„Schneller als der Blitz erfüllt das Gefühl meine Seele, aber anstatt mir Klarheit zu schaffen, entflammt und blendet es mich. Ich fühle alles und begreife nichts.“
Jean-Jacques Rousseau (1712 – 1778)
Es ist also geschehen. Die vier dunklen Jahreszeiten haben sich nacheinander ereignet und die Welt ist nun nicht mehr als eine tote und sterile Kugel im All. Jegliches Leben wurde in Krankheit, Kälte, Hitze und blinder Zerstörungswut ausgelöscht. Zurück bleibt ein lächerlicher Grabstein im gleichgültigen Sternenmeer, auf dem die Inschriften, die unsere Existenz hinterlassen haben langsam verblassen und letztlich verschwinden werden.
Das ist dann das Ende unseres Lebens. Aber nicht das Ende unserer Qualen. Denn auch wenn unsere Körper zerfallen sind, so sind unsere Seele noch existent und sind nun schutzlos der ultimativen Marter ausgeliefert: Der Fünften Jahreszeit.
Natürlich hat nie jemand diese Zeit erlebt. Aber Völker, viel feinfühliger und hellsichtiger als wir, haben Visionen davon empfangen. Prophezeiungen, deren Inhalt ich euch hier näherbringen werde.
Viele werden an den Karneval denken, wenn sie von der „Fünften Jahreszeit“ hören. Aber die Fünfte Jahreszeit ist kein Karneval. Kein ausschweifendes Fest des Fleisches. Sie ist ein Schlachtfest der Seelen.
Wir alle treiben umher in völliger Leere. Nackt und ohne jeden Schutz, ohne jede Möglichkeit überhaupt zu handeln und etwas an unserem Los zu ändern. Wir sind nicht allein, aber die anderen sind so fern und unnerreichbar wie die Sterne. Aufgereiht wie an einem unsichtbaren Gitter, schweben unsere Seelen gleich verlorenen, geisterhaften Silberperlen durch einen schwarzen Raum ohne Anfang und Ende. Die anderen Verdammten, sind gerade nah genug um zu wissen, dass sie da sind. Aber wir können sie nicht erreichen, nicht erkennen, wer sie sind, nie mit ihnen kommunizieren und keinen Trost aus der Tatsache ziehen, dass wir nicht alleine sind.
Wer dieses Gefängnis errichtet hat, wissen wir nicht. Und einen Ausweg erkennen wir ebenfalls nicht. Was hauptsächlich daran liegt, dass es keinen gibt.
Manch einer mag bei diesen Schilderungen an die Hölle denken, aber es gibt hier keinen Teufel den man verdammen und an den man seine Flüche und Schreie richten könnte. Niemanden, der zuhört. Niemanden, den es interessiert und der wenigstens Befriedigung aus unseren Qualen ziehen würde. Es gibt keinen versteckten höheren Sinn. Es gibt vielmehr überhaupt keinen Sinn, worin vielleicht eine der schlimmsten Foltern dieser Jahreszeit liegen mag. Aber es gibt noch andere.
Denn auch wenn dieses kosmische Gefängnis zunächst still und leer erscheint, so gibt es auch hier Wetter wie bei jeder Jahreszeit. Von Zeit zu Zeit ziehen gewaltige Schmerzgewitter über uns hinweg, die uns klar machen, warum wir diesem Gefühl Zeit unseres Lebens bestmöglich aus dem Weg gegangen sind. Sie machen sich als rotleuchtende, halb transparende Wolken bemerkbar aus denen rote Blitze auf uns niederfahren. Und diese Blitze bringen den Schmerz.
Der Schmerz kommt dabei in vielfältigen Formen. Als Verbrennung, Verbrühung, Schnitt, Quetschung, Stich, Häutung, Zahnschmerz, Kopfschmerz, Verätzung und in tausend Formen, die wir auf Erden nie erdulden mussten. Denn auch wenn wir keine Körper mehr haben, so können wir dennoch Schmerzen empfinden und zwar ohne die Gnade der körpereigenen Drogen, die uns sonst die Qualen gelindert haben. Der Schmerz tritt ungefiltert und gewaltiger in unser Sein als es sich ein Folterknecht es je hätte wünschen können. Und wir haben weder die Möglichkeit zu gestehen, noch zu sterben. Lediglich auf ein Ende des Gewitters können wir hoffen. Allerdings bedeutet das nicht, dass es dann vorbei ist. Das nächste Schmerzgewitter wird schon bald kommen und bis dahin suchen uns noch andere Phänomene heim.
Zum Beispiel kann es sein, dass ein purpurnes Leuchten am schwarzen Horizont einen heraufziehenden Angststurm ankündigt. Wie bei einem normalen Sturm wird er zunächst fast zärtlich unser astrales Haar durchwühlen, wird uns dann aber kurz darauf mit einem Kaleidoskop vollendeter Ängste quälen. Halluzinationen, noch echter als das Leben, suchen uns Heim. Gesichte von grauenhaften Kreaturen, die uns in der Nacht auflauern, von Vergewaltigern und Psychopathen, denen wir ausgeliefert sind, von unvorstellbar abscheulichen Krankheiten, an denen wir Zugrunde gehen und weiteren schier unvorstellbaren Ängsten, die mit jedem Angststurm eine neue Intensität und Kreativität erreichen.
Nicht minder verstörend ist der Regen der Trauer. Schwere, dunkelblaue Tropfen, deren gestaltlose Berührung uns zynisch von all den Dingen berichtet, die wir verloren haben. Wir sehen uns im wilden Rausch der ersten Liebe, erfahren die Vorfreude, während wir eine Party für unsere Freunde vorbereiten, den Stolz und den Anerkennung eine ganz besondere Leistung, die tröstende Umarmung unseres besten Freundes oder unserer besten Freundin, die Schönheit eines Sonnenuntergangs an einem glitzernden, reinen See oder des Sonnenaufgangs an einem warmen Sonntag in unserer Heimatstadt.
Doch all dies ist vergiftet mit dem Stachel des Verlustes, mit dem Wissen, dass es niemals wiederkehrt und dass wir allein daran schuld sind, dass wir es nie mehr erfahren werden. Dieses Gefühl des Verlustes und der Trauer darüber ist so stark, dass jegliche angenehme Nostalgie augenblicklich zu Asche zerfällt.
Ähnlich und doch gänzlich anders ist die Nebel der Depression. Ein schwarzes Geisterband, welches unsere Sinne umwölkt und uns endgültig von allem um uns herum abschneidet. Wir werden auf uns selbst zurückgeworfen und erkennen das ganze Ausmaß der Ausweglosigkeit unserer Lage. Und wir zerbrechen daran. Schmerz, Trauer und Verzweiflung gerinnen zu einer dumpfen, leeren Resignation, die auf ihre Art noch viel schlimmer ist als die schmerzhafte Sehnsucht, die der Regen der Trauer uns bringt.
Es gibt noch viele weitere Phänomene, die diese sinnlose interdimensionale Folterkammer heimsuchen. Den Hasshagel, die Winde der Reue, den Donner der Eifersucht und dergleichen mehr. Die schlimmsten astralen Wetterphänome, welche uns in der Fünften Jahreszeit heimsuchen, sind aber die Hoffnungsschauer.
Sie sind weder sicht- noch fühlbar, aber ihre Wirkungen bemerken wir überdeutlich. Sie zeigen sich als Türen in wunderschöne Paradiese, die sich schließen, kurz bevor wir die Hand danach ausstrecken können. Als engelhafte Gestalten, die sich knapp außerhalb unserer Reichweite befinden. Als Halluzinationen in denen wir scheinbar in unserem Bett erwachen, nur um wieder durch irgendeine Tür oder durch ein kurzes Blinzen in unsere ewiges Gefängnis zu wechseln, gerade wenn sich die Erleichterung in uns breitmacht. Diese Momente der trügerischen Hoffnung sind eine besonders perfide Qual. Denn sie verhindern, dass wir uns unserem Los fügen und in eine schützende Apathie versinken. Denn auch wenn der Volksmund etwas anderes behauptet – Die Hoffnung stirbt nicht zuletzt. Sie stirbt nie. Und da sie sich dennoch nie erfüllt, wird genau darin unsere schlimmste Folter liegen, wenn wir erst in der Fünften Jahreszeit erwachen.
All dies muss nie eintreffen und man kann nur hoffen, dass irgendein Gott oder eine andere gnädige Kraft uns davor bewahren wird. Und wenn es etwas derartiges nicht gibt, dann doch wenigstens der schützende Schild der Wahrscheinlichkeit.
Aber wenn es sich wirklich ereignet, wisst ihr wenigstens, was euch erwartet.
So oder so ist es ratsam sich an jeder gewöhnlichen Jahreszeit zu erfreuen. Wann immer ihr euch über die Kälte des Winters, die Stürme des Herbstes oder die Hitze des Sommers beschweren wollt, solltet ihr innehalten und daran denken, dass es schlimmer sein könnte.
Viel, viel schlimmer!