A sign of hope

„Wie kannst du ernsthaft daran denken zu essen?“, sagte Jessica anklagend zu ihrem Bruder, der gerade einen von seinen in Bratensoße getränkten Klößen halbierte. Der schrille Klang des Messers, das über den Goldrandteller kratze, hallte beinah unnatürlich laut durch das große Wohnzimmer, das nur von einer schummrigen, flackernden Glühbirne erhellt wurde. Nackt und schmutzig baumelte sie über ihrem Köpfen und warf zusammen mit den auf dem Tisch platzierten Kerzen einen unsteten Schein auf Martins hageres siebzehnjähriges Gesicht. Dieses Gesicht wurde umrahmt von schulterlangen, lockigen Haare, die unordentlich über seinen roten, etwas schmutzigen Hoodie fielen. Er trug ihn schon seit drei Tagen und er stank nur deswegen nicht bestialisch, weil er sich selbst besser pflegte als seine Klamotten.

„Denkst du, wenn wir fasten verschwinden unsere Probleme? Sollen wir auch noch das ‚Vater unser‘ beten oder uns auf die Knie werfen?“, fragte Martin provozierend, „bislang hielt ich weder die Freezer, noch die Sketcher für besonders fromm, aber vielleicht irre ich mich ja.“

Als Martin diese Bezeichnungen aussprach, streifte ein Schatten über Jessicas Züge. Sie blickte verstohlen zum verhangenen Fenster, so als müsste sie sich vergewissern, dass die Vorhänge auch wirklich dicht waren. Nach kurzem Zögern fasste sie auch noch Heizung an. Sie war noch warm. Erst als sie das festgestellt hatte, wagte sie es, sich den feinen, frischen Angstschweiß sorgsam aus dem Gesicht zu wischen.

Anders als Martin legte sie viel Wert auf eine gepflegte Erscheinung. Selbst unter diesen besonderen Umständen. Ihre blonden Haare waren zu einem ordentlichen Zopf gebunden und ihre Anzugjacke und ihre schwarze Hose, wegen der sie Martin immer „Little Miss Vorstand“ nannte, waren flusenfrei uns sauber.

Martins Verweis auf diese wandelnden Albträume hatte Jessicas Lust auf Konfrontation genauso verfliegen lassen, wie ihren Appetit. Während sie lustlos in ihren Klößen herumstocherte, gab sie einen resignierten Seufzer von sich. „Wir sollten aufhören uns zu streiten“, sagte sie in erwachsenem Tonfall, der jedoch nicht aufgesetzt, sondern durchaus glaubwürdig klang, „iss, wenn du kannst. Jeder hat wohl einfach seine eigene Art mit dieser Scheiße umzugehen.“

Martin sah sie überrascht und beinah beschämt an. Nun kam er sich wirklich albern und unreif vor. Er streckte seine Hand aus und legte sie entschuldigend auf die eiskalte, klamme Hand seiner älteren Schwester. „Du hast recht“, sagte er, „und ich will auch keine Zeit vertrödeln oder mir ein schönes Weihnachtsessen gönnen. Ich denke nur praktisch. Mit einem gefüllten Magen frieren wir nicht so schnell und können der Verwandlung besser widerstehen.“

„Das können wir auch so“, winkte Jessica ab, „die Heizung funktioniert einwandfrei und hier drin wird sich die Wärme noch eine ganze Zeit lang halten. Wenn alle Stricke reißen, verfeuern wir die Möbel. Das spendet uns Wärme UND Licht.“

„Und dann?“, fragte Martin und ließ seinen Blick durch das große, reich geschmückte Wohnzimmer wandern. Über den Weihnachtskitsch, den ihre Eltern noch aufgestellt hatten, bevor die nicht endende Nacht hereingebrochen war. Über den imposanten Weihnachtsbaum mit seinen weniger imposanten, matt leuchtenden Lämpchen und über die vielen Lichterketten, die in den letzten Stunden den Geist aufgegeben hatten. Entweder weil es Ausschussware aus billigster Produktion gewesen ist, oder aus … beunruhigenderen Gründen.

„Was, wenn das letzte Stück Holz verbrannt ist?“, fragte Martin mit wieder etwas mehr schärfe in der Stimme, „sollen wir dann ein lustiges Spiel daraus machen und darauf wetten, wer von uns zum Freezer und wer zum Sketcher wird und wer noch lang genug er selbst bleibt, um gefressen zu werden?“

„Erzähl nicht so einen Mist. Nicht vor Lisa. Sie ist neun Jahre alt verdammt. Sie sollte sich so etwas nicht anhören müssen“, sagte Jessica nun doch wieder ziemlich aufgebracht.

„Du bist ja witzig. Sie hat ERLEBT, wie ihre eigene Mutter versucht hat, sie zu fressen“, erinnerte Martin, „welchen Schaden soll es dann anrichten, über die Realität zu REDEN.“

„Schon mal etwas von Retraumatisierung gehört?“, fragte Jessica und blickte dabei zu Lisa. Das Mädchen kritzelte seit Stunden unablässig zusammenhanglose Linien auf ihren Zeichenblock und sprach kein einziges Wort. Aber immerhin schienen die Bissspuren an ihrem rechten Arm sich nicht entzündet zu haben. Anders als die Wunden auf ihrer Seele.

„Die ist nicht nötig“, sagte Martin mit bebenden Lippen, „ihr Trauma lebt und atmet noch immer in unserem Badezimmer.“

Die letzten Worte schrie Martin fast, bevor er sich in verzweifeltes Schluchzen verlor und seinen Kopf zwischen die Arme bettete.

„Was ist deine Alternative?“, fragte Jessica, „da rausgehen, in die mittägliche Finsternis und sich diesen Dingern zum Geschenk machen?“

„Wir müssen Papa finden“, sagte Martin zwar mit brüchiger Stimme, aber durchaus entschlossen, „immerhin hat er uns um Hilfe gebeten!“

Martin hielt seinen Handybildschirm mit der Nachricht hoch, an der sich er sich seit ihrem Eintreffen gleich einem geliebten Kuscheltier festhielt. Sie lautete:

„Hi Martin. Bitte sag mir, dass es euch gutgeht. Ich bin noch auf der Arbeit und hier ist alles sehr sehr komisch. Die Kollegen verhalten sich merkwürdig und ich habe keine Ahnung, was hier los ist. Die anderen kann ich nicht erreichen. Auch die Polizei nicht. Und raus komme ich auch nicht, es … es ist kompliziert. Aber was immer das hier ist … ich möchte nicht ohne euch sterben. In Liebe, Papa.“

Jessica schüttelte den Kopf als sie die Nachricht sicher zum zehnten Mal gelesen hatte.

„Er ist unser Vater. Er sollte versuchen UNS zu retten“, sagte Jessica hart, „wie stellt er sich das vor? Selbst wenn wir Mama noch … hätten. Wie sollten wir durch diese Hölle zu ihm kommen? Wie sollten wir in sein Büro gelangen? Das ist einfach nur egoistisch. Außer diese Nachricht kommt nicht von ihm.“

„Fang nicht wieder damit an“, sagte Martin aufgebracht, „Diese Dinger können keine Handys bedienen.“

„Die Freezer ganz sicher nicht“, sagte Jessica ruhig, „die wollen nur Fressen. Aber die Sketcher sind anders … erinnerst du dich nicht? Die Schatten in den Häusern, die wir durch die Fenster gesehen haben. Sie laufen herum und reden scheinbar miteinander. Sie sitzen an ihren Computern. Fast als wären sie noch sie selbst oder würden sich daran erinnern, wie es war, sie zu sein.“

„Papa lebt“, sagte Lisa unvermittelt, wobei sie weiterhin wie hypnotisiert auf ihren Zeichenblock starrte, „und wenn ihr weiter so streitet werdet ihr euch bestimmt auch in etwas Schreckliches verwandelt. Kälte macht einem zum Ungeheuer. Dunkelheit macht einem zu Ungeheuer. Warum also nicht auch Hass?“

„So funktioniert das nicht“, sagte Jessica beruhigend.

„Weißt du denn wie das alles funktioniert?“, fragte Lisa provozierend und blickte zum ersten Mal wieder auf. Ihre Augen waren verweint und brannten vor Trauer, „wisst ihr überhaupt wie irgendwas funktioniert? Mama wusste viel mehr als ihr von der Welt. Doch jetzt ist sie trotzdem ein Monster. Wir wissen gar nichts. Außer, dass wir zusammenbleiben sollten. Wir müssen Papa finden! Sonst macht das alles keinen Sinn.“

„Sie hat recht“, beharrte Martin, „vor allem mit Papa. Er ist nicht perfekt. Das weiß ich selbst. Das war er nie. Aber du kannst ihm kaum vorwerfen, dass er gerne bei uns sein will. Außerdem ist er alles, was wir noch haben.“

„Abgesehen von unserer Mutter“, erinnerte ihn Jessica.

„Keiner weiß, ob sie noch da drin ist“, sagte Martin.

„Genau wie keiner weiß, ob unser Vater noch unser Vater ist“, entgegnete Jessica.

„Wir drehen uns im Kreis“, sagte Martin frustriert, „schlimmer noch, wir drehen uns auf den Abgrund zu. Ich will hier drin nicht auf den Tod warten, Jess. Draußen können wir Papa finden oder andere Überlebende. Und vielleicht eine Lösung, eine Erklärung, eine Heilung. Irgendwas verdammt!“

Jessica sah ihn lange an. Dann seufzte sie schwer und sah zu Lisa hinüber. „Pack deine Sachen. Wir machen einen Winterspaziergang.“

~o~

Für einige Minuten herrschte hektisches Treiben im Haus. Martin füllte ihre Rucksäcke mit Proviant. Nicht mit dem Weihnachtsessen, das er nach dem Vorfall mit ihrer Mutter gekocht hatte, um sich abzulenken, sondern mit Konserven, Zimtsternen, Schokolade, Käse, Wasserflaschen und allem nahrhaften, was er sonst noch im Haus finden konnte. Auch einige besonders scharfe Küchenmesser packte er ein. Zwei große, frisch geschliffene Fleischermesser für ihn und Jessica und ein kleineres, aber nicht minder scharfes Obstmesser für Lisa. Derweil suchte Jessica warme winterfeste Kleidung für sie alle zusammen, half Lisa beim Anziehen und zog sich selbst an, bis sie beide ein wenig wie Astronauten in unmodischen Raumanzügen aussahen. Nicht zuletzt wegen ihrer dicken Schals und Mützen und der gut gefütterten Handschuhe. Dabei nahm sie auch einige Klamotten für Martin mit. Dann machte sich Jessica daran, sämtliche Taschenlampen, Batterien, Feuerzeuge und Streichhölzer zusammenzusuchen, die sie finden konnte. Als sie fertig war, ging sie zurück zu Martin, der gerade die letzten Lebensmittel in ihren Rucksäcken verstaute.

„Wo ist Lisa?“, fragte sie ihn.

„Ich weiß nicht …“, sagte er ratlos, „gerade war sie noch …“

„Oh du verpeilter Idiot!“, beschwerte sich Jessica. Hektisch blickte sie zur Wohnungstür, die Gott sei Dank geschlossen war.

„Lisa!“, schrie sie, ohne Antwort zu erhalten und auch Martin stimmte in ihren Ruf mit ein, während sie hektisch die Wohnung durchkämmten. Erst im zweiten Stock, ausgerechnet vor der Tür zum Gästeklo, wurden sie fündig.

„Mein Gott, Lisa, lass das! Sie wird dich umbringen“, schrie Jessica als sie sah, dass die Kleine den Schlüssel herumdrehte.

Das Schloss öffnete sich klackend und die jüngste Schwester drückte den Griff herunter. „Ich will mich nur verabschieden“, sagte Lisa.

Sofort sickerte die Kälte in den behaglichen Raum wie eine Lawine, die alles Leben erdrückte. Ein warnendes Knurren erklang wie zwei Eisblöcke die aneinander rieben und eine dürre, steife Hand schoss auf Lisas ungeschützte Kehle zu. Das kleine Mädchen bewegte sich nicht. Es blickte nur in die spiegelnden, silbernen Augen im blau gefrorenen Gesicht ihrer Mutter, aus dem jegliche Liebe geschwunden war. Die Kette, mit denen sie sie an den nun ebenfalls gefrorenen Heizkörper gefesselt hatte, hielt noch stand. Aber die Hände der gefrorenen Frau waren frei. Frei sich zu holen, was sie begehrte. Ein hohles Lächeln bildete sich auf ihrem Gesicht und ließ das Eis knirschen. Dann packte sie zu.

Die älteren Geschwister reagierten so schnell sie konnten. Martin warf sich mit seinem ganzen Gewicht gegen die Tür, während Jessica ihre Schwester umfasste, um sie aus der Gefahrenzone zu ziehen. Doch da hatte sich die eisblaue Hand bereits um Lisas Kehle geschlossen. Unbarmherzig drückte ihre Mutter zu. Und Lisa schrie.

Die Geschwister flehten nicht um Gnade, denn sie wussten, dass dieses Wesen keine mehr kannte. Stattdessen nahm Martin das Küchenmesser aus dem Rucksack, den er zufällig mitgeschleift hatte und stach auf den Arm ein. Immer und immer wieder. Eis, das einst Haut, Fleisch und Knochen gewesen war splitterte, krachte und zerbarst. Aber der Griff hielt dennoch und Lisas Schreie erlahmten. Weder die Stiche noch Jessicas panische Schläge konnten ihre Mutter davon abbringen ihr tödliches Werk zu vollenden.

„Feuer, wir brauchen Feuer!“, fiel es Martin siedendheiß ein. Er ließ das Messer fallen und kramte in seinem Rucksack nach einem Feuerzeug.

„Das wird nicht reichen“, sagte Jessica, ließ Lisa los und spurtete auf die Tür zu.

„Tritt zurück, sofort!“, verlangte Jessica von ihrem Bruder, „ich muss da rein!“

„Bist du verrückt?!“, protestierte er, gehorchte aber fast automatisch. Vielleicht auch, weil er das beinah bewusstlose Gesicht seiner kleinen Schwester sah. Sie hatten nichts zu verlieren.

Jessica zwängte sich durch den Spalt, donnerte die Tür zur Seite und versuchte nicht zu genau ins Gesicht ihrer Mutter zu sehen, die darum kämpfte auch noch den Rest ihrer Fesseln loszuwerden.

Stattdessen öffnete sie mit zitternden Fingern den Spiegelschrank, fegte einige Pflegeprodukte zur Seite und fand endlich das Haarspray. „Fang“, rief sie und warf es ihrem Bruder zu, der das Feuerzeug bereits in der linken Hand hielt. Er fing die Dose mit der Rechten, hob den Deckel ab, ließ die Flamme erscheinen und platzierte den Daumen über dem Sprühkopf.

„Tut mir leid, Mama“, sagte er mit zitternder Stimme. Dann betätigte er den Mechanismus und die Stichflamme erwärmte sein Gesicht, während sie sich um den Arm seiner Mutter legte.

Er wusste nicht, ob es Schweiß, Tränen oder umherspritzende Tropfen vom schmelzenden Arm seiner Mutter waren, die sein Gesicht benetzten, aber Tatsache war, dass es half. Nur wenige Atemzüge später war die Hand vom restlichen Arm getrennt und sie konnten sie endlich von Lisas Hals lösen.

„Sie lebt noch“, stellte Jessica fest, nachdem sie ihr Ohr erst an die Brust und dann an den Mund ihrer Schwester gelegt hatte, „aber sie ist bewusstlos.“

„Scheiße!“, sagte Martin, „aber danke, Jess. Ohne dich wäre sie erledigt gewesen. Es tut mir so leid, dass ich nicht richtig auf sie aufgepasst habe.“

„Bedauern bringt jetzt nichts“, sagte Jessica entschlossen, „das können wir alles irgendwann noch ausdiskutieren. Jetzt müssen wir vor allem Lisa wieder wach bekommen. Doch zuerst …“

Jessica sprach die Worte nicht aus, sondern streckte nur begehrlich ihre Hände aus. Martin antwortete mit einem fragenden Blick. Doch dann verstand er und nickte traurig, bevor er ihr Spraydose und Feuerzeug überreichte.

„Nun ist es doch gut, dass sie nicht wach ist“, sagte Martin und Jessica nickte grimmig. Dann brachte sie den improvisierten Flammenwerfer in Anschlag und richtete ihn auf ihre Mutter.

Das Ding, das sie einst geboren und aufgezogen hatte, wand sich wie irre in seinen Ketten. Der handlose Armstumpf pendelte dabei unkontrolliert herum wie ein gekappter Gartenschlauch. Für einen Moment schien Jessica so etwas Begreifen in den seelenlosen Augen zu sehen. Vielleicht sogar einen Funken ihres alten Ichs. Nein, dachte, nein flehte Jessica, das muss Einbildung sein.

Dann zielte sie direkt auf unnatürlich grinsenden Kopf und zündete die Flamme.

Die filigranen Schneehaare schmolzen als erste, ließen die nachgeahmte Lockenpracht ihrer Mutter verschwinden und ließen ein entstelltes, glatzköpfiges Gesicht zurück, das schließlich jegliche Menschlichkeit verlor und sich in einen glattgeschmolzenen Eisklumpen verwandelte, von dem das Silber der Augen wie Quecksilber hinuntertropfte. Erst als sich der Kopf ihrer Mutter auf die Größe einer Kinderfaust verkleinert hatte, geschah es. Das letzte Eis verschwand und offenbarte einen klumpen glühenden Silbers, von dem eine enorme Kälte abstrahlte. Dann leckten die Flammen daran und das Ding explodierte.

„Runter!“, schrie Jessica und sie und ihr Bruder warfen sich schützend über die bewusstlose Lisa. Einige Eissplitter regneten auf sie hinab, so hart wie kleine Steine, doch ohne einen bleibenden Schaden anzurichten. Das hieß aber nicht, dass sie ungefährlich waren.

„So eine Scheiße!“, hörte Jessica Martin sagen noch bevor sie sich wieder erhob. Und als sie es tat, musste sie ihrem Bruder uneingeschränkt zustimmen. Ihre gesamte Wohnung, die Wände, der Boden, die Decke und die Möbel waren überzogen von einer glitzernden Patina aus erbarmungslosem Eis.

„Was habe ich nur getan?“, sagte Jessica, „wir müssen raus hier. So schnell es nur geht.“

Dann erst bemerkte sie, dass ihr Bruder nur ein kurzärmeliges Shirt trug. Er hatte sich noch nicht umgezogen. Seine Muskeln schienen verkrampft und er zitterte am ganzen Körper. Genau wie bei Mutter, als es begonnen hatte.

~o~

„Fuck!“, rief Martin, der endlich begriffen hatte, was mit ihm geschah, während sich die blauen Flecken wie eine Hautallergie auf seinen nackten Armen ausbreiteten, „was soll ich nur tun?“

„Dich anziehen, du Idiot!“, schrie Jessica eher panisch als patzig, „hol deine blöden Klamotten!“

„Ich kann mich kaum bewegen“, sagte er etwas undeutlich, da das blau bereits seine Lippen erreichte, „du musst sie für mich holen. Sie liegen noch in der Küche!“

Jessica nickte und zeigte auf die ohnmächtige Lisa, die schlafend und dick eingepackt auf der Couch lag. „Halt dich verdammt noch mal von ihr fern, verstanden? Und wenn du merkst, dass du die Kontrolle verlierst, dann geh aus dem verdammten Haus!“

„Natürlich“, murmelte Martin mühsam mit erlahmenden Lippen und unfähig Jessica daran zu erinnern, dass er sich nicht bewegen konnte. Seine Schwester stürmte ohnehin bereits in die Küche.

Die Sekunden verstrichen. Und jede davon erschien Martin mindestens minutenlang. Die Ironie des Schicksals hatte es bestimmt, dass er in Sichtweite eines Spiegels zum Stehen gekommen war. So sah er alles ganz genau, sah das Leben und die Wärme aus seinem Körper weichen, während er fror und zitterte wie noch nie in seinem Leben. Er spürte seine Muskeln zucken und schlackern, völlig außer Stande auf diesen irren Tanz Einfluss zu nehmen. Jeder bewusste Nervenimpuls, den er aussandte, machte sich mit der Geschwindigkeit einer trägen Kontinentalverschiebung auf den Weg, während das subdermale Kriecheis sich seinen Hals holte, seine Lippen, sein Gesicht, seine Finger und schließlich …

Schließlich spürte er ein Ziehen in seinem Bauch, in seinen Venen, in seinen Nervenbahnen so als würde sich das Eis nun seinem Innersten zuwenden. Dorthin, wo alle Steuerzentralen seines Geistes lagen.

Martin fühlte sich wie ein ertrinkender. Angekettet am Grund eines eiskalten Ozeans. Doch plötzlich, während sich die ersten Eiskristalle wie ein Vorhang vor seine Pupillen legten, hörte das Zittern auf und in der gnadenlosen Kälte erschien Geborgenheit. Engelsgleich schien sie ihm ins Gesicht, als eine silberne, gläserne, gütige Sonne, die mitten im Zimmer erstrahlte.

Das Licht wuchs. Wurde intensiver und klar, bis … sich ein Schauten aus rauem, kratzigen Wollstoff darüber ausbreitete und die strahlend schöne Kälte aussperrte. Martin wurde wütend und merkte zugleich, dass er die Kontrolle über seine Muskeln zurückgewonnen hatte. Er tobte, schrie, schlug um sich und versuchte den Pullover zu zerreißen. Schlagend, kratzend, beißend drang er auf seine Schwester ein, wie ein von Dämonen Besessener.

„Spinnst du jetzt komplett!“, beschwerte sich Jessica und hielt ihren Bruder zurück, dessen Muskeln ihm zum Glück noch nicht wieder die nötige Kraft bereitstellten, um ihr wirklich gefährlich zu werden, „Halt gefälligst still! Schlimm genug, dass ich dich ankleiden muss wie ein Baby.“

„Ich will diese Fetzen nicht!“, schrie Martin mit eisig kalter Stimme, „NIMM SIE WEG! ICH WILL DIE SONNE SEHEN! ICH WILL DIE KALTE SONNE SEHEN! ICH WILL IN IHREM LICHT BADEN! ICH WILL SIE IN MEINE AUGEN PFLANZEN. IN MEINE SEELE. IN MEIN GEHIRN!“

„Und ich will, dass du deine dumme Klappe hältst!“, sagte Jessica renitent, während sie ihm den Pulli gänzlich überstreifte. Die gütige Sonne verschwand und zersplitterte. Und nun wurde Martin richtig wütend. Er nahm all seine Kraft zusammen, zog seine Schwester mit einem Ruck an sich und öffnete den Mund weit. Seine eisblauen Zähne glitzerten, bereit das ekelhaft warme Fleisch der Sonnentöterin zu fressen. Doch eine schlanke, aber kräftige Faust beendete diese hehren Träume bevor sie richtig begonnen hatten.

~o~

„Ich hätte nicht gedacht, dass du noch nerviger werden könntest“, sagte Jessica als Martin wieder erwachte, „aber offenbar habe ich mich getäuscht.“

Trotz ihrer spöttischen Worte war Erleichterung in ihrem Blick zu erkennen. Und die spürte auch Martin. Sein Hass und sein Hunger waren fast gänzlich verschwunden. Genau wie die Obsession für die kalte Sonne, obgleich er deren Schönheit noch immer nicht leugnen konnte. Seine Haut hatte – zumindest im Gesicht – wieder ihre gewohnte Farbe angenommen. Vom Rest seines Körpers konnte er es nicht sagen, denn Jessica hatte ihn in so viele Lagen Kleidung eingehüllt, das fast alles davon bedeckt war. Es gab nur eine Ausnahme. Seine Hände waren zwar mit Handschuhen überzogen, jedoch waren die Fingerkuppen der gefütterten Handschuhe abgeschnitten, sodass noch immer eisblaue, mit weißen Schneefäden durchzogene Nägel daraus hervorschauten.

„Ich musste sie freilassen“, erklärte seine Schwester, „Als ich versucht hatte, dir die Handschuhe überzustreifen hast du mir fast das Gesicht zerkratzt. Trotz deiner Ohnmacht.“

„Heißt das … heißt das ich bin immer noch nicht geheilt?“, fragte Martin vorsichtig.

„Das musst du mir sagen“, antwortete seine Schwester, „jedenfalls wirkst du mir recht klar im Kopf und wütest nicht mehr wie ein manischer Kobold. Aber deine Fingernägel und deine Zähne sehen noch immer ziemlich gruselig aus. Keine Ahnung, ob das so ’ne Art Narben sind, die nach einer überstandenen Freezer-Infektion übrigbleiben. Oder ob mehr dahintersteckt. Ich hoffe nicht. Ich hab wirklich keine Lust darauf dich auch noch schmelzen zu müssen, Bruderherz.“

„Meine Zähne?“, fragte Martin verunsichert und leckte mit der Zunge über seine Zahnreihen, die sich eigentlich ganz normal anfühlten. Als er aber den Mund öffnete und sie im Spiegel betrachtete, sah er, dass auch sie eisblau waren, so als hätte ein irrer Zahntechniker sie ihm aus Gletschereis geschnitten.

„Über kälteempfindliche Zähne brauchst du dir zumindest keine Sorgen mehr machen“, sagte Jessica mit einem traurigen Lächeln.

„Ich finde sie hübsch“, sagte Lisa, die offenbar ebenfalls wieder aufgewacht war, „ich will auch so welche!“

„Besser nicht, Kleine“, meinte Martin und sah dann fragend zu Jessica.

„Sie weiß es“, sagte Jessica und erst jetzt bemerkte Martin die subtile Trauer in Lisas Gesicht, die sie angesichts ihres jungen Alters erstaunlich gut verbarg, die jedoch zweifellos an ihr nagte.

„Mama ist fort“, bestätigte Lisa, „aber ich verstehe, warum sie weg ist. Sie wollte mich fressen. Schon wieder. Das … das war nicht mehr sie. Sie … sie musste verschwinden.“

„Aber wenn ich durch die Klamotten wieder geheilt wurde, dann …“, begann Martin und hasste sich direkt dafür, diesen Punkt anzusprechen, wo Lisa doch gerade so viel Seelenstärke bewies.

Das Zusammenzucken der Kleinen und der wütende Ausdruck in Jessicas Augen bestätigten seine Befürchtung. Jessica verzichtete jedoch darauf Martins Taktlosigkeit zu rügen. „Für sie war es bereits zu spät!“, sagte Jessica stattdessen betont entschlossen, ohne selbst zu wissen, ob es stimmte, „außerdem wissen wir nicht einmal, ob du wirklich geheilt bist. Nicht wahr?“

Martin nickte. Er hatte diese Spitze durchaus verstanden.

„Dann lass uns endlich gehen“, sagte Martin, schon allein, um das Thema wechseln zu können, „dieser Ort ist nicht länger ein Zuhause.“

Niemand widersprach ihm.

~o~

Martin hatte sich bereiterklärt die Vorhut zu übernehmen. Ob aus Verantwortungsgefühl für seine Schwestern, aus Reue über seine eigenen Fehler oder weil er selbst jetzt ein halber Freezer war, wusste er nicht. Jedenfalls änderte sein Zustand nichts daran, dass ihm die Welt da draußen eine Scheiß Angst machte. Alles, was er darüber wusste, hatte er aus chaotischen Nachrichtenbeiträgen und nebulösen Andeutungen aus den sozialen Netzwerken erfahren, bevor diese einfach – nun, eingefroren waren. Schon seit Stunden gab es dort keine neuen Posts mehr, obwohl er nach wie vor Netz hatte. Seine nachhaltigsten Eindrücke von der Katastrophe stammten ohnehin aus den wenigen Momenten, in denen er einen Blick aus dem Fenster gewagt hatte. All das, was er dort erfahren hatte, ließ sich in drei Punkten zusammenfassen: Die Welt war am Arsch, niemand wusste wirklich warum und Hilfe war nicht zu erwarten.

Mit wild klopfendem Herzen legte er seine Finger mit den eisblauen Nägeln um die Türklinke. In der linken Hand hielt er ein Feuerzeug, in seinem Mund eine helle Taschenlampe. Martin hoffte, dass ihm das etwas Schutz bieten würde. Dass Wärme die Freezer bekämpfen konnte, wusste er nun aus eigener Erfahrung. Dass sich die Sketcher vor Licht fürchteten und auch ihre Verwandlung in der Dunkelheit begannen, war hingegen nichts weiter als eine Theorie.

Knarrend ging die Tür auf und Martin blickte durch den Spalt. Nach der unnatürlichen Kälte in der Wohnung fühlte sich die Außenwelt im ersten Moment fast angenehm warm an. Aber dieser Eindruck verflüchtigte sich bereits nach wenigen Sekunden. Es war unzweifelhaft Winter und der Schnee lag so dicht wie schon seit vielen Jahren nicht mehr. An einigen Stellen türmte er sich mehr als einen halben Meter hoch und machte es schwer einen Unterschied zwischen Straße und Bürgersteig zu erkennen, zumal das letzte Auto vor einigen Stunden hier durchgefahren war und das Schneetreiben seitdem zugenommen hatte. Lediglich die Häuser hoben sich noch hervor. Doch die schweren, großen Schneeflocken, die in etwa die romantische Aura von nuklearem Fallout besaßen, gaben sich alle Mühe das zu ändern.

Die Häuser der Nachbarn, die als Martin zuletzt aus dem Fenster gesehen hatte, zumindest noch Schauplatz schablonenhaften Bewegung von unheimlicher Schemen im grellen Kunstlicht gewesen waren, waren nun vollkommen dunkeln. Fast keine Lichterkette tat mehr ihr Werk. Auch die meisten Straßenlaternen waren ausgefallen. Nur hier und da kämpften sie noch flackernd gegen das unvermeidliche Vergehen an, als würden sie es der Mittagssonne übel nehmen, dass sie sie im Stich gelassen hatte. Eine dieser sinkenden Inseln immerhin, war noch ganz in Martins Nähe. Nur einen schnellen Spurt von vielleicht zwanzig, dreißig Sekunden entfernt.

„Ist die Luft rein?“, hörte er seine ältere Schwester hinter sich flüstern.

Martin antwortete nicht direkt. Stattdessen ließ er den Strahl seiner Taschenlampe wie einen Suchscheinwerfer umherkreisen. Er stach damit ins schwarz der Häuserschluchten, in die Schatten der Straßen, in finstere Vorgärten und die gähnenden Mäuler von Gebäuden, die offenstanden. Ohne zu wissen, ob das, was dort lauerte, vielleicht einfach nur zu schnell war, um von seiner mageren Lichtquelle entlarvt zu werden.

„Keine Sketcher, keine Freezer und auch keine Menschen“, antwortete Martin, „zumindest sehe ich sie nicht. Aber eine Straßenlaterne in der Nähe geht noch. Dort sind wir sicher. Vorerst. Aber wir müssen schnell sein. Wir rennen los okay? Auf eins …“

„… zwei“

„… drei“

~o~

Jessica stürmte los, die Lichtinsel und ihren Bruder mit dem dünnen Schein seiner Taschenlampe immer im Blick. Zuerst drehte sie sich immer wieder nach Lisa um. Aber als sie den Eindruck bekam, dass sich in der Dunkelheit um sie herum etwas bewegte, etwas, das sie nur aus ihren Augenwinkeln beobachten konnte, steckte sie das Feuerzeug ein und ergriff stattdessen Lisas Hand. Nur, dass es nicht Lisas Hand war. Sondern etwas Schwarzes, Dünnes, wie zu Kohle verbrannte Zweiglein. Erstarrt blickte sie hoch und sah in Augen so matt, weiß und leblos wie Papier. Jessica schrie und rannte so schnell sie konnte. Sie vergaß ihre Geschwister. Vergaß alles außer dem Licht, das nun so nah war und doch so fern. So unendlich fern, dass jeder Versuch dort hinzugelangen sinnlos war. So ausgesprochen sinnlos angesichts der schützenden, gemütlichen, umhüllenden Finsternis. Verständnis. Vergessen. Vereinfachung bluteten über sie herein, umspülten sie wie ein namenloses Meer aus Nachtsekret. Aus Schlaf. Aus erholsamer Gedankenlosigkeit. Ihre Glieder wurden schwer und schwach. Als würden sich ihrer Muskeln entledigen. Müdigkeit. Gravitation. Jessica ließ sich fallen in den Schnee und zog sich die Kapuze übers Gesicht. Kein Licht. Kein Licht mehr. Bis in alle Zeit.

Sie trieb dahin, kuschelte sich ein in Verwesung. In einen übermächtigen, zweidimensionalen Scherenschnitt-Traum.

„Hast du den Verstand verloren!“, riss sie eine Stimme aus ihren Gedanken und blendete sie mit widerlichem Licht, während eine kräftige Hand sie erbarmungslos nach oben zog, „Komm mit!“

~o~

Jessica tat nichts, um ihrem Bruder zu helfen. Im Gegenteil. Sie machte sich so schwer wie sie nur konnte. Wobei „schwer“ nicht der richtige Ausdruck war. Es zwar so leicht, so unheimlich leicht in der Dunkelheit zu bleiben. Zu schrumpfen, zu vereinfachen bis alles zu einem klaren Schema aus Schwarz und weiß kondensierte. Erst als sie ihr Bruder atemlos und unter vielfachen Flüchen in den Schein der grässlichen Straßenlaterne schleppte, änderte sich ihre Perspektive. Die Welt kippte zurück und ihr altes Ich verbalisierte eine alles beherrschende Sorge:

„Wo ist Lisa!“

„Sie ist weg! Du hast sie verloren!“, sagte Martin vorwurfsvoll. Er zitterte am ganzen Körper. Vor Wut. Vor Angst vor Enttäuschung und – womöglich – vor Kälte, „Diese Viecher haben sie aufgefressen, wenn sie nicht sogar …“

Martin sprach es nicht aus. Aber der Vorwurf erreichte Jessica nur umso treffsicherer.

„Nein!“, sagte sie dennoch abwehrend, „du musst dich irren. Sie muss zu einer der anderen Laternen gelaufen sein, sie muss …“

„Siehst du sie denn irgendwo?“, fragte Martin und deutete auf die umliegenden Lichtkreise, die zwar etwas entfernt lagen, unter denen man aber selbst die Silhouette eines Kindes problemlos hätte ausmachen müssen, „oder hast du eine Vorstellung davon, wie schnell ein Kind sich dieser Dunkelheit ergibt, wo sogar du …“

„Sprich es nicht aus!“, schrie Jessica und ihre Stimme hallte doppelt laut durch die leere, unwirkliche Nacht, „du hast sie genauso im Stich gelassen. Im Haus und jetzt auch wieder. Und was redest du überhaupt für einen herzlosen Bullshit du eiskaltes Monster. Warum bist du nicht da draußen und suchst sie anstatt mich anzumachen? Sie ist unsere Schwester, nicht irgendein Kollateralschaden aus deinen bescheuerten Games. Vielleicht hätte ich dich schmelzen sollen wie Mama. Dein Herz hat der Frost doch eh schon erreicht.“

Jessicas Wut verrauchte so schnell wie sie gekommen war. Mit einem Mal fühlte sie sich nur noch leer. Sie ließ sich fallen, setzte sich in den Schnee auf dem das immer häufiger flackernde Licht seinen Tanz aufführte. Jessica weinte. Still und verzweifelt, während ihre Blicke wieder zu der allmächtigen Dunkelheit wanderten. Wegen Lisa. Vor allem. Aber nicht nur. Auch, weil sie ihr flüsternd Erlösung von dieser emotionalen Last versprach. Doch sie blieb sitzen. Starr gefroren, nicht von der Kälte, sondern von ihrer eigenen Hilflosigkeit.

„Hey“, hörte sie Martins Stimme sagen. Sie war unerwartet warm. Dennoch wollte sie seine Hand, die sich tröstend auf ihre Schultern legte, grob wegschlagen. Doch selbst dazu fehlte ihr die Kraft, „hör zu, ich hab es so nicht gemeint. Lisa ist mir nicht egal. Ich hab nur Angst, dich auch noch zu verlieren. Und Papa. Er wäre allein … in dieser … in dieser beschissenen Welt.“

„Und wenn schon“, sagte Jessica niedergeschlagen, „sieh dir das alles doch an. Wir wissen nicht mal, ob es überhaupt noch andere Menschen außer uns gibt. Die Lichter verschwinden. Die Wärme verschwindet. Was bringt es, gemeinsam auf den Tod zu warten?“

„Nun, wenn man es genau nimmt haben wir das bislang auch schon getan, oder?“, sagte Martin grinsend und hob ihren Kopf etwas an, damit sie ihm in die Augen sah, „nur etwas komfortabler, das muss ich schon zugeben.“

„Du bist bescheuert“, sagte Jessica, konnte sich aber dennoch ein Lächeln nicht ganz verkneifen.

„Das bin ich vielleicht“, sagte Martin, „aber das Leben an sich ist reiner Wahnsinn, oder? Jeder Schritt, den wir tun ist ein Kampf gegen das Scheitern. Eine Lächerlichkeit in der Größe des Ganzen und dennoch tun wir ihn.“

„Wenn du noch weiter so schwülstig und pseudointellektuell daherredest, schubs‘ ich dich in die Schatten“, drohte Jessica.

„Schon gut“, sagte Martin und hob beschwichtigend die Hände, „worauf ich hinaus will ist Folgendes: Lass uns einfach den Straßenlaternen folgen, bis wir Papa erreichen. Du kennst den Weg ja. Bis zu seinem Büro ist es gar nicht so weit und wir müssen immer nur geradeaus. Dann können wir uns immer noch der Dunkelheit ergeben.“

„Ist gut, Schneemann“, sagte Jessica grinsend und schluckte den Gedanken an Lisa für einen Augenblick herunter, „Lass es uns versuchen. Aber diesmal bleiben wir zusammen. Gib mir deine Eisgriffel!“

Martin reichte ihr die Hand und Jessica nahm sie. Sie fühlte sich in der Tat verdammt kühl an.

„Okay. Dann los!“, sagte Martin und rannte los.

„Warte!“, schrie Jessica und hielt ihn zurück.

Martin hielt inne, gerade an der Grenze zur Dunkelheit, und kämpfte darum, sein Gleichgewicht nicht zu verlieren. Diesen Kampf gewann er. Den Kampf gegen die Hoffnungslosigkeit als er das erblickte, worauf Jessica ihn aufmerksam machte hingegen nicht. All die fernen kleinen Inseln aus Licht verschwanden. Flackernd und flirrend wie ein ersterbender Herzschlag schalteten sie sich aus und ließen allein ihre zwei Quadratmeter Helligkeit als einziges Refugium in vollkommener Schwärze zurück.

„So viel zur Hoffnung“, sagte Jessica, „so langsam glaube ich doch an einen Gott. Mit reinem Zufall ist so viel Unglück nicht mehr zu erklären. Da muss ein hassendes Wesen hinterstecken.“

„Nicht nur eins“, sagte Martin und zeigte auf die Ausläufer ihres kleinen Fleckchens Licht in dem sich papierdünne Schemen bewegten. So schwarz, dass sie sich gegen die Dunkelheit abzeichneten, jedoch mit mattweißen Augen, Zähnen und Fingernägeln. Sie drängten sich um sie. Warteten wie hungrige Wölfe vor dem Feuer darauf, dass das Licht versiegte. Schienen zu flüstern auf einer Ebene jenseits jeden Verständnisses. In irgendwo hinter ihnen wartete eine Zweite Welle. Die blau schimmernden, gefrorenen Körper von Freezern, die allein von der Masse der Sketcher zurückgehalten worden. Doch die Eiswesen drängten sich nicht vor. Sie gönnten ihren Verwandten ihren großen Moment. Die Herrschaft der Kälte war hier draußen längst absolut. Die der Dunkelheit noch nicht.

Martin zückte seine Taschenlampe und stach mit dem Lichtstrahl nach den Sketchern wie mit einer Schwertklinge. Wann immer das Licht sie berührte, wichen sie zurück und ihre wispernden Stimmen wurden leiser.

Jessica tat es ihm gleich. Doch sie beide wussten, dass sie nicht überall sein konnten.

„Ich frage mich, warum die Lampe noch nicht erloschen ist“, überlegte Martin.

„Der hassende Gott“, sagte Jessica, „so kann er uns länger leiden lassen.“

„Sie dir all die Kälte und Dunkelheit an“, sagte Martin, „glaubst du wirklich, darin könnte ein Gott überleben? Wenn es ihn je gegeben hatte, liegt er längst schwarz und gefroren in toter Erde. Oder er selbst IST diese Leere und all das, was wir Leben nennen war nur ein Unfall, den er jetzt aufräumt.“

Dazu sagte Jessica nichts. Ihre Gedanken zerfaserten mehr und mehr. Der Ruf der

Dunkelheit wurde stärker und die Hand, mit der sie die Taschenlampe festhielt, wurde zittrig.

„Meinst du, es lohnt sich, sich auszuziehen?“, fragte Jessica, „noch haben wir die Wahl. Wie war es zu einem Freezer zu werden? Irgendwie wirktest du fast glücklich dabei. Vielleicht ist es besser als …“

Noch bevor Martin darauf antworten konnte, erlosch ihre Lampe und das Zeitfenster für Jessicas Vorschlag verstrich.

Jessica meinte ein leises Schnattern und Rascheln zu hören. Wie von zerknülltem Papier, das sich an der Nachahmung einer Sprache versuchte. Es passte zu den Stimmen, die bereits in ihrem Kopf ihr Unwesen trieben.

Doch eh sie wirklich darüber nachdenken konnte, übernahm ihr Überlebensinstinkt, der sich einen Scheiß um philosophische Fragen scherte. Rücken an Rücken mit ihrem Bruder ließ sie das Licht ihrer Taschenlampe kreisen, leuchtete in hungrige Papierfratzen, dürre Hände, die nach der Lichtquelle griffen und stelzenhafte Beine, die nach der richtigen Position suchten, um ihre Verteidigung zu durchdringen.

Zuerst funktionierte es. Sie beide, die letzten Lichtquellen auf dieser sterbenden Welt leisteten tapfer Widerstand und hielten die Horden der Finsternis auf Abstand. Es funktionierte sogar so effektiv, so automatisch, dass Jessicas Gedanken fortwanderten. Sie dachte an frühere Jahre. Alls ihr Vater mit einem schrägen Lied auf den Lippen das Weihnachtsessen vorbereitet hatte, während ihre Mutter mit ihnen irgendwelche Brettspiele gespielt hatte und kitschige Weihnachtscartoons über den Bildschirm flimmerten. Es war Jessica immer etwas peinlich gewesen, gerade die letzten Jahre, aber sie hatte es auch genossen und erst jetzt merkte sie, wie sehr es ihr wirklich fehlte.

Der flüchtige Strom der Nostalgie riss ab, als ihre schwerer werdenden Arme ihr nicht mehr erlaubten ihren Reflexen die Verteidigung zu überlassen. Sie erforderten jetzt den Eingriff ihres Verstandes, was bedeutete, dass sie verloren waren. Lisa war fort. Ihre Mutter war fort. Und ihr Vater womöglich auch, egal wie viel Hoffnungen sich Martin, dessen verzweifelte Kampfschreie und Durchhalteparolen durch die Nacht halten, auch machte. Es war Zeit, sich ihrem ewigen Schlaf anzuschließen.

Jessica wollte die Augen schließen und sich ergeben. Sie konnte nicht anders, auch wenn sie befürchtete, dass dieser Schlaf alles andere als angenehm werden würde. Doch stattdessen musste sie sie fest zusammenkneifen als ein helles Licht um sie herum erschien. So unglaublich hell, dass sie befürchtete, es würde ihre Augen verdampfen und ihren Sehnerv absterben lassen. Gleichzeitig hörte sie ein vielstimmiges, wütendes Rascheln.

Dann spürte sie Wärme. So wohltuend und entspannend wie ein Bad nach einem langen Tag und eine plötzliche Stille.

Neugier zog an Jessicas Liedern und zwang sie nach oben. Was sie dort sah, war die coolste und zugleich schrägste Frau, die sie in ihrem Leben je gesehen hatte. Sie trug ein rotes Kleid aus dünnen Seidenstoff über einem schwarzen Kampfanzug mit klobigen, weißen Stahlkappenstiefeln. Ihre rote, mit silbernem Staub verzierte Locken fielen wie ein dichter Regenguss über breite Schultern und umrahmten ein fast schneeweißes Gesicht mit schwarzen Lippen. Ihre Augen strahlten so hell wie Sterne, ja sie schienen regelrecht Licht zu emittieren und überhaupt strahlte ihr gesamter Körper Licht und Wärme aus wie ein getuntes Solarium. Und um die nackten Finger ihrer linken Hand lag ein rötlicher Schimmer wie von glühendem Metall, während ihre Rechte heller Strahlte als ihre Taschenlampen zusammen. Auf ihrem Rücken trug sie einen Bogen und einen Köcher mit flammenden Pfeilen, die ihre Kleidung nicht verbrannten. Ihre gesamte Erscheinung war hell wie eine Supernova. Trotzdem hatte Jessica inzwischen nicht mehr das Gefühl geblendet zu werden, so als hätten sich ihre Augen an diesen Anblick gewöhnt.

Die Frau sah sie an und lächelte. Jessica konnte sich nicht dagegen wehren, dass sie ihr ungemein sympathisch war. Und dass sie der Fremden vertraute. Sie war vielleicht Ende zwanzig, aber sie strahlte das Selbstbewusstsein und die Sicherheit einer Mutterfigur aus. Dass ihr Körper von einem Kreis aus Licht umgeben war, der sicher zwanzig Meter maß und seid ihrer Ankunft keine Freezer oder Sketcher mehr zu sehen waren, trug gewiss zu diesem Eindruck bei.

„Wer bist du?“, fragte Jessica vollkommen perplex.

„Das ist Lady Hope“, sagte eine Stimme. Aber sie gehörte nicht der Unbekannten, sondern ihrer Schwester Lisa. Der kleinen, vollkommen gesunden Lisa, die putzmunter und strahlend vor der Frau stand, die sie wie ihr eigenes Kind in den Armen hielt, was Jessica jetzt erst bemerkte, „sie ist eine tolle Frau. Aber es ist noch viel viel toller euch wiederzusehen.“

Ihre Schwester wirkte so fröhlich und kindlich wie seit Beginn der Dunkelheit nicht mehr.

„Das geht uns genauso“, sagten Martin und Jessica fast wie aus einem Mund. Sie lächelten ihre Schwester an und fühlten sich ebenfalls ungemein erleichtert.

„Ich glaube, ich bin verknallt“, sagte Martin unvermittelt, der trotz der Kälte ziemlich durchgeschwitzt war und dessen Blick sich nun auch wie ein Magnet an die Fremde geheftet hatte.

„Das ehrt mich“, sagte Hope kichernd, „aber diese eine Hoffnung darfst du dir nicht machen.“

Sie sprach dabei so freundlich und lächelte so einnehmend, dass Martin diesen Korb gelassen entgegennahm und sogar froh war so einen Ausweg aus der peinlichen Situation zu haben. Er erwiderte das Lächeln und wendete sich Lisa zu, die freudestrahlend in seine Arme lief.

„Ich …“, begann Jessica verunsichert, „ich kann gar nicht in Worte fassen wie dankbar ich dafür bin, dass du uns Lisa zurückgebracht und uns gerettet habe. Aber … wie zur Hölle hast du all das gemacht. Bist du ein Engel? Eine Heilige? Eine gute Fee? Das verfluchte Christkind ich … ich komm‘ einfach nicht klar.“

Hope gluckste fröhlich und strich mit ihrer rechten Hand einige locken ihrer dichten Haare zurück, wobei sich die Lichter darin spiegelten und kurz ein Muster auf den Boden malten. „Das kann ich vollkommen verstehen. Aber ich bin nichts davon. Ich bin nur jemand, der helfen möchte und der über gewisse Fähigkeiten verfügt. Es würde zu lang dauern das alles zu erklären. Und ich habe leider nicht viel Zeit. Ihr hab ja gemerkt, wie schlimm es steht.“

„Heißt das, du weißt, was hier vor sich geht?“, fragte Martin, während er Lisa sanft übers Haar strich. Die kleine hatte sich an ihn festgeklammert und sah dabei so glücklich aus, als wäre ihre Mutter zurückgekehrt und hätte ihr einen Haufen Geschenke gemacht.

„Ist das nicht offensichtlich?“, fragte Hope und Sorgenfalten sickerten in ihr freundliches Gesicht, „Dunkelheit und Kälte greifen um sich und übernehmen die Herrschaft. Die Ungeliebten, diese Wesen, die ihr ‚Freezer‘ und ‚Sketcher‘ nennt, sind der beste Beweis dafür.“

„Aber warum?“, fragte Lisa, deren Lächeln sich wieder verflüchtigte, „ist das irgendeine grausame Strafe? Haben wir etwas falsch gemacht? Haben wir zu viel Scheiße auf der Welt angerichtet?“

„Ja und Nein“, sagte Hope, „das hier ist nicht unsere Schuld. Wir wurden in die Hölle geboren. Und ihre Fratze war stets nur ein Blinzeln entfernt. Wenn du mich fragst, haben die Menschen eine ganze Menge gemacht. Aber das ist nicht der Grund für all das. Das hier ist keine göttliche Strafe. Es ist nur der Lauf der Dinge. Wie Ebbe und Flut, die sich irgendwann eben ereignen müssen. Die Ungeliebten sind Marionetten der Leere, die sich nur das zurückholen, was ihrer Herrin immer schon gehörte. Unser Leben ist gestohlen. Der Finsternis abgetrotzt. Jeder Moment des Glücks ist ein Raub, den wir feiern. Mit Lichtern, mit Lachen und Geschenken. Wir alle sind Diebe. Und das hier, meine Freunde, wird ein weiterer Raubzug!“

Die letzten Worte sprach sie so entschlossen und kampflustig, dass sich der Licht- und Wärmekreis um sie erweiterte und ihre Augen noch heller erstrahlten.

„Wenn du früher gekommen wärst, könnte Mama noch leben“, sagte Lisa nachdenklich und auch den älteren Geschwistern jagte bei diesen Worten ein schmerzlicher Schauer über den Rücken.

„Das tut mir leid“, sagte Hope und ihre strahlenden Augen verdunkelten sich, „und du hast natürlich recht. Viele könnten noch leben, wenn ich schneller gewesen wäre. Aber leider kann ich nicht überall sein. Ich bin keine Göttin. Ich bin nur eine Räuberin, die ihr Bestes versucht. Die erste Stadt, in der es passiert, fällt fast immer. Eigentlich gibt es sogar nur selten Menschen anzutreffen. Ihr könnt euch glücklich schätzen, dass ihr noch lebt. In gewisser Weise.“

„Was hast du denn jetzt vor?“, fragte Jessica, „wie willst du all diese Dunkelheit aufhalten?“

„Ich muss etwas stehlen. Es liegt nahe eurer Stadt. In den angrenzenden Wäldern, wo sich die Quelle dieser Finsternis inkarniert hat. Der Avatar der Leere, wenn man so will.“

„Wir kommen mit dir!“, sagte Lisa tapfer.

„Auf keinen Fall!“, sagte Hope streng, „an diesem Ort kann ich euch nicht beschützen. Ihr würdet sterben. Garantiert.“

„Du weißt, dass das auch passiert, wenn du uns verlässt“, sagte Martin, der nun eher enttäuscht, als verknallt wirkte, „diese Wesen sind überall. Ohne dein Licht werden wir uns ihnen bald anschließen. Und dann werden WIR Jagd auf dich machen. Schon bald. Wenn du das in Kauf nimmst, bist du keine Räuberin, sondern eine Mörderin. Und eine dumme, herzlose Psychopathin noch dazu.“

Hope nahm Martins Wut und seine Schmähungen gelassen hin, „Da irrst du dich. Ich habe nicht gesagt, dass ich euch im Stich lassen will.“

Sie griff in ihren Kampfanzug und holte drei silberne Ketten hervor. An jeder von ihnen hing ein gläserner, fünfzackiger Stern.

„Hier, für euch!“, sagte sie und streckte ihre Hand aus.

Lisa stürmte sofort los und nahm das unerwartete Geschenk an sich. Auch Jessica trat nach vorne und betrachtete das Kleinod, wirkte jedoch deutlich skeptischer. „Was ist das? Das sieht aus wie Weihnachtsschmuck“, meinte sie stirnrunzelnd.

„Leg es an“, antwortete Hope nur.

Jessica sah sie schräg an, tat dann aber wie ihr geheißen und auch Martin tat es ihr nach kurzem Zögern gleich.

Sofort spürten sie die Wärme auf ihrer Haut als ein kleines Licht sich in dem Medaillon ausbreitete – nicht nur um ihren Hals, sondern um ihren ganzen Körper, und schließlich sogar einen kleinen Lichtkreis um sie alle erschuf.

„Hierdurch kann ich euch beschützen. Weder Freezer noch Sketcher können diesen Kreis betreten. Und ihr seid darin sicher, solange ich lebe“, ließ sich Hope nun doch zu einer Erklärung ab, „wenn ich Erfolg habe, wird die Dunkelheit vergehen und die meisten Freezer und Sketcher werden wieder Menschen. Auch du, Martin, wirst dann wieder gänzlich menschlich sein. Dann könnt ihr euch die Anhänger tatsächlich an den Baum hängen. Als Erinnerung daran, dass sich Dinge auch zum Guten wenden können.“

„Und was ist, wenn du stirbst?“, fragte Martin.

„Ohne Brennstoff wird es nie mehr ein Feuer geben“, sagte Hope so düster wie kryptisch, „aber darum braucht ihr euch keine Gedanken machen. Ich werde nicht scheitern. Das ist mir noch nie passiert. In zehntausenden Jahren noch nicht. Achtet nur darauf, dass ihr die Kette behaltet. Sie wird euch sicher zu eurem Vater führen.“

„Woher weißt du, dass wir nach ihm suchen?“, fragte Martin etwas argwöhnisch.

„Von mir“, sagte Lisa aufgeregt, „ich hab ihr erzählt, dass wir Papa suchen und sie meinte, dass er noch leben würde. Und … dass er noch immer ein Mensch ist.“

Martin sah Lisa ungläubig an und fing an zu grinsen. Beiden entging das verschwörerische Augenzwinkern, das Hope Jessica zuwarf. Jessica begriff sofort, wie es zu verstehen war. Die mysteriöse Frau mochte viele Talente haben. Aber Hellseherei gehörte nicht dazu. Trotzdem teilte sie Hopes Einschätzung, die wahrscheinlich hinter dieser Flunkerei steckte: wenn ihre Geschwister daran glaubten, dass ihr Vater noch lebte, würde ihnen ihre Reise leichter fallen. Dass Hope Jessica einweihte, war grausam, ehrte sie aber auch. Es bewies, dass die Fremde sie – zurecht – für die Erwachsenste in der Gruppe hielt.

„Nun muss ich dringend los“, sagte Hope, „wenn die Dunkelheit die nächste Stadt erreicht, wird es zu spät sein. Ich wünsche euch viel Glück und einen gesegneten Heiligabend. Achtet auf eure Lichter.“

„Werden wir uns wiedersehen?“, fragte Lisa, als sich Hope bereits zum Gehen wand.

„Nur wenn du wirklich sehr sehr alt wirst, meine Kleine“, sagte Hope schmunzelnd und schickte einen Funkenregen hinter sich, der sich wie ein kleines Feuerwerk durch den Schnee fraß, während sie sich die Böschung hinauf zur nahen Waldgrenze begab.

Als sie ging, schien es kälter zu werden. Jessica spürte und sah, wie die „Ungeliebten“, die Sketcher und Freezer näher heranrückten. Sie tasteten, wagten sich vor, suchten nach Lücken im Schutz, den Hope ihnen hinterlassen hatte. Doch zumindest vorerst suchten sie vergeblich.

„Ihr könnt uns mal ihr Versager!“, sagte Martin und streckte den Kreaturen seinen Mittelfinger mit dem blau-weiß-geäderten Fingernagel entgegen, was der Szene eine gewisse Ironie verlieh.

„Ich hoffe, sie wird es diesen Monstern zeigen!“, meinte Lisa, die automatisch zwischen Martin und Jessica Schutz suchte, nun wo Hope nicht mehr in Sicht und die Kreaturen so nah waren.

„Ganz bestimmt“, sagte Martin aufmunternd lächelnd, „doch zuerst suchen wir Papa. Jetzt wird das ein regelrechter Spaziergang.“

Jessica war sich da nicht so sicher. Sie wusste nicht, ob es eine so gute Idee wäre das Büro ihres Vaters aufzusuchen. Natürlich, wenn es Überlebende gab, dann wahrscheinlich in einem der Gebäude, wo noch Wärme und zumindest theoretisch auch Licht existierten.

Doch genauso gut konnten sich dort auch Kreaturen verbergen. Über einen Mangel an Verfolgern konnte sie sich hier draußen sicher nicht beschweren. Aber selbst wenn es Hunderte waren, die hier nach ihrer Lebenskraft gierten, so gab es in der Stadt fast hunderttausend Einwohner. Und es war sehr unwahrscheinlich, dass sie sich alle ihre Menschlichkeit bewahrt hatten.

Andererseits war es wohl immer noch besser dorthin zu gehen als hier auf freiem Feld auf den Ausgang von Hopes „Raubzug“ zu warten. Den anderen beiden war es bislang nicht aufgefallen, aber Jessica hatte durchaus bemerkt, dass manche Sketcher weiter in ihre Lichtkreise vorgedrungen waren als andere. Entweder waren sie schlauer oder stärker als die anderen oder sie begannen sich an die Helligkeit zu gewöhnen. Möglich war auch, dass die „Räuberin“ ihre Kraft gerade selbst benötigte und von den Amuletten abziehen musste. In jedem Fall war der Schutz, den Hope ihnen geschenkt hatte, nicht perfekt. Es war also besser eine Zuflucht zu suchen.

„Dann lasst uns gehen!“, stimmte Jessica zu. Und gemeinsam schritten sie die Straße herab. Drei sich überschneidende Kreise aus Licht in einem Meer aus Dunkelheit.

~o~

„Seid jetzt unbedingt leise“, warnte Martin als sie die Eingangshalle des großen, düsteren Bürokomplexes betraten. Dass die Schiebetür sich automatisch geöffnete hatte, hatten sie als gutes Zeichen gewertet, denn es bedeutete, dass in dem Gebäude noch Strom vorhanden war. Dass das Licht dennoch nicht funktionierte und alles zappenduster war, war hingegen weniger erfreulich.

„Wozu?“, fragte Jessica, „Die Freezer und Sketcher locken wir auch so schon an. Wenn jemand unsere Geräusche hört, dann Menschen. Wir sollten also ruhig laut sein, damit sie uns hören.“

Wie um ihre Worte zu unterstreichen kramte Jessica bewusst geräuschvoll ihre Taschenlampe aus ihrem Rucksack, mit der sie weitersehen konnte als mit dem Lichtkreis, dessen Leuchtkraft sich jenseits ihrer direkten Umgebung so schnell verlor, als träfe er auf eine Wand. Der Lichtstrahl der Taschenlampe hingegen enthüllte einen Empfangstresen auf dem ein angebissener Schokoriegel, eine Schale trockener Lebkuchen und eine halbvolle Tasse Kaffee standen. Die Tasse war kalt. So kalt, dass sich auf dem Kaffeerest ein kleiner Eisfilm gebildet hatte. Zu sehen war dort aber niemand mehr.

Abgesehen davon war das einzig auffällige, der in den Firmenfarben – Pink und Hellgrün – geschmückte Weihnachtsbaum, der sich fast bis zur Decke erstreckte. Auch in dem Kübel, in dem er stand, zeigte sich bereits Eis. In ihren beruhigenden Lichtkreisen fiel es leicht das zu übersehen, aber nun wo Jessica den Raum genauer betrachtete, erinnerte er an ein altes, vergessenes, gefrorenes Grab.

„Das Gebäude ist tot“, sagte Jessica niedergeschlagen, „und wer immer hier war, ist es auch. Oder schlimmeres. Wir sollten gehen. Vielleicht gibt es noch ein anderes Haus, in dem wir Unterschlupf finden können.“

„Nein!“, protestierte Lisa, „Papa ist hier irgendwo. Hope hat es versprochen.“

„Sie hat sich geirrt“, sagte Jessica, ohne das verräterische Zwinkern der Räuberin zu erwähnen, „und selbst wenn er vorhin noch lebte, ist er inzwischen wahrscheinlich tot. Oder verwandelt. Hier gibt es weder Licht noch Wärme. Es kann gar nicht anders sein.“

„Du lügst!“, sagte Lisa tränenreich, „das sagst du nur, weil du Papa hasst. Weil du mich hasst!“

„Das ist nicht wahr, Lisa“, sagte Jessica, „ich will doch nur, dass …“

„Ich weiß genau, dass er noch lebt“, sagte Martin entschlossen, „und ich werde ihn finden!“

Mit diesen Worten rannte Martin los, direkt auf das Treppenhaus zu, das zu den Büroräumen führte.

„Bleib stehen, du Irrer!“, verlangte Jessica, aber als er nicht hörte, packte sie sich Lisa kurzerhand auf dem Rücken und rannte ihm hinterher.

Dank des Lichtkreises gelang es ihr immerhin nicht zu stolpern und da sie schon immer sportlicher gewesen war als ihr Bruder, schaffte sie es trotz der zusätzlichen Last zu ihm aufzuschließen.

Sie sah ihn in der Tür stehen. Auf der Schwelle zur Etage, auf der sein Vater arbeitete, stand er reglos da und starrte auf sein Handy. Der Raum war auch hier zappenduster. Also lies Jessica Lisa vorsichtig herunter, suchte tastend nach dem Lichtschalter und drückte ihn. Auch hier waren die Lichter nicht funktionsfähig. Ganz wie sie es befürchtet hatte. Doch anders als in der Eingangshalle hatte sie nicht das Gefühl allein zu sein. Mehr als das. Sie meinte sogar schwarze Schemen und matte weiße Augen in der Dunkelheit lauern zu sehen. Schemen, die sich noch im Hintergrund hielten. Aus Angst vor dem übernatürlichen Licht, das sie umgab.

„Lass uns endlich gehen, Martin. Wir sind hier nicht sicher und Papa ist nicht hier“, ermahnte sie ihn und packte ihn auffordernd an seine Schulter.

Doch Martin beachtete sie gar nicht. Er blickte lediglich wie hypnotisiert auf sein Handy als wären seine Augen durch eine unsichtbare Eisenstange damit verschraubt und scrollte wie geistesabwesend darauf herum.

„Okay“, sagte Jessica wütend, „dann bleib eben hier. Ich bin nicht deine Mutter. Es ist deine Sache was du machst, aber ich kann Lisa nicht …“

In diesem Moment geschahen zwei Dinge gleichzeitig. Irgendwo in einem der Büros zu ihrer rechten klingelte ein Smartphone. Und die schützenden Lichtkreise erloschen.

Jessica, die wohl noch am ehesten damit gerechnet hatte, dass Hopes Schutz ihnen seinen Dienst versagen könnte, schwenkte ihre Taschenlampe und leuchtete die Umgebung so gut aus, wie es ging. Aber sie konnte nicht überall sein. Bereits Sekundenbruchteile später spürte sie einen heftigen Schlag gegen ihre Hand, der ihren Griff um die Lampe lockerte. Das schützende Gerät fiel herab und zerbrach klirrend. Wenige Augenblicke später wurde sie mit einem Ruck nach hinten gezogen und hörte das Reißen von Stoff als ihr der Rucksack förmlich vom Rücken gerissen wurde.

Diesmal war es anders als das letzte Mal als sie in den Schatten eingetaucht war. Die Dunkelheit hier war kein Verführer. Sie war ein gnadenloser Vergewaltiger. Sie strömte in sie, rammte sich in ihr Gehirn und überspülte ihre Zellen wie schwarzer Schleim, während ihr Blickfeld ausgefüllt wurde von dürren schwarzen Händen und papierweißen Augen. „Lisa, Martin!“, rief sie. Doch ihr Ruf wurde erstickt von schwarzen Händen, die in ihren Mund griffen, so als wollten sie ihre Finsternis hineinstopfen oder die Reste ihrer Seele herausholen. Und sie taten es. Formten sie um wie weiche Knete und zerstörten ihre Menschlichkeit.

Zwischen all dem hörte sie ein geradezu unwirkliches Geräusch. Es war das Knarzen einer sich öffnenden Tür. Und kurz darauf war da ein Licht. Eiskalt und künstlich, aber so grell, dass die Sketcher von ihr abließen uns auch ihre eigenen Augen in Flammen zu stehen schienen.

Jessica spürte wie ihr Körper davon geschleift wurde. Wie sie irgendetwas über den Boden zog. Jessica wehrte sich nicht dagegen. Sie konnte es gar nicht. Hilflos sah sie das Licht wieder erlöschen. Sah die Sketcher wieder näherkommen – so klar und deutlich wie Menschen im Tageslicht. Doch noch ehe die Kreaturen sie erreicht hatte, entflammte Hopes Schutz von neuem und der unsägliche Schmerz, den Jessica dabei fühlte, kostete sie das Bewusstsein.

~o~

„Es tut mir so leid, Kleine. Ich hätte bei euch sein sollen“, hörte sie eine tiefe, männliche Stimme sagen, als sie die Augen öffnete. Es war die Stimme ihres Vaters, in der sowohl Sorge als auch Wiedersehensfreude mitschwang. Jessica war verwirrt. Ja, es war eindeutig die Stimme ihres Vaters. Aber das, was sie dort an der Wand des kleinen Büroraumes lehnen sah, erinnerte eher an eine Strichzeichnung ihres Vaters, die man mit einem Foto überlager hatte. Grau, blass und fern und mehr ein komplexes Gittermodell als ein Mensch aus Fleisch und Blut. War er ein Sketcher? Möglich. Aber dann mussten es Lisa und Martin auch geworden sein, die neben ihm im Kreis von Hopes Licht saßen und sie mindestens genauso besorgt betrachteten.

Erst jetzt fiel ihr auf, dass sie die einzige war, die nicht direkt im Schein des Lichtes saß. Ihr Anhänger war verschwunden. Und während der Rest des Raumes von den Lichtkreisen und von einigen Handy-Taschenlampen erhellt wurde, die wie ein Schutzwall vor der Tür aufgereiht waren, umgab sie lediglich ein halbschattiges Zwielicht. Offenbar war ihre Annahme nicht so ganz richtig gewesen.

„Wir mussten dir das Medaillon wegnehmen“, erklärte Martin, „du hast vor Schmerzen geschrien, wann immer wir es dir anlegen wollten.“

„Aber warum …?“, fragte Jessica, doch ein Blick nach unten gab ihr die Antwort. Ihre Arme, die sie trotz des schlechten Lichts gut erkennen konnte, waren dünn. Nicht so dürr wie bei den Sketchern, aber doch als wäre sie schwer magersüchtig. Und sie waren von schwarzen Flecken übersät. Ihre Fingernägel hingegen bestanden aus weißem, mattem Papier.

„Ich wünschte ich hätte euch schneller gerettet“, sagte ihr Vater, „aber ich habe eure Nachrichten nicht mehr bekommen. Es war wohl ein Wunder, dass Martins letzter Anruf überhaupt durchkam. Sie machen hier irgendetwas mit den Signalen. Aber das ist natürlich keine Entschuldigung. Ich … ich hätte nach euch suchen müssen. Ich hätte euch helfen müssen, statt mich hier feige zu verkriechen. Dann hätte ich auch Melli retten können.“

Jessicas Vater krallte seine Finger vor Verzweiflung in die Handflächen. Er wirkte niedergeschlagen und abgekämpft. Die Falten zwischen seinen graumelierten schwarzen Bartstoppeln waren ihr noch nie so tief erschienen und sein Haar war verschwitzt und unordentlich. Das zeigte selbst ihre verzerrte Sicht auf ihn. Aber er war zweifellos noch ein Mensch. Ein vollständiger Mensch. Anders als sie oder Martin.

„Sag sowas nicht Papa!“, sagte Lisa aufmunternd und kuschelte sich an ihren Vater, „es ist nicht deine Schuld!“

„Deine Feigheit hat dich gerettet. Und letztlich auch uns“, stimmte Jessica ihrer Schwester zu. Ihre Wut auf ihren Vater war verraucht. Und auch wenn es ihr Angst machte, wie unnatürlich nüchtern und distanziert sie die Dinge betrachtete, war es wohl in diesem Moment wohl praktisch, dass sie ihre Emotionen in Zaum halten konnte. „Du wärst gestorben“, fuhr sie fort, „oder nicht mehr du gewesen. Ehrlich, ich hab mir sogar gewünscht, dass du tot wärst. Aber jetzt nicht mehr. Du bist hier bei uns und das ist gut.“

Gerade weil sie ihre Worte so nüchtern sprach, schien jedes davon wie ein Schlag ins Gesicht auf ihren Vater zu wirken. Aber letztlich lächelte er dennoch, so wie jemand, der erfolgreich seiner schlimmsten Angst gegenübergetreten war und noch lebte.

„Danke, Jess“, sagte er, „ich könnte mir auch nichts Schöneres vorstellen als wieder bei euch z u sein.“

Jessica nickte. Bevor sie weitersprach. „Schön, dass es so ist“, sagte sie, „aber mich solltet ihr dennoch rauswerfen. Solange ich hier drin bin, seid ihr nicht sicher. Mich hat die Veränderung schlimmer getroffen als Martin. Ich spüre den Schatten. Er ist in meinem Blut. In meinem Atem. In meinen Gedanken. Ich bin eine Zeitbombe. Mehr nicht.“

„Schwachsinn!“, sagte Martin, „Hope hat uns versprochen, dass sie alle heilen kann, wenn das hier vorbei ist. Selbst die komplett verwandelten. Da solltet meine melodramatische Schreckschraube von Schwester schon gar kein Problem darstellen. Außerdem haben wir Hopes Amulette.“

„Die haben schon einmal versagt“, erinnerte Jessica und versuchte zu lachen oder ihm ebenfalls eine schnippische Beleidigung entgegenzuwerfen, aber es misslang ihr. Es war als hätte ihr jemand den Humor amputiert oder als würde das, was nun in ihr wohnte, ihn unterdrücken.

„Wir haben die Handys“, meinte ihr Vater, „die meisten Akkus sind noch mehr als halbvoll. Sie werden dich notfalls von uns fernhalten, falls du auf dumme Gedanken kommst. Zumindest hat das bei meinen Kollegen geholfen. Und der Akku für den Baustrahler hat auch noch etwas Ladung für einen zweiten Rettungseinsatz. Außerdem werde ich nicht meine Tochter opfern. Das kommt gar nicht infrage. Eher sterbe ich selbst.“

Auch Martin nickte entschlossen, um den Worten seines Vaters zuzustimmen.

„Na gut“, sagte Jessica und bemerkte erst jetzt, wie hohl und raschelnd ihre Stimme klang, „aber haltet euch so weit fern von mir wie nur möglich.“

„Seht mal!“, sagte Lisa plötzlich und zeigte aufgeregt zum Fenster, „der Himmel brennt!“

Sie alle, selbst Jessica, standen auf und blickten hinaus, direkt auf den Wald, den sie in so detailliert Klarheit erkennen konnte, als würden sie ein Teleskop verwenden. Dabei sahen sie Hope. Die Räuberin stand auf einem Hügel, umzingelt von Sketchern und Freezern. Sie zündete zwar nicht wirklich den Himmel an, aber schoss mit einem leuchtenden Bogen Feuerpfeile ab, die wie Granaten in das feindliche Heer einschlugen.

„Ich muss sagen, ich so richtig habe ich euren Erzählungen von dieser Dame nicht glauben können“, sagte ihr Vater, „aber sie ist wohl wirklich eine bemerkenswerte Frau.“

„Und eine Rücksichtslose noch dazu“, meinte Jessica, „Sie wird unsere Stadt wohl kaum heilen können, wenn sie alle Bürger tötet.“

„Sie tötet sie nicht“, sagte Martin, „sieh genauer hin. Die Ungeliebten weichen nur zurück. Und mit ihren Pfeilen schafft sie sich eine Gasse aus Flammen.“

„Das wird ein Weilchen dauern“, meinte Jessica, „das müssen tausende von ihnen sein.“

„Wir haben Zeit“, sagte ihr Vater, „sollten wir diesen Albtraum überstehen, wird es das seltsamste Weihnachtsfest gewesen sein, das wir je erlebt haben. Endlich mal was anderes als sich den Bauch vollzustopfen und fernzusehen. Das sollten wir ausnutzen. Schaut euch ruhig das Spektakel an. Ich bewache die Tür und drücke unserer Streiterin die Daumen. Und meiner kleinen Familie natürlich.“

Diese Ankündigung rief sogar in Jessica einen leichten Schauer der Geborgenheit hervor, so als wäre sie immer noch ein kleines Mädchen im Gitterbettchen, das von ihren Eltern beschützt wurde. Und auch auf Martins eisblauen Lippen zeigte sich ein warmes Lächeln, wie Jessica bemerkte, als die beiden sich für einen geschwisterlichen Moment lang ansahen.

Dann wanderten ihre Blicke zurück zum Fenster. Aufmerksam und fasziniert sahen sie dabei zu, wie sich Hope ihren Weg durch die Wesen der Dunkelheit und der Kälte kämpfte. Still feuerten sie sie an. Auch wenn vor allem Jessica spürte, dass ein kleiner Teil von ihr sie scheitern sehen wollte. Aber sie verdrängte ihn. Noch war sie die Herrin ihres Körpers. Jedenfalls größtenteils.

Nach einiger Zeit hörte sie ihren Vater ein Weihnachtslied summen und das absurde Gefühl der Geborgenheit nahm sogar noch zu. Die Wärme, der in diesem Raum noch funktionierenden Heizung tat ihr Übriges. Sie fühlte sich fast glücklich und wünschte sich nur, ihre Mutter würde noch bei ihnen sein können.

Es war gut, dass ihr Vater auf sie aufpasste. Denn während sie den Kampf von Hope verfolgten wurden sie alle langsam schläfrig. Dass das Schicksal der Welt und ihre eigene Existenz von all dem abhing, änderte daran wenig. Womöglich lag es daran, dass es kein wirklicher Kampf war, dem sie beiwohnten. Denn die verwandelten Stadtbewohner leisteten keinen nennenswerten Widerstand. Das ändert sich erst als die „Räuberin“ auf eine Wand aus Schwärze traf. Eine Schwärze, die sie erst auf zweiten Blick als einen Baumgroßen, humanoiden Strudel aus kalten, wabbelligem Schattengewebe erkannten, in dessen adipösen Zentrum sich eine kleine, rote Flamme zeigte.

Als Hope die Gestalt erreichte, legte sie ihren Bogen weg und benutzte stattdessen ihre Hände. In einem Kreis aus Licht und Wärme stürzte sich die zierlich scheinende Frau auf das amorphe Ungetüm und schnitt sich mit sprühenden Fingern durch sein Schattenfleisch. Das Wesen hielt dagegen und packte sie mit seinen finsteren Händen. Wie zwei ungleiche Sumoringer warfen sie ihre Kräfte gegeneinander, rangen, taktierten … und schließlich, nach einem schweißtreibenden Kampf … triumphierte Hope. In einem letzten, riskanten Manöver löste sie sich aus der Umklammerung der Kreatur und führte ihre Handflächen wie sprühende Sensen gegen deren Hals. Blaues Blut brach wie ein kalter Lavastrom aus den Wunden hervor. Doch der Koloss starb nicht, würde nie sterben so lange das Universum existierte und vielleicht nicht einmal, wenn es verging. Aber das war auch nicht nötig. Alles was gelingen musste, war der Raub. Triumphal und heldenhaft wie die archaichste aller Kriegerinnen nahm Hope das rote Licht an sich, schritt durch die Gasse aus Licht, die sich mit jedem ihrer Schritte noch weiter verbreiterte und ließ den bezwungenen Feind zurück. Ein weiteres Mal hatten Licht und Leben triumphiert und sich ein neues Zeitalter gestohlen.

„Sie hat gewonnen! Sie hat gewonnen!“, freute sich Lisa euphorisch und Jessica wusste, dass ihre Schwester recht hatte. Denn die Dunkelheit in ihr zog sich bereits zusammen wie ein getretenes Tier.

„Scheiße ja!“, stimmte Martin in den Jubel ein, „ich wusste es genau. Ich wusste, dass wir es schaffen!“. Dann breitete er die Arme aus und sah Jessica an. „Komm her Schwesterherz!“, rief er freudig und Jessica wehrte sich nicht länger dagegen. Die Dunkelheit war nun keine Gefahr mehr. Sie spürte sie bereits zurückweichen. Und tatsächlich, als sie in Martins Lichtkreis eintrat, spürte sie kaum noch ein Brennen.

„Fröhliche Weihnachten!“, entfuhr es ihrem Vater, der seine Kinder ebenfalls in die Arme schloss, „leider habe ich keine Geschenke für euch. Aber dass wir überleben werden ist wahrscheinlich Geschenk genug.“

„Oh nein, Pa“, sagte Martin streng, „so leicht kommst du mir nicht davon. Die kaufst du gefälligst nach, wenn die Läden wieder öffnen und die Verkäufer wieder Menschen sind.“

Sie alle lachten. Herzlich und befreit und zum ersten Mal seit vielen, grauenhaften Stunden fühlten sie sich glücklich.

Doch ihre Fröhlichkeit erstarb, als sie – eher beiläufig – wieder zum Fenster sahen. Hope war verschwunden. Sie hatte sich einfach in Luft aufgelöst. Doch ohne das rote Licht mitzunehmen. Das erbeutete Kleinod lag dort im Schnee. Unbewacht inmitten von herrenlosen Lichtkreisen, die sich flackernd abschalteten bevor auch ihre eigenen Medaillons mit einem Mal erloschen. Einmal mehr waren sie schutzlos ausgeliefert. Genau wie das wertvolle Licht den begehrlichen Blicken der Dunkelheit.

„Was … das kann doch nicht sein …“, entfuhr es Martin, dem die Kälte plötzlich wie Eiswasser durch die Haut und die Kleidung sickerte. Doch nicht von außen, sondern von innen. Er sah zu seinem Vater, dessen Haut bereits vollkommen gefroren war. So geistesgegenwärtig wie vergeblich hatte er sich nach dem Kreis aus Handys gebückt, die nun ebenfalls ausgegangen waren. Unfähig auch nur eine Träne aus seinen steifgefrorenen Augen zu pressen, blickte Martin zu Lisa, die erbärmlich zitterte. „Bitte, lass mich los“, flehte seine kleine Schwester. Und Martin versuchte es. Anfangs. Bevor es ihm egal wurde und die in ihm wohnende Kälte, der sakrale Gesang der eisigen Sonne, zusammen mit den dürren, peitschenartigen Arme seiner Schwester jegliches menschliche Leben im Büro erstickte.

~o~

Hope erwachte hustend. Die Schwäche und die Kälte in ihren Gliedern war übermächtig. Doch vor allem war da Schmerz. In ihren Lenden, an ihren Beinen, an ihrem Hals. Ihr Wille war stark. Noch immer. Aber dieser Körper war es nicht. Sie spürte wie das Leben ihn verließ. Das hätte nicht passieren dürfen. So etwas war ihr noch nie passiert. In all den Jahrhunderten ihrer Existenz nicht. Dabei hatte sie immer einen Wirt gebraucht. Einen Avatar jenseits des Ortes, von dem aus das Nichts sich ausbreitete. Sie konnte ihren Wirt nicht auswählen. Diese Zeit hatte sie nicht. Sie musste schnell handeln, wenn der alte Feind sich regte und die erstbeste Gelegenheit ergreifen. Doch diesmal war es vollkommen schiefgegangen.

Doch jammern half nichts. Sie musste zurück. Um jeden Preis. Sie musste sich wieder an den Ort projizieren, an dem die Flamme lag, bevor alles zu spät war und der Feind sich seinen Besitz zurückholte.

Doch gerade hatte sie andere Feinde. Einer von ihr war in ihr. Buchstäblich. Ein muskulöser Kerl in einem roten T-Shirt mit heruntergelassener Hose. Das Gesicht gerötet von irgendetwas, dass sie nicht Lust nennen wollte oder konnte, ohne dieses Wort für alle Zeiten zu verderben.

„Lasst mich gehen“, hauchte Hope bittend und unendlich schwach, „ich muss weiter, ich …“

„Sie ist wach“, sagte der andere, ein hagerer blonder Typ, der tatenlos daneben stand und sich nicht so wohl in seiner Haut zu fühlen schien, „ich hab dir doch gleich gesagt, dass die Pennerin nicht so besoffen ist, dass du das durchziehen kannst, ohne dass sie’s mitkriegt.“

„Und wenn schon!“, sagte der Rote, „sie ist Abschaum. Wenn die draufgeht juckt es keinen. Früher nicht. Und jetzt schon gar nicht mehr, wo hier ein anderer Wind weht.“

Hope wurde übel. Es war nicht nur der Ekel, den sie stellvertretend für diese Frau empfand, deren Körper sie besetzt hielt. Es war auch irgendetwas anderes. Irgendwas stimmte mit diesem Körper nicht. So als hätte der Mann mehr getan als sie „nur“ zu vergewaltigen. Als hätte er irgendetwas darin zerbrochen.

„Du verstehst nicht. Das ist wirklich wichtig. Ich muss …“, sie versuchte sich mit wackeligen Armen hochzustemmen.

„Du bist nicht wichtig!“, sagte der Typ und trat ihr auf die Finger. Der Schmerz war unbeschreiblich, „arbeitsloser, besoffener Abschaum wie du hat alles verdient, was mit ihm geschieht. Du hättest dir einen Job suchen sollen. Oder besser noch einen Mann. Doch nun hat dich mein Schwanz gefunden. Sei dankbar. So hast du wenigstens noch einen Nutzen für die Gesellschaft gehabt.“

„Lass sie doch gehen, Frank!“, sagte der andere, „du hattest deinen Spaß!“

„Ja!“, sagte Hope und ein schwaches, erzwungenes Lächeln wuchs auf ihrem geschundenen Gesicht, „er hat recht. Ich will doch nur …“

„Halt die Fresse!“, rief er und schlug ihr mit der Handfläche quer übers Gesicht, „Halt einfach dein Maul! Du hast gar nichts zu wollen. Weißt du was ich höre, Bitch? Ich höre Gottes Stimme. Und weißt du, was sie sagt? Weißt du scheiß Libtard, was sie mir sagt: Your body, my choice!“

Mit diesen Worten hob er seine schweren Stiefel und ließ ihn mehrmals auf Hopes Gesicht niederkrachen. Für Hope wurde es dunkel. Und damit für die ganze Welt.

~o~

„Fuck!!! Das war befreiend!“, sagte Frank berauscht und machte seine Hose zu, „früher hätte man sowas vertuschen müssen. Die Leiche entsorgen und den ganzen Scheiß. Aber nun nicht mehr. Keine Rücksicht mehr auf die Wertlosen. Wir tun Gottes Werk. Nein, wir tun SEIN Werk. Und das ist noch viel besser. Oh yeah!!“

Er sagte das ohne Rücksicht auf die Passanten, die teils mit schnellen beschwingten Schritten und teils mit gesenktem Kopf und ängstlichem Blick an ihnen vorbeiliefen. Vor allem letztere machten einen weiten Bogen um die beiden Männer. Bestrebt, einfach nur ihre Einkäufe in einem Stück in die vorläufige Sicherheit ihres Zuhauses zu tragen.

„Wenn du meinst“, sagte der andere einsilbig.

„Jetzt sei nicht so verklemmt“, meinte Frank, der sich einen Spaß daraus machte, die ängstlicheren Passanten mit seinem eiskalten Blick zu durchbohren und ihnen ein drohendes Lächeln zu schenken, „Es ist scheiß Weihnachten. Das beste Weihnachten aller Zeiten. Wir feiern eine neue Ära. Benimm dich auch so. Mach dich locker. Befrei‘ dich vom scheiß Woke-Mind-Virus.“

„Ja, schon klar …“, sagte Brian abwesend während sein Blick die Richtung wechselte und unwillkürlich zum Himmel wanderte, wo sich ein Kreis aus Dunkelheit ausbreitete wie ein Tintenfleck auf einem weißen Tischtuch. Eine Dunkelheit, die die Wolken fraß und den Schnee schwarz färbte. Frank, der sich wunderte, warum Brian ihm nicht antwortete sah schließlich ebenfalls zum Himmel. Auch einige Passanten taten es ihm gleich.

„Scheiße! Was ist das?“, fragte Frank verwirrt, bevor Brian dieselbe Frage stellen konnte.

Inzwischen hatte die Dunkelheit auch den Boden erreicht, floss die Häuserwände hinab wie pechschwarzer Sirup, löschte die Weihnachtsbeleuchtung aus und die Lichter der spärlich besuchten Geschäfte aus und kroch zuckend über die Straße. Erst langsam, dann immer schneller. Die beiden Männer spürten die Kälte, die sie mit sich brachte. Sie strich über ihre Haut wie klingen aus schockgefrostetem Stahl. Und in dem Kegel aus Finsternis bewegte sich etwas. Weiße Augen und Klauen, hell wie Papier und hungrig wie die Hölle.

Während Frank noch immer über seine eigene Frage rätselte, hatte Brian bereits seine Antwort gefunden.

„Ich denke, das ist Gottes Antwort auf unsere Taten“, sagte er. Dann nahm er die Eisenstange, die er mit sich führte und drosch sie seinem Freund gegen das Knie, bevor er davon rannte, genau wie der Rest der Fußgänger.

Frank brach zusammen und blickte dem näher kommenden Schatten hilflos entgegen.

„Du verfluchter Bastard! Ich bring‘ dich um!“, drohte er Brian unter Tränen, die seine bestialischen Schmerzen aus seinen Augen pressten. Doch seine Stimme prallte auf eine Wand aus Kälte und ewiger Nacht, bevor seine bebenden Lippen zu Eis erstarrten. Dann sah er die Dinger mit den weißen Augen aus der Dunkelheit hervorkriechen. Die Hände ausgestreckt, die Münder geöffnet. Brian fürchtete um den Tod. Aber er wusste nicht, dass das nicht seine größte Sorge sein sollte. Die Kreaturen wollten nicht töten oder verwandeln. Noch nicht jedenfalls. Sie wollten spielen. Und die blasse erstickte Sonne, deren Strahlen krank vom Himmel bluteten, konnte ihnen nichts mehr anhaben.

Irgendwo zwischen ersterbenden Lichtern und schreienden Menschen trieb ein Funken Hoffnung durch den Wind. Unsichtbar, ewig und machtlos umspielt von bitteren Schneeflocken. Ohne Geschlecht. Ohne Alter. Ohne Macht. Der Funken suchte instinktiv nach einem neuen Wirt. Das war sein Wesen. Seit vielen Zyklen. Doch er spürte tief in sich, dass es zu spät war. Was hier geschah, konnte nicht mehr eingedämmt werden uns jede Seele in der Nähe war jeglicher Hoffnung beraubt. Hope, der Funke. dachte an das, was er zu den Geschwistern gesagt hatte: „Ohne Brennstoff wird es nie mehr ein Feuer geben“.

Und Hope musste sich eingestehen, dass der Raubzug gescheitert war. Die Herrschaft der Nacht war absolut.

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