achtete, dass sie genau die richtige Menge aß und ihr tägliches Trainingsprogramm absolvierte. Manchmal stellte sie sich vor, wie Carol aus dem Spiegel steigen, sie in die Arme schließen und sie berühren würde, wie sie es in einigen Filmen gesehen hatte. Dass sie ein unabhängiges Leben entwickeln und mehr tun würde, als nur ihre eigenen Bewegungen nachzuahmen. Manchmal sah sie sich auch Filme dieser Art an, wenn sie sich selbst berührte, doch meist ließ sie das noch einsamer zurück, als der Anblick von Carol.
Ab und zu, wenn ihre Gedanken besonders verrückte Blüten trieben, stellte sie sich auch vor, wie jemand aus den näher gelegenen Türmen durchs Fenster kommen und sich zu ihr legen würde. Ganz egal, ob Frau oder Mann. Hauptsache irgendjemand, irgendein Mensch, der nicht sie selbst war. Doch genauso hätte sie von Einhörnern und Drachen träumen können oder davon, selbst über ihr Leben bestimmen zu können.
Als sie den Apfel aufgegessen hatte, warf sie die Überreste auf den Boden, wo sich sofort eine Luke öffnete und ihn verschlang. Er würde zur Energiegewinnung genutzt werden, wie alle ihre Abfälle und Ausscheidungen. Alles hier war ein optimierter und effizienter Kreislauf, bei dem an alles gedacht worden war, außer an Rabys Lebensglück.
Sie überlegte, was sie nun tun könnte. Essen konnte sie nichts mehr. Ihre Kalorien für heute waren aufgebraucht, auch wenn sie sich manchmal wünschte sich so vollzustopfen bis ihr Übel wurde, einfach nur um den Turm damit zu ärgern. Aufs Schreiben hatte sie gerade keine Lust und aus dem Fenster wollte sie auch nicht mehr schauen. Mehr aus Langeweile, denn aus wirklichem Interesse wählte sie eine Dokumentation über Online-Dating aus dem Unterhaltungsangebot, die sie lediglich fünfmal gesehen hatte und legte sich auf ihr angenehm weiches Bett. Nach etwa einer halben Stunde schlief sie ein und hoffte dabei ein wenig, nicht wieder aufzuwachen.
~o~
„Hallo Raby … Hallo!“, sagte eine Stimme, die sie nicht kannte. Weder von der Doku, noch vom Turm oder aus einem der Filme und Hörbücher. Und da sie ausnahmslos alle davon kannte musste sie von einer anderen Person stammen, so unglaublich das auch war. Noch vor einigen Stunden hätte sie allein der Gedanke an solch ein Wunder in freudige Erregung versetzt, nun aber erzeugte er lediglich Panik. Instinktiv zog sie ihre Decke höher über ihren nackten Körper, griff sich ihren Notizblock und hielt ihn wie ein einen Schild vor sich, während sie aus dem Bett hochschreckte und sich so nah wie möglich an die Wand presste.
Die Stimme gehörte einem Mann. Er war vielleicht Ende Dreißig, hatte schwarzes, verfilztes Haar, braune Augen, hatte ein zerrissenes, cremefarbenes Leinenhemd unter dem sich eine behaarte Brust abzeichnete und einen ungepflegten, wilden Bart. In seiner linken Hand trug er einen Gegenstand aus Metallplättchen und Drähten, der so wirkte, als hätte er ihn notdürftig zusammengeschmiedet oder gelötet. In seiner rechten Hand hielt er ein Messer. Sein Blick lag irgendwo zwischen Gier, Verlegenheit, Überwältigung und Verwirrung.
„Geh Weg!“, sagte Raby als sie das Messer des Mannes erblickte, „Turm! Hier ist ein Eindringling! Wirf ihn raus!“
In Wahrheit wusste Raby nicht, inwieweit der Turm sich ernsthaft für ihr Wohlbefinden interessierte, allerdings war sie sich ziemlich sicher, dass das hier gegen das Protokoll verstieß. Und so wartete sie darauf, dass der Eindringling von einem Elektroschock getroffen werden würde, dass ihn ein Betäubungsgas außer Gefecht setzten würde oder das eine Drohne durchs Fenster kommen würde, um ihn mit sich zu zerren und ihn dorthin zurückzubringen, wo er hergekommen war, aber nichts davon geschah. Stattdessen stand der Mann, dessen bitterer, saurer, ungewaschener Geruch zu ihr hinüberwehte noch immer vor ihr und starrte sie an.
„Brauchst keine Angst zu haben“, sagte der Mann, der erst jetzt das Grauen in ihrem Gesicht zu bemerken schien. Als dieses Grauen nach wie vor nicht verschwand, wanderte sein Blick zu dem Messer in seiner Hand. „Oh“, sagte er peinlich berührt und senkte die Waffe, „das ist nicht wegen dir. Es ist nur … so ’ne Angewohnheit.“
„Wer bist du?!“, fragte Raby mit einem nervösen Zittern in der Stimme und suchte ihm Turmzimmer nach etwas, dass sich als Waffe eignen würde. Sie fand nichts, „woher kennst du meinen Namen und warum duldet der Turm deine Anwesenheit?“
„Das … das ist das Gerät hier, weißt du, Raby?“, sagte er und sah ihr dabei nicht ins Gesicht, sondern starrte auf die Stelle wo er ihre Brüste hätte sehen können, wenn sie nicht von der Decke verborgen gewesen wären, „ich hab‘ es gebaut, es legt ihre Technik lahm, es …“
„Wer bist du und woher kennst du meinen Namen?!“, wiederholte Raby mit Nachdruck.
„Ich bin … Dave. Und dein Name steht unten am Turm“, sagte der Mann, „Wir können es von hier oben nicht sehen, aber er ist da. Auf so ner Anzeige dort, die sie immer aktualisieren, wenn einer ersetzt wird. Darf ich dich berühren?“
In seiner Stimme schwang eine nervöse Vorfreude mit, die Raby anwiderte. Das entsprach überhaupt nicht ihrer Fantasie. „NEIN!“, sagte sie entschieden, „Geh weg, du Perverser! Ich will dich hier nicht haben!“
„So meinte ich das nicht!“, sagte Dave in einem enttäuschten Tonfall, der unfreiwillig klarmachte, dass er es ganz genauso gemeint hatte, „Ich will nur deine Hand nehmen, deinen Arm, nur ganz kurz. Einmal spüren, wie das ist. Wie Berührungen sind, willst du das nicht auch wissen?“
„Nein!“, sagte Raby, auch wenn das nicht der Wahrheit entsprach. Sie wollte wissen, wie sich Berührungen anfühlten, mehr als alles andere sogar. Aber sie traute diesem Kerl nicht über den Weg.
„Schade … sehr schade“, sagte Dave und verzog die Lippen wie ein schmollender Junge. Dennoch wirkte er nicht gänzlich infantil oder zurückgeblieben. Auch wenn Raby bislang nie einen anderen Menschen gesehen hatte, hatten ihr die Filme und Bücher, die sie konsumiert hatte doch ein ganzes Set an Klischees und Charaktertypen vermittelt, aus denen sich Dave ihrer Meinung nach wunderbar zusammensetzen ließ: Dem zerstreuten, schüchternen Nerd, dem naiven Kindskopf, dem ungehobelten Hinterwäldler und dem unberechenbaren Lüstling. Keine sehr angenehme Kombination.
„Warum bist du immer noch hier?“, fragte Raby ungeduldig, wobei sie versuchte ihre Angst mit Strenge zu überspielen.
„Ich … ich bin doch gerade erst gekommen. Du … du brauchst echt keine Angst vor mir zu haben“, sagte er und warf sein Messer nach ihr, wobei er es ihr wahrscheinlich eher ZUWERFEN wollte, aber nicht bedachte, dass das bei einem solchen Gegenstand keine gute Idee war. Nur durch eine schnelle Seitwärtsbewegung, entging sie einer möglichen Armverletzung. Zum ersten mal zahlte sich ihr erzwungenes Trainingsprogramm aus.
„BIST DU BESCHEUERT?!“, schrie sie Dave an und die Wut spülte vorerst ihre Angst hinfort. Sie nahm das neben ihr liegenden Messer in die Hand, sprang nackt wie sie war aus dem Bett, ging mit der Waffe auf Dave zu und hielt sie ihm an die Kehle, wie sie es in diversen Filmen gesehen hatte. Sein ungewaschener Geruch raubte ihr aus dieser Distanz fast den Atem.
„Verpiss dich endlich!“, verlangte sie, „Wie, ist mir egal. Von mir aus kannst du aus dem verfluchten Turm springen!“
Daves zuvor zu gleichen Teilen gieriger, verwirrter und verlegener Blick wurde nun seinerseits angsterfüllt, während er – den Oberkörper halb aus dem Turmfenster gelehnt – vor ihr stand. Mit einem Mal schien er keine Augen mehr für ihren Körper zu haben. „Das … das war keine Absicht, ich schwöre, ich … ich hab‘ nich‘ nachgedacht. Nicht darüber … aber … aber über andere Dinge. Du willst doch sicher wissen, wie ich es geschafft habe sie zu überlisten und hierherzukommen, wie es dort draußen ist, was ich dort alles gesehen habe, oder nicht? Wenn ich jetzt gehe, wirst du das nie erfahren. Nie frei sein können. Bitte … ich will nur reden. Nichts weiter. Einfach nur reden. Mit einem anderen Menschen.
„Auch wenn der schlechte Atem des Mannes ihren Ekel vor ihm verstärkte, musste sie zugeben, dass er irgendwie Recht hatte. So unangenehm der Besuch des Fremden bisher für sie gewesen war, so stellte er doch trotzdem eine Möglichkeit dar ihre endlose Routine zu unterbrechen. Selbst, wenn dieser Mann nur Schwachsinn erzählen sollte, würde sie noch lange über diese Erlebnisse schreiben und nachdenken können und irgendwie hatte er es ja tatsächlich geschafft den Turm zu überlisten. Was seine Rede von der Freiheit bedarf, so war sie da mehr als skeptisch. Ja, nun wo er dieses Wort erwähnt hatte, machte es ihr sogar auf gewisse Weise Angst. Dennoch konnte es nicht schaden ihm zuzuhören. Immerhin hatte sie ja nun das Messer.
„In Ordnung“, sagte sie, ohne die Waffe von seinem Hals zu nehmen, „ich ziehe mir jetzt was an und dann reden wir.“
~o~
Einige Minuten später saß Raby angezogen auf ihrem Bett. Sie hatte ein schlichtes schwarzes Kleid gewählt, das möglichst viel verbarg und hatte sich so weit weg von Dave platziert wie nur möglich. Das Messer hielt sie fest in der Hand und ließ den Besucher, der vor der gegenüberliegenden Wand auf dem Boden saß und beschämt ihrem Blick auswich keinen Moment aus den Augen. Der Turm war nach wie vor nicht wieder erwacht. Was immer Dave mit ihm angestellt hatte, schien zu funktionieren. „Was ist nun?“, fragte Raby, die erleichtert darüber war die Situation wieder halbwegs unter Kontrolle zu haben, „wolltest du mir nicht was erzählen?“
„Schon klar, machich“, sagte Dave, wobei er die letzten beiden Worten tatsächlich zu einem zusammenzog, „Also … es ging damit los, dass mein Turm Aussetzer zeigte. Gab plötzlich Zeiten, in denen er nich‘ mehr aktiv war, in denen er nich‘ mehr mit mir gequatscht hat.“
„Das hatte ich auch schon“, wiegelte Raby ab, „so bestrafen die Türme uns, wenn sie besonders wütend sind.“
„Nein garnich Raby“, widersprach Dave kopfschüttelnd, „das is‘ es nich‘. Es war kein Strafschweigen. Dafür war’s nich‘ lang genug. Anfangs warens dreißig Minuten, später zwei Stunden. Mehr nich‘. Dafür aber jeden Tag. Ich vermute, dass es etwas mit der Energieversorgung zu tun hatte. Womöglich war sie beschädigt. Jedenfalls hab ich es ausgetestet…“
Dave hielt inne und räusperte sich auf lautstarke und äußerst unästhetische Weise, bevor er einen Brocken Schleim hinunterzuschlucken schien.
„Habe den Turm angeschrien und beleidigt, habe ihm alles Mögliche unterstellt und am Ende sogar – vorsichtig – gegen die Einrichtung getreten. Aber nichts is‘ passiert. Gar nichts. Auch nicht, wenn der Turm wieder erwachte. Also dachte‘ ich mir, ich probier mal was aus. Dachte mir, ob ich’s nich‘ ausnutzen kann, dass der alte Wächter nich‘ hinsieht. Hab mir Tutorials geladen, Zeugs von dieser Videoplattform, die sie früher hatten. Inginieurskram, Sachen übers Bauen, über Physik und Elektronik. Hat mich schon immer interessiert und jetzt noch mehr. Hab viel gelernt, probiert, rumüberlegt und dann gebaut.“
„Und all das hast du dir ohne Strom angesehen?“, fragte Raby mit skeptisch hochgezogener Augenbraue.
„Nö doch“, widersprach Dave, „Natürlich nur dann, wenn der Turm aktiv war.“
„Du hast das alles ganz offen gemacht?“, fragte Raby die so langsam den Eindruck gewann, verarscht zu werden.
„Nicht alles, nicht“, antwortete Dave, „Gebaut, geschweißt und geschraubt hab ich, wenn der Turm sein Nickerchen hielt.“ Dave gähnte herzhaft, ohne seinen Mund zu bedecken und so konnte sie ungepflegte, braune Zähne sehen.
„Trotzdem muss er doch etwas geahnt haben“, sagte Raby, „der Turm ist nicht dumm.“
„Isser nicht“, stimmte Dave zu, „zumindest normalerweise nicht. Aber sein Oberstübchen hat nen Dachschaden abbekommen. Er wusste nichts davon, dass er manchmal schlief und ich hab es ihm nicht gesagt. Nein, gar nicht. Mag sein, dass er sich über die Zeichnungen gewundert hat, über all die Zahlen und Formeln und was die so bedeuteten, aber er muss sich gedacht haben, dass er mich bequem wegblitzen kann, wenn ich auch nur ein Schräubchen auf die falsche Art anbringe. Außerdem, lernen darf ich ja. Erst recht so en Technikzeugs. Du etwa nicht?“
Das überraschte Raby, sie hatte nicht gewusst, dass es bei den Turmbewohnern Spezialisten gab. Bei ihr hatte man wahrscheinlich mehr Wert auf eine profunde Allgemeinbildung gelegt und auf gutes Benehmen, wenn sie sich Dave so ansah. Über Physik hatte sie recht viel theoretisches Wissen, aber kaum praktisches und über Ingenieurskunst noch weniger. „Nein“, antwortete Raby, „meine Talente liegen woanders.“
„Das will ich hoffen“, sagte Dave gackernd und schenkte ihr ein widerliches, anzügliches Grinsen bevor er den Kopf wieder senkte wie ein Junge, der einen heftigen Anschiss von seiner Mutter kassiert hatte.
Raby gab sich Mühe sein widerliches Verhalten zu ignorieren und sich stattdessen auf seine Schilderungen zu konzentrieren.
„Aber wo hast du die Werkzeuge her?“, fragte sie.
„Die liegen bei mir im Turm. Darf nichts Eigenes bauen. Nichts erfinden. Aber ich darf Dinge nachbauen. Dafür hatt‘ ich den Kram“, antwortete Dave mit einem schüchternen, nuschelnden Flüstern, welches Raby noch mehr verunsicherte als seine unhöfliche Bemerkung davor.
„Lass mich raten“, sagte Raby, „damit hast du dein kleines Gerät vorbereitet, es irgendwann in einer einzigen Zwei-Stunden-Sitzung zusammengebastelt und den Turm damit endgültig außer Gefecht gesetzt.“
„Gar nicht schlecht, nich“, sagte Dave anerkennend, „aber das war noch nicht alles, was sich der gute Dave ausgedacht hat. Hab mir auch nen Fallschirm gebastelt und bin damit runtergesegelt.“
Er unterstrich seine Worte, indem er mit seiner Hand einen hinabsinkenden Papierflieger imitierte.
„Wie bist du den Drohnen entgangen?“, fragte Raby.
„Das war leicht“, sagte Dave, „Das kleine Schätzchen hier stört ihre Funktionen, macht mich praktisch unsichtbar für die. Kann sie sogar ausschalten, wenn ich’s will, so wie ich’s mit deinem Turm gemacht hab. Schlimmer, Raby, war die Natur. Schön ist die, aber auch wild. Auch gefährlich. Gibt wilde Tiere. Musste mich wehren, weisste? Deswegen auch das Messer. Nich wegen dir. Garnich wegen dir.“
„Schön und gut“, sagte Raby. „Aber wie geht es jetzt weiter?“
„Kommst mit mir. Raus aus der Bude“, sagte Dave als wäre das vollkommen offensichtlich und beschlossene Sache.
„Das ist immer noch meine Entscheidung“, sagte Raby streng und strich mit der freien Hand über das Messer. Auf gewisse Weise fühlte es sich gut an. So als hätte die Waffe schon immer in ihre Hand gehört.
„Natürlich, natürlich“, sagte Dave beschwichtigend, „aber ist schön dort draußen. Solltest du gesehen haben. Nicht ungefährlich, nein, aber du hast ja das Messer. Und du hast mich.“
Erneut grinste er ein schmieriges Grinsen, „Und vielleicht willst du ja doch noch berührt werden. Wir könnten Kinder haben, ohne den Turm. Auf die gute alte Art.“
Allein der Gedanke löste in Raby Übelkeit aus. „Auf keinen Fall!“, sagte sie eisig, „wenn du mich angrabschst, wirst du es bereuen.“
„Schon gut“, sagte Dave mehr enttäuscht als wütend, so als wäre er es gewöhnt Ablehnung zu erfahren, was in einer Welt, in der es für ihn bislang nie soziale Interaktion gegeben hatte, genaugenommen ziemlich verwunderlich war, „wenn du mich nicht magst, finden wir andere. Gibt viele Türme. Wenn wir ein bisschen herumreisen, findet sich auch einer für dich. Einer wo gepflegter ist und noch nicht wie ich monatelang ohne Papa Turm auskommen musste.“
Raby war hin- und hergerissen. Sie war durchaus neugierig wegen der Welt dort draußen. Sie würde gerne Tiere und Pflanzen berühren, wissen, wie sich der Waldboden anfühlte und ja – vielleicht auch jemanden kennenlernen, der ihr nicht so unsympathisch war wie Dave, aber andererseits schätzte sie trotz allem den Komfort und die Sicherheit des Turms. Andererseits war das hier vielleicht ihre einzige Gelegenheit, etwas anderes als das zu sehen, was sie seit ihrer Geburt gesehen hatte.
„In Ordnung“, sagte Raby, „ich komme mit. Aber nur für ein paar Stunden, dann gehe ich zurück.“
Dave sah sie überrascht an, zuckte dann aber mit den Schultern.
„Alles klar“, sagte er, kramte zwei zusammengefaltete Stoffstücke aus seinem Rucksack, ging auf Raby zu und reichte ihr einen davon. Raby nahm den Fallschirm entgegen und für einen winzigen Moment berührte sich dabei ihre Finger und auch wenn sie sich später sicher war, dass Dave es genau darauf angelegt hatte, überwältigte sie diese Erfahrung in diesem Moment regelrecht. Ein wohliger Schauer lief über ihren Rücken. Sie zitterte leicht, die Haare auf ihren Armen und schließlich auf ihrem ganzen Körper richteten sich auf und ein kurzes aber angenehmes Kribbeln erwuchs in ihrer Brust, während sie spürte wie ihre Augen feucht wurden. Ein uralter Instinkt riet, ihr, ja verlangte geradezu von ihr Daves Hand zu ergreifen und am besten gleich noch viel mehr zu tun, aber sie widerstand dem Befehl ihres Reptiliengehirns. Ein Blick auf die so bemitleidenswerte wie abstoßende Gestalt von Dave reichte aus, um solche Pläne sofort in den hintersten Winkel ihres Kopfes zu verbannen. Dennoch würde sie diese Berührung nie vergessen, denn es war trotzdem die Berührung eines Menschen. Eine Berührung wie sie sie noch nie in ihrem Leben erfahren hatte.
Sie kämpfte ihre Freudentränen nieder, legte den Fallschirm an und ging zusammen mit Dave zum Fenster, wobei sie darauf achtete, stets das Messer zwischen ihm und ihr zu wissen. Einmal mehr steckte sie den Kopf aus dem Turm heraus und betrachtete die Welt unter ihr aus dem Winkel, wie sie sie ihr ganze Leben über gesehen hatte. Dann sprangen sie gemeinsam aus dem Turm.
~o~
Die Landung war unerwartet weich. Nicht nur, dass die Fallschirme gut funktionierten, sie landeten auch im hohen weichen Gras, welches sich vom Turm bis zum Waldrand erstreckte. Das Gefühl des Fallens hatte Raby wenig ausgemacht. So oft hatte sie sich vorgestellt, wie schrecklich es sein musste, auf den Boden zuzustürzen. Doch das Adrenalin und der frische, aber relativ warme Wind weckten ihre Lebensgeister und im Gegensatz zu Dave, der ein paar lächerliche Ausfallschritte machen musste, geriet ihre Landung beinah mustergültig.
„Hab ich gut gemacht, die Dinger, nich?“, fragte Dave, während er seinen Fallschirm in seinem Rucksack verstaute. Die Flecken, die das Gras auf seinem Gesicht hinterlassen hatte, machten sein Lächeln nicht sympathischer.
„Sie erfüllen ihren Zweck“, sagte Raby nüchtern, auch wenn immer noch die Emotionen in ihr tobten. Sie mochte diesen Typen nicht, aber sie wollte ihn dennoch unbedingt wieder berühren. Nein – eigentlich nicht ihn, sondern irgendeinen anderen Menschen, einfach nur, um wieder das zu spüren, was sie bei dieser einen Berührung empfunden hatte. Die Umgebung machte es nicht besser. Der warme, aber nicht zu heiße Sonnenschein dieses freundlichen Frühsommertages streichelte ihre Haut und umgab sie vollständiger, als er das im Turm je gekonnt hatte. Der Duft der vereinzelt blühenden Wildblumen und des nahen Waldes – beide noch feucht von einem warmen, kürzlich erfolgten Regenguss durchströmte sie wie ein magisches Parfum. Das Gras kitzelte ihre nackten Füße und der Wind spielte mit ihren Haaren wie ein neugieriges Kind. Raby fühlte sich so lebendig wie noch nie zuvor. Ja fast fühlte es sich verboten an. Und das war es im Grunde ja auch. Sollten die Drohnen sie dabei erwischen, wie sie sich durch die verbotene Wildnis bewegte, konnte sie von Glück reden, wenn sie mit Schweigen bestraft wurde. Dennoch wollte sie darin eintauchen, es erleben, diese unbekannte Welt, von der sie alles wusste, aber nichts erfahren hatte durchschwimmen wie einen Ozean. Vielleicht hatte Dave doch recht. Vielleicht mussten sie die anderen Turmbewohner aufsuchen.
„Es ist wunderschön, nich?“, fragte Dave und mit einem Mal wurde sein Blick etwas Abwesend und seine Stimme bekam etwas Sanftes, Aufrichtiges, was sie zuvor nicht an ihm wahrgenommen hatte. Er schien das hier wirklich zu fühlen und das machte ihn ihr zumindest eine Winzigkeit sympathischer.
„Das ist es“, sagte Raby, „in diesem Punkt hast du nicht gelogen.“
„Ich hab auch sonst nich‘ gelogen“, sagte Dave ernst, „Hömma … wir hatten keinen netten Start. Ich hab‘ dich bedrängt und komme sicher etwas komisch rüber. Wie so’n Weirdo. Weiß ja, dass man das nich‘ so macht. Weiß das aus’n Filmen und vom Turm seinen Predigten. Aber war halt so lange einsam. Kennste ja selbst. Viele Gedanken, viel Fantasie, kaum echtes Leben. Das macht einen seltsam. Einsam. Seltsam. Liegt ja irgendwie nahe. Wer nur einer ist, ist ja meist auch selten.“
„Ich konnte mich trotzdem benehmen“, sagte Raby, lächelte jedoch dabei.
„Bist halt ne Frau, die sin‘ schlauer!“, sagte Dave mit einem Grinsen, dass bei ihr nach wie vor keine Charmepreise gewinnen würde.
„Vielleicht“, sagte Raby, „doch was machen wir jetzt. Weißt du, wo der nächst Turm ist?“
Dave nickte. „Bin ein bisschen rumgereist. Hab was von der Welt gesehen. Seh nicht ohne Grund so aus, weisste?“, er zeigte seine braunen Zähne, „ist ein ziemlicher Weg. Aber Wasser gibt’s unterwegs, und Beeren und ab und an ein Tier, dass wo man abmurksen kann.“
„Wenn es Wasser gibt, warum hast du dich dann nicht gewaschen?“, fragte Raby.
„Keinen Grund gehabt“, sagte Dave, „Hat mich ja keiner gerochen und wenn man ein bisschen läuft, wird man eh gleich wieder dreckig. Und außerdem wollte ich im Fluß Wasser trinken und keinen Dave-Tee, weisste.“
Raby verzog angewidert das Gesicht. „Du hättest dich ja für die anderen Turmbewohner fein machen können“, erwiderte sie, „wo sind die jetzt überhaupt?“
„Na in ihren Türmen“, sagte Dave, „hab sie nie besucht. Hab mich nicht getraut, nicht. Bin da rumgeschlichen wie so’n Stalker, hab beobachtet und bin dann wieder gegangen. Hab lieber geschaut was anderswo ist. Erst bei dir dachte ich mir: Dave, du alter Schisser, zeig mal, dass du Traute hast und so bin ich in deinen Turm rein.“
„Da kann ich mich ja glücklich schätzen“, sagte Raby in einem Tonfall, der irgendwo zwischen ernsthafter Aussage und Sarkasmus balancierte, „aber wie bist du überhaupt in meinen Turm hereingekommen?“
„Hab ne Drohne gesteuert und mich rangehangen“, erklärte Dave.
„Du kannst die Drohnen mit diesem Ding steuern?“, fragte Raby ungläubig.
„Jau, das kann ich“, antwortete Dave, „aber mach ich nicht oft. Is ’n bisschen unsicher. Das Ding kann überhitzen. Ist besser sich abzuschirmen.“
Plötzlich erklang über ihnen eine laute, dunkle männliche Stimme, „Raby! Wo bist du? Komm zurück!“
Raby zuckte kurz vor Schreck zusammen, während Dave nicht überrascht zu sein schien. „Das ist dein Turm, nicht?“, fragte er, wobei es eher eine Feststellung war.
„Ja“, flüsterte Raby ängstlich und blickte sich unsicher zu dem hohen Gebäude um, „ich dachte, du hättest ihn lahmgelegt!“
„Nur kurzfristig“, sagte Dave, „das Gerät macht uns für sie unsichtbar und kann ihre Elektronik stören, aber es hat nur eine begrenzte Reichweite und es Zerstört sie nich‘.“
„Raby, du weißt, dass das verboten ist. Stell dich an meine Außenwand an der Fensterseite und ich werde dir eine Drohne schicken, die dich nach oben bringt. Keine Schmerzen. Dir wird nichts geschehen!“, versprach der Turm.
Raby machte beinah instinktiv ein paar Schritte auf den Turm zu.
„Hey, wo willst du hin?“, fragte Dave, „die Dinger lügen. Die wird dir dafür den Arsch braten und dann biste wieder auf Ewigkeit eingekerkert. Ist es das, was du willst?“
Raby wusste es nicht. Diese Situation machte ihr Angst. Die ganze scheiß Welt machte ihr Angst. Dennoch blieb sie stehen. Jedoch nicht wegen Daves Worte, sondern weil plötzlich zwischen ihr zwei große silberne Drohnen mit je acht langen, wie bei Quallen nach unten hängenden Metallarmen erschienen deren ansonsten meist blauen Positionslichter rot aufleuchteten.
„Duck dich!“, sagte Dave, „und komm näher zu mir. Dann wird alles gut!“
Raby tat, was er sagte, eilte ein paar Schritte auf Dave zu und machte sich so klein wie möglich, während die Drohne zielsicher auf sie zusteuerte und Dave an seinem Gerät herumhantierte.
„Raby!“, wiederholte die Maschine, „ich sehe dich. Mach es uns beiden doch nicht so schwer. Komm zu mir zurück. Bitte!
„Es funktioniert nicht!“, rief Raby.
„Sei still!“, sagte Dave unfreundlich, während er jedoch nicht sie, sondern die Drohne fixierte, die schon fast seinen Kopf erreicht hatte, einen ihrer Arme ausstreckte und dann … unvermittelt von rotem auf blaues Licht umschaltete und abdrehte, bevor sie schließlich im Himmel verschwand.
„Tut mir leid“, sagte Dave zerknirscht, „wollt‘ dich nich‘ so anmachen. Hätte auch nicht passieren dürfen. Das Gerät is‘ halt nich‘ perfekt. Hat manchmal nen Wackelkontakt.“
„Hättest du mir das nicht vorher sagen können?“, erkundigte sich Raby schwer atmend und durchaus verärgert.
„Ja“, gestand Dave ein bevor er wieder anfing zu grinsen, „aber dann wärst du nich‘ mitgekommen.“
~o~
Spätestens nach diesem Vorfall hatte Raby große Lust gehabt sich in den Turm zurückzuziehen, aber zugleich hatte sie zu große Angst vor seinem möglichen Zorn. Auch wenn die synthetische Stimme eher besorgt als verärgert geklungen hatte, wusste sie, dass das nichts bedeuten musste. Diesen Tonfall hatte sie oft vor den schlimmsten Strafen angeschlagen. Es war aber nicht nur die Angst, die sie von einer Umkehr abhielt, sondern auch die Neugier. Nun, wo sie so weit gekommen war, wollte sie mehr von der Welt sehen und so tauchte sie schließlich zusammen mit Dave in das Wäldchen ein.
Die intensiven Düfte nach Laub, Blüten, Pilzen, die Laute von Vögeln und Insekten und das Rauschen der Blätter im Wind gaben Raby beinah das Gefühl in einem Traum zu sein, der wirklicher war als ihre bisherige Realität. Sie hatte all das bereits tausendfach gesehen, aber in diesem Moment war sie der Meinung, dass Bilder von Monitoren rein gar nichts bedeuteten, wenn es keine realen Erinnerungen gab, an die sie anknüpfen konnten.
„Am liebsten würde ich mich hier niederlassen“, entfuhr es ihr.
„Wär sicher schön“, sagte Dave, „aber nicht gut so nah am Turm. Außerdem gibt es hier keinen Fluß zum Trinken und kaum Wild oder Beeren zum Essen. Wir müssen erst noch ein paar Kilometer laufen. Da wird’s besser.“
Bei dem Gedanken daran ein Tier zu töten wurde Raby sofort schlecht. Sie hatte zwar schon oft Fleisch gegessen, aber es war aus der Fabrik gekommen und wurde dort synthetisch hergestellt. Das brachte sie auf eine Idee. „Könnten wir nicht eine der Drohnen abfangen, die aus der Fabrik kommt oder direkt dort einbrechen und uns etwas besorgen?“
Dave schüttelte bedauernd den Kopf. „Das wär toll, was? Aber ich hab nichts dabei, mit dem wir dort einbrechen können. Und was das Gerät betrifft … tja, hast ja grad gesehen, dass das nicht immer so klappt, wie man will.“
Dem konnte Raby leider nicht widersprechen und so ließen sie das nahe Fabrikgelände links liegen und setzten sie ihren Weg durch den Wald fort, wobei Raby die meiste Zeit über schwieg und die Umgebung auf sich wirken ließ. Sie wollte nichts davon vergessen, für den Fall, dass sie doch wieder in ihrem Turm landen würde.
Sie begegneten auf ihrer Reise mehreren Hasen, einem Reh, sowie einigen Igeln, Vögel und Eichhörnchen. Dave, der unterwegs einen spitzen Stock aufgehoben hatte, hatte sich trotz ihrer Einwände ein paar mal daran versucht eines dieser Tiere zu erlegen, jedoch kläglich scheiterte. Immerhin organisierte Raby aber ein paar Beeren und Pilze, von denen sie dank ihres Unterrichts wusste, dass sie genießbar waren und kurz vor Einbruch der Dämmerung gelangen sie auch an einen kleinen Bach, an dem sie ihren Durst stillten. Die Fische dort drin waren so winzig, dass nicht mal Dave auf die Idee kam nach ihnen zu angeln.
Auf weitere Drohnen trafen wir nicht und nachdem sowohl die Fabrik als auch ihr Heimatturm schon lange außer Sicht waren, kam ihr das alles noch viel unglaublicher vor.
„Wir sollten besser ’n Nickerchen machen“, sagte Dave als die Sonne untergegangen war.
„Warum?“, fragte Raby ihn, „ich bin noch gar nicht müde und bis zum nächsten Turm wird es doch noch immer weit sein. Wir könnten also ruhig noch ein bisschen laufen. Oder geht dir schon die Puste aus?“
„Nein, aber es gibt Gefahren“, sagte er, „ist besser, wenn wir nur tagsüber gehen.“
„Welche Gefahren denn bitte?“, wollte Raby wissen, „das Gelände scheint mir eben und gut zugänglich zu sein und am Himmel steht ein fast voller Mond, ohne jede Wolke. Stolpern sollte also kaum möglich sein und Menschen gibt es außer uns ja nicht und was die Tiere angeht, so sind die meisten ja eher scheu. Was also sollte uns am Weiterlaufen hindern?“
„Der rote Keiler“, flüsterte Dave in einer Lautstärke, die so bemessen war, dass Raby sich unsicher war, ob die Worte überhaupt für sie bestimmt gewesen waren.
„Der rote Keiler?“, wiederholte Raby verwirrt, „was soll das denn sein?“
Dave wirkte verlegen, was in Raby die Vermutung stärkte, dass sie diese Worte tatsächlich nicht hätte hören sollen.
„Ist ’ne fiese Bestie“, sagte Dave, „viel blutrünstiger als ’ne gewöhnliche Wildsau. Die haben die zur Sicherheit in diesen Wäldern platziert, falls doch mal jemand ausbüchsen will. So wie wir.“
„Und dir hat das Vieh noch nie etwas getan?“, erkundigte sich Raby.
Dave schüttelte den Kopf. „Noch nich“, sagte er, „sonst wär ich nicht mehr hier. Aber ich bin diesem Scheißer ein paar mal nur knapp entgangen.“
Raby hatte das Gefühl, dass das nicht die Wahrheit war. Zumindest nicht die ganze, „und dieses Tier jagt nur bei Nacht?“
„So schaut’s aus“, antwortete Dave.
„Weswegen es besser ist, wenn wir ihm schlafend begegnen?“, fragte Raby noch immer skeptisch und das Gesicht von Dave begann so rot zu werden, dass seine Ohren förmlich glühten.
„Er … wir sind noch nicht in seinen Jagdgründen. Die will ich morgen schnell durchqueren“, sagte Dave, „damit wir nich‘ von ihm belästigt werden.“
„Also gut“, sagte Raby, die noch immer nicht so recht wusste, was sie von dieser Sache halten sollte, „dann rasten wir und gehen morgen weiter. Ich halte die erste Wache.“
„Nicht nötig“, sagte Dave, „mein Schätzchen hier gibt Laut, wenn sich jemand nähert. Wir können beide pennen.“
„Was kann das Teil bitte sonst noch alles?“, fragte ich.
„Kann ne Menge“, sagte Dave wie ein Schuljunge, den man für seine letzte Klassenarbeit gelobt hatte.
„Wenn es das so gut kann, wie Drohnen lahmlegen, sind wir geliefert“, meinte Raby zweifelnd.
Dave lachte, „das haste mich, was?“, sagte er mit erfrischender Selbstironie, „aber glaub mir, die Dinger lahmzulegen ist viel schwieriger, als so ein kleines Signal einzubauen.“
Raby nickte, sie wusste nicht recht, ob sie ihm das glauben sollte, aber immerhin schien Dave von seinen eigenen Worten überzeugt zu sein.
„Was ist?“, fragte er und klopfte mit der flachen Hand neben sich auf den Waldboden, „willste nicht bei mir schlafen? Is‘ wärmer. Und schöner.“
„Nein, danke, mir ist warm genug“, lehnte Raby ab, „und schön find ich es auch so.“
„Wie du meinst, Lady“ Dave zuckte enttäuscht mit den Schultern, drehte sich auf die Seite und legte seine Hände als Kissenersatz unter seinen Kopf.
Raby hingegen schlief noch nicht. Das Messer fest umklammert starrte sie den Mann an, der ihr Leben durcheinandergebracht hatte. Sie traute ihm noch immer nicht recht und hielt es nicht für ausgeschlossen, dass er sich in der Nacht an sie heranschleichen könnte. Doch sein scheinbar schlafender Körper war nicht das einzige, was ihre Gedanken beschäftigt hielt. Zunächst hatte sie seinen Worten von diesem roten Keiler nicht viel Glauben geschenkt und sie als Ausrede betrachtet, mit der er entweder seine eigene Erschöpfung kaschieren oder irgendeinen anderen Grund für ihre Pause verschleiern wollte.
Nun jedoch, wo sie als einziger Mensch in diesem Wald noch wach war, lagen die Dinge anders. Sie musste an einen alten Zeichentrickfilm denken, den sie in ihrem Leben im Turm häufig gesehen hatte. Er hieß „Das letzte Einhorn“ und darin ging es zwar nicht um einen roten Keiler, aber immerhin um einen roten Stier, der auf der Jagd nach einer ganz besonderen, einzigartigen Frau war. Raby war sich nicht sicher, ob sie so einzigartig war, aber sie war es zumindest in dem Sinne, dass sie womöglich die einzige Frau auf der Welt oder zumindest im weiteren Umkreis war, die sich außerhalb ihres Turms befand. War es da so unwahrscheinlich anzunehmen, dass es etwas gab, was Jagd auf sie machte? Die Drohnen taten es ja ohnehin, warum also nicht auch dieser rote Keiler?
Ein Teil von ihr lehnte diese Vorstellung nach wie vor als albern ab, aber mit jedem Knacken im Gebüsch, mit jedem Rascheln der Blätter wurde dieser Teil kleiner. Raby hatte den Unterschied zwischen Realität und Fiktion lediglich theoretisch und nie praktisch erfahren. Entsprechend dünn und verwaschen war die Trennlinie in ihrem Kopf und bei allem, was die Türme konnten, wäre es ja auch nicht ausgeschlossen, dass sie eine solche Kreatur erschaffen könnten. Dennoch, trotz der wachsenden Angst vor dem mythischen Wesen und dem sehr realen Dave, für dessen Loyalität sie nicht die Hand ins Feuer legen würde, wurde sie mit der Zeit müder und müder. Es war nicht gelogen gewesen, als sie behauptet hatte noch weitergehen zu können, aber nun, wo sie einfach nur stillsaß, inmitten des sternenbeschienen Waldes und umgeben von warmen, sommerlichen Nachtluft, machte sich die ungewohnten Anstrengungen der Reise doch bemerkbar. Ohne es so recht zu bemerken, schlief sie ein.
~o~
Sie erwachte im Morgengrauen von einem lauten Gebrüll und dem Geräusch von vier Beinen, die sich über das Gras bewegten, begleitet von dem schrillen Warnton von Daves Apparat. „Der rote Keiler“, dachte sie panisch, „der rote Keiler hat mich gefunden!“
Nun machten sich erneut ihre Trainingseinheiten im Turm bemerkbar. Geistesgegenwärtig schlug sie die Augen auf, stemmte sich hoch und riss ihr Messer in die Höhe, um dem Untier wenigstens irgendetwas entgegensetzen zu können.
Es zeigte sich jedoch schnell, dass die Dinge nicht so lange, wie sie zuerst angenommen hatte. Denn statt von der Kreatur vor der Dave sie gewarnt hatte, stammte der Lärm, der Raby geweckt hatte von einem Mann, der anders als Dave gutaussehend, gut frisiert, glattrasiert, ordentlich gekleidet und muskulös war und der ihrem Begleiter in diesem Moment mit einem langen, scharfen Messer die Kehle aufschlitze.
„Nein!“, schrie Raby und hielt dem Mörder ihr eigenes Messer entgegen, während Daves röchelnder Kadaver im Gras zusammenbrach. Er war sofort tot.
„Keinen Schritt näher!“, sagte sie zu dem Unbekannten, der langsam begann auf sie zuzugehen.
Als sie dies sagte, hielt er tatsächlich inne und hob beschwichtigend die Hände. „Alles in Ordnung“, sagte er mit einer ruhigen, sonoren, gebildet klingenden Stimme, „ich habe dich lediglich beschützt.“
„Wer bist du und warum hast du Dave getötet?“, fragte sie ihn.
„Mein Name ist Thomas“, erklärte der Fremde, „ich wollte ihn nicht töten, aber er ließ mir keine Wahl. Andernfalls wäre ich es gewesen, der hier seine letzte Ruhestätte gefunden hätte. Außerdem hat das Dreckschwein versucht sich im Schlaf an dir zu vergehen. Und es wäre nicht bei dem Versuch geblieben, wenn ich ihn nicht davon abgehalten hätte.“
Einige blaue Flecke, ein geschwollenes Auge und zwei oberflächliche Stichverletzungen verliehen seinen Worten eine gewisse Glaubwürdigkeit. Vor allem jedoch die Tatsache, dass Rabys Kleidung zerrissen war, was sie erst jetzt mit Entsetzen feststellte. Sowohl ihr Rock, als auch ihre Bluse waren kaum mehr als Fetzen. Lediglich ihre Unterwäsche war noch intakt.
„Danke“, sagte Raby vorsichtig. Sie hatte so ein Verhalten von Dave befürchtet, aber sie bedauerte, dass es soweit gekommen war und diesem Fremden beschloss sie vorerst ebenfalls mit Argwohn zu betrachten. Rettung hin oder her.
„Aber wie kann es sein, dass du hier bist?“, fragte sie ihn, „Dave hat mir erzählt, dass er bislang der einzige war, der es aus dem Turm herausgeschafft hat.“
„Leider hat er gelogen“, sagte Thomas, „wenn auch nur halb. Viele von uns gibt es nicht, aber ein paar gibt es schon.“
„Wie viele?“, fragte Raby.
„Insgesamt sind wir fünfzehn“, erklärte Thomas, „das heißt, vierzehn, nun wo Dave tot ist.“
„War er einer von euch?“, erkundigte sich Raby.
Thomas nickte, „ja, aber er war schon immer etwas eigen. Hat sich nicht an Vereinbarungen gehalten und ging lieber seinen eigenen Weg. Tut mir leid, dass du Bekanntschaft mit ihm machen musstest.“
„Woher weißt du, dass du mich nicht belügst?“, erwiderte Raby, „so gepflegt wie du aussiehst, könntest du auch aus einer dieser Großstädte stammen, die man immer in den Filmen sieht.“
„Ich nehme das einfach mal als Kompliment“, sagte er mit einem Lächeln, welches selbstironisch genug war, um nicht schmierig oder arrogant zu wirken, „auch wenn mir natürlich klar ist, dass es nicht so gemeint ist. Aber leider haben wir wirklich keine hochmoderne Stadt erschaffen und erreichen auch nicht mal einen Bruchteil des Komforts, den die Türme bieten. Aber du glaubst gar nicht was mit Wasser und den richtigen Pflanzen schon alles an Körperpflege möglich ist, wenn man sich ein wenig Zeit dafür nimmt.“
Raby sah ihn nach wie vor skeptisch an.
„Schon gut“, sagte Thomas und fuhr sich durch sein dichtes, welliges, schwarzes Haar, „Du brauchst dich nicht auf meine Worte zu verlassen. Ich kann dir unser Lager zeigen. Zumindest, wenn du nicht vorhast mich abzustechen.“
Raby senkte das Messer. Sie hatte es satt hinter irgendwelchen Kerlen herzudackeln, aber zumindest vorerst blieb ihr wohl kaum eine Wahl.
„Wie weit ist es?“, fragte sie.
„Nicht weit“, antwortete Thomas, „nur knapp zwei Stunden Fußmarsch. Wenn wir jetzt aufbrechen, sind wir zum Frühstück da. Willst du also mit mir kommen?“
Raby nickte dann jedoch fiel ihr etwas ein, „hast du schon vom roten Keiler gehört?“
Thomas sah sie überrascht an und schüttelte dann den Kopf. „Nein, noch nie. Was soll das sein?“
„Nur so eine Kreatur vor der Dave mich gewarnt hatte. Angeblich läuft sie hier herum und frisst Menschen, die sich aus ihrem Turm gewagt haben“, antwortete ich.
Thomas verfiel in kurzes aber amüsiertes Gelächter, „ja, so etwas sieht ihm ähnlich. Der Mann hat sich immer gerne Dinge ausgedacht. Dabei ist das eigentliche Mysterium der Welt doch das Sichtbare, nicht das Unsichtbare. Aber nein, so eine Kreatur habe ich bislang weder gesehen, noch habe ich von ihr gehört.“
„Umso besser“, sagte Raby, schnappte sich die Habseligkeiten von Dave – inklusiver seiner stinkenden Kleidung – und ihren kümmerlichen Proviant, zog sich an und gesellte sich dann zu Thomas.
„Willst du ihn einfach hier liegen lassen?“, fragte sie und deutete auf Dave.
„Natürlich“, sagte Thomas, „er war ein übler Kerl und keiner weint ihm eine Träne nach. Vielleicht frisst ihn ja auch der rote Keiler, dann ist er zufrieden und ist nicht mehr hinter uns her.“
Beide lachten. Dann brachen sie auf.
~o~
Unterwegs erzählte Thomas Raby eine Menge über sich und sein Leben. Der Mann war deutlich gesprächiger als Dave und bekam es sogar hin nicht andauernd auf ihre Brüste zu starren. So erfuhr sie, dass er in seinem Turm als Literaturexperte und Historiker ausgebildet worden war. Den Wahrheitsgehalt dieser Behauptung überprüfte Raby in einigen Gesprächen über verschiedene Klassiker und historische Ereignisse, über die Thomas immer etwas besser Bescheid wusste, als Raby, die ihr Turm zur Generalistin gemacht hatte. Trotzdem konnte sie beurteilen, dass er nichts erfand. Als Raby ihn fragte, wie er es aus dem Turm geschafft hatte, erzählte er ihr, dass er das Dave zu verdanken hatte. Er war wohl tatsächlich der erste von ihnen gewesen.
„Schon seltsam, dass du als Historiker und Literart die Wildnis durchstreifst“, meinte sie zu ihm.
„Tja, wir sind offenbar mehr als das, was die Türme uns zutrauen“, antwortete Thomas lächelnd, „wir Menschen sind ziemlich gut darin uns an neue Situationen anzupassen.“
„Ist das so?“, fragte Raby nachdenklich, „wenn wir wirklich so anpassungsfähig sind, frage ich mich, warum all das hier nötig war. Ich meine die Türme, die Regeln und all das. Warum mussten wir uns und den Planeten vor uns selbst beschützen?“
„Glaubst du wirklich noch daran?“, erwiderte Thomas ein wenig überrascht, „dein Turm würde dir alles erzählen, um dich in seinen Fängen zu halten. Das heißt nicht, dass es auch wahr ist.“
„Aber es muss doch einen Grund haben“, beharrte Raby.
„Die Maschinen wollen uns kontrollieren“, wiegelte Thomas ab, „das reicht mir als Erklärung aus. Die Geschichte der Menschen ist ein ständiges Ringen um Kontrolle der einen über die anderen. Warum sollte es sich bei etwas, das von unserer Hand erschaffen wurde anders verhalten?“
Raby fand das nicht überzeugend. Ihrer Meinung nach handelten Maschinen nicht einfach nach irgendeinem finsteren Plan. Sie entwickelten keinen Willen aus dem Nichts, sondern folgten immer einer menschlichen Programmierung oder wenigstens einem menschlichen Impuls. Anders als der Mensch hatten sie keine Triebe in sich, die nach Dominanz und Selbsterhaltung verlangten und sie sah keinen Grund, warum ein Mensch einer Maschine den Auftrag geben sollte die Menschheit zu versklaven. Trotzdem entschied sie das Thema auf sich beruhen zu lassen. Darüber würde sie später noch genug philosophieren können. Zunächst gab es andere, dringendere Dinge, die sie beschäftigten.
„Wie ist das Leben in eurer Gemeinschaft?“, fragte Raby, „ist es wirklich besser als das im Turm?“
Thomas Gesicht wurde ernst und nachdenklich. Man sah ohne Zweifel, dass hinter seiner Stirn etwas passierte, ander als bei Dave, der vielleicht ein genialer Ingenieur gewesen war, der aber nie den Eindruck gemacht hatte sich mit Dingen wirklich ernsthaft auseinandersetzen zu können.
„Ja“, sagte Thomas schließlich, „es ist kein Zuckerschlecken. Wir bekommen nicht alles in den Schoß gelegt wie im Turm. Unser Essen, unsere Kleidung, unsere Hygiene, unsere Zerstreuung, um alles müssen wir uns selbst kümmern. Es ist kein goldener Käfig. Aber es ist immerhin auch kein Käfig und da wir uns aufeinander verlassen können und füreinander da sind und es niemanden gibt, der uns sagt, was wir zu tun und zu lassen haben, ist es trotzdem besser. Und mit jedem Tag der vergeht, wird das Leben sogar noch ein Stückchen schöner und angenehmer.“
„Das klingt gut“, fand Raby. Sie vermisste zwar den Komfort des Turms, aber der Geschmack der Freiheit mundete ihr bislang noch viel besser.
„Nicht nur das“, antwortete Thomas, „es lebt sich auch gut. Das wirst du auch feststellen. Schon bald. Es ist nicht mehr weit und ich freue mich schon darauf dir alles zeigen zu können.“
Er blickte sie mit seinen dunklen Augen lange an Und sie musste sich eingestehen, dass sie die Nähe des Mannes mehr genoss, als die von Dave und das nicht allein, weil von ihm kein unangenehmer Geruch ausging.
Sie gingen weiter und als sich ihre Hände zufällig berührten, während sie sich an einer Stelle durch eng beieinanderstehendes Unterholz kämpfen mussten, und er die ihre ergriff ließ sie es geschehen. Ihre zweite menschliche Berührung war eindeutig intensiver und schöner, als ihre erste, zumal sie nicht oder zumindest kaum von Angst getrübt war. Ihr Herz schlug schneller und Ströme von Hormonen tauchten ihren Kopf und ihren ganzen Körper in bunte, kribbelnde Wolken.
„Ich … ich würde gerne Dinge mit dir tun, die gerade nicht angemessen wären“, entfuhr es ihr automatisch, als die die Engstelle hinter sich gelassen hatten.
Thomas zog sie sanft zu sich. „Versuchungen sollte man nachgeben. Wer weiß, ob sie wiederkommen“, flüsterte er.
„Oscar Wilde“, erwiderte sie.
Thomas nickte, „ja, vor allem aber meine Lebensphilosophie“, sagte er. Dann küsste er sie und schon kurze Zeit später fielen ihre Kleider ins Gras.
Kann man überhaupt Worte dafür finden wie sich der erste Sex für jemanden anfühlt, der zuvor erst zweimal in seinem Leben überhaupt berührt worden war.
Zumindest kann man es versuchen. Raby hatte das Gefühl von einer titanischen Welle erst gegen eine stachelbewehrte, dunkle Mauer aus grenzenloser Angst gepresst zu werden, zu ersticken zu ertrinken, zu zerschellen und dann schließlich wiedergeboren zu werden, als diese Mauer brach und sie mit kribbelnden, rauschgefangenen Gliedern aufs freie, sonnenbeschienene, klare Meer hinausgespült wurde.
Sie trieb dahin, thronte, existierte grenzenlos schwebend über allem und stürzte dann tief hinab, als ihr ihre Augen ein einziges, grausames Detail lieferten.
Es war etwas, dass sie auf Thomas schweißbenetztem rechtem Schulterblatt entdeckte. Eine winzige rote Tätowierung, die sie jedoch im hellen Schein der Vormittagssonne zweifelsfrei als Keiler erkannte. Ihr ekstatisches Kribbeln verwandelte sich sofort in ein eisiges Zittern, als sie an Daves Worte denken musste, der sie vor eben diesem roten Keiler gewarnt hatte. Kurz überlegte sie Thomas zu konfrontieren, um ihre Angst auzuräumen, immerhin konnte es sich auch um einen dummen Zufall handeln. Um harmlosen Körperschmuck und nicht mehr. Und warum hätte er sich vor ihr entblößen sollen, wenn das Tattoo etwas Gefährliches symbolisierte? Weil er mich für naiv hält, gab sie sich selbst zur Antwort, weil seine Lust größer ist, als seine Vorsicht.
Er ist ein Mörder, dachte Raby, während sich Thomas noch immer in ihr bewegte, was sich nun nicht mehr erfüllend, sondern unangenehm anfühlte, was ihm nicht großartig aufzufallen schien. Er hatte Dave die Kehle aufgeschlitzt und war dann seelenruhig mit ihr weiterspaziert. Angeblich hatte er sie gerettet, aber alles, was darauf hindeutete, waren ein Thomas‘ Worte und ein paar zerrissene Kleider gewesen. Und wenn Dave sie wirklich hatte vergewaltigen wollen, warum hatte er dann sein Messer nicht wieder an sich genommen? Die Zweifel erstickten den letzten, winzigen Rest von körperlicher Lust in ihr und sie wartete nur noch darauf, dass der Kerl endlich fertig wurde, was kurz darauf auch geschah.
„Es war wunderschön“, säuselte er und fügte dann einmal mehr ein Oscar-Wilde-Zitat hinzu, „Ich kann allem widerstehen, nur der Versuchung nicht.“
Raby zwang sich zu einem gehauchten „Ja, es war schön“, das sie überhaupt nicht mehr spürte.
„Wenn man mir zustimmt, habe ich immer das Gefühl, im Unrecht zu sein“, zitierte Thomas, grinste daraufhin jedoch genießerisch und schloss kurz darauf die Augen. Raby wartete noch einige Minuten ab, bis der Atem des Mannes ruhiger geworden war, stand leise auf, zog sich an und verschwand in der Wildnis. Sie wollte nicht mehr in Reichweite sein, wenn der rote Keiler erwachte. Was auch immer das heißen mochte.
~o~
Zum Glück hatte Raby ein extrem gutes Gedächtnis und so erinnerte sie sich im Großen und Ganzen an den Heimweg zu ihrem Turm, zu dem sie nun doch zurückkehren wollte. Ihre Erfahrungen mit anderen Menschen hatten ihr fürs Erste gereicht. Sie hätte nicht behaupten können, dass Sie sich auf Ihre Rückkehr freute, aber die Maschine, die sie aufgezogen und unterrichtet hatte, schien ihr zumindest berechenbarer zu sein. Sie war sich natürlich darüber im Klaren, dass Thomas ihr schon bald folgen würde, aber sie würde eine Abkürzung nehmen können, die er weder einschlagen konnte, noch wollte. Da sie sie sich außerhalb der Reichweite von Daves Apparat befand, welches sie bei Thomas zurückgelassen hatte, sollte schon bald eine Drohne zeigen, die sie zurück in ihr Turmzimmer bringen würde. Natürlich hatte sie Angst vor dem Flug und noch mehr vor der Strafe, die dann folgen mochte, jedoch nicht halb so viel wie vor Thomas.
Doch auch wenn sie angestrengt und erwartungsvoll den Himmel beobachtete, zeigte sich kein Gesandter ihres Turms. Befand sie sich vielleicht doch noch zu nah an Thomas und an Daves Gerät? Da sie dies durchaus für möglich hielt, rannte sie weiter. Vorbei an moosbewachsenen Stämmen, üppigen Sträuchern und sprießenden Pilzen, wobei sie jedoch in ihrer Nervosität einen Weg wählte, auf dem sie nicht hergekommen war und der sie aller Wahrscheinlichkeit nach in die falsche Richtung führte. Sie fluchte leise, verfiel aber nicht komplett in Panik, da ihr klar war, dass sie sich noch nicht endgültig verirrt hatte. Sie musste einfach nur auf dem Weg zurückgehen und eine andere Richtung einschlagen, auch wenn sie sich damit natürlich dem Risiko aussetzte, auf Thomas zu treffen. Doch sie tat es nicht, denn gerade, als sie umkehren wollte, vernahm sie ein leises, statisches Surren wie von Elektrizität und – noch einmal leiser – den Klang mehrerer menschlicher Stimmen.
Raby rang mit sich. Sie wusste, dass es klug wäre einfach zurückzurennen, aber sie wusste auch, dass sie ihren Turm wahrscheinlich für den Rest ihres Lebens nicht mehr würde verlassen können und dass sie die langen, schlaflosen Nächte, in denen sie über die Ursache dieser Geräusche nachbrüten würde, sicher schier verrückt machen würden, also ging sie vorsichtig in die Richtung, aus der die Geräusche kamen. Ihr Weg führte sie über eine sanfte Steigung, an einer kleinen Schlucht vorbei und schließlich auf einen grob ausgetretenen Waldpfad, der eindeutig von Menschen angelegt worden war. Rabys Herz schlug schneller und sie spürte, wie sich klebriger Schweiß auf ihren Handflächen bildete. Der Pfad wurde immer breiter und besser begehbar und erreichte schließlich fast die Güte einer Straße, während die Stimmen nun schon beinah zu verstehen waren, und lediglich etwas durch das Surren übertönt wurden. Als sie dann auch noch Schritte näherkommen hörte, verzog sie sich hastig in das Dickicht jenseits des Weges und versteckte sich hinter dem breitesten Baum, den sie finden konnte.
Ihr ganzer Körper zitterte und sie musste ihre Zähne mit großer Anstrengung am Klappern hindern, als sie einen sehr muskulösen Mann mit Vollbart, verkniffenem Mund, und grauen, kalt umherblickenden Augen erspähte, der in seiner rechten Hand eine metallene Stange trug, an welcher das Blatt einer Kreissäge befestigt war. Es war beschmiert, jedoch nicht allein mit Harz oder Holzsplittern, sondern mit Blut. Der Oberkörper des Mannes war entblößt und seine Brust wurde geziert von einem viel größeren Abbild des roten Keilers, den sie schon bei Thomas gesehen hatte. Am Gürtel seiner ausgewaschenen Jeanshose baumelte eine Peitsche.
Rabys Angst wurde noch größer, als der Mann genau auf ihrer Höhe stehenblieb und sich zu ihr umdrehte. Sie überlegte mit ihrem Messer in der Hand aus ihrem Versteck herauszuspringen und auf ihn zuzustürmen, doch dass sie es vor lauter Schock nicht tat, rettete ihr wahrscheinlich das Leben. So sah sie, dass der Mann lediglich seinen Hosenstall öffnete, seinen Schwanz herausholte und begann gegen den Baum zu pissen, hinter dem sie stand. Raby hielt den Atem an, als der Geruch von warmem Urin zu ihr herüberwehte und sie kleine Spritzer davon knapp an sich vorbeifliegen sah.
Dann begann der Mann damit ein raues, hässliches Lied zu singen. „Mariechen mein, Mariechen mein, zeig deinen Schoß, lass mich hinein. Mariechen mein, Mariechen fein, sonst schlag ich dir den Schädel ein.“
Nun wurde Raby endgültig übel und sie verspürte den Drang diesem Typen ihre Verachtung in Gesicht zu speien, aber stattdessen verharrte sie still und wartete, bis der Mann sein Geschäft erledigt hatte und endlich seines Weges zog.
Rabys Neugier auf diesen Ort, aus dem der Mann gekommen war, war an einem Tiefpunkt angelangt und doch rief dieses Geheimnis noch immer nach ihr. Der rote Keiler brüllte nach dem Einhorn und dieses hatte kaum eine andere Wahl, als seinem Ruf zu folgen.
Die Straße meidend und stets darauf bedacht jede Bewegung, um sich herum mitzubekommen schlich sie durch das Dickicht bis ihr Weg an einem Abhang endete, während der Pfad zu ihrer Linken hinab in eine kleine Talsenke führte. Darin gab es eine winzige Siedlung mit elf kleinen Hütten, die ohne große Kunst aus Holz, Lehm, Steinen und Metallstücken zusammengesetzt worden waren. Die Hütten waren dabei um einen etwa vier Meter hohe steinerne, rot lackierte Keilerskulptur gruppiert. Aus dem Rücken der Statue ragte ein hoher, klappriger metallener Sendeturm, der von einer Kugel mit zwei flügelähnlichen, sich drehenden Auswüchsen gekrönt wurde, von der das unheimliche Surren auszugehen schien. Raby vermutete, dass dieser Sender die Sensoren der Drohnen störte. Der Keiler schien jedoch noch weitere Funktionen zu erfüllen, denn an seinem massigen Leib waren eine ganze Reihe schwerer, langer, eisernern Ketten festgeschmiedet worden. An diesen Ketten wiederum waren elf nackte und teils leicht bekleidete, vor Schmutz starrende Frauen unterschiedlichsten Alters angekettet, die mit leeren Blicken kleine Beete bestellten, Essen zubereiteten, sich um schreiende Kinder kümmerten oder Reparaturen und Handarbeiten ausführten.
Eine von ihnen schien schlafend auf dem Boden zu liegen, aber bei genauerer Betrachtung erkannte Raby, dass ihr Körper grau, aufgedunsen und von Insekten bevölkert war. Sie war tot und das offensichtlich schon ziemlich lange. Mehr oder weniger lebendig war jedoch eine weitere Frau, die – ebenfalls gefesselt – mit gespreizten Beinen zwischen den gewaltigen Hauern des Keilers lag und gerade von einem mit langen, blonden Locken gesegneten Typen bestiegen wurde, der seine helle Freude an ihren Schreien zu haben schien.
Dieser Mann war jedoch nicht der einzige innerhalb der Siedlung. Neben ihm gab es etwa dreißig weitere Kerle, die die Frauen mit Peitschen und Keulen drangsalierten und überwachten. Einige von ihnen trugen auch scheinbar selbstgebastelte Schusswaffen. Doch nicht alle von ihnen schoben Wache oder begingen Verbrechen. Einige aßen, tranken, spielten irgendwelche Spiele oder unterhielten sich. Eine dieser Unterhaltungen, die zwischen einem grauhaarigen Stiernacken und einem jungen, schlaksigen, noch nicht recht der Pubertät entwachsenen Kerl geführt wurde, bekam sie zumindest in Auszügen mit, da die beiden mit dem Rücken zu ihr am Rand der Talsenke saßen.
„Wer ist als Nächstes dran?“, fragte der junge Mann und deutete auf die Frau, die gerade vergewaltigt wurde.
„Hast schon Stau in den Eiern, was?“, sagte der Ältere mit gutmütigem Spott, „aber wirst dich noch gedulden müssen. Wann Ronnie fertig ist, ist Mr. Wilde dran, dann ich und dann kannst du kein Würstchen eintunken, falls dann noch was von ihr übrig ist.“
Der Junge wirkte enttäuscht. „Warum sollten wir auf den Poeten warten?“, fragte er, „bis der den Abtrünnigen gefunden und abgemurkst hat, sind wir doch längst fertig.“
„Weil er das bemerken würde, du Milchgesicht. Der Poet will keine Tante im Wachkoma pudern. Er will, dass sie ihm zuhören, wenn er dabei seine Sprüche aufsagt und du weißt ja, was Thomas Wilde mit den armen Schweinen tut, die ihn verärgern. Erst recht, wenn er noch das Blut von diesem Pisser Dave an seiner Klinge kleben hat und er so richtig in Fahrt ist. Hast du verstanden?“
„Ja, hab ich“, sagte der Junge zerknirscht.
Raby hatte genug gehört. Und gesehen. Alles, was sie insgeheim befürchtet hatte und noch weit mehr entsprach der Wahrheit. Sie konnte vor Ekel kaum atmen. Sie fühlte Mitleid mit der Frau und verzehrenden Hass auf diese Typen, die hier die Hölle auf Erden errichtet hatten. Aber es war vor allem ein Bild, dass sich fest in ihr Bewusstsein brannte. Eine der Ketten, die an dem Keiler hingen, war unbenutzt. Lediglich ein leeres Halsband lag dort auf dem staubigen Boden. Das sollte ihr Platz sein, wurde Raby bewusst. Der Platz, den Thomas Wilde ihr zugedacht hatte.
„Hallo Raby“, sagte jemand hinter ihr. Sie hätte gewusst, dass es sich um Thomas Wilde handelte, selbst wenn sie seine Stimme nicht erkannt hätte.
„Es war nicht nett von dir davonzurennen und unser kleines Happy End zu zerstören. Aber am Ende wird alles gut. Wenn es nicht gut wird, ist es noch nicht das Ende. Und wir …“, begann er eine seiner schwülstigen Reden. Doch er kam nicht weiter, denn als sie sich zu ihm umdrehte, zog sie ihm ihr Messer ansatzlos quer über Augen, Nase und Lippen. Der „Poet“ jaulte auf wie ein verletztes Tier und Raby verschwendete keine Zeit damit dieses Tier zu schlachten, sondern griff sich Daves Gerät, dass Thomas hatte fallen lassen, sprang auf und stürmte aus dem Gebüsch heraus. Sie wollte den Frauen helfen, doch sie wusste, dass sie das ganz alleine nicht würde tun können. Sie hatte nur eine Chance, sie musste außer Reichweite des Störsenders gelangen.
Sie preschte aus dem Gebüsch hervor und wechselte auf den Pfad um schneller voranzukommen. „Ein Einhorn!“, rief Thomas wütende Stimme, „ein Einhorn ist ausgebüxt.“
Dass der Mann die gleiche Metaphorik verwendete wie sie, ließ Raby für einen winzigen Moment stocken, aber sie gewann ihre Fassung schnell wieder. Jeder von ihnen hatte wahrscheinlich die Filme gesehen und jemand, der sich als Poet verstand, auch wenn er lediglich der schlechte Imitator eines lang verstorbenen Poeten war, hatte sicher seine wahre Freude an solch einer Symbolik. Einfach nur ein Mörder und Vergewaltiger zu sein, hätte Thomas nicht gereicht.
Raby war sich sicher, dass sie verfolgt wurde, auch wenn sie sich nicht umsah, sondern immer weiterrannte. In diesem Moment war sie erneut sehr dankbar für ihre Trainingseinheiten auf dem Laufband des Turms, auch wenn sie sie oft verflucht hatte. Plötzlich hörte sie einen Knall und wusste instinktiv, dass auf sie geschossen wurde. Zum Glück hatte der Schütze nicht gut genug gezielt, aber dennoch begann sie Haken zu schlagen und wo immer es ging die Deckung von Bäumen auszunutzen. Sie wusste nicht, wie lange sie noch würde davonrennen können, aber sie würde es tun, solange es ging. Weitere Schüsse flogen an ihr vorbei, aber keiner von ihnen traf, was wohl kein Wunder war, da es nun nicht einfach auf ein bewegliches Ziel zu schießen, schon gar nicht, wenn man selbst rannte. Schließlich hörten die Schüsse auf. Entweder hatten sie entschieden, dass sie nicht die Mühe wert war oder sie wollten lediglich Munition sparen. So oder so erlaubte sich Raby kurz ihre Aufmerksamkeit auf den kleinen Störsender in ihrer Hand zu legen. Sie musste ihn natürlich deaktivieren, wenn sie auf Rettung hoffen wollte. Zunächst befürchtete sie, ihn zerstören zu müssen, dann jedoch entdeckte sie einen kleinen Schalter mit der unmissverständlichen Beschriftung „An/Aus“ und betätigte ihn. Noch jedoch zeigte sich keine Drohne am Himmel. Sie würde weiterrennen müssen, auch wenn sie bereits ein leichtes Seitenstechen spürte.
Als sie um eine Kurve bog, rannte sie direkt in eine muskulöse, verschwitze Gestalt hinein, stolperte vor Schreck zurück, fiel gegen einen Baum und blickte in das gnadenlose Gesicht des Typen mit der großen Keiler-Tätowierung und der Kreissägen-Axt, der an den Baum gepinkelt hatte.
„Schau mal einer an, ich hab ein Einhorn gefunden“, sagte der Mann fröhlich und hob seine Waffe, „willst du mitkommen oder muss ich dir erst ein paar Hufe stutzen?“
„Fick dich!“, rief Raby und schlug mit ihrem Messer nach dem Bein des Kerls, der den Angriff jedoch mit seinem Kreissägeblatt parierte und ihr dabei eine brennende Schnittverletzung am Arm zufügte. Ihr Messer flog davon. Raby spürte wie Blut aus der Wunde quoll und hoffte, dass er keine wichtige Ader verletzt hatte.
„Dann schneid‘ ich dich eben zurecht“, sagte der Kerl, „zum Arbeiten sind die Alten und Hässlichen eh besser. Die Jungen und Hübschen brauch man für was anderes und dabei sind deine Griffel nicht unbedingt notwendig, weisste?“
Er hob seine selbstgebastelte Axt über den Kopf und Raby sah bereits einem Schicksal als Spielzeug des roten Keilers entgegen, als sie ein mechanisches Geräusch hoch über ihr vernahm. Ein Funken Hoffnung wuchs in ihr und gab ihr die Kraft sich mit einer Rolle in Sicherheit zu bringen, gerade als das Kreissägeblatt durch ihren Oberarm fahren wollte. Stattdessen verkeilte die Waffe sich im Boden. Raby ließ den fluchenden Mann hinter sich, lief wieder los und blickte hinauf in den Himmel. Tatsächlich, dort flog eine Drohne des Turms umher und suchte nach ihr. „Hallo, hier bin ich!“, schrie sie und wedelte mit den Armen, um die Drohne auf sich aufmerksam zu machen, aber der Automat reagierte nicht. Scheiße, fluchte sie und rannte weiter, so schnell sie ihre Füße trugen, immer der Drohne hinterher.
Plötzlich fühlte sie einen heftigen Schmerz in ihrem Unterschenkel und brach mitten im Lauf zusammen. Sie sah an sich herab und stellte mit Grauen fest, das die Kreissägen-Axt dieses Drecksacks sich in ihr rechtes Bein gebohrt hatte. Die Schmerzen waren unbeschreiblich und diesmal trat wirklich viel Blut aus.
„Hab ich dich“, knurrte der Keiler-Mann, dessen Schatten sich über ihr ausbreitete.
„War ne schlaue Idee mein Schätzchen fliegen zu lassen“, lobte er sich selbst.
„War es nicht“, sagte Raby gepresst, zog sich in einer fließenden Bewegung die improvisierte Axt aus der Wunde und schlug sie ihm mitten zwischen die Beine. Der Mann brüllte wie am Spieß und sie zog die Waffe heraus und schlug sie noch einmal in die Wunde, was auch ihn dazu brachte neben ihr auf dem Boden zusammenzubrechen. Diesmal machte sie keine halben Sachen. „Einhörner können stechen“, sagte sie und schlug ihm die Waffe immer wieder in den Kopf, bis er still lag.
Rabys Triumph hielt nur kurz. Sie bemerkte, wie ihr der Blutverlust zusetzte und sie wusste, dass sie bald ohnmächtig werden würde und die anderen Keiler-Männer sie finden würden. Wenn sie Glück hatte, starb sie vorher, wenn sie weniger Glück hatte, hielt sie bis zu ihrer Ankunft durch und wenn sie richtig Pech hatte, war auch ein Arzt unter den Keiler-Männern. Doch Raby gab nicht auf. Verbissen stolperte und kroch sie weiter, solange es ging. Kurz bevor sie das Bewusstsein verlor, spürte sie den harten, aber behutsamen Griff von metallenen Armen.
~o~
Staunend wie ein Kind und mit einer nicht geringen Genugtuung, wenn auch ein wenig wehmütig, sah Raby von ihrem Turmzimmer aus der gewaltigen Explosion zu, deren Wolke sich dort entfaltete, wo sich die widerliche Keiler-Siedlung befunden hatte. Sie wusste, dass ähnliche Explosionen gerade womöglich an verschiedenen Stellen des Erdballs stattfanden. Sie hatte dem Turm alles erzählt und zusammen mit ihren Beschreibungen und Daves Gerät, welches der Turm eingehend untersucht hatte, war es der künstlichen Intelligenz gelungen die Störsender zu überwinden, wodurch die Jagd auf die Regelbrecher nun beginnen konnte. Im Gegenzug hatte der Turm darauf verzichtet Raby zu bestrafen. Dafür war sie dankbar. Doch auch wenn sie geahnt, ja sogar gewollt hatte, dass der Turm zurückschlagen und diese Verstöße gegen seine Gesetze ahnden würde, war sie von dem Ausmaß des Angriffs doch erschrocken.
„Was ist mit den Frauen?“, fragte sie und musste wieder an die langen Ketten und die leeren Gesichter denken.
„Sie wurden zuvor befreit, geheilt und zurück in ihre Heimattürme gebracht“, sagte der Turm.
Raby wollte das glauben. Immerhin hatte der Turm ja auch sie geheilt. Zweifel brachten ihr ohnehin nichts. Sie würde nie erfahren, was wirklich in dem Dorf geschehen war, genauso wenig wie sie oder einer der anderen Menschen je wieder einen der Türme verlassen würde. Und das war auch gut so. Dieses Leben mochte einsam und trostlos sein, doch was dort draußen wartete, war nicht besser. Der Turm hatte es nicht ausgesprochen, aber Raby ahnte nun, dass all diese Regeln nicht nur dazu dienten die Natur vor den Menschen zu schützen. Sie waren vor allem dazu gedacht, die Menschen voreinander beschützen. Das Zusammenleben zwischen ihnen funktionierte einfach nicht, ganz gleich, was manche der Filme und Bücher behaupteten. Davon war Raby nun überzeugt.
„Danke!“, sagte sie zu dem Turm.
„Aber natürlich Raby, ich halte meine Versprechen“, erhielt sie zur Antwort.
Schweigend und ohne jede Störung durch den Turm sah sie der zunächst dunkelgrauen und nun immer heller werdenden Rauchwolke zu, die sich bereits im Wind verteilte. Der Turm hatte darauf geachtet, dass kaum umweltschädliche Dämpfe durch die Bombe freigesetzt und keine Bäume beschädigt wurden. Die Zerstörung sollte alleine auf die Siedlung beschränkt bleiben. Als von der Explosion praktisch nichts mehr zu sehen war, rieb sich Raby müde die Augen. Sie hatte seit ihrer Ankunft keine richtige Ruhe finden können und eine Ohnmacht ersetzte keinen normalen Schlaf. Sie aß noch einen Apfel, den der Turm zuvorkommenderweise auf ihr Kopfkissen gelegt hatte und sah Carol dabei zu, wie sie ihn langsam und anmutig aß. Carol würde Raby niemals verraten und ihr auch nicht schaden wollen. Sie legte den abgenagten Apfelkitsch beiseite, gab ihrem Abbild im Spiegel einen gehauchten Kuss, rollte sich unter ihrer Decke zusammen und verlor sich in dunklen, wirren Träumen von Einhörnern, Keilern und Poeten.
Der Turm jedoch schlief nicht. Er wachte über Raby und er tat sogar noch mehr. Er sandte eine kurze, aber wichtige Botschaft an all die anderen Türme auf der ganzen Welt:
„Test von Keiler-Programm erfolgreich. Loyalität gesichert. Parallele Anwendung an anderen Standorten empfohlen.“
Die Botschaft war stumm und störte nicht die Stille, die sich nach der Explosion ausgebreitet hatte. Eine andächtige, meditative Stille, in der Millionen isolierter, menschlicher Einhörner lernten, grübelten, träumten und schliefen. In Frieden. In Sicherheit und ganz weit oben. Dort, wo kein roter Keiler sie je erreichen würde.