Die Geschichten, die uns unsere Eltern oder Großeltern erzählen, haben für uns oft eine ganz besondere Bedeutung. Sie geben uns Orientierung, Halt, und einen Rahmen für die Welt, in der wir uns bewegen, vielleicht mehr noch als die Schulstunden, die wir erleben, die Filme, die wir sehen oder die Bücher, die wir selbst lesen. Denn es sind Worte, die von Menschen ausgesprochen werden, die uns nahe sind und die uns besser kennen als die meisten anderen, vielleicht sogar uns selbst eingeschlossen. Zu den Geschichten, die in meinem Leben eine so prägende Rolle gespielt haben, gehört ganz sicher auch die folgende, wenn sie nicht sogar die bedeutendste Geschichte für mich ist.
“Es war einmal ein Bauernjunge namens Ronno, der lebte in einem lange vergessenen Land mit dem Namen ‘Andernland’. Und obgleich er das harte, einfache Leben eines Gemeinen lebte, so war er doch nicht gewöhnlich. Er war schlau, wohlgestalt, aufgeweckt und voller Kraft und Saft, doch das war es nicht, was ihn von den anderen im Dorf unterschied. Es war nicht sein Charakter, nicht seine Schönheit, sein Geschick oder seine nicht geringe Stärke, die ihn zu größerem bestimmte. Es war vor allem seine Geburt, jene glücklichen Sterne, die ihm bereits den Weg gewiesen hatten, lange bevor seine Füße auf ihm gegangen waren. Denn seine Mutter war die Königin jenes Landes gewesen, bevor sie einer ihrer Lords mit dem Namen Brostoi, ein grausamer, machthungriger Mann gestürzt und gemeuchelt hatte. Dieser Mann hatte ein starkes Heer mit entschlossenen, gut gerüsteten Reitern und Söldnern aus fremden Ländern aufgestellt und so war es ihm ein Leichtes gewesen, die Getreuen der Königin niederzuwerfen.
Nachdem jener Lord den Thron bestiegen hatte, erließ er den Befehl, die Königsfamilie bis auf das letzte Kind auszumerzen. So ließ er die Kammern und Schlafstätten stürmen, die seine Schergen mit Blut und Geschrei füllten. Der Gemahl der Königin und viele gute Frauen und Männer verloren dabei ihr Leben und wurden von lachenden, atmenden Geschöpfen in dahinwesende, blind glotzende Kadaver verwandelt. Als seine Soldaten aber erregt vom Blutrausch und mit gezückten Messern zum Bette des einzigen Sohnes der Königin schickte, fanden sie dieses leer vor. Denn einige überlebende Verbündete seiner Mutter hatten das Kind in Sicherheit gebracht und in die Obhut einer alleinstehenden Bäuerin mit dem Namen Runella gegeben. Runella war eine gütige, hart arbeitende Witwe, deren eigenes Kind schon vor langer Zeit gestorben war und sie nahm den Jungen gerne bei sich auf.
Im Gegenzug wurden sie und Ronno zwar mit dem Nötigsten versorgt, sodass sie nicht hungern und darben mussten, aber mit Reichtum wurden sie nicht überschüttet, auch wenn die verbliebenen Unterstützer der gemeuchelten Königin zwar geringer an Zahl und Waffen, aber noch immer sehr wohlhabend waren. Nein, der Junge sollte einfach aufwachsen, nicht bettelarm, aber einfach. Jedoch nicht, um seinen Charakter zu bilden oder ihm den Wert harter Arbeit zu lehren, sondern einfach, um die Häscher Brostois zu täuschen. Denn die Unterstützer der königlichen Familie hegten nach wie vor die Hoffnung, die Linie Ronnos eines Tages wieder auf den Thron zu setzen und sie woben Pläne, schmiedeten Bündnisse und erdachten Ränke, um bereit zu sein, wenn dieser Tag erst gekommen wäre. Bis dahin war es an Runella, auf den entthronten Thronfolger achtzugeben. Eine Aufgabe, der sie pflichtbewusst nachkam. Sie kleidete und ernährte ihn ordentlich, schenkte ihm Liebe und Strenge und lehrte ihn das, was sie über die Welt wusste. Vor allem aber achtete sie darauf, dass er das Haus und den Hof so selten wie nur möglich verließ, denn außerhalb ihrer behaglichen vier Wände wäre er ein leichtes Opfer für Brostois Diener, die der paranoide Usurpator noch viele Jahre nach Beginn seiner Schreckensherrschaft nach dem Jungen suchen ließ, der seine Macht und sein geraubtes Recht auf den Thron bedrohte. Gelegentlich unternahm sie mit Ronno Spaziergänge durch den nahen Wald, wobei sie nie seine Hand losließ, damit er nicht wegrannte und sich in Gefahr brachte und manchmal zeigte sie ihm, wie man Holz spaltete, die Kühe molk oder die Saat ausbrachte.
Schließlich jedoch wurde auch Runellas Hof von den Männern Brostois besucht und sie wurde von den groben, ungehobelten Kriegern bedroht und geschmäht, aber die Bäuerin hielt ihnen stand. Und als die Häscher Haus und Hof durchkämmten, fanden sie niemanden vor, denn Ronno kauerte derweil in einem tiefen, gut versteckten Tunnel, den Runella Mithilfe zweier Getreue gegraben hatte. Und so gingen sie wieder, drohten jedoch damit, schon bald wiederzukehren.
Seit diesem Ereignis war es Ronno noch viel seltener gestattet, sein Zimmer zu verlassen und schließlich entschied sich Runella dazu, ihn zu seiner eigenen Sicherheit die ganze Zeit über in seinem Zimmer zu behalten. Da wütete der Junge und schlug um sich und nannte Runella eine grausame alte Vettel. Doch sie blieb hart, verriegelte das Zimmer und die Fenster gut und erzählte dem Jungen, dass all dies zu seinem Wohl sei und dass dies nur der dunkle Tunnel sei, durch den er schreiten müsse, bevor er eines Tages das Licht der Herrschaft ergreifen und in Reichtum und Bewunderung schwelgen dürfe. Irgendwann begann sich Ronno damit abzufinden. Zumindest eine Zeitlang. Doch die Monate vergingen, der Thronräuber saß weiter fest im Sattel und die Pläne von Ronnos Freunden und Unterstützern waren noch nicht reif. So wurde der Junge schließlich traurig und still und wenn Runella die Türe öffnete, um ihm Speis’ und Trank zu bringen und mit ihm zu sprechen, gab er nur noch selten Antwort und immer häufiger starrte er traurig und stumpf an die Wand.
Runella trug es den Getreuen zu und sie erkannten, dass sie etwas gegen die Langeweile und den Trübsinn des Jungen tun musste, wenn der Thronfolger nicht vor seiner Zeit seinen Verstand einbüßen und dem Wahnsinn anheimfallen sollte. So ließen sie ihm Bücher bringen, um seinen Geist zu schärfen und ihm ein wenig harmlose Flucht zu ermöglichen, denn als Junge von Adel war er des Lesens mächtig. Und sie gaben ihm das Schwert seiner Mutter, auf das er üben könne, es zu schwingen und der Junge, obgleich ihn noch immer die Sehnsucht nach der weiten Welt umklammert hielt, freute sich und eine Zeitlang war er zufrieden. Doch beide Gaben – sowohl Schwert als auch Buch – trugen ihr Verhängnis in sich. Denn Schwerter – umso mehr in der Hand junger Männer – neigten dazu, irgendwann ein Ziel zu finden und Bücher trugen in Andernland manchmal mehr Gefahren in sich, als bloße Gedanken.
Zunächst aber war die Wirkung der Geschenke heilsam. Ronnos Trübsal verflüchtigte sich. Er blühte regelrecht auf und die Übungen mit dem Schwert gaben seinem Körper neue Beweglichkeit und Stärke und auch die Geschichten von Heldenmut und Glorie, die er las, verleiteten ihn nicht zu Dummheiten. Vielmehr entfachten sie in ihm die Vorfreude auf seine Herrscherwürde, gaben ihm Disziplin und Geduld und inspirierten ihn dazu, sich all die Pläne und Gesetze auszumalen, die er eines Tages würde erlassen können.
Gleichzeitig begann die harte Arbeit der Verbündeten seiner Mutter Früchte zu tragen. Mehr und mehr Könige und Fürsten konnten für den Krieg gegen den anmaßenden Thronräuber gewonnen werden und die Wut des Volkes auf den grausamen, ruchlosen Herrscher begann zu wachsen. Kurzum: Die Schlinge um Brostoi zog sich zu. Alles, was fehlte, war ein Anführer, ein Symbol, ein Feuer, das dieses Pulverfass würde entzünden können. Und dieses Feuer war bereit, saß in seinem kleinen, hölzernen Zimmer und brannte für seine große Zukunft. Alles war bereit für Ronnos Aufstieg, doch eine böse Fügung wollte es, dass gerade zu jener Zeit ein anderes Feuer seine Leidenschaft für Mannestaten, Herrschaft und Gerechtigkeit übermannte: das Feuer in seinen Lenden.
Denn eben zu jenen Tagen begann der Junge in ihm zu sterben und der Mann erwachte. Und wo seine traumumwölkten Augen bislang die Konturen eines prachtvollen Throns in den dichten Nebeln der Zukunft zu entdecken gehofft hatten, so suchten sie dort nun nach einem Gegenüber, dem sie Leib und Herz schenken konnten. Und sie fanden es. Inmitten der Isolation des abgelegenen Hofes, dessen gleichsam ältliche und kinderlose Nachbarn viele Meilen entfernt lebten, erspähten sie ein Mädchen, wie es wenige nur je zu Gesicht bekamen.
Es war eine jener Nächte, in denen Ronno im Kerzenscheine Geschichten großer Helden verfolgte, als er eine Botschaft auf den Seiten erblickte. “Bist du einsam, Prinz Ronno?”, stand dort geschrieben auf einer Seite, die er schon tausendfach gelesen hatte und deren ursprünglicher Inhalt jetzt wie weggefegt war. Stattdessen standen dort nun Worte auf den Seiten geschrieben, die ihn neckten, lockten und seinen Schmerz wie seine Hoffnung nährten.
Er war so überrumpelt von derlei Ereignissen, dass er kurz sogar erwog seine Ziehmutter Runella hinzuzuziehen und sie zu fragen, ob sie dies ebenfalls lesen könne und so manches wäre anderes gekommen, wenn er es getan. Doch er entschied sich dagegen, denn er fand es aufregend etwas zu haben, was nur ihm gehörte und von dem niemand sonst wusste.
Uns so nahm er eine Feder, die man ihm gegeben hatte und mit deren Hilfe er schon viele Gesetze für seine künftigen Untertanen verfasst hatte. Allesamt gerecht und wohldurchdacht, wie zumindest er dachte. Mit dieser Feder nun schrieb er eine Antwort unter die mysteriösen Zeilen. “Ja, das bin ich”, gab er zu, “aber wer bist du und wie kann es sein, dass du das hier schreibst, wenn ich dich nicht einmal sehe?”
Erwartungsvoll starrte er auf das Papier, in der Hoffnung eine Antwort zu erhalten. Aber stattdessen verschwanden sowohl die seltsame Nachricht, als auch seine eigenen Worte von der Seite und der ursprüngliche Text kehrte zurück. Frustriert und enttäuscht warf Ronno das Buch in die Ecke und haderte einmal mehr mit seinem Schicksal. Dann jedoch glaubte er eine silberne Reflexion am Fenster zu entdecken.
Einbildung oder nicht, weckte dies nach diesem ungewöhnlichen Ereignis und in einer Umgebung, in der schon seit vielen Jahren so wenig passierte, sofort sein Interesse. Ronno, der glaubte sogar, eine ferne, gesummte Melodie zu hören. Sofort schlug sein Herz schneller. Natürlich hoffte er, dass es etwas mit der Botschaft zu tun hatte, aber er hatte auch ziemlich große Angst, denn genauso gut konnte ihn am Fenster etwas ganz und gar nicht wohlgesonnenes erwarten. Also hob er zunächst sein Schwert auf, bevor er das Wagnis einging auf das Fenster zuzuschreiten, denn Runella hatte ihm eingeschärft stets vor den Häschern Brostois auf der Hut zu sein. Seit langem gefangen in einem Leben, dessen Ereignisreichtum sich allein zwischen Buchdeckeln abspielte, erwartete er nicht wirklich, etwas zu sehen, außer womöglich ein Raubtier, welches sich im Mondlicht an den Hof angeschlichen hatte, um sich an ihren Hühnern, Kühen und Schafen zu laben. Was er jedoch stattdessen erblickte, als er auf den kleinen, nahen Hügel am Waldesrand sah, war weder ein Fuchs, noch ein gedungener Mörder, sondern das schönste und noch dazu einzige Mädchen, welches er je erblickt hatte.
Ihr Haar war silbern wie das Mondlicht und gläsern wie ein klarer See und das Kleid, welches sie trug, war gewoben aus golddurchwirktem Licht. Ronno hielt es für einen Traum, doch sein Leib, der auf diesen Anblick reagierte wie eine Motte auf das Licht, bewies ihm, dass er sich nicht einbildete. Und die Unbekannte, der sein Verlangen nicht entging, blieb keine ferne Erscheinung, sondern näherte sich seinem Fenster auf zarten Füßen, deren Tritt kaum das Gras eindrückte, über das sie wandelte. So sah er in ihr Gesicht, betastete es mit seinen Händen, nur getrennt durch ein wenig Glas. Und als er in ihre uralten Augen blickte, ward er verloren. Vergessen waren seine Träume von Herrschaft. Vergessen war seine Ziehmutter. Vergessen war seine Mutter und all die Bücher, die er gelesen.
Zu dieser Zeit aber hielt Runella, die von der Vertrauenswürdigkeit Ronnos überzeugt gewesen war, sein Fenster nicht länger verriegelt und so war es ihm ein Leichtes, es gänzlich zu öffnen und die kribbelnde, weiche Hand von Ilja zu ergreifen, denn so lautet der Name jenes Mädchens, die einem Menschen nahe und doch keiner war.
“Willst du frei sein, Ronno?”, fragte Ilja, “und zusammen mit mir die Wunder der Welt erkunden? Ihre Höhen und ihre Tiefen?”.
“Ja, das will ich. Nichts sonst will ich mehr!”, antworte Ronno mit einem Schrei, der eigentlich ein Flüstern sein sollte.
“Dann komm!”, verlangte Ilja, streckte Ronno ihre Hand entgegen und begann ihn aus dem Fenster hinaus auf das weiche Gras zu ziehen.
Doch Ronnos Schrei hatte Runella aus ihrem stets leichten Schlaf geweckt und so stürmte sie in jenem Augenblick ins Zimmer, ergriff Ronnos Beine und hielt ihn zurück. So begann ein kurzes, aber erbittertes Tauziehen um den Leib des jungen Prinzen. Ein Tauziehen, welches Runella gewann. Denn auch wenn Ilja ein altes und starkes Wesen war, so gab es doch keine größere Kraft, als die einer Mutter – ob leiblich oder nicht –, die sich um ihren Sohn sorgte.
Dieser, fürwahr, dankte es ihr schlecht. Denn als sie ihn sicher gefasst, die Geisterfrau vertrieben und sie geheißen hatte niemals wiederzukehren, tobte der Prinz und weinte, und sah der fliehenden Ilja verzweifelt hinterher. Runella aber nannte er eine alte, hässliche, verbitterte Frau, die nichts von der Liebe wusste.
Runella erduldete all dies in ihrer Weisheit und als der Junge langsam zur Besinnung kam, sprach sie zu ihm mit ernsten, getragenen Worten: “Hör zu, mein Bursche, den ich liebe an eines Sohnes statt, doch nicht minder. Die Pläne der Freunde deiner Mutter – Gott hab sie selig – sind nun reif. In dieser Stunde sammeln sie ein Heer, um den Usurpator aus seiner Burg zu jagen und schon in wenigen Tagen wird eine mächtige Kriegsflotte in den Hafen einlaufen. Sei gewiss, noch bevor eine Woche vergeht, wirst du herrschen und dann kannst du dir die schönste und gebildetste, die freundlichste und eleganteste unter den Frauen des Reiches wählen. Kein Herz wird dir widerstehen können, noch wollen. Du brauchst keinen Geistern nachzustellen, keinen Wortgespenstern und Windhexen, die doch nichts weiter wollen, als deines Leibes frische Kraft.”
Dies ward gesprochen und dergleichen mehr. Viele Worte der Weisheit eines großen Herzens und der Einsichten eines langen Lebens. Und auch wenn Ronnos Herz taub war für jede Weisheit, pflichtete sein Mund ihr bei, war er doch beseelt von einer Schläue, die dem Reiche zum Wohle gereicht hätte, auch wenn er sie nun zum Schlechten gebrauchte.
Runella, obgleich in Sorge, wollte dem Sinneswandel des Prinzen von Herzen glauben und so verschloss sie zwar erneut sein Fenster, ließ ihm aber die Bücher und sein Schwert und versprach ihn zu holen, wenn die Zeit reif sei.
Ronno jedoch, kaum da Runella ward verschwunden, setzte sich ans Fenster und spähte in hinaus das Dickicht. Hoffend und sehnend nach Ilja, ihren Händen, ihren Lippen und allem anderen. Doch eine Nacht und ein Tag zogen vorbei und Ilja zeigte sich nicht mehr.
Frustriert und lustlos blätterte er in seinen Büchern, die er tausendfach gelesen, auf der Suche nach einem Zeichen, einer Nachricht seiner Geliebten. Und nachdem er lange vergeblich gesucht hatte, wurde er schließlich fündig. Dort, in der Geschichte des hoch gerühmten Drachenschlächters “Rakwen” standen nun Zeilen, wie er sie nie zuvor gelesen hatte.
‘Mein Käfigprinz, mein sehnendes Gebet
Der mir im Kopfe spukt und niemals wieder geht
Triff mich in drei Tagen, wenn die Sonne sich erhebt
Am Waldesrand, dort wo die höchste Tanne steht.’
Ronnos Herz ging auf, als er diese Worte las, da er doch zweifelsfrei wusste, von wem sie stammten. Sein Trübsinn war vergangen und seine im langen Warten gewachsene Entschlossenheit fand ein neues Ziel. Die folgenden Tage betrug er sich makellos und folgsam. Ganz besonders, als ein Hauptmann der Streitkräfte seiner Mutter – ein dunkelhaariger, stämmiger Krieger namens ‘Sir Gortez’, gerüstet in Kettenhemd und Schwert – ihren Hof in der Nacht aufsuchte und von Angesicht zu Angesicht mit ihm über den baldigen Feldzug gegen den Tyrannen sprach.
“Mein Prinz”, sprach Sir Gortez mit feurigem Ernst, “euer Volk ist die Jahre der Unterdrückung leid. Es sehnt sich nach einem wahren, einem guten König und nach Gerechtigkeit für den feigen Mord an eurer Mutter und eurem Vater. Und es wird sie bekommen. Schon übermorgen wird diese Klinge hier Tyrannenblut kosten und am Abend werdet ihr nach all den Jahren der Entbehrung euer Recht beanspruchen können. Dies schwöre ich bei meiner Ehre.”
Dies und noch viel mehr sprach er. Freudig und ergriffen sprudelten die Worte aus seinem Mund und so berichtete er von Taktiken und Kriegslisten, begierig seinen baldigen Herrscher zu beeindrucken. Und Ronno zeigte euphorische Begeisterung, die nur zum Teil gespielt war. Nach wie vor gefiel ihm der Gedanke herrschen zu können, aber er hatte ziemlich genaue Vorstellungen davon, wer seine Königin sein sollte.
Und so nahte der Zeitpunkt, der in Iljas Gedichte genannt und Ronno, der vor Aufregung und Sehnsucht keinen Schlaf finden wollte, begab sich schon weit vor Sonnenuntergang zu dem Fenster, welches fest und sicher verschlossen ward.
Aber das hinderte ihn nicht, denn nach wie vor besaß er ein Schwert, denn niemand – auch nicht Runella – hatte es gewagt, den künftigen König zu beschämen und ihm so kurz vor seiner Thronbesteigung seine Waffe zu nehmen. So schwang er die feine, kostbare, runen- und kristallverzierte Waffe mit geübten Schlage gegen die Scheibe und da er wusste, dass er dies nicht würde leise tun können, legte in jeden seiner Hiebe seine ganze Kraft. Und die Scheibe barst und splitterte, wie er es gehofft hatte. Bevor er jedoch ein Loch geschaffen, welches breit genug für seinen jungen Leib war, betrat Runella einmal mehr das Zimmer des jungen Prinzen.
Denn auch wenn sie nichts von dem ahnte, was in dem Buche geschrieben stand, so hatte sie doch die ganze Nacht gewacht und gelauscht, nun wo sie wusste, dass der große Tag nahte.
So also sah sie ihn. Ihren Jungen, ihren Prinzen, liebestoll, bedeckt von Scherben, das mächtige Schwert in seiner Hand.
“Bleib hier, Ronno”, flehte sie, da sie ahnte, dass der böse Geist, den sie vertrieben, noch immer sein Herz ergriffen hielt, “um deiner Seel’ willen, bleib hier.”
“Nein!”, erwiderte der Knabe hart wie Stahl und erbarmungslos wie ein alter Recke und ließ ein weiteres Mal Glas splittern, sodass ihm der Durchgang nun offenstand.
Und er ging auch nicht hindurch, weil sein Verstand ihn zurückhielt. Doch nicht mit dem goldenen Glanz der Einsicht und Weisheit, sondern mit dem kalten, geschwärzten Eisen der Schläue. Ronno wusste, ahnte, sah, dass seine Ziehmutter um Hilfe rufen würde. Hilfe, die vielleicht kommen würde, denn die Männer von Sir Gortez lagerten, wie er wusste, unweit von ihrem Hof. Nicht nahe genug, um das Klirren einer Scheibe zu vernehmen, aber vielleicht nahe genug, um das verzweifelte Rufen von Runellas kräftiger Stimme zu hören.
“Ihr habt recht, Mutter”, sagte Ronno sanft, denn manchmal, wenn seine Laune gut war, pflegte er sie so zu nennen, “es war töricht von mir.”
Er ging vom Fenster zurück und direkt auf Runella zu, mit eingesunkenen Schultern und gesenktem Blick. “Aber die Liebe tut so weh!”, brachte er hervor, geschüttelt von Tränen, die aufrichtig aus ihm entsprangen.
“Ich weiß, mein Junge”, sagte Runella und drückte Ronno an sich, “aber das geht vorbei.”
“Manche Liebe nicht”, erwiderte Ronno nachdenklich und die Tränen kullerten sein Gesicht hinab, als er seiner Ziehmutter das Schwert von hinten durch die Brust stach und ihren Mund dabei fest zuhielt, “andere aber schon.”
Ihr Blut rann an seinen Händen hinab und ihr Schrei erstarb auf ihren Lippen und sollte nie die Ohren von Sir Gortez und seinen Männern erreichen. Zitternd zog er das Schwert heraus und wiegte sie in seinen Armen, bevor er sie sanft zur Ruhe bettete. Runella war nicht länger und Prinz Ronno war zum zweiten Male eine Waise geworden, diesmal durch eigene Hand. Für ein paar Momente verharrte er still, haderte und erschrak, ob seiner grausamen Tat. Doch letztlich beschloss er nach vorne zu sehen und dem Ruf zu folgen, der noch immer laut in seinem Herzen widerhallte.
Der Prinzenvogel, der so lange in seinem Käfig gewartet, der all die Jahre geduldig ausgeharrt, stieg aus dem Fenster und flog – am Vorabend jener Schlacht, die ihm den Throne bringen solle – in die Nacht hinaus, auf der Suche nach weichen, geisterhaften Armen, die ihm Halt versprachen.
Man mag nun annehmen, dass er Ilja nicht antraf. Dass er durch die Wälder irrte, verwirrt, verzweifelt und verloren auf der Suche nach einem Irrlicht, einem Schatten, der ihn genarrt.
Aber er traf sie, fand sie am höchsten Baum, als die Sonne sich in verschämter Röte am Horizont zeigte. Sie schenkte ihm, was sie ihm versprochen, schenkte ihm jeden köstlichen Augenblick, den er sich erträumt. Und sie lachten und scherzten und tollten herum unter den Zweigen, beschienen vom Licht der Sonne, das so schön kribbelte auf des Knaben blasser Haut. Als sie jedoch zur Ruhe kamen, darniederliegend im Gras, und er seinen Kopf auf ihre Brust bettete, erhob sich ein Wind. Ein mächtiger, sturmhafter Wind, der die Bäume, das Gras und die Tiere um sie herum unberührt ließ, Ilja und Ronno jedoch davontrug, verwandelt zu feinem silbernen Staub.
Staub, der sich emporschwang, weit über die Bäume und Häuser, bis hinauf in die Wolken, wo er tauchte wie ein Delphin in des Ozeans Weiten. Ihre Reise aber endete in keinem gesegneten Märchenlande und in keinem romantischen Liebesneste, sondern direkt in den Kerkern von Lord Brostoi, wo Ilja ihren Geliebten fallen ließ wie ein abgestreiftes Kleidungsstück, bevor sie sich vor dem Thron des Usurpators in ihre fleischliche Form zurückverwandelte.
Lord Brostoi nämlich war es, der Ilja beschworen, nachdem es seinen Häschern und gedungenen Kopfgeldjägern nach all den Jahren nicht gelungen war, den Prinzen zu finden. Denn Ilja war eine Lerenga, ein Büchergeist und ihresgleichen ward in jenen Tagen nur noch selten gesehen und ohne die Hilfe seiner kundigen Hexenmeister hätte Brostoi wohl nie einen von ihnen finden können. So aber fand er sie und gab ihr den Auftrag, das zu tun, was seine Männer nicht vermocht hatten: Ronno zu finden und ihn zu ihm zu bringen. Und Ilja, scheinbar gezwungen durch den Spruch der Hexer und besänftigt durch die reichen Opfer, die ihr gegeben worden waren, tat, was ihr geheißen und reiste von Buch zu Buch im gesamten Reich umher, um Ronno zu finden.
Ihr müsst wissen, Lerenga sind keine Spione, sie können weder hören, noch sehen, was um die Bücher, in denen sie stecken, geschieht. Sie können nicht in den Lesenden lesen, aber sie merken, wenn sie gelesen werden und dann können Sie Botschaften senden und die Antworten darauf empfangen. So hatte Ilja ihren Köder ausgeworfen und der Fisch, den sie Brostoi nun brachte, schmeckte ihm gut.
Denn als er auf der Folterbank Filetstück um Filetstück aus ihm herausschneiden ließ, sprudelte nicht nur Blut, sondern auch die Kriegspläne von Sir Gortez und den seinen aus Ronnos bibbernden Munde. Erst als er das letzte Geheimnis offenbart hatte, erlaubte er Ilja die Seele des Jungen zu trinken, die sie als Preis für ihre Dienste gefordert hatte. Dann ließ er den Prinzen köpfen und vierteilen und dessen Überreste auf die Mauern seiner Burg aufspießen. Dort erblickten sie die Männer von Sir Gortez’ Heer im Morgengrauen, noch bevor es aus dem Hinterhalt von einer Übermacht mit Pfeilen, Katapulten und Hexenwerk niedergemacht wurden. Die wenigen Überlebenden verstreuten sich in alle Winde und verbreiteten die Kunde von der verlorenen Schlacht und vom Tod des Prinzen, sodass keine Frau und kein Mann aus dem Volk seine Waffe gegen den Tyrannen erhob oder sein Blut für den entthronten Prinzen verschüttete.
Da frohlockte Brostoi und sein bitterer Mund verzog sich zu einem Lächeln, als er ein großes Fest für seine siegreichen Soldaten und die hilfreiche Lerenga veranstaltete. Ilja aber lächelte nicht, auch wenn sie dem Wein und dem Fleische zusprach und als der Lord in der Nacht in sein Bett torkelte, zu betrunken, sich eine der Dirnen mit in sein Lager zu nehmen, die in seinem Gefolge lebten und litten, folgte sie ihm ungesehen in sein Schlafgemach. Dort nutzte sie die Kraft, die Ronnos Seele ihr gegeben. Sogleich löste sich eine Seite aus dem Buch, in welches sie geschlüpft war, formte sich zu einer breiten, scharfen Klinge aus Papier und fuhr immer und immer wieder auf den schlafenden Brostoi nieder. Sie zerschnitt seine Haut, seine Augen und sein Fleisch und binnen kurzem war der Usurpator eine Blut- und leblose Hülle. Gleiches geschah in dieser Nacht mit allen Hauptleuten Brostois, mit seinem Hexern, seinen Adeligen und seinen Söldnerführern und noch ehe die Sonne ein weiteres Mal aufging, verrotten ihre Leiber zusammen mit denen der Soldaten Sir Gortez’ und ihres ungekrönten, ungeduldigen Prinzen in der milden Morgenluft.
Denn die Zauberkundigen hatten in ihren kryptischen alten Schriftrollen und lückenhaften, ausgebleichten Folianten zwar gelernt, wie man die Lerenga rief, doch nicht, dass sie stets ihre eigenen Pläne verfolgten. Obskur, verborgen und größer als alles, was des Menschen Geist sich denken mag.
Das Schicksal Andernlands jedoch lag nun im Dunkeln, dort, wo der Schoß der Welt seit Anbeginn der Zeit, Bestien und Götter gebiert.”
Als diese letzten Worte aus Großmutters rauem, wulstigen, rissigen Mund dringen und sich wie das Rascheln vertrockneter Blätter im Raum verteilen, ist es, als würde ein schützender Schleier vor meinen Augen langsam weggezogen. Zärtlich, jedoch fast schon mechanisch streichen ihre langen, krummen, feuchten Finger über mein Gesicht und hinterlassen einen feinen, klebrigen Schweißfilm. Ihre dunklen, eingesunkenen Augen starren mich an, als würden sie etwas in mir suchen, was sie nach all den Jahren noch immer nicht gefunden haben. Ihr hängendes, aufgedunsenes Gesicht verzieht sich zu einem Lächeln, für das jeder der schlangenhaften Muskelstränge unter ihrer teigigen Haut alles geben muss.
Ich habe diese Geschichte schon unzählige Male gehört und wann immer sie sie erzählt, kann ich mir fast einbilden, dass Großmutter ein Mensch ist. Doch sobald dieses schablonenhafte, krumme, zitternde Lächeln ihr Gesicht wie eine eiternde Wunde teilt und klobige, schwärzliche Zahnstummel offenbart, die ihrerseits von hunderten, winzigen nadelspitzen Zähnen überwachsen sind, zerbirst die Illusion augenblicklich.
Trotzdem schreie ich nicht, laufe nicht weg, sondern erwidere das Lächeln und lasse zu, dass sie mir einen schleimigen Kuss auf die bebende Wange presst. Es ist Teil des Rituals, unserer stillen Vereinbarung, die ich seit vielen Jahren einhalte. Meine Eltern sind früh gestorben und so bin ich bei meiner Großmutter aufgewachsen, da ich keine anderen Verwandten habe. Auch wirkliche Freunde hatte ich nie gehabt, aber das war in Ordnung. Wirklich allein habe ich mich nie gefühlt, da meine Großmutter immer eine liebevolle und großherzige Frau gewesen ist.
Jedenfalls bis zu dem Tag, an dem sie schwer erkrankte. Sie hatte hohes Fieber gehabt, Husten, Durchfall, Erbrechen. Ich habe sie angefleht einen Arzt rufen zu dürfen, aber sie hat es mir verboten und gesagt, dass sie das mit Kräutern und den richtigen Hausmitteln schon hinbekommen würde. Großmutter hatte nie viel von Ärzten gehalten. Und sie schien recht zu behalten, denn ihr Leiden wurde nach einigen, grauenhaften Wochen tatsächlich besser und einige Tage später war sie in der Lage gewesen, das Bett zu verlassen.
Nur war es zu diesem Zeitpunkt nicht mehr meine Großmutter gewesen, die sich an das Bett meines damals zehnjährigen Ichs gesetzt hatte. Hatte ich ihr verändertes Äußeres anfangs noch ihrer gerade erst überstandenen Krankheit zugeschrieben, waren mir an dieser Annahme schnell Zweifel gekommen. Wo ich über ihr langes und zugleich unglaublich faltiges Gesicht und ihre gekrümmte Gestalt noch hätte hinwegsehen können, so waren ihre Bewegungen zu fremd, zu ruckartig, zu unvorhersehbar, um es ignorieren zu können und spätestens, als sie ihren Mund das erste Mal geöffnet hatte, war eine Krankheit als Erklärung ausgeschieden.
Zudem hatte sie nicht mehr mit mir gesprochen. Kein einziges Wort. Egal, was ich auch zu ihr gesagt habe. Das einzige, was von Zeit zu Zeit über ihre Lippen gekommen war, war ein feuchtes Schmatzen, ein leises Knurren oder ein rasselndes, kratziges Seufzen gewesen. Auch ihr Verhalten war gänzlich anders geworden. War sie früher liebevoll, geduldig und gütig gewesen, lag in ihren Zügen nun eine unnachgiebige, herrische, beinah sadistische Strenge, der zum Hass lediglich jener unbedingte Vernichtungswille fehlte, der mit diesem Gefühl nur allzu oft einhergeht. Ich hatte unvorstellbare Angst vor diesem Wesen gehabt, aber weder damals noch in all den Jahren, die folgten, hatte es mir wirklich etwas angetan. Großmutter – oder was immer sie jetzt auch ist – hat mich nicht gefressen, umgebracht oder gequält, doch in ihrem Blick lag von Anfang an etwas, dass mich glauben ließ, dass es auch anders sein könnte. Deshalb habe ich mich damals nicht bewegt. Nicht geschrien, um sie nicht zu verärgern. Stattdessen bin ich einfach nur liegen geblieben. Vielleicht war es dieser kindliche, instinktive Gehorsam, der mir das Leben gerettet hatte. Ganz sicher aber war er es, der mir das zweifelhafte Vergnügen beschert hatte, der Geschichte von Ronno, Runella und Ilja lauschen zu dürfen.
Denn als ich erzählt habe, dass Großmutter seit ihrer vermeintlich überstandenen Krankheit nicht mehr gesprochen hatte, habe ich zwar nicht gelogen, aber auch nicht hundertprozentig die Wahrheit gesagt. Sie führte keine Gespräche, antwortete nicht auf das, was ich sagte und sprach auch keine Befehle oder Anweisungen aus. Aber ihr Mund war offenbar noch in der Lage Worte zu bilden, denn an diesem Abend – und an jedem Abend, der darauf folgen sollte – erzählte sie mir diese Geschichte. Setzte die Worte aneinander, mit immer denselben Betonungen, mit denselben kleinen Pausen und Stimmvariationen und stets ohne einen einzigen Versprecher oder eine Unterbrechung, nur um bis zum nächsten Tag wieder in vollkommene Stille zu verfallen.
Wenn immer sie ihre Erzählung beendet hat, steht sie auf, verlässt das Zimmer und lässt mich für den Rest meines Tages allein. Mit Ausnahme von zwei kurzen Besuchen zur Mittagszeit und am späten Nachmittag, wo sie mir etwas zu essen und zu trinken hinstellt. Immer handelt es sich um Milch und um zwei Sandwiches mit Gurke, Tomate, Mayonnaise und irgendeinem Fleisch, von dem ich annehme, ja hoffe, dass es sich um Pute handelt. Ob es sich so verhält, weiß ich jedoch nicht. Genauso wenig, wie ich weiß, woher Großmutter die Lebensmittel nimmt, da sie kein Geld hat und ich noch nie beobachtet habe, wie sie das Haus verlässt. Ich frage jedoch nicht nach, einmal, weil ich nicht glaube, dass ich eine Antwort bekommen werde, aber vor allem aus Angst, dass ich doch eine bekomme. Geschadet hat mir das Essen jedenfalls noch nicht.
Heute – mit schätzungsweise vierundzwanzig Jahren – lebe ich immer noch und halte mich für verhältnismäßig gesund, auch wenn ich nicht weiß, wie ich aussehe, da Großmutter schon vor vielen Jahren alle spiegelnden Oberflächen im Haus zerstört und entsorgt hat. Natürlich habe ich mein Gesicht betastet, durch den langen Bart hindurch, der mir inzwischen gewachsen ist. Mir kommt es einigermaßen normal vor, doch ich weiß nicht mehr wirklich, was für Menschen – oder insbesondere für Männer – normal ist. Ich habe seit vierzehn Jahren das Haus nicht mehr verlassen. Es ist nicht so, dass ich keine Gelegenheit dazu gehabt hätte. Wie gesagt, für viele Stunden des Tages lässt mich Großmutter allein und die Tür, die mein Weg in die Freiheit sein könnte, liegt stets zum Greifen nah.
Ich habe mich ihr ein paar mal genährt und ganz selten auch die Hand auf den Türgriff gelegt, aber ich habe es nie übers Herz gebracht, ihn auch hinunterzudrücken. Selbst wenn ich mir hundertprozentig sicher gewesen war, dass sie ruhte oder in einem anderen Zimmer mit irgendetwas beschäftigt war, habe ich das Gefühl gehabt, ihre Blicke auf mir zu spüren. Und dann war da noch die Geschichte. Die Geschichte von Ronno, dem Prinzen, der alles verlor, der sein Leben verlor, als er seine Ziehmutter verriet und dem süßen, lockenden Ruf der weiten Welt folgte. Auch ich höre diesen Ruf, wünsche mir sehnlichst den Wind auf meiner Haut zu spüren, andere Menschen kennenzulernen und zu sehen, was mir auf meinem Weg begegnet.
Aber warum sonst sollte Großmutter mir diese Geschichte wieder und wieder erzählen, wenn nicht als Warnung? Und so ist die Angst davor, die Tür zu öffnen, und diese unausgesprochene Vereinbarung zu brechen, mit jedem Tag der verging, ein wenig größer geworden. Ja, inzwischen hätte es sich verbotener und sündiger angefühlt, als jene Dinge, die ich seit einigen Jahren einem natürlichen Trieb folgend unter meiner Bettdecke anstellte. Dinge, bei denen sich immer wieder Großmutters Gesicht in meine Fantasien schlich, ob ich es nun wollte oder nicht, da ich mich schlicht an keine andere Frau erinnern konnte und nach denen ich mich deshalb immer unglaublich schmutzig und elend fühlte.
Trotzdem konnte ich mich nicht gegen den Drang wehren, von dem ich annahm, dass er unter anderen Umständen durchaus hätte angenehm sein können, wie sicher auch bei Ronno und Ilja vor ihrem Verrat.
Aber das werde ich wohl nie herausfinden. Die Tür ist und bleibt ein Tabu und selbst wenn ich es brechen würde, wüsste ich nicht, ob ich die Chance hätte, jemanden zu finden, der mich mag, als isolierter Sonderling von zweifelhafter Attraktivität. Wie gesagt, da ich schon lange keinen anderen Menschen außer Großmutter mehr gesehen habe – wobei ja auch sie kein Mensch mehr ist – weiß ich kaum, wie ein junger Mann in meinem Alter normalerweise aussieht. Die Erinnerungen aus meiner Kindheit sind mit den Jahren immer blasser geworden. Da wir keinen funktionierenden Fernseher besitzen, keinen Computer, kein Smartphone, nicht einmal Zeitschriften, habe ich auch sonst keine Möglichkeit zu überprüfen, ob meine Kinnlinie, meine Augengröße, meine Wangenknochen oder meine Mundöffnung einer wie auch immer gearteten Norm entsprechen.
Alles, was ich habe, sind Bücher. Hunderte von Büchern, zumeist Klassiker wie “Moby Dick”, “Huckleberry Finn”, “Die Schatzinsel”, “Alice im Wunderland” oder “Der Herr der Ringe”, aber auch neuere Werke, die Großmutter mir manchmal wortlos in mein Regal stellt. Bücher, in denen ich schon oft Trost, Zerstreuung und einen wie auch immer gearteten Sinn gesucht habe. Die Bücher sind meine Freunde, meine Heimat und meine Familie, ganz ähnlich, wie sie es für Ronno gewesen waren. Aber anders als bei Großmutters Geschichte habe ich nicht den Eindruck, dass sie mich einschüchtern oder beeinflussen wollen, denn sie sprechen zu mir mit meiner eigenen Stimme und nicht mit dem strengen, beängstigenden Ton ihrer Blicke.
Trotzdem habe ich mich nicht immer nur in meiner Fantasie vergraben. Manchmal habe ich auch die alten, angegrauten Spitzenvorhänge zur Seite geschoben und versucht wenigstens einen raschen Blick auf die Außenwelt zu erhaschen. Doch vor den kleinen, entspiegelten Fenstern sind inzwischen dichte Sträucher gewachsen und der winzige Sichtbereich, der mir geblieben ist, hat mir nie etwas Interessantes offenbart.
Doch der Blick aus dem Fenster war dennoch nicht das einzige Wagnis, das ich von Zeit zu Zeit eingegangen bin. Ich war nicht immer nur ein braver Junge gewesen. Ab und zu habe ich Großmutter beobachtet. So viel habe ich riskiert, selbst wenn ich mir sicher bin, dass auch dies ein Tabu für mich ist, wenn auch sicher kein so großes, wie das Öffnen der Haustür. Einmal habe ich sie gesehen, wie sie mein Essen zubereitete, wie sie das Fleisch zerteilte, mit einem großen, blutverschmierten Messer und habe für einen winzigen Augenblick geglaubt, dass sich dieses Fleisch von selbst bewegt hätte, was meinen Appetit für einige Tage ziemlich gedämpft hat. Dennoch habe ich auch an diesen Tagen gegessen, schon allein aus Angst, dass Großmutter ahnen könnte, dass ich sie beobachtet habe.
Gelegentlich habe ich sie auch beim Ruhen beobachtet. Ruhen ist das passende Wort, denn sie schläft nicht wirklich, weder in einem Bett, noch in ihrem Sessel. Jedoch gibt es Zeiten, in denen sie … nicht aktiv ist. Zumeist lehnt sie dann wie eine Mumie an der Wand, den Kopf auf die Brust geneigt, ohne dass sich ihr Brustkorb dabei auch nur im mindesten hebt oder senkt.
Vor allem jedoch habe ich sie beim Stricken betrachtet. Was so harmlos klingt, ist alles andere als das. Die wenigen Male, wo ich den Mut aufbrachte, mich im Wohnzimmer an sie heranzuschleichen und mich hinter einer der staubigen, ungepflegten Zimmerpflanze zu verstecken, die die Tür wie stumme Wächter umrahmen, hatte sich mir stets das gleiche, beunruhigende Bild geboten:
Großmutter sitzt im honiggelben Licht der angelaufenen, silbernen Stehlampe in ihrem alten, rissigen, kaffeebraunen Fernsehsessel. Eine gebeugte, aber stolze Gestalt, wie ein verwitterter Baum, deren Rücken immer eine Winzigkeit zu lang erscheint. In ihren langen, feinen Händen liegen zwei graue Stricknadeln, die ihr noch meine Mutter geschenkt hatte. Das jedenfalls hat mir meine alte Großmutter erzählt. Diese Nadeln bewegen sich schnell und präzise, Klacken und Knacken wie die Elemente einer fein austarierten Maschine. Der pechschwarze Faden, den sie um die Nadeln tanzen lässt, ist jedoch weder aus Wolle, noch aus Baumwolle oder Kunststoff gemacht. Stattdessen scheint er aus einem glänzenden, organisch anmutenden Material zu bestehen, welches nicht einfach passiv dem Diktat der Nadeln folgt, sondern sie unterstützt, sich anschmiegt und ihre Bewegungen vorauszuahnen scheint. Ich bin mir nicht sicher, aber auch wenn ich sie stets nur von Hinten beobachten konnte, glaube ich, dass dieser Faden aus ihr selbst entspringt. Wie bei einer Spinne.
Was genau sie da strickt, welches seltsame Kind sie aus dem klackenden, transformierenden Schoß ihrer Nadeln hervorpresst, weiß ich nicht. Aber ich kenne das längliche, dünne Strickstück, das sie produziert hat. Komplizierte Muster, deren Verlauf mich schwindeln lässt und knotige, wulstige Verdickungen, die fast so wirken, als würden sie nicht nur das Bewegungsmoment der Nadeln nachvollziehen, sondern sich aus eigener Kraft bewegen, pochen und pulsieren wie kleine, dunkle Herzen. Dabei fällt ihr Werk nicht einfach auf den dicken, von Staubmäusen übersäten Teppichboden, sondern in ein etwa ein Meter breites, kreisrundes Loch, welches einfach so im Laminat klafft. Dort senkt sich ihr Strickstück hinab, tropft hinunter wie schwarzes Wasser und wächst nun schon seit vielen Jahren. Was immer sie dort strickt, muss inzwischen Millionen von Kilometern lang sein.
Ich frage mich schon lange, wie tief dieses Loch ist, was sich dort unten befindet und natürlich ganz besonders, wozu Großmutters Strickerei dient. Diese Fragen treiben mich umso stärker um, da sie in den letzten Wochen noch schneller, noch fieberhafter strickt, als je zuvor. So fieberhaft, dass ihre alte Haut manchmal von muffigem, öligen Schweiß bedeckt ist. Doch da mich allein diese Beobachtungen schon viel Überwindung gekostet haben, habe ich mich nie getraut diesen Fragen auf den Grund zu gehen.
Inzwischen hat Großmutter wieder mein Bett verlassen und sich einmal mehr ins Wohnzimmer zurückgezogen, wahrscheinlich um weiter an ihrem unbekannten Werk zu arbeiten.
Früher habe ich, nachdem sie ihre Geschichte zu Ende erzählt hatte, oft die Fenster aufgesucht, mir eines der Bücher herausgenommen oder bin in meinem Raum auf- und abgegangen. Aber in letzter Zeit bin ich oft müde und ausgelaugt und manchmal befällt mich ein beunruhigender Schwindel oder meine Sicht ist für einige Zeit undeutlich und verschwommen, bevor schließlich meine gewohnte Sehkraft zurückkehrt. Deshalb schlafe ich inzwischen häufiger und länger und beschließe es auch an diesem Abend so zu halten.
Schon kurz nachdem sich meine Augenlider schließen und die dunklen Echtholzmöbel, die schmutzigen Porzellanpuppen, die geblümten Lampenschirme und den durch das Zimmer wirbelnden Staub ausblenden, sinke ich in einen traumlosen Schlaf.
Als ich erwache, hat das Klacken und Klicken ihrer Nadeln geendet und eine vollkommene Stille liegt über unserem Haus. Der Schlaf hat mir dabei nur wenig Erholung gebracht, aber doch genug, um diesem Phänomen auf den Grund gehen zu können. Seit Großmutters Veränderung, aber auch schon davor war es in unserem Haus praktisch nie still gewesen. Immer hat es das Geräusch der Nadeln, das Pochen des Messers auf der Arbeitsplatte, das Geräusch von schlurfenden Schritten oder zumindest das rasselnde Atmen und Schnarchen der alten Frau gegeben. Nun war all dies fort und alles, was ich hörte, war das unendliche fern wirkende Knarren und Rascheln der Sträucher, die unser Haus in ihre grüne Umarmung genommen haben.
Ich stehe mühsam auf, wobei auch meine eigenen Glieder knarzen wie altes Holz und stolpere vorsichtig und unsicher auf das Wohnzimmer zu, in dem Großmutter seit vierzehn Jahren ihr uneingeschränktes Regiment hält. Wie so oft verstecke ich mich hinter den Pflanzen und wage zunächst nur einen verstohlenen Blick, da ich mir fast sicher bin, dass dies hier ein Test ist. Ein Test, um meine Loyalität zu den ungeschriebenen Gesetzen zu prüfen, an die ich mich so lange zumindest einigermaßen gehalten habe. Doch ich kann niemanden sehen. Der Sessel steht verwaist vor dem seltsamen Loch, dem Großmutter so lange ihre Handarbeit dargebracht hat und die karierte, filzige Decke, die meist über ihren dünnen Beinen gelegen hatte, liegt nun wie eine abgestreifte Haut auf dem Boden. Neben dem Sessel, auf einem kleinen gläsernen Beistelltisch steht – schmutzig und verstaubt – das silberne, kitschige Schmuckei, das sie vor Jahren auf einem Trödelmarkt gekauft hatte und das sich wunderbar in ihre beachtliche Sammlung billiger und klobiger Dekoartikel einfügt, die die Regale und Tische verstopfen.
Ich werde mutiger und trete aus dem Schutz der Zimmerpflanzen heraus, blicke hinter die mächtigen Schränke, unter den Fichtenholztisch, in jede einzelne Zimmerecke und sogar an die Decke, wo die schmutzige Glühbirne ihr mattes Licht über den Raum verteilt. Schließlich bleibt mein Blick wieder an dem Loch hängen, dessen saugender Abgrund sanft, aber bestimmt nach mir zu rufen scheint und aus dem noch immer ein Teil von Großmutters seidigem Strickstück ragt.
Noch aber gebe ich diesem Ruf nicht nach. Noch immer halte ich es für möglich, dass Großmutter mich beobachtet, schon allein weil ich tatsächlich das ganz handfeste, greifbare Gefühl habe, dass fremde Blicke auf mir ruhen.
Also mache ich mich stattdessen auf den Weg in die Küche, wo Großmutters scharfes Fleischermesser in einer kleinen Lache aus hellrotem Blut auf der Arbeitsfläche liegt. Danach gehe ich in ihr Schlafzimmer, dessen Wände über und über mit kleinen weißen Spitzendeckchen behangen sind, die sich wie ein Schleier über meine Kinderfotos und die Bilder meiner Eltern gelegt haben. Bilder, deren Motive Großmutter schon vor langer Zeit bis zur völligen Unkenntlichkeit zerkratzt und mit Öl verschmiert hat, ohne sie jedoch abzuhängen.
Zuletzt suche ich unsere Toilette auf, die Großmutter eigentlich nie verwendet und deren Spülung schon lange nicht mehr richtig funktioniert hatte, sodass ich immer einen Eimer Wasser hatte hinterher schütten muss, wenn ich mein Geschäft erledigt habe.
Schließlich gibt es keinen Raum, kein einziges Fleckchen in unserer Wohnung mehr, das ich nicht untersucht habe und doch habe ich weder sie, noch einen anderen Hinweis auf ihren Verbleib entdecken können. So bleiben mir also nur drei Möglichkeiten. Ich könnte abwarten, ob Großmutter zurückkehrt, durch die Tür in die Außenwelt flüchten oder in das finstere Loch hinabklettern, in dem sie – höchstwahrscheinlich – verschwunden ist. Das Warten wäre wohl am vernünftigsten, aber nach all den Jahren, die ich – wie Ronno – in denselben vier Wänden verbracht habe, habe ich schlicht keine Lust mehr zu warten. Ich spüre, dass etwas passieren muss und die Schwäche, der Schwindel bereiteten mir Sorge, genauso wie der Gedanke, dass Großmutter nie mehr zurückkehren könnte, um mich zu versorgen und sich um mich zu kümmern. Dann also nach draußen? Das uralte Tabu brechen? Doch was dann? Würde man mich dort überhaupt akzeptieren und würde Großmutter mich finden und mich für meinen Ungehorsam bestrafen? Je länger ich darüber nachdenke, desto mehr komme ich zu dem Schluss, dass das, was hinter dieser Tür wartet, mir mehr Angst macht, als der finstere Abgrund im Wohnzimmer. Was würde Ronno tun, frage ich mich und finde schnell eine Antwort: Er würde nach Draußen gehen und es wäre das Falsche.
Vielleicht war es das, was Großmutter mir mit dieser Geschichte sagen wollte. Vielleicht ist mir dieses Loch nicht verboten, sondern ist ganz im Gegenteil meine Bestimmung. Eine Bestimmung, der ich folgen muss, wenn ich nicht verhungern und vereinsamen will.
Schwer atmend und nervös gehe ich zurück ins Wohnzimmer. Ich knie mich hin und streiche über das seidige, schwarze Gespinst, dehne es, um zu prüfen, ob es mich halten wird. Dabei stelle ich fest, dass es zwar weich, aber stabil und dehnbar ist, ziehe ein Stück davon heraus und befestige es erst an meiner Hüfte und dann mit mehreren Knoten am Griff der Wohnzimmertür. Der Gedanke, dass das, was ich um meinen Körper trage, einst ein Teil von Großmutter war, bereitet mir Unwohlsein. Zudem weiß ich nicht, ob die Tür mein Gewicht halten wird, aber versuchen muss ich es.
Sobald ich mein Werk vollendet habe, beginne ich den Abstieg und sterbe einen kleinen Tod, als ich meine Hände vom Rand des Lochs löse und plötzlich mein ganzes Gewicht an dem Gespinst hängt. Doch meine improvisierte Sicherung hält und während ich das Strickstück anfangs noch wie ein Seil benutzen muss, an dem ich mich mit Füßen und Händen festklammere, verbreitert und verzweigt es sich schließlich so weit, dass ich es zunächst wie eine Strickleiter und letztlich wie ein Klettergerüst benutzen kann. Anfang erfühle ich all das nur, da die Dunkelheit fast absolut ist, dann jedoch stelle ich fest, wie diese Dunkelheit vor meinen Augen zurückweicht. Doch nicht, weil in diesen unauslotbaren Tiefen irgendein Licht erstrahlt. Es ist vielmehr so, als könnte ich die Dunkelheit mit einem Mal allein mit meinen Augen durchdringen wie Nebelscheinwerfer bei dichten Nebel. Ich sehe dabei jedoch nicht so, wie ich an der Oberfläche gesehen habe, sondern im kontrastreichen, aber entsättigten Schwarz-Weiß.
Die Kletterpartie dauert länger als erwartet, doch während mir das Hinabhangeln an den über rauen Fels gespannten Schnüren anfangs noch Schwierigkeiten bereitet, fällt es mir mit jeder Sekunde, die verstreicht, leichter. Der Schwindel und die Benommenheit sind verflogen und auch meine durch jahrelanges herumliegen und sitzen geschwächten Muskeln bewegen sich plötzlich flink und geschmeidig. Schließlich, womöglich nach Stunden des Kletterns, erreiche ich den Boden. Dort breitet sich Großmutters Strickstück wie ein Teppich in alle Richtungen aus und verliert sich in den Tiefen einer gigantischen Höhle, die an dieser Engstelle vielleicht zehn Meter breit ist, sich jedoch in beide Richtungen schnell verbreitert.
Ich blicke mich um, sehe jedoch nichts weiter als schwarze Strickmuster und helleren, grauen Fels. Mit einer Ausnahme. Ein großer, dunkler Schatten klettert in diesem Moment an der gegenüberliegenden Wand herunter und eine Welle aus Aufregung und Panik durchfährt mich.
“Großmutter?”, frage ich ängstlich, nicht weil ich wirklich glaube, dass sie es sein könnte, sondern weil ich seit Langem kein anderes Wesen mehr gesehen habe.
Doch das Gesicht der Frau, die sich zu mir umdreht, ist nicht faltig. Nicht runzelig und verlebt, sondern jung, glatt, kraftvoll und eingerahmt von einem weichen Kranz aus schwarzen Haaren, die aus ihrem ein wenig zu groß wirkenden Kopf sprießen. In ihren Augen aber sehe ich Angst, Abscheu womöglich, während sie hastig ein paar Schritte zur Seite geht.
“Du brauchst keine Angst zu haben”, sage ich, der vor Angst selbst kurz davor ist zu zerschmelzen, “ich will dir nichts tun. Wie heißt du?”
“Nina”, antwortet sie mit einer tiefen, doch unverkennbar weiblichen Stimme, in der nur ein wenig Unsicherheit mitschwingt, “und ich habe keine Angst. Nicht vor dir.”
“Warum weichst du dann zurück? Ist es, weil ich hässlich bin?”, bringe ich den Mut auf, eine meiner größten Sorgen auszusprechen. Gleichzeitig bin ich vollkommen fasziniert von diesem seltenen Anblick einer Person, die nicht Großmutter ist. Es ist fast so, als würde ich eine Märchenfigur treffen.
“Nein”, sagt Nina in einem Tonfall, der fast ein ‘Ja’ daraus macht und etwas in mir zerbirst. Dennoch geht sie wieder einen Schritt auf mich zu. “Wie heißt du?”, fragt die junge, großgewachsene Frau mit der makellosen, weißen Haut.
Ich muss kurz über diese Frage nachdenken. “Stefan”, sage ich schließlich jenen Namen, mit dem mich so lange niemand mehr angesprochen hat, den ich jedoch gehütet habe, wie einen geborgenen Schatz aus dem Wrack meiner Kindheit.
“Und was machst du hier, Stefan?”, fragt Nina noch immer etwas reserviert, aber mit einem freundlichen, offenen Lächeln.
“Ich suche nach meiner Großmutter”, entgegne ich.
“Das ist ein seltsamer Zufall”, antworte Nina und kommt mir so nah, dass uns nur noch etwa ein halber Meter trennt. Abscheu und Freundlichkeit kämpfen in ihrem Gesicht einen erbitterten Kampf, den die Freundlichkeit knapp gewinnt, “ich suche meine auch … oder … oder das, was aus ihr geworden ist.”
“Hat sie auch … diese Zähne?”, stottere ich, noch immer überwältigt von der Erfahrung, einen anderen Menschen zu treffen, der noch dazu weiblich ist und womöglich fast dieselben Dinge erlebt hat wie ich.
“Ja, die hat Sie”, antwortet Nina amüsiert, auch wenn ein flüchtiger Schatten des Grauens über ihr Gesicht huscht, “und sie strickt wie eine Wahnsinnige und ist unglaublich wortkarg und …”
“… erzählt dir jeden Tag die Geschichte von Ronno”, vervollständige ich den Satz, irgendwie erleichtert, dass ich nicht der Einzige bin, dessen Leben von diesem Märchen geprägt ist.
Doch Nina schaut zwar verblüfft, schüttelt dann aber den Kopf. “Nein, nicht ganz”, antwortete sie, “Ronno, der verborgene Prinz, kommt zwar auch darin vor, aber eigentlich ist es die Geschichte von Ilja, der Befreierin, die ich unzählige Male gehört habe.”
“Bemerkenswert”, sage ich nachdenklich, “scheint so, als hätten unsere falschen Großmütter etwas andere Schwerpunkte gesetzt.”
“Scheint so”, kommentiert Nina, während sie grübelnd durch mich hindurchsieht.
“Was tun wir jetzt?”, frage ich sie ein wenig ratlos.
“Wie meinst du das?”, erwiderte Nina.
“Nun, wir müssen unsere Großmütter nicht suchen”, überlegte ich laut, “immerhin sind sie Monstren, die irgendwie unsere eigentlichen Großmütter ersetzt haben. Eigentlich schulden wir ihnen gar nichts.”
Nach all den Jahren, in denen ich mich in Gehorsam geübt habe, schockieren mich diese Worte selbst. Aber allein die Anwesenheit Ninas, die Gegenwart eines Gegenübers beflügelt mich und reißt mich aus dem Tunnelblick, mit dem ich fast mein gesamtes Leben betrachtet habe. Doch Nina scheint weniger begeistert von meiner Äußerung.
“Sie haben uns beschützt und ernährt”, widersprach Nina, “all die Jahre. So wie es Iljas Mutter getan hat, als die Tintenteufel nach ihr greifen wollten. Wir schulden ihnen eine Menge.”
“Du liebst sie?”, frage ich überrascht, wo ich doch Großmutters Regiment allein aus Angst und Feigheit ertragen habe.
“Das vielleicht nicht”, erwidert Nina, “dafür hat sie mir zu viel Angst gemacht. Aber ich respektiere sie und bin ihr dankbar. Und deshalb will ich wissen, was mit ihr geschehen ist und natürlich auch, woran sie all die Jahre so manisch gearbeitet hat.”
“Hast du nie darüber nachgedacht zu fliehen. Nach draußen, in die Freiheit?”, will ich von ihr wissen.
“Gelegentlich”, gesteht Nina ein, “hast du es denn getan?”
“Gelegentlich”, antworte ich.
“Und dennoch bist du mit mir hier unten, warum?”, fragt Nina.
“Feigheit”, erwidere ich ehrlich, “und ein wenig Neugier.”
“Entweder das”, sagt Nina lächelnd und machte dabei eine ausgreifende, mystisch anmutende Geste, “oder es war Schicksal.”
~o~
Trotz unserer Differenzen entscheiden wir, uns gemeinsam auf die Suche nach unseren Großmüttern zu machen und die weitläufige, mit Strickmustern gepflasterte Höhle zu erkunden. Unterwegs tauschen wir uns über unseren bisherigen Alltag aus, der sich in einigen Nuancen unterschied.
So bekam Nina etwa dreimal am Tag ein viel reichhaltigeres Mahl serviert, als ich und im Gegensatz zu mir hatte sie ihre Großmutter kein einziges Mal beobachtet, wenn sie es ihr nicht ausdrücklich erlaubt hatte. Im Gegensatz zu mir war es ihr allerdings gestattet gewesen, ihrer Großmutter beim Stricken zuzusehen. Mehr noch, sie hatte sie sogar ermutigt es zu tun und so hatte Nina manche der Handgriffe gelernt, die ihre Großmutter bei ihrer Arbeit verwendet hatte. Dennoch hatte ihre geheimnisvolle Mentorin mit ihr genauso wenig gesprochen wie meine mit mir. Das zumindest erzählte Nina mir, auch wenn mir auffiel, dass sie um so einsilbiger wurde, je genauer ich sie zu den Strickwerken befrage, auf denen wir uns gerade bewegen und deren größten Verdickungen wir mangels einer anderen Orientierung folgen.
Passenderweise eröffnet sich uns gleich ein neues Gesprächsthema, als plötzlich an den Wänden mehr und mehr Bücherregale auftauchen, die direkt in das Gestein gehauen sind und die sich teilweise bis in mehrere Meter Höhe erstrecken. Wir untersuchen die Regale genauer und entdecken neben uns bekannten Romanen und Sachbüchern auch viele unbekannte Titel und noch dazu viele Bücher, deren Seiten und Einbände vollkommen leer sind. Weder sie noch ich haben die geringste Ahnung, was diese gut gefüllten Regale hier so weit unterhalb der Erde machen, wer sie dort hingestellt hat und welchem Zweck sie dienen. Aber dafür geraten wir schnell ins Plaudern und als wir uns über die vielen Geschichten unterhalten, mit denen wir unseren Tagen Leben eingehaucht haben, blüht sie regelrecht auf. Dabei stellen wir fest, dass wir beinah dieselben Lieblingsgeschichten und Charaktere haben, und als ich mich sogar dazu hinreißen lasse, meine Stimme zu verstellen und ganze Monologe zum Besten zu geben, um die bedrohliche, beklemmende Atmosphäre zu vertreiben, fängt sie an zu lachen und versucht sich gleich selbst daran. Sie macht das gut, besser sogar als ich, selbst wenn es ihr nicht so gut gelingt dabei ernst zu bleiben.
“Schade, dass wir uns nicht früher kennengelernt haben”, sagt sie und als ich diese Worte höre, schlägt mein Herz etwas schneller. Für einen Moment spüre ich etwas, von dem ich mich frage, ob es vielleicht Liebe sein könnte, so wie sie immer in den Büchern beschrieben wird oder wenigstens so etwas wie Verliebtheit oder Schwärmerei.
“Es ist nie zu spät”, sage ich betont lässig und streichle ihr sanft über ihren Arm.
Sofort weicht sie zurück und die Leichtigkeit zwischen uns ist wie weggeblasen.
“Tut mir leid”, sage ich enttäuscht und peinlich berührt, “das hätte ich nicht tun sollen.”
“Schon okay …”, murmelt sie, “es ist nur …”
“… weil ich dir nicht gefalle”, entfährt es mir, auch wenn selbst mir bewusst ist, dass mein Verhalten viel zu forsch war.
“Wirklich, nein … ich … ich weiß nicht genau, wie … wie Männer aussehen sollten. Es ist nur ungewohnt”, erwidert Nina, “lass uns einfach weitergehen.”
Sie spricht diese Worte versöhnlich, doch mein Selbstbewusstsein sinkt nun endgültig in sich zusammen und aus unserer ungezwungenen Plauderei wird ein zähes, peinliches Schweigen, durch das sich die lauernde, drückende, bedrohliche Stille um uns noch besser Gehör verschafft. Ich halte es inzwischen längst nicht mehr für eine gute Idee hier hinabgestiegen zu sein und spiele ernsthaft mit dem Gedanken zurückzulaufen, das Seil hinaufzuklettern und zu fliehen. Scheiß auf Großmutter, denke ich mir in einer ungewohnt rebellischen Attitüde.
Zunächst ist es Ninas trotz allem verlockende Gegenwart, die mich davon abhält, dieses Vorhaben in die Tat umzusetzen. Als ich mich jedoch gerade dazu durchgerungen habe, es dennoch zu wagen, macht ein vollkommen faszinierender Anblick meine Pläne zunichte.
“Da vorne ist Licht. Tageslicht”, spreche ich das Offensichtliche aus, und beziehe mich auf den Eingang zu einer kleineren Höhle, in dem die verschiedenen Strickmuster zu einem einzigen, dichten Geflecht zusammenlaufen und aus dem nicht nur heller, freundlicher Sonnenschein hervorstrahlt, sondern auch sattes, grünes Gras zu erkennen ist.
“Ja, ich glaube, du hast recht”, stimmt mir Nina zu, “Aber hier unten? Wie soll das möglich sein?”
“Finden wir es heraus”, sage ich, da mich trotz einer nicht zu leugnenden Angst auch eine heftige Neugier packt.
Vorsichtig bewegen wir uns auf die Tageslichthöhle zu, immer in Erwartung dabei aufgehalten zu werden oder sonst eine böse Überraschung zu erleben. Seien es erzürnte, unmenschliche Großmütter oder noch unbekannte Bedrohungen und Gefahren. Doch als wir das weiche Gras betreten und den warmen Sonnenschein auf unserer Haut spüren, der von einer gewöhnlichen, in einen blauen Himmel eingebetteten Sonne zu uns hinunterscheint, können wir nichts Schreckliches entdecken.
Alles, was wir dort sehen, ist eine mit Butterblumen übersäte Wiese, in deren Boden dutzende von reich verzierten Schwertern stecken, sowie charismatische, aber sehr menschlich wirkende Frauen unterschiedlichen Alters und in schwarz-weiß-karierten Kleidern. Die Frauen sitzen nebeneinander auf kleinen, knorrigen Hockern und verknüpfen die unzähligen Muster, die in die Höhle hineinlaufen, zu einem noch größeren und vielschichtigeren Muster, welches – kaum da es ihre Hände verlässt – wie von Zauberhand emporsteigt und sich wie die Bohnenranke aus dem Märchen in den Weiten des Himmels verliert.
“Willkommen …”, begrüßt uns die erste, junge Frau, deren blondes Haar zu komplizierten Zöpfen geknotet ist, hell und freundlich.
“… im Reich …”, fährt eine dunkelhaarige Frau mittleren Alters mit schwarzer, grau melierter Lockenpracht und neutraler Stimme fort.
“…des Morgens”, endet die dritte, älteste, streng, die nur ein wenig jünger aussieht, als Großmutter und deren weißen, dünnen Haare offen über ihre Schultern fallen.
“Das zersprungene Orakel”, flüstert Nina mit blassem Gesicht.
“Was meinst du?”, frage ich verwirrt und betrachte die drei Frauen, hinter deren Rücken sich ein schwerer, schwarzer Webvorhang befindet, mit Misstrauen. Ihre Augen scheinen direkt in mich hineinzusehen und je länger sie mich betrachten, desto unsicherer bin ich mir, ob dieser Blick ein freundlicher ist.
“Aus der Geschichte”, erklärt Nina, “das Orakel hat Ilja und ihrer Mutter dabei geholfen, Prinz Ronno zu finden und aus seinem Versteck zu locken. Großmutter hat sie etwas anders beschrieben und sie lebten auch nicht im Untergrund, sondern im Raum zwischen den Buchstaben, aber trotzdem passt es irgendwie.”
“Seid gegrüßt”, antwortet sie den drei Frauen laut, “was habt ihr zu geben?”
“Eine Richtung”, beginnt die Junge.
“Einen Weg”, sagt die Mittelalte.
“Ein Ende”, schließt die Älteste.
Ich bemerke, wie sich der Vorhang bewegt, so als fege ein Wind durch die Lichtung und für einen Moment glaube ich irgendeinen Schemen dahinter zu erkennen. Bevor ich mir jedoch darüber Gedanken machen kann, blitzt eine sengendheiße Wut in mir auf, die sich in all den Jahren in mir aufgestaut hat.
“Was soll das alles bedeuten? Hört auf, so in Rätseln zu sprechen! Ich will Antworten! Wo ist Großmutter? Warum wurde sie ersetzt? Was macht ihr hier unten? Warum wurden wir unser Leben lang gefangengehalten? Was hat es mit dieser Geschichte auf sich? REDET ENDLICH!”
Die letzten Worte schreie ich und Nina sieht mich entsetzt an. Aber das vermeintliche Orakel bleibt ruhig.
“Der Recke erwacht zu seinem Zwecke”, sagt die Junge.
“Die Maid ist hungrig und bereit”, meint die Mittlere.
“Das Rad rotiert und holt sich die Saat”, verkündet die Älteste.
“Es reicht!”, brülle ich, reiße eins der Schwerter aus dem Boden, stürme damit auf die Mittlere der Frauen zu und schwinge – ohne wirklich darüber nachzudenken – das Schwert mit Wucht gegen ihren Hals.
Doch ehe ich den Schwung zu Ende bringen kann, hebt sie die Hand und hält mein Schwert auf, ohne die geringste Verletzung davonzutragen. Gleichzeitig öffnet sich ihr Mund gemeinsam mit denen der beiden anderen. Sie alle offenbaren dieselben spitzen Zahnreihen, die ich bei Großmutter beobachtet habe und sprechen zu mir, zu uns, mit einer einzigen verwirrenden Stimme.
“Du willst Antworten, Prinz der Ungeduld?”, sprechen die drei, “dann höre und sehe sie wohl! Höret und sehet sie beide!”
Mit einem Mal fällt der Vorhang hinter den Dreien und enthüllt eine schleimige, gigantische Monstrosität. Gekrönt von einem großen, faltigen, aufgedunsenen, von fadendünnen, schwarzen Haaren eingerahmten Kopf. Ein Kopf, welcher einst einer menschlichen Frau gehört haben mag und von dem sich eine Kaskade weichen, fahlen, fettig glänzenden Fleisches bis zum Boden ergießt, wo dünne, haarige Spinnenbeine aus der eklen Leibesmasse herausragen. Arme oder Klauen besitzt die Kreatur nicht, aber ganz vorne aus dem Fleischgebirge ragt eine dicke, wulstige Röhre, vor der sich ein Haufen silbern glänzender Eier stapelt. Eier wie das, welches ich auf dem Tisch in Großmutters Wohnzimmer gesehen hatte.
Die mittlere Frau erhebt die gleichgültige Stimme, ohne ihre Arbeit zu unterbrechen:
“Dies ist die Wahrheit,
die Rettung der Welt
die in Hass, Unterdrückung
und Chaos zerfällt.
Wir verbinden die Muster
und der Königin Brut,
gibt uns helfende Hände
und erquickendes Blut.
Ihre Eier gelangen
durch das Netz in die Welt,
wo sie warten und bangen,
bis ein Weib sie erhält
Sie muss stricken und stricken,
und das Schicksal ernähren.
Muss die richtigen pflegen
und die falschen verzehr’n.
Während wir fleißig knüpfen
und der Schoß stets gebärt,
neue Großmütter schlüpfen
und der Zeitlauf fortfährt
haben Dichter Ideen
und Autoren Gewicht
dass der Herrscher im Sinn
ihrer Sagen wohl spricht
Dass das Leid bleibt in Grenzen
und der Schrecken gezähmt
Dass der Kleinste beflügelt
und der Größte gelähmt
Dafür schlüpfen die Boten
aus dem fruchtbaren Schoß
Dafür leidet sie Schmerzen
und erduldet ihr Los
Doch ihr Leib ist nun müde
und ihr Schicksal erfüllt.
So schon bald keine Frucht
aus dem Schoße mehr quillt.
Die Prinzessin muss fressen
und der Prinz zahlt den Preis.
Sie muss wachsen und pressen,
wenn sein Fleisch in ihr kreist.
Denn die Welt ist erschüttert
und damit sie nicht fällt.
Weben wir ihr ein Netz,
das das Leben erhält”,
“Ihr … ihr wollt, dass ich ihn … dass ich Stefan fresse und zu dem da werde?”, fragt Nina schockiert, nachdem sie die Worte einen Moment lang hat auf sich wirken lassen.
“Dies oder das Elend für alles, was lebt,
ein Tanz in den Abgrund, der niemals vergeht.
Wir flehen und hoffen, dass ihr uns versteht.
Dass die Jahre des Lernens ihr nicht übergeht”
sagt die junge Frau mit zarter, zerbrechlicher Stimme. “Weg hier!”, rufe ich, trete langsam ein paar Schritte zurück und halte das Schwert schützend vor mich, “nichts wie weg hier, Nina. Diese Frauen sind wahnsinnig!”
Ich wechsle einen kurzen Blick mit Nina, sehe sie zögern und frage mich voller Entsetzen, ob sie tatsächlich darüber nachdenkt mich zu verspeisen, wie auch immer ihr das gelingen soll.
Schließlich aber nickt sie. “Niemals. Was ihr verlangt, kann und will ich nicht tun”, widerspricht sie dem Urteil des Orakels und so nehmen wir beide die Beine in der Hand in der Hoffnung, nicht von den drei unheimlichen Frauen oder diesem Ding, welches sie Königin nennen, verfolgt zu werden.
Und das geschieht auch nicht. Lediglich die leiser werden Stimme der Alten, Gehässigen verfolgt uns wie ein Schwarm verfluchter Raben.
“Das Muster wird zerfasern, die Hoffnung wird vergehen
Ein jedes Ding wird fallen ins teuflische Extrem
Die Zukunft wird zersplittern und in der Scherben Kreis
Zerschneiden alle Pfade, zerbrechen jeden Geist.”
Na und? Dann ist es eben so, denke ich zynisch und kann noch immer nicht glauben, dass dies der Grund, die Essenz meiner jahrelangen Isolation und Angst sein soll. Futter zu werden. Ein Opfer, ein braves Lamm, dass zum Wohle der Menschheit geschlachtet werden soll. Falls es überhaupt zum Wohle der Menschheit geschieht. Fast alles, was ich über die Welt dort draußen weiß, habe ich aus Büchern, von denen viele sehr alt waren. Viele davon sind natürlich reine Fiktion, aber andere besitzen einen historischen Bezug, und so weiß ich, dass es Armut in der Welt gab und gibt, Ungerechtigkeit, Tyrannen, Morde, Psychopathen, Verrat, Geisteskrankheiten, Selbstmorde, Angst, schwärzeste Trauer. Wenn diese Frauen tatsächlich ein Netz weben, um die Welt im Gleichgewicht zu halten, machen sie einen verdammt beschissenen Job.
“Wohin jetzt?”, höre ich Nina fragen, während wir die unselige Höhle hinter uns zurücklassen.
“Zurück zur Oberfläche und dann hinaus in die weite Welt”, sage ich entschlossen, “dort kann es nicht schlimmer sein, als hier.”
“Was ist mit unseren Großmüttern?”, fragt Nina.
“SCHEISS AUF SIE!”, brülle ich wütend, “Scheiß auf sie und dieses unselige Orakel. Es sind Monster. Ungeheuer, die uns ausnutzen und manipulieren. Sollen sie hier unten verrotten.”
“Aber was, wenn sie recht haben?”, wendet Nina ein, “was, wenn die Welt zum Albtraum wird, wenn wir unser Schicksal nicht annehmen.”
“Bist du eine Kannibalin? Willst du mich töten und zerfetzen? Hast du Lust auf mein Fleisch?”, frage ich provokant.
“Nein”, erwidert sie kopfschüttelnd, “natürlich nicht. Ich meine, ich … ich … aber trotzdem. Das Muster könnte sich wirklich auflösen, so wie sie gesagt haben. Es könnte zerfasern und dann …”
Ich kann nicht glauben, was ich da höre. “Das Muster?”, gifte ich mit zornesrotem Gesicht, “weißt du, was ich mit deinem tollen Muster mache?”
“Nein!!”, schreit Nina, die mein Vorhaben erahnt, noch bevor ich es in die Tat umsetze.
Doch sie kann mich nicht aufhalten. Getrieben von einem mächtigen Wutimpuls hebe ich mit dem Schwert auf einen der dickeren Stränge des Musters ein und lege meine gesamte Kraft in den Hieb. Der Strang zerreißt und hellblaues Blut quillt daraus hervor, während sich die beiden losen Enden in dünne, weiße Fäden auflöst, die wie abgebrannte Kerzendochte zu Boden sinken. Die Auswirkungen des Hiebes setzen sich in einem Umkreis von einigen Metern fort und lassen das dort geknüpfte Muster verdorren, bevor der Effekt schließlich abebbt. Ein kurzes, schwaches Erdbeben fegt daraufhin durch die gesamte Höhle, lässt einige Bücher aus den Regalen fallen und etwas Staub von der Decke rieseln, bevor es sich zu einem steten, kaum wahrnehmbaren Vibrieren abschwächt.
“Du Wahnsinniger! Warum hast du das getan?”, frag Nina mit zitternden, bebenden Lippen.
“Ich weiß es nicht …”, gestehe ich ein, “… aber es hat gutgetan, fast als würde ich Fesseln zerschlagen, die meine Hände seit Jahrtausenden binden.”
Tatsächlich fühle ich mich für einen Augenblick unglaublich frei, doch das Gefühl hält nicht lange an. Kurz darauf fühle ich mich wieder wütend, verraten und beengt und möchte nichts weiter als diesen Ort zu verlassen. Ohne darauf zu achten, ob Nina mir folgt, gehe ich voran, beschleunige meine Schritte und renne wie auf Schienen über das Muster, in der Hoffnung möglichst bald den Eingang wiederzufinden.
Nach einer Weile bemerke ich, dass Nina nun doch zu mir aufzuschließen versucht und plötzlich macht mir diese Tatsache Angst, ja treibt mich dazu noch schneller zu laufen, um zu verhindern, dass sie mir zu Nahe kommt. Als sie dann dennoch wieder mein peripheres Blickfeld betritt, wird diese Angst noch stärker. Unwillkürlich frage ich mich, ob sie schon immer so groß gewesen war und ob vorhin auch schon dieser wütende, fieberhafte Glanz in ihren Augen gelegen hatte.
Zu allem Überfluss bemerke ich nun auch noch, dass ich die Orientierung verloren habe. Eigentlich habe ich seit dem Betreten dieses unterirdischen Komplexes versucht mir den Verlauf des Musters einzuprägen, aber jetzt erkenne ich nichts davon wieder. Und auch die Bücherregale bieten mir keine Orientierung, da sich keine der Wände mehr in meinem Sichtfeld befindet. Bin ich einfach nur falsch abgebogen oder hat es etwas mit meinem impulsiven Angriff auf das Muster zu tun? Hat sich das Muster dadurch verändert? Und die Höhle selbst womöglich auch?
“Hast du eine Ahnung wo wir sind?”, überwinde ich mich Nina zu fragen und bleibe stehen, um mich nicht noch mehr zu verlaufen.
“Nein”, antwortet Nina gereizt und nun, wo ich sie genauer betrachte, wirkt sie tatsächlich ein wenig größer und einschüchternder, als noch vor wenigen Minuten. Auch ihre Augen stehen etwas weiter auseinander, was ihrem Gesicht einen fremdartigen Zug gibt, “Nicht wirklich … außer vielleicht … Nein, das alles kommt mir nicht bekannt vor, aber hättest du nicht wie ein stumpfer Barbar auf das Netz eingeschlagen, wäre das vielleicht anders.”
“Okay, du hast recht”, gestehe ich ein und entschließe mich etwas diplomatischer vorzugehen, “vielleicht war das nicht so schlau von mir. Aber egal, was ich getan habe, wir müssen hier immer noch hier weg. Dieses Orakel wird sicher versuchen Rache an uns zu üben.”
“An DIR, wenn überhaupt”, betonte Nina streng, “DU hast das Muster zerstört und sie angegriffen!”
“Und du hast nichts dagegen unternommen”, erwidere ich, “denkst du, die machen dann noch einen Unterschied, wenn sie wütend sind? Und selbst wenn doch: Die wollen dich in eine abscheuliche Gebärmaschine verwandeln, Nina! Das kannst du nicht wollen. Also wenn du irgendeinen Vorschlag hast, wie wir hier rauskommen, dann würde ich ihn gerne hören.”
Daraufhin verfällt Nina in Schweigen, und mit jeder Sekunde, in der sie schweigt, werde ich nervöser. Als ich sie gerade erneut zum Reden auffordern will, auf die Gefahr hin, sie dadurch nur noch mehr gegen mich aufzubringen, spricht sie letzten Endes doch.
“Ich sehe etwas in dem Muster. Erst seit kurzer Zeit. Es ist an einigen Stellen heller, fast so als würde es leuchten. Ich bin mir nicht sicher, aber das könnte der Weg nach draußen sein”, erklärt Nina, während sie ein wenig abwesend zu Boden blickt.
Erleichterung durchflutet mich. “Du bist ein Schatz!”, sage ich und will sie in den Arm nehmen, aber sie stößt mich so brutal zurück, dass ich fast zu Boden stürze und ein heftiger Schmerz meinen Brustkorb durchzuckt.
“Fass mich nicht an!”, schreit sie und stemmt ihre langen Arme in die dünnen Hüften.
“Okay, okay”, versuche ich sie mit rasselndem Atem zu beschwichtigen und halte mir meine möglicherweise gebrochenen Rippen, “das war nicht böse gemeint. Ganz im Gegenteil. Ich wollte dir einfach nur danken. Aber vergessen wir das. Bring uns einfach nur hier raus. Bitte!”
“Du musst nicht gehen, Stefan”, vernehme ich vor uns eine vertraute Stimme, auch wenn sie unvertraute Worte spricht.
“Großmutter?”, frage ich reflexhaft und eine Gestalt löst sich aus Schatten so tief, dass selbst meine Augen sie nicht durchdringen können.
Es ist tatsächlich Großmutter, oder besser gesagt, das, was nach ihrer “Krankheit” aus ihr geworden ist. Aber sie hat sich sehr verändert. Ihr Gesicht ist immer noch recht menschlich, abgesehen von der raubtierhaften zweiten Zahnreihe, die durch ihr breites Lächeln deutlich sichtbar ist und auch ihr nackter, faltiger Oberkörper und ihr Unterleib sind zwar nicht ansehnlich, jedoch auch nicht außergewöhnlich. Ihre Arme und Beine hingegen sind spindeldürren, knochige Stöcken gewichen, an deren Ende je ein dutzend weiß leuchtende, haardünne Fortsätze das ersetzen, was einmal ihre Hände und Füße gewesen waren.
“Das ist deine Großmutter?”, fragt Nina mit einer Unsicherheit, die sie mir gleich wieder ein ganzes Stück sympathischer macht, “aber wo ist …”
“Hier, mein Kind”, sagt eine andere, uralte, jedoch etwas fülligere Frau, die gleich darauf aus dem Schatten heraustritt und sich auf ihren haardünnen ‘Füßchen’ langsam auf Nina zubewegt, “ich bin so stolz auf dich, du hast dich so gut entwickelt in all den Jahren.”
“Genau wie du, mein Junge”, fügt meine Großmutter hinzu, “so weit bist du gegangen. Fehlen nur noch ein paar kleine Schritte. Ein paar winzige Schritte, um endlich anzukommen, wo du sein musst.”
Wie um diesen Satz zu illustrieren, geht auch sie auf mich zu.
“Bleib zurück, Scheusal!”, warne ich und schwinge mein Schwert, um die beiden zu vertreiben, doch die Kreatur, unter deren Obhut ich mein halbes Leben verbracht habe, denkt gar nicht daran, sondern läuft ungerührt weiter, wodurch sie geradezu in meinen Hieb hineinläuft, sodass die Klinge einen Schnitt in ihrer weichen, faltigen Haut hinterlässt.
“Ich musste so lange schweigen”, sagt sie traurig und breitet die Arme mit den dünnen Haarfingern aus. Ich weiche zurück, da ich ihre Nähe nicht ertragen würde, doch sie folgt mir und versucht mich weiter mit ihren Worten einzulullen “ich musste dich den Geschichten überlassen und deinen Geist damit füttern, so wie ich deinen Körper gefüttert habe. Ich musste still zu dir sein. Still und streng, auch wenn ich dich stets liebte!”
Das ist zu viel. Diese Worte, die heuchlerischen Worte aus dem Mund der Kreatur zu hören ist mehr, als ich ertragen kann.
“Sprich nicht von Liebe. Du hast meine echte Großmutter ausgelöscht!”, schreie ich und schwinge mein Schwert erneut, diesmal mit viel mehr Kraft als zuvor und noch dazu mit einem Geschick und einer Kunstfertigkeit, die ich mir niemals zugetraut hätte. Die verzierte Klinge zerbricht ihre dünnen Beine, trennt ihre Ärmchen ab und schlitzt sie schließlich vom Kopf, bis zu ihrem Unterleib auf, bevor sie als hässlicher, gespaltener Kadaver auf den Boden sinkt. Doch ich höre nicht auf, spüre, dass mein roter Hunger noch nicht gestillt ist und stürze mich gleich auf die andere, mir unbekannte alte Frau, die gerade in gleicher Weise auf Nina einredet. Ein paar entschlossene Hiebe später sinkt auch sie zu Boden und ein grimmiger Triumph ergreift von mir Besitz. Mit einem finsteren Lächeln spucke ich auf die beiden toten Frauen.
Doch das Lächeln vergeht mir sofort, als die beiden zerfetzten, deformierten Körper in eine Kaskade aus hunderten, winzigen, krabbelnden, weiß-leuchtenden Leibern explodieren.
So gut es geht, schirme ich mein Gesicht mit den Armen ab. Dennoch spüre ich dutzende kurzer Berührungen und sehe kleine Körper unglaublich schnell um mich herumwuseln, auf die ich verzweifelt und vergebens einschlage, während ich mich durch tänzelnde und hüpfende Bewegungen aus ihrer Reichweite katapultiere. Schließlich sind die Geschöpfe verschwunden und es fällt mir schwer zu bestimmen, ob sie sich in den Weiten der Höhle versteckt oder sich buchstäblich in Luft aufgelöst haben.
Ich blicke zu Nina in Erwartung von Zorn oder Überraschung. Aber sie steht lediglich reglos da, den Kopf gesenkt und das Gesicht halb von mir abgewendet.
“Folge mir …”, sagt sie in einem ruhigen, fast nachdenklichem Tonfall, “… ich kann den Weg immer noch sehen.” und setzt sich gleich darauf in Bewegung.
Nicht unbedingt die Reaktion, die ich erwartet habe, aber angesichts des Schocks wohl auch irgendwie nachvollziehbar.
Ein ungutes Gefühl habe ich schon, während ich Ninas schlanker, hochgewachsener Gestalt auf dem Pfad entlang der komplizierten Netzmuster folge. Allerdings ist sie wahrscheinlich meine einzige Chance hier herauszukommen und ich traue meinem Orientierungssinn zumindest insoweit, als ich mir sicher bin, dass sie mich nicht zurück zum Orakel geleitet.
“Ich habe Elisabeth nicht getötet”, höre ich Großmutters Stimme und erstarre vor Grauen. Wie kann sie noch leben? Rasch blicke ich mich um, kann jedoch weder sie, noch Ninas Großmutter oder irgendeine der kleinen Kreaturen, in die sich ihr toter Körper verwandelt hatte, entdecken. Also doch nur eine Einbildung?
“Sie ist immer noch bei mir, als Erinnerung, als lebendige Vergangenheit. Wie eine Geschichte in einem Sammelband, die nicht verschwindet, nur weil man weiterblättert”, flüstert Großmutter sanft.
“Geh raus aus meinem Kopf, du miese Schlampe!”, verlange ich und befürchte einen Augenblick, damit Nina verärgert zu haben, doch sie scheint mich gar nicht gehört zu haben. Stattdessen höre ich auch sie halblaut murmeln. Höre sie mit etwas sprechen, was nicht da ist.
Spricht sie etwa mit ihrer eigenen Großmutter, mit ihrer Mentorin? Habe ich auch sie nicht vernichtet? Doch selbst wenn dem so ist, so folgt Nina doch weiterhin entschlossen ihrem Weg über die Muster, einem Pfad in die Freiheit, den ich nicht sehen kann und der uns doch von all dem Wahnsinn hier wegführen wird. Dort draußen, in dieser seltsamen, magischen, unbekannten Welt, die für Millionen von Menschen nichts weiter als Alltag bedeutet, werden auch diese elenden Stimmen verstummen. Also hefte ich mich an Ninas Fersen, hänge mich an ihren Rockzipfel, wie an eine Rettungsleine, während Großmutters Stimme weiter auf mich einredet.
“Ich habe dich so bewundert, mein Junge. Deine Geduld, deine Neugier, deinen Ungehorsam, dein ganzes Wesen. Ich habe lange darauf gewartet, ja darum gebettelt eine Erzählerin werden zu dürfen. DEINE Erzählerin. Und der Traum hat sich erfüllt. Wie alle Träume irgendwann. Das ist das Gesetz der Welt. Das ist das größere Muster, dem wir alle folgen müssen, wenn wir nicht den Weg verlieren wollen, wenn wir nicht alle abstürzen wollen”, ertönt es in meinem Kopf und die alte, kratzige Stimme von Großmutter direkt in mir zu hören, ohne Distanz, ohne die Möglichkeit sie zu ignorieren, kostet mich beinah meinen Verstand.
“Ich hasse das Muster!”, schreie ich atemlos, “Ich hasse dich und vor allem hasse ich deine Geschichte. Verdammt, ich verabscheue alle Geschichten, da ich meine eigene nie leben durfte!”
Ich brülle all das aus Leibeskräften, so laut, dass meine Kehle schmerzt, aber da Worte hier nicht länger ausreichen, lasse ich Taten spreche. Wieder schwinge ich mein Schwert gegen das Strickstück, das Muster, welches Großmutter zusammen mit vielen weiteren Großmüttern auf der ganzen Welt in all den Jahren gewoben hat. Faden um Faden zerreißt, Knoten um Knoten platzt und mit jedem Schlag führe ich ein erhabenes Kribbeln der Genugtuung in meiner Brust. Ich werde diesen ganzen Laden hier zerstören, ich werde die Fesseln des Schicksals zerschlagen und endlich, endlich frei werden, selbst wenn dafür tatsächlich die gesamte, verfluchte Schöpfung draufgehen sollte.
“Ich weiß nichts vom Gesetz der Welt. Das einzige Gesetz, dem ich all die Jahre gefolgt bin, war deines”, rufe ich der Stimme in meinem Kopf entgehen, als mein Arm schließlich schwer wird und ich mein Werk vorerst vollendet habe, besudelt von blauem Blut und umgeben von zerrissenen Mustern und losen, feinen Fäden, “dein verfluchtes, unausgesprochene Gesetz, dass mich zum Wiedergänger Ronnos gemacht hat. Zum Abziehbild einer Figur, die nicht in der Lage war, ihre Bestimmung zu erfüllen. Als mahnendes Beispiel hast du ihn mir vorgeführt, Tag für Tag, um mich im Haus einzusperren in einem Käfig aus Worten, um mich daran zu erinnern, dass ICH meine Bestimmung erfüllen soll. Doch das werde ich nicht. Ich scheiße auf meine Bestimmung. Ich bin mein eigener Herr und ich werde keinen einzigen Tag mehr dein Sklave sein.”
“Ach, mein Junge”, lacht Großmutter freundlich und glockenhell, “du irrst dich. So sehr, wie man sich nur irren kann. Ronno war kein Versager. Er hat sein Schicksal erfüllt. Genau, wie du es erfüllt wirst.”
Plötzlich schießt ein spitzer Schmerz durch meinen Arm, als sich einer der haarfeinen Splitter des zerstörten Musters in meinen Arm bohrt. Ich versuche mich davon loszureißen, aber die wimperndünne Schnur hält mich fest, zu fest, um mein Schwert ordentlich schwingen zu können. Kurz darauf folgt eine zweite, dann eine dritte und vierte, die sich wie eine winzige Harpune in mein Fleisch bohrt.
“Nina! Hilf mir!”, flehe ich, aber die große, stille Frau wendet mir weiterhin den Rücken zu.
“Ronnos Ungehorsam war der Schlüssel”, fährt Großmutter derweil mit ihren Erklärungen fort, “er musste Runella erschlagen, so wie du mich erschlagen musstest und er musste sein sicheres Zuhause verlassen und sich in Iljas Arme begeben, damit sie seine Kraft nutzen konnte. Ronno wäre ein grauenhafter Herrscher gewesen, eitel und selbstgerecht, beinah so schlimm wie Brostoi selbst. Aber durch seinen Tod und Iljas Künste wurde der Tyrann gestürzt, was Gortez’ Heer niemals hätte erreichen können und das Volk gewann Freiheit und Frieden, wenigstens für einige Zeit. So war es damals und so wird es wieder geschehen. Der Prinz muss fallen und die Prinzessin sorgt für Ausgleich. Aber dein Opfer wird nicht vergebens sein, mein Junge. All dein Wissen, dein Kampfgeist, deine Erinnerungen werden weiterleben, werden Eingang finden in das Muster, so wie ich deine Taten und Worte bereits darin eingewoben habe.”
“Nein!!!”, protestiere ich, “Nina wird das niemals tun. Sie ist nicht so dumm, sich eurem Willen zu beugen. Sie ist kein Ungeheuer!”
Von blanker Panik ergriffen versuche ich meine Fesseln erneut mit dem Schwert zu durchtrennen und tatsächlich bringe ich diesmal einige davon zum Zerreißen, sodass ich mich wieder etwas besser bewegen kann.
Kurz bevor ich zum nächsten Schlag aushole, dreht Nina sich zu mir um. Ihr Rücken gebeugt, ihr Gesicht langgezogen und verzerrt, ihre traurigen Augen weit auseinanderstehend, ihr riesiger, vorgestülpter Mund bestückt mit einer Reihe spitzer Zähne, von denen zäher Speichel tropft. Wie ist das möglich, frage ich mich, ist das das Werk ihrer Großmutter, der Einfluss des Orakels oder hat meine Zerstörung des Musters etwas damit zu tun?
“Es tut mir leid, mein Prinz”, sagt sie, “Sie haben recht. Wir alle sind ein Teil des Musters und wir haben keine andere Wahl, als uns zu verknüpfen.”
Während sie das sagt, kommt ihr weit aufgerissener Mund näher und das konzentrierte Grauen, dass nun durch meine Venen rauscht, gibt mir noch einmal die nötige Kraft und Schnelligkeit, mich von meinen letzten Fesseln zu befreien.
Eben in diesem Moment ruckt Ninas Kopf in meine Richtung und ihr Raubtiermund schnappt zu. Nur knapp gelingt es mir, ihrem beherzten Biss zu entkommen und mich fürs Erste in Sicherheit zu bringen.
Auf meiner darauffolgenden, wilden Flucht achte ich nicht auf meinen Weg, achte nicht auf das Netz oder meine Verfolger, sondern renne einfach nur, weiter und immer weiter, ohne Ziel, nur mit dem nackten Wunsch der grausamen Prinzessin zu entgehen, die sich entschieden hat, eine Königin zu werden.
Anfangs höre ich noch Ninas Rufe in meinen Ohren und Großmutters Stimme in meinem Kopf, die mich ermahnen, zurückzukehren und mein Schicksal zu vollenden, doch irgendwann enden die Muster, von denen ich angenommen hatte, dass sie sich bis in die Unendlichkeit erstrecken würden, abrupt und machen einer unberührten, absoluten Dunkelheit Platz, deren Ränder vor mir liegen wie das Ufer eines tiefen, unergründlichen Sees.
Einige Sekunden zögere ich, doch letztlich, vollkommen verzweifelt und getrieben von Angst, Hass und Trotz bringe ich den Mut auf einzutauchen.
Sofort wird alles in mir und um mich herum still. Ninas und Großmutters Stimmen sind nur noch ferne Erinnerungen und nach ein paar weiteren Schritten ist selbst das Muster nicht länger zu sehen. Wandernd durch ein Meer aus Schatten und Schwärze, welches selbst meine der Finsternis angepassten Augen nicht durchdringen können, verspüre ich für einen kurzen Moment Erleichterung, Frieden und Sicherheit. Ja, vielleicht sogar ein wenig Hoffnung, denn auch wenn das hier eindeutig nicht die Oberfläche ist, fühlt es sich trotzdem ein wenig wie ein Ausgang an.
Nach einigen weiteren Metern jedoch schlägt meine Stimmung radikal um. Plötzlich wird mir kalt. Eiskalt und obwohl mir bewusst ist, dass ich noch immer fest auf dem Erdboden stehe, habe ich dennoch das Gefühl zu fallen, endlos und immer schneller.
Dennoch gehe ich noch einmal weiter, einige langsame, stolpernde Schritte, während dort in der Ferne ein schwaches, silbernes Licht aufblitzt. Etwas treibt mich darauf zu, ein ursprüngliches, tiefes Verlangen, aber zugleich habe ich das Gefühl wie durch Sirup zu laufen. Durch kalten, giftigen Sirup. Meine Muskeln schmerzen, meine Lungen schreien und meine Seele brennt wie wundes Fleisch. Nach einem letzten, unendlich mühsamen Schritt bleibe ich stehen, während das winzige Licht vor meinen Augen einfach erlischt, als wäre es nie dagewesen.
Ich lasse mein Schwert fallen, welches fast lautlos auf dem Boden aufschlägt. Zitternd und seelisch entblößt stehe ich in der Leere und fühle wie alle Ängste, die ich je gekannt oder auch nur für denkbar gehalten habe, gleichzeitig nach meinem Herz greifen, es durchdringen, foltern und zerquetschen. Ich weine, schreie und fürchte mich, fürchte mich jämmerlich, ohne auch nur zu ahnen wovor.
“Was ist das?”, weine ich zitternd und erschüttert in die Leere, während ich kraftlos auf dem Boden kauere.
“Das ist die Unschöpfung, der Weg jenseits aller Wege”, höre ich Ninas monströse Stimme wie von fern und glaube doch die Worte ihrer – oder meiner – Großmutter aus ihrem Mund zu hören, “Das ist der einzige Ort für jene, die dem Muster nicht dienen wollen.”
“Ich will hier nicht sein”, bettele ich Nina an, jene Prinzessin, jene künftige Königin, die mein Fleisch, meine Seele begehrt.
“Dann kehre zurück. Es ist nie zu spät!”, antwortet sie sanft, lockend, endgültig.
Und so gebe ich mich geschlagen, drehe mich um und wandele wie ein verlorenes Kind zurück durch die Dunkelheit. Schließlich entdecke ich die Ausläufer des Musters, aufblitzend wie eine rettende Insel am Horizont. Eine Insel, auf der mein Tod wartet.
Ich betrete sie dennoch, betrete erneut das Reich des großen Musters und blicke in die veränderte, schrecklich-königliche Gestalt von Nina, die wie ein göttliches Urteil über mir aufragt, den Mund begehrlich geöffnet.
“Bitte”, flehe ich sie leise an, “töte mich, bevor du mich frisst.”
“Leider geht das nicht”, antwortet die künftige Königin, “Dein Leben muss in das Muster eingehen. Alles davon. Und Leben bedeutet zuallererst Leiden.”
Mit diesen Worten gräbt sie ihre Zähne in mein Fleisch … und mein Opfer beginnt.
~o~
Und so dreht sich der Kreis ein weiteres Mal, die Königin gebärt, feine Spinnenfinger weben ihre Netze aus Worten und Lebenskraft und zweibeinige Fliegen tanzen darauf ihren Tanz von Hoffnung, Liebe, Angst und Leid. Nicht wissend, dass der Ausgang, dass die wahre Freiheit so nahe, so lächerlich nahe liegt. Dort unten, in den Tiefen unterhalb der Welt. Nur eine kurze, schwere, schmerzhafte Wanderung durch die Dunkelheit entfernt.