Aus vollen Lungen sog ich die würzige Waldluft ein. Es war wirklich eine gute Idee von meiner Freundin Kathrin gewesen, dieses Wochenende im Wald zu planen. Wir beide waren beste Freundinnen seit wir sechs waren und hatten früher oft in der freien Natur gezeltet, Entdeckungen gemacht, uns Gruselgeschichten erzählt oder einfach unterm Sternendach über Gott und die Welt philosophiert. Irgendwann kam dann die Pubertät, das Erwachsenenleben, unsere Jobs und Verpflichtungen. Und auch wenn unsere Freundschaft bis heute überdauerte, so war es doch viele Jahre her, dass wir beide gemeinsam in der Natur übernachtet hatten. Doch obwohl wir beide jetzt Anfang Dreißig waren, hatte dieser spezielle Wald für uns nichts von seiner Faszination verloren.
Zwar hatten sich die Zeiten geändert und wildes Campen war dort inzwischen strengstens verboten, aber dafür gab es einige offizielle Schlafplätze, die man sich reservieren konnte. Während die meisten davon in der Nähe des Eingangsbereichs und des waldeigenen Cafés lagen, welches dort inzwischen eröffnet hatte, haben wir uns für einen kleinen Hochstand tief im Herzen des Walds entschieden. Dort würden wir nicht so schnell von quengeligen Schulklassen und lärmenden Touristen gestört werden.
Wir passierten gemeinsam das kleine Café und suchten nach dem zuständigen Mitarbeiter, um uns anzumelden und zu bezahlen. Glücklicherweise fanden wir ihn recht schnell, da er mit seinem grünen Polohemd, welches das Logo der Firma trug, die sich um die Pflege und Nutzung des Walds kümmerte, schwer zu übersehen war.
Es war ein freundlicher, kleiner, braunhaariger Mann Anfang vierzig, der uns herzlich willkommen hieß und uns ein paar Regeln für den Aufenthalt im Wald erklärte, die ja eigentlich selbstverständlich waren. Wir hatten sicher nicht vor ein wildes Lagerfeuer zu entzünden oder tonnenweise Müll dort rumliegen zu lassen. Aber klar – der Mann musste nun einmal darauf hinweisen. Danach zeigte er uns den kleinen Pfad, der zu unserem Schlafdomizil führen würde und versprach uns, uns um 9 Uhr morgens den kleinen Frühstückskorb vorbeizubringen, der zum Angebot gehörte. Dann ließ er uns allein und wir machten uns auf dem Weg zu unserem kleinen Paradies, während hinter uns die Stimmen der anderen Besucher immer leiser wurden.
Aus Kinderlärm und Gesprächen wurden nach und nach Vogelgezwitscher und Blätterrascheln während uns die warme Nachmittagssonne in den Nacken schien und wir jeden Moment ausgiebig genossen. Während Kathrin – die früher jedes Buch über Pflanzen und Tiere förmlich verschlungen hatte – noch immer zu jeder Blume, zu jedem Pilz und zu jedem Busch etwas schlaues zu erzählen wusste, ließ ich einfach die magische Stimmung auf mich wirken.
Der Weg flog nur so dahin und auch wenn laut meines Handys mehr als eine halbe Stunde vergangen war als sich endlich die Lichtung mit dem Hochstand vor uns auftat, kam es mir vor als währen es nur wenige Minuten gewesen.
Kathrin, die schon immer auf gute Aussicht stand, raste förmlich die Treppe zu unserem Schlafplatz hoch und ich – die mal wieder das ganze Gepäck schleppen durfte – folgte ihr schwer atmend. Als ich aber endlich in unserem kleinen hölzernen Zuhause angekommen war und von gut zwanzig Metern Höhe die Umgebung betrachtete, fühlte ich mich für die ganze Schlepperei entschädigt.
Zwar bot der Hochstand nicht gerade viel Platz und neben einem winzigen Tisch und zwei Stühlen gab es dort keinerlei Möbel, aber wenn wir Luxus gewollt hätten, hätten wir uns irgendwo ein Hotel genommen. Worauf es wirklich ankam, war die Aussicht. Und davon hatte unser Schlafplatz eine Menge zu bieten. Von hier aus konnten wir einen großen Teil des Walds überblicken: Die Lichtung, die uns umgab. Die Wiese mit den Wildschafen, nur ein paar Hundert Meter von uns entfernt. Das Wildschweingehege und auch die in Nebel gehüllte Moor- und Heidelandschaft. Vor allem aber die endlosen Baumreihen, die sich in alle Richtungen erstreckten wie ein uferloses grünes Meer.
Ein starkes Gefühl von Freiheit breitete sich in mir aus und ein Blick zu Kathrin verriet mir, dass es ihr ähnlich ging. Schweigend genossen wir den Anblick eine gute halbe Stunde lang, bis Kathrins Magenknurren auch mich daran erinnerte, was für einen Hunger ich eigentlich hatte.
Wir packten unser Abendessen aus, das aus Brot, Käse, Obst, Marmelade und einer großen Kanne Tee bestand und redeten beim Essen über unsere Jobs, über unsere Freunde, über Politik, Kinofilme und das Universum im Allgemeinen. Als die Sonne sich langsam zum Schlaf herabsenkte und das Licht sich rötlich färbte, planten wir unsere Nachtwanderung. Angeblich sollten heute besonders viele Glühwürmchen und auch Fledermäuse unterwegs sein, weshalb es eine interessante Nacht zu werden versprach.
Da ich aber noch immer recht fertig von der Woche und nicht mit Kathrins unerschöpflicher Ausdauer gesegnet war, wollte ich mich noch einmal eine Stunde aufs Ohr hauen, während Kathrin schon einmal die Gegend auskundschaftete. Voller Tatendrang stieg sie Leiter hinab. Ich dagegen stellte mir meinen Wecker und schlief fast augenblicklich ein.
Als ich erwachte fühlte ich mich noch matter als zuvor. Mein Handy und die vollkommene Dunkelheit verrieten mir, dass ich gnadenlos verschlafen hatte. Es war bereits halb Elf. Dennoch war Kathrin nirgendwo zu sehen.
Wo war sie nur geblieben? Und warum hatte sie mich nicht geweckt? Ich konnte es mir einfach nicht erklären. Ich hoffe nur, dass ihr nichts schlimmes passiert war. Nachts allein im Wald umherzuwandern war keine gute Idee. Zwar glaubte ich nicht wirklich, dass Kathrin irgendeinem Vergewaltiger in die Hände gefallen war – für die gab es weitaus lohnendere Gegenden – aber immerhin könnte sie gestolpert und irgendeinen Hang hinabgestürzt sein. Ich musste sie suchen. Leider hatte Kathrin auch die Taschenlampe mitgenommen. Doch zum Glück hatte mein Smartphone ja eine entsprechende App, auch wenn der Akku nicht mehr allzu lange reichen würde. Ich schaltete die App dennoch ein und suchte mit dem Lichtstrahl die Umgebung des Hochstands ab.
Was ich sah ließ mir das Blut in den Adern gefrieren. Dort waren Menschen. Unheimlich viele Menschen. Männer, Frauen und Kinder. Sicher waren es mehr als sechzig Leute. Wo kamen die so plötzlich her? Doch noch weit stärker als die Frage, wo diese Leute herkamen und was sie alle mitten in der Nacht hier zu suchen hatten, beschäftigte mich eine andere: Warum bewegten sie sich nicht?
Sie alle standen dort wie Gestalten aus einem Wachsfigurenkabinett, die irgendein größenwahnsinniger Künstler dort platziert hatte. Dieser Eindruck wurde noch dadurch verstärkt, dass sie nicht einfach nur dastanden, sondern alle aussahen als wären sie mitten in der Bewegung eingefroren. Viele hatten ihre Beine auf eine Art angewinkelt, die ihnen unmöglich erlauben konnte, einfach so dazustehen. Sie müssten eigentlich umkippen. Aber sie taten es nicht.
Ein Schauer lief mir über den Rücken. Was für eine Freakshow war das? Erst verschwand Kathrin und nun standen dort noch diese seltsamen Gestalten. War das etwa ein schlechter Scherz von ihr? Am liebsten wollte ich das glauben, auch wenn das unserer Freundschaft schweren Schaden zugefügt hätte. Immerhin wusste Kathrin wie leicht ich zu erschrecken war und dass ich so etwas alles andere als lustig finden würde. Aber auch wenn mir der Gedanke von einem geschmacklosen Scherz angesichts der Alternative sehr verlockend erschien, so machte er doch keinen Sinn. Kathrin konnte unmöglich so viel Geld haben all diese Puppen hier aufstellen zu lassen.
Da ich mich also von dem Gedanken, dass gleich eine schadenfroh lachende Kathrin aus dem Gebüsch hervorkommen und mich mit meiner Angst aufziehen würde, gleich wieder verabschieden konnte, musste ich der Sache wohl oder übel auf den Grund gehen. Und vor allem musste ich Kathrin finden.
Ich stieg also mit einem mehr als unguten Gefühl die Leiter herab, wobei mir jeder knarzende Schritt schwerer fiel als der vorherige. Als ich dann endlich unten angekommen war und das Geräusch der knarrenden Leiter verstummt war, bemerkte ich erst, was für eine unnatürliche Stille über dem Wald lag. Ich konnte nur meinen eigenen Atem hören. Sonst nichts. Langsam ging ich auf die Freakshow zu, die sich auf der Wiese aufgereiht hatte. Natürlich kamen mir gerade jetzt sämtliche Horrorfilme in den Sinn, die ich je gesehen hatte. Am liebsten hätte ich mir ein Loch gegraben und mich dort versteckt. Aber das würde mir auch nicht helfen.
Stattdessen ging ich langsam weiter, bis ich die erste Person – einen eigentlich recht gut aussehenden Mann Mitte zwanzig, der mir unter anderen Umständen sicher gefallen hätte – erreichte. Der Mann hatte sein Knie gehoben und sein rechtes Bein schwebte einfach in der Luft. Seine Augen waren weit aufgerissen und auch sein Mund war leicht geöffnet. Aus der Nähe sah er ganz und gar nicht wie eine Wachsfigur aus. Mit zitternder Hand berührte ich vorsichtig sein, von einem Dreitagebart geziertes, Kinn. Die Wärme, die ich spürte, ließ mich aufschreien. Der Mann war garantiert keine Wachsfigur. Er lebte. Und dennoch rührte er sich nicht. Um ganz sicher zu gehen berührte ich noch eine ältere Frau und einen Teenager in der Nähe. Auch sie hatten warme menschliche Haut. Von Wachs keine Spur. Mein Abendessen begann in meinem Bauch zu rumoren. Das war doch nicht normal. Ganz und gar nicht.
Plötzlich hörte ich etwas. Ein Rascheln im Gras. Ruckartig drehte ich mich und auch den Strahl meiner Taschenlampe in die Richtung, aus der das Geräusch gekommen war. Dort sah ich ein kleines Mädchen. Es hatte ein weißes altmodisches Kleid, einen schwarzem Zopf und – wenn mich das schwache Mondlicht nicht täuschte – genauso schwarze Augen. Es ging mit abgehackten, roboterhaften Schritten auf mich zu. Sein starrer Blick war genau auf mich gerichtet. Unwillkürlich wich ich ein paar Schritte zurück. Das Mädchen folgte mir unbeirrt und schob sich geschmeidig durch die erstarrten Leiber. Ich wollte reflexartig zum Hochstand fliehen, aber nun kam ein weiteres Mädchen, dass ganz genauso aussah wie das Erste aus, der anderen Richtung auf mich zugelaufen. Sie wollten mir den Weg abschneiden!
Kopflos rannte ich zum einzig verbliebenen Ausweg und lief prompt in etwas weiches und raschelndes. Es roch nach Lavendel und altem Stoff. Ich blickte hoch und sah direkt in die pechschwarzen Augen einer uralten und runzligen Frau, in deren geblümtem Kleid ich mich verfangen hatte. Ihr Blick war wie ein riesiger Strudel. Wie ein Kochtopf in dem man Verbitterung, Härte und uralten nie versiegenden Hass zu einem alles verzehrenden und das Leben verneinenden Geist verrührt hatte. Dieser Blick bereitete mir körperliche Schmerzen. Von purem Überlebensinstinkt getrieben und mit einer Geschwindigkeit, die ich nicht für möglich gehalten hätte, flüchtete ich vor ihr und entging so gerade noch der dürren fleckigen Hand, die mich greifen wollte. Ich rannte so schnell ich konnte und vergaß dabei, dass ich mich mitten in einem Wald befand. So endete meine Flucht bereits nach wenigen Sekunden an einem Baumstamm, gegen den ich schmerzhaft prallte. Als ich die Benommenheit abgeschüttelt hatte und mich umsah, bemerkte ich zu meinem Grauen, dass die ekelhafte Frau mir bereits auf den Fersen war. Langsam, aber unerbittlich.
In ihrem Schlepptau bewegte sich ein Heer von kleinen Mädchen. Während die alte Frau fast über den Boden zu schweben schien, bewegten sich die Mädchen abgehackt und stockend wie übergroße Insekten in weißen Kleidern. Der Anblick war dermaßen unnatürlich, dass es schmerzte. Starr vor Schreck und mit der Situation total überfordert, wollte ich mich schon in mein Schicksal ergeben. So grauenhaft es auch sein mochte. Dann aber dachte ich an Kathrin. An das Mädchen, mit dem ich Verstecken gespielt hatte. An die Frau, die immer für mich da gewesen war. Ich musste sie finden. Wo auch immer sie war. Ich durfte sie nicht diesen Wesen überlassen!
Dieser Gedanke gab den Ausschlag. Ich kämpfte mich auf die Beine hoch und lief blindlings durch die Bäume, um der alptraumhaften Freakshow hinter mir zu entgehen und hoffentlich irgendwo Kathrin zu finden.
Ich weiß nicht mehr wie lange ich gelaufen bin. Nur, dass meine Lungen brannten, mein Shirt trotz der Wärme der Sommernacht voll kaltem Schweiß war und ich völlig die Orientierung verloren hatte. Ängstlich lauschte ich in die Nacht, ob ich insektenhafte Schritte oder das Rascheln eines geblümten Kleides hören würde. Aber da war nur Stille und das fahle Licht des Halbmondes. Also erlaubte ich mir kurz durchzuatmen und mich zu orientieren. Das wäre in diesem dichten Wald und nach meiner planlosen Flucht schon bei Tag keine leichte Aufgabe gewesen, aber in der Dunkelheit und nur mit dem bisschen Mondlicht und meinem Handy als Lichtquelle, war es so gut wie unmöglich. Ganz besonders, wenn ich darüber nachdachte, was da Draußen lauerte. Die boshafte alte Frau und diese insektenhaften Mädchen mit ihren toten schwarzen Augen hatte ich nicht vergessen. Und das werde ich sicher auch nie. Wie also sollte ich unter diesen Umständen Kathrin finden?
Glücklicherweise hatte das Schicksal in diesem Moment entschieden, mir nicht erneut mit Anlauf in die Fresse zu treten. Im Schein meiner Handy-Beleuchtung erkannte ich, dass ich direkt neben einem der hölzernen Wegweiser stand, die Gästen die Orientierung im Wald erleichtert sollten. Auf dem Schild zu meiner Linken war der Weg zum Eingang ausgeschildert, der mich hin zur rettenden Zivilisation, aber auch fort von Kathrin führen würde. Das andere Schild zeigte geradeaus direkt zur „Moor- und Heidelandschaft“. Allein bei diesem Wort lief es mir eiskalt den Rücken herunter. Es erinnerte mich an Irrlichter, an dürre Moorleichen mit fahlen Gesichtern, an Fieber, Mücken, Tod und Verderben. Deshalb hatte ich die Gegend bei früheren Besuchen stets gemieden.
Aber es half ja nichts. Zurück konnte ich nicht gehen, angesichts dessen was dort lauerte, und Kathrin im Stich lassen würde ich auch nicht. Also setzte ich mich in Bewegung.
Bereits als ich wenige Minuten gelaufen war spürte ich, wie es merklich wärmer wurde. Mein Shirt klebte mir bereits klitschnass am Körper und die Temperaturen hier waren beinahe tropisch geworden. Außerdem verlor der Boden mehr und mehr an Festigkeit, weswegen ich einige Male beinah ausgerutscht wäre. Zusammen mit den fehlenden Geräuschen sorgte das für eine sehr gespenstische Atmosphäre. Mit der Zeit wurde aus dem feuchten Weg regelrechter Schlamm und meine Füße machten bei jedem Schritt ein schmatzendes Geräusch.
Lange Zeit war dies das Einzige, was ich hörte. Dann aber vernahm ich den leisen Singsang mehrerer schriller Stimmen. Und den verzweifelten Hilfeschrei von Kathrin. Freude und Angst nahmen mich gleichermaßen gefangen. Ich hatte sie gefunden. Aber leider nicht nur sie. Inmitten des hohen Gesangs konnte ich eine einzelne kratzige Stimme ausmachen. Ich wusste sofort, dass sie der alten Frau gehören musste: „Was im Licht geboren war. Wird ein Teil der dunklen Schar. Wird sich winden und sich wehren. Doch letztlich sein ein Kind des Leeren.“
Ihre Stimme klang zwar alt und schrill. Aber in ihren Worten klang etwas altes, kraftvolles und mächtiges mit. Als wenn aus ihr zugleich zwei Wesen sprechen würden. Dabei verstand ich nicht wirklich, was das alles sollte. Ich wusste nur, dass ich Kathrin da raus holen würde. Langsam und mit klopfendem Herzen ging ich auf die Quelle der seltsamen Ritualgesänge zu und spähte vorsichtig durch das Unterholz. Was ich dort sah, raubte mir den Atem:
Kathrin war vollkommen nackt und mit mehren dicken Seilen an einem knorrigen und entwurzelten Baumstamm gekettet, der inmitten der feuchten Moorlandschaft lag. Um Sie herum standen die Insektenmädchen mit starrem Blick und öffneten und schlossen ihre Münder im Gleichtakt, um wortlose Gesänge in einer fremdartigen Tonart von sich zu geben. Die alte Frau aber hielt eine Art Messer, mit dem sie blutige Linien in Kathrins Haut ritzte. Ihr Blut tropfte als stetiges Rinnsal herab und wurde von dem gierigen Baumstamm aufgesogen. Ihre Schreie durchbrachen von Zeit zu Zeit den Gesang, konnten aber nichts an dem abartigen Tun ändern. Die alte Frau, schritt immer wieder ein paar Meter zurück, um dann erneut vorzupreschen und ihren Dolch in Kathrins Haut zu tauchen. Dabei rief sie immer neue Beschwörungsformeln: „Im Licht der halben Mondesscheib’, ritz ich ein Lied in deinen Leib. Auf das der alte Geist vergeht, ein neues Herz in dir entsteht.“
Ich war zugleich abgestoßen und gebannt von diesem Ritual und auch wenn ich Kathrin unbedingt helfen wollte, konnte ich mich nicht rühren. Dafür sah ich nun, wie Kathrins Blut im Mondlicht zu verdampfen begann als wäre es Wasser auf einer heißen Herdplatte. Kathrin schrie nach ihrem Freund Jan, nach ihren Eltern und was am meisten schmerzte – nach mir. Aber ich konnte ihr nicht helfen. Ich hatte so viel Angst. Warum nur hatte ich so verdammt viel Angst? Die Frau hob erneut ihr Messer und fuhr damit diesmal tief in Kathrins Schenkel: „Die roten Flüsse spülen fort. Jedes Gefühl und jedes Wort. Bis es dich nackt und klein erkennt. Und frisst und beißt und brennt und brennt.„
Ich war wie hypnotisiert. Und so bemerkte ich erst, dass mich eine kalte Hand an der Schulter packte, als es bereits zu spät war. Ich drehte mich erschrocken um und sah in das Antlitz eines der unheimlichen Mädchen. Ihr Gesicht war perfekt ebenmäßig. Ihre Augen waren schwarze Löcher und ihr Griff war stärker als der jedes Bodybuilders. Vor allem aber sah ich, wie sich unter ihrem Arm etwas bewegte. So als wären dort mehrere Gelenke verborgen. Mit mechanischen Schritten zog sie mich hinter sich her.
Nun waren wir beide verdammt, dämmerte es mir als das insektenhafte Mädchen mich direkt zu der alten Frau brachte, deren verdorrte Lippen sich zu einem schwachen Grinsen verzogen: „Auch deine Seele soll sich fügen. Wir füllen dich mit Leid und Lügen. Bis du sie alle liebst und glaubst. Und deine Menschlichkeit verdaust“. Aus dem Mund der Alten quoll ein dichter rosa Nebel, der übelkeiterregend stark nach Lavendel roch. Als ich ihn einatmete, wurde mir sofort schwindelig und für einen kurzen Moment sah ich die Wahre Gestalt der Mädchen und der alten Frau: Eine riesige Gottesanbeterin umringt von zirpenden Käfern in weißen Kleidern. Dieser Anblick sollte mir wohl allen Mut rauben. Aber er erreichte das Gegenteil.
Etwas in mir weigerte sich einfach, sich dieser Macht zu ergeben, die das Leben auf so perverse Art verneinte und verdrehte. Etwas helles und starkes, dass ebenso alt wie die Bosheit der Frau und ihrer Käfermädchen war. Angetrieben von dieser Kraft riss ich mich vom hypnotischen Bann der Frau los, riss ihr den Dolch aus den dürren Händen und begann damit Kathrin loszuschneiden. Kathrin erkannte mich kaum, so schwach wie sie war, aber das war mir egal. Ich würde sie notfalls aus diesem Wald schleppen. Endlich gaben die Stricke nach und ich konnte Kathrin von diesem seltsamen Baumaltar herunterziehen. Sie bot einen erbärmlichen Anblick. Ihr ganzer Körper war voller Schnitte, in ihrem Rücken steckten Holzsplitter und der intensive Lavendelduft der Frau klebte wie ein Parasit an ihr. Aber darüber konnte ich mir später Gedanken machen. Jetzt mussten wir erstmal heraus. Ich weiß nicht woher ich diese Kraft nahm, aber ich warf mir Kathrin über die Schulter und machte mich daran zu fliehen.
Halb erwartete ich, dass die Mädchen oder die Frau versuchen würden mich aufzuhalten. Immerhin waren sie viel stärker und noch dazu in der Überzahl. Aber sie standen einfach nur regungslos da und beobachteten mich. Sie folgten mir nicht einmal dann, als ich die halb bewusstlose und unzusammenhängend brabbelnde Kathrin aus dem heißen und faulig riechenden Moor herausschleppte.
Der Rückweg war zwar anstrengend – Kathrin wog immerhin auch ihre siebzig Kilo – aber dafür blieben wir unbehelligt. Kein einziges Mitglied dieser höllischen Freakshow folgte uns. Nur die menschlichen Statuen, inklusive des gut aussehenden jungen Manns, standen noch immer an ihrem Platz. Sie jagten mir zwar noch immer eine Heidenangst ein, aber nach all dem, was ich mit der bösen Frau und ihren Mädchen erlebt hatte, nahm ich es beinah gelassen.
Mit letzter Kraft schleppte ich Kathrin die Leiter zu unserem Hochstand hoch. Eigentlich wollte ich mit ihr aus dem Wald fliehen, aber ich brauchte einfach Ruhe. Meine Kräfte waren total aufgebraucht und meine Arme und Beine schmerzten fast so schlimm wie mein Rücken, dessen Muskeln nun sicher steinhart waren. Und dabei ging es mir im Gegensatz zu Kathrin noch blendend. Außerdem hatte ich irgendwie das Gefühl, hier oben sicher zu sein. Noch dazu, würde schon bald die Sonne über dem Wald aufgehen. Und wie jedes Kind wusste, konnte das böse in der Sonne nicht bestehen.
Ich legte also meinem Arm beschützend um die fiebrige Kathrin, so wie wie ich es schon als Kind oft gemacht hatte. Dann schlief ich vor Erschöpfung ein.
Ich wurde geweckt von den ersten Sonnenstrahlen. Und von einem lauten Zirpkonzert. Verwirrt erhob ich mich von meinem Schlafplatz auf dem Boden des Hochstands und sah auf die Wiese herunter.
Wo einst die seltsam eingefrorenen Menschen gestanden hatten, türmten sich nun mehrere Dutzend menschengroßer Heuschrecken auf, die mit manischem Blick versuchten in unseren Hochstand zu gelangen. Nein!! Das konnte nicht sein. Die Schrecken der Nacht sollten doch verschwunden sein. So war es doch immer. In allen Geschichten. In allen Filmen. Warum nicht jetzt?
Immerhin konnten die Kreaturen mich hier nicht erreichen. Sie versuchten zwar um jeden Preis zum mir hoch zu gelangen. Sie krochen übereinander, benutzten die Chitinkörper ihrer Schwarmgenossen als Treppe, aber sie scheiterten immer wieder an dem großen Höhenunterschied.
Fürs erste ließ ich mich erleichtert auf den warmen Holzboden sinken. Ich musste mir nur überlegen, wie ich von hier weg käme. Erst jetzt fiel mir mein Handy ein. Warum hatte ich nicht früher daran gedacht? Ich könnte Hilfe holen. Die Polizei vielleicht. Oder ich rief bei der Verwaltung des Walds an. Irgendjemand würde sicher kommen und mich retten.
Ich wollte schon die Nummer des Notrufs tippen – wobei mir natürlich bewusst war wie seltsam es klänge, wenn ich von einem Angriff menschlicher Insekten erzählen würde, aber ich könnte ja auch von einem Vergewaltiger oder Kidnappern erzählen – als ich mich plötzlich fragte wo Kathrin abgeblieben war.
Ein hohes Zirpen, nah an meinem Ohr, beantwortete mir diese Frage. Kathrins blondes Haar und ihre Haut lagen wie ein abgestreiftes Kleid neben ihrem neuen Körper. Ihre schwarzen Facettenaugen fixierten mich kalt. Sie sprachen nicht mehr von Freundschaft. Nicht mehr von Gnade. Nur noch von Hunger. Als sich ihre Beißwerkzeuge in mein weiches Fleisch versenkten, hörte ich von fern ein letztes mal die krächzende Stimme der alten Frau und ihren bösartigen Gesang : „Alte Bande werden brechen. Wie jeder Knochen, der dich stützt. Niemand wird mehr von dir sprechen. Weil kein Licht dich vor uns schützt.“