„Der Weg zur Wahrheit“ stand in großen weißen Lettern auf dem schwarzen Einband des Buches. Die Schrift war verschnörkelt und sah sehr alt aus. Ein bisschen erinnerte sie mich an den Geschichtsunterricht und diese unsäglichen Hetzschriften aus den 20er und 30er Jahren des letzten Jahrhunderts.
Ich fragte mich, wer dieses Buch einfach in der Bahn liegengelassen hatte. Irgendein ewig gestriger rechter Spinner oder einfach nur ein verschrobener Sammler historischer Artefakte? Ich hatte keine Ahnung. Jedenfalls sah das Buch viel zu wertvoll aus um es einfach so wegzuwerfen und ich schwor mir still den Schinken im nächsten Fundbüro abzugeben, sobald in den Bahnhof erreicht hatte. Sicher würde sich der Besitzer dafür erkenntlich zeigen und selbst wenn nicht, schien es mir einfach das richtige zu sein. Allerdings musste ich schon zugeben, dass ich neugierig wegen des Inhalts war.
Ok, wahrscheinlich standen darin im besten Fall nur irgendwlche unverständlichen philosophischen Phrasen und im schlimmsten Fall ausländerfeindliche Hasstiraden, aber ich hatte noch eine ganze Dreiviertelstunde Fahrt vor mir, mein Handy war leer und auch sonst war nirgendwo Zerstreuung in Sicht.
Also griff ich mir das Buch und betrachtete es näher. Der Einband war aus dickem schweren Leder und roch ein wenig muffig. Die Seiten sahen – zumindest von Außen betrachtet – vergilbt, aber nicht zerrissen oder vergammelt aus. Ein wenig hatte ich sogar das Gefühl, dass das Buch Wärme abgeben würde. Ein eigentlich absurder Gedanke und doch hielt sich dieser Eindruck bei mir hartnäckig.
Einen Moment lang zögerte ich noch den schweren Band aufzuklappen und mit der Lektüre zu beginnen, beinah so als würde mich irgendeine innere Stimme davor warnen. Dann aber siegten Neugier und Langeweile und ich öffnete den mysteriösen Wälzer mit spitzen Fingern, um es dabei möglichst nicht zu beschädigen.
Der Anblick, der mich erwartete, war enttäuschend. Zwar gab es das obligatorische raschelnde Geräusch von trockenem Papier und den staubigen Geruch alter Bücher, aber sonst hatte das Buch keinerlei Inhalt. Nichts. Das konnte doch eigentlich gar nicht sein.
Sorgfältig blätterte ich den Schinken Seite für Seite durch und endlich fand ich doch etwas. Allerdings keinen Text. Das einzige was auf einer der Seiten zu sehen war, waren zwei gezeichnete Augen. Sie befanden sich jeweils auf der linken und rechten Seite, ziemlich genau in der Mitte des Buches. Eines davon war geschlossen und das andere weit geöffnet. Als ich das geöffnete Auge näher betrachtete, merkte ich, dass mich sein Blick verfolgte.
Erst dachte ich, dass ich einfach nur übermüdet bin, aber selbst durch mehrmaliges Blinzeln ließ sich der unheimliche Eindruck nicht verscheuchen. Der Augapfel folgte eindeutig jeder meiner Bewegungen und blickte mich in jedem einzelnen Moment durchdringend an. Der Blick des Auges – ganz gleich ob nur gezeichnet oder nicht – bereitete mir Unbehagen und ich versuchte das Buch reflexartig zuzuklappen, aber genau in diesem Moment flog mir das Auge förmlich entgegen. Wie ein winziger Geist aus Druckerschwärze löste er sich einfach vom Papier und ich spürte wie er sich über mein eigenes rechts Auge legte. Ich weiß, das klingt albern. Aber genauso war es. Ich wusste einfach, dass sich dieses Auge nun in mir befand. Und selbst wenn ich daran gezweifelt hätte, hätte ich nur einen Blick in das Buch werfen müssen. Denn von dort war das eigenartige Auge eindeutig verschwunden.
Verblüfft und auch ziemlich beeunruhigt warf ich das Buch wieder auf den Sitz neben mir und atmete erst einmal tief durch. Ich hatte keine Ahnung, was dieses seltsame Ereignis zu bedeuten hatte und kam auch trotz intensiven Nachgrübelns nicht darauf. Irgendwann schlief ich ein.
Ich erwachte von einer Berührung an meiner Schulter. Vor mir stand ein Mann in der Uniform eines Fahrkartenkontrolleurs. Aber er machte nicht den Eindruck meine Fahrkarte sehen zu wollen. Stattdessen schlug er vor meinen Augen brutal auf eine zierliche Frau ein, die verängstigt neben ihm stand und aus deren geplatzer Lippe bereits das Blut troff.
Erschüttert und entschlossen diesem Treiben Einhalt zu gebieten, bat ich die anderen Fahrgäte laut um Unterstützung, aber sie sahen alle nur peinlich berührt weg, warfen wir zweifelnde Blicke zu oder schüttelten die Köpfe. Wie konnte man nur so abgestumpft sein? Wieder holte der Mann aus und verpasste der armen Frau ein blaues Auge. Zitternd wich sie zurück. Ich konnte dem nicht länger tatenlos zusehen. Wenn es die anderen nicht interessierte, musste eben ich der Frau helfen. Ich stieß mich ruckartig vom meinem Sitz ab und rammte den brutalen Kontrolleur zu Boden, wo er vorerst benommen liegen blieb. Absurderweise schien nun das Interesse der anderen Fahrgäste geweckt. Einige zückten ihre Handys – wohl um die Polizei zu rufen. Ich schaute mich nach der geprügelten Frau um … aber da war niemand. Dort war nichts als leere Luft und ein wütender Kontrolleur, der fluchend wieder auf die Beine kam. Sein Gesicht war gerötet, seine Augen brannten vor Zorn. „Haben Sie den Verstand verloren! Das wird Konsequenzen haben. Die Polizei ist bald hier und dann werden sie wegen Körperverletzungen angezeigt. Genug Zeugen gibt es ja!“
Ich hatte keine Ahnung was all das sollte – immerhin war ich mir sicher, mir die Frau und die brutalen Schläge nicht eingebildet zu haben – aber mir war klar, dass ich keine Lust hatte im Gefängnis zu landen oder mich auch nur für eine Tat zu rechtfertigen, die ich nicht absichtlich begangen hatte. Blitzschnell setzte ich deshalb über den Mann hinweg und rannte in Richtung Tür. Zu meinem großen Glück waren wir kurz zuvor in meinem Zielbahnhof angekommen und noch hatte niemand die Türen blockiert. Zwar riefen einige der Fahrgäste „Stehenbleiben!“ und der ein oder andere versuchte mich festzuhalten, aber ich schaffte es dennoch knapp die Tür zu öffnen und zu entwischen.
Ich machte mir keine Illusionen – die Polizei würde mir sicher auf den Fersen sein, aber ich musste einfach versuchen zu entkommen. Immerhin hatte ich ja nur einer Unschuldigen helfen und ihren Peiniger stoppen wollen. Auch wenn – wie ich jetzt begriff – die anderen Gäste wohl nur gesehen hatten, wie ich ohne jeden Anlass den Kontrolleur niedergerempelt hatte. Wohin aber war die Frau verschwunden?
Ich verschob diese Überlegung auf später und konzentrierte mich darauf, aus dem Bahnhof herauszukommen und in die Fußgängerzone zu flüchten. Draußen war bereits seit längerem die Nacht hereingebrochen und es waren nicht mehr allzu viele Leute unterwegs. Statt mich also in die – nicht eben nennenswerte – Menge zu mischen, suchte ich mir schnellstmöglich eine Seitengasse. Dabei drosselte ich mein Tempo um durch übertriebene Eile nicht noch verdächtiger zu wirken.
Als ich endlich einen passenden Ort gefunden hatte, kam ich mit rasselndem Atem zum Stehen und lehnte mich erschöpft gegen die Wand. Ich hatte mörderisches Seitenstechen und war vom Schweiß klitschnass, obwohl Draußen herbstliche Kühle herrschte und ein leichter Regen auf den Asphalt prasselte. Da ich im Moment weder wusste wohin ich gehen sollte, um der Polizei zu entgehen, noch aktuell in der Lage war irgendwo hin zu gehen, beobachtete ich die Hauptstraße. Zum Glück zeigte sich dort kein Polizist und auch Sirenen konnte ich nirgendwo hören. Dafür sah ich etwas anderes.
Mitten in einer Gruppe Jugendlicher erblickte ich ein abscheuliches echsenartiges Wesen. Es hatte riesige schwarze Augen, die wie noch schwärzere Löcher durch die ohnehin dunkle Nacht schwebten und nur durch die Straßenlaterne angestrahlt wurden. Der Körper des Echsenmenschen war muskolös und Schuppig und aus seinem Kopf züngelte eine lange gespaltene Reptilienzunge hervor. Das Schlimmste aber war: Einer der Jungen aus der Gruppe, ein blonder Typ in einem roten Hoodie, der wohl irgendwas zwischen 17 und 19 Jahre alt sein mochte, gab dem Geschöpf einen Kuss. Dabei versenkte sich dessen Reptilienzunge tief im Mund des Jungen und die schwarzen Augen glänzen erregt. Die anderen Jugendlichen – zwei weitere Jungs und ein Mädchen – schienen sich an der grotesken Szenerie nicht weiter zu stören, sondern liefen vergnügt quatschend weiter.
Ich blinzelte. Ich schloss die Augen. Ich kniff mir schmerzhaft und beherzt in den Arm und doch tat das Echsenwesen mir nicht den Gefallen, einfach wieder zu verschwinden oder sich in einen ganz normalen Menschen zu verwandeln. Jedenfalls so lange nicht, bis die Gruppe um die Ecke bog und aus meinem Blickfeld geriert.
Als wäre das nicht genug, fiel mein Blick nun auf einen betrunkenen Mann, der sich an einer der Straßenlaternen erleichterte. Er lallte unverständliches Zeug vor sich hin, fluchte gelegentlich laut und wirkte trotzdem noch überraschend normal und gesittet, wenn man bedachte was sich an seinem Hinterkopf befand. Zwar konnte ich es auf die Entfernung nur schmenenhaft erkennen, aber was ich sah reichte durchaus aus, um Angst und Ekel in mir aufkommen zu lassen.
Auf dem Kopf des Mannes hatte sich eine Art Parasit festgesaugt. Er wirkte wie eine Mischung aus einem extrem deformierten Gehirn und einem lebendig gewordenen Geschwür, nur dass das Ding ein großes wässriges Auge besaß mit dem es mich eindeutig ansah. Sein schwammiger Körper pulsierte regelmäßig als würde es das Leben oder das Bewusstsein von dem bedauernswerten Mann absaugen.
Eigentlich gab es so langsam nur noch zwei Erklärungen für diesen abgefuckten Mist. Entweder ich befand mich auf einer umgebremsten Fahrt in die finstersten Tiefen des Irrenhauses oder dieses seltsame Buch hatte etwas mit meinem Kopf angestellt.
Ganz gleich welches Szenario nun der Wahrheit entsprach: Irgendwie sah ich inzwischen Dinge, die mir bisher verborgen geblieben waren und wenn man den Titel des eigenartigen Buches betrachtete – „Der Weg zur Wahrheit“ – ,machte das auch Sinn. Probeweise schloss ich das Auge, welches von dem gemalten Auge aus dem Buch berührt worden war. Und tatsächlich sah ich nun nur noch einen ganz normalen besoffenen Penner an der Laterne lehnen. Ohne jeglichen Parasiten. Ohne Monströsität. Wenn ich aber das rechte Auge wieder öffnete, war das eklige Ding am Kopf des Mannes wieder da.
In was war ich da nur hineingeraten? Zeigte der Wälzer mir wirklich verborgene Wahrheiten oder verwirrte er nur meinen Verstand und verschaffte mir Halluzinazionen? Diese Frage würde ich aber hier und jetzt nicht so einfach lösen können und als ich dann plötzlich doch von fern Polizeisirenen hörte, wusste ich, dass jetzt auch keine Zeit dafür war darüber nachzugrübeln. Ich musste weiter, wenn ich nicht ein paar sehr unanagenehme Fragen beantworten wollte.
Also ging ich in aus der Seitengasse hinaus und wieder auf die Hauptstraße in Richtung der nächsten U-Bahn Station. Ich musste es einfach nur nach Hause schaffen. Niemand hatte meine Personalien aufnehmen können und wegen einer blöden Rempelei würden sie wohl kaum eine Rasterfahndung starten. Während ich auf die Hauptstraße wechselte, hielt ich sorgfältig Abstand zu dem betrunkenen Mann und dem Parasiten, der sich an seinem Kopf festgesaugt hatte und der mich unablässig mit seinem unförmigen weißen Auge beobachtete.
Die U-Bahn Station war zum Glück nicht allzuweit entfernt und als dann auch noch nach nur zwei Minuten die U-Bahn einfuhr, löste sich ein Seufzer der Erleichterung aus meiner Kehle. Niemand stieg aus der U-Bahn aus, also drückte ich auf den Türöffner und stieg ein. Als ich mich das erste mal aufmerksam in der U-Bahn umsah, wünschte ich mir aber schon, ich wäre nicht eingestiegen. Doch leider hatten sich da die Türen bereits geschlossen und die U-Bahn hatte sich in Bewegung gesetzt. Ich war in der Hölle gelandet.
Jedenfalls hätte diese Versammlung von Abscheulichkeiten gut in jede biblische Darstellung des ewigen Infernos gepasst. Ich sah vor mir Kreaturen mit Insektenköpfen und klackenden Mandibeln, ich sah Geschöpfe aus Schleim und ekelhaften Sekreten, Ich sah ein Wesen das ganz dünn war mit fahler Haut und strähnigen Haaren und von dem ein abscheulicher Gestank ausging. Ich sah hundeartige Wesen ohne Fell, aber dafür ganz mit eitriger knotiger Haut bedeckt. Und im Mittelpunkt dieses dämonischen Klassentreffens war ein riesiges aufgeblähtes Geschöpf, welches sicher die gesamte Breite der U-Bahn einnahm und dessen aufgedunsener bleicher Leib sich in ekelerregenden Kaskaden über die Sitze ergoss. Aus dem Unterleib dieser Kreatur krochen fast im Sekundentakt neue winzige Geschöpfe die nicht minder verabscheuungswürdig waren als ihre Erschafferin. Dünn, ohne Beine, aber dafür mit kleinen und krallenbewehrten Händen. Einige von ihnen starben bereits nach kurzer Zeit. Andere krochen in die Menschen und die anderen Ungeheur um sich herum hinein, schoben sich in ihre Münder, Ohren, Nasen oder sonstige Körperöffnungen. Zu welchem Zweck, konnte ich nur erahnen. Seltsamerweise schienen sie es auf mich nicht abgesehen zu haben, auch wenn sie an mir schnüffelten, mich aus halbblinden Augen ansahen und sogar das ein oder andere mal mit ihren verkümmerten Krallen berührten.
Es war beinah als würde mir das Buch Schutz gewähren. Schutz vor allem außer der Wahrheit. Und vielleicht war diese Wahrheit sogar schlimmer als alles was den unwissenden Opfern um mich herum wiederfuhr. Sie ahnten nichts von all dem und schrieben ihre Krankheiten, Schicksale und Missgeschicke falschen Entscheidungen, schlechter Ernährung oder einfach dem Pech zu, obwohl wahrscheinlich häufig genug all diese widerlichen Wesen dafür verantwortlich waren. Aber sie ahnten nichts davon und darin lag auch ein gewisser Frieden. Ich für meinen Teil konnte diesen Frieden nur wiedererlangen, wenn ich mein rechtes Auge schloss oder verdeckte. Dann wurde aus der grausamen Mutter der Ungeheuer wieder eine nicht direkt sympathische aber doch durch und durch menschliche leicht korpulente Frau Mitte vierzig. Und auch die anderen Scheusale wurden wieder zu ganz gewöhnlichen Mitmenschen. Aber das Wissen um die Wahrheit blieb und ließ sich nicht so einfach von einer dünnen Haut und ein paar Wimpern verdecken.
Fast noch schlimmer als die wimmelden abscheulichen Kreaturen in der U-Bahn aber, waren diejenigen, die nach wie vor menschlich aussahen. Denn von ihnen sah ich offensichtlich ihre dunkelsten Geheimnisse und Greueltaten. Ich sah unbeschreibliche sexuelle Praktiken. Ich sah Menschen, die auf andere einschlugen oder traten oder sie sogar ermordeten. Ich sah Vergewaltiger, Tierquäler und Psychopathen wohin meine Augen blickten und wenn ich mein rechtes Auge schloss, waren es plötzlicj wieder ganz normale Menschen, die als Passanten keine nennenswerte Aufmerksamkeit erregt hätten. Natürlich gab es nicht nur nichtmenschliche und menschliche Monster. Einige waren bei harmloseren Verfehlungen zu sehen. Kleine Diebstähle, Seitensprünge, Drogenkonsum, etc. und einige wenige schienen überhaupt noch nichts nennenswertes angestellt zu haben. Trotzdem war die Zahl der Abscheulichkeiten und Psychopathen erschreckend. Sie machte sicher die Hälfte der scheinbar normalen Menschen aus, wenn man die Leute in dieser U-Bahn als Maßstab für die Gesamtgesellschaftt nahm.
Den Rest der Fahrt über schloß ich die Augen, um nicht vollends den Verstand zu verlieren und wieder jemanden anzufallen. Seltsamerweise halfen die geschlossenen Augen auch gen die monströsen Geräusche und abartigen Gerüche, die die Wesen absonderten. Trotzdem wusste ich in jedem einzelnen Moment was sich wirklich um mich herum befand und immer wenn mich ein Arm, ein Rücken oder eine Hand versehentlich berührte, musste ich einen Schrei des Ekels unterdrücken. Des Ekels vor den Körpern meiner Mitfahrer, aber noch viel mehr vor ihren Seelen.
Irgendwann kündigte die automatische Durchsage an, dass wir meine Heimathaltestelle erreicht hatten. Von dort aus würde ich nur noch wenige Minuten bis zu mir nach Hause laufen müssen. Ich achtete sorgsam darauf, die Augen erst zu öffnen, als der Zug zum stehen kam und stieg dann schnell und ohne mich umzudrehen an der Haltestelle aus. Leider stieg genau in diesem Moment ein anderer Fahrgast in die U-Bahn ein. Ein groteskes humanoides Krebswesen mit acht Stilaugen und einem bösartigen Blick, der mir verriet, welche Lust es darauf hatte mich mit seinen Scherenhände zu zerfetzen. Dank meines unerklärlichen übernatürlichen Schutzes, ließ es mich aber ziehen.
Auf dem Weg nach Hause hielt ich den Blick auf den Boden gerichtet, wodurch ich wenigstens keine weiteren Menschen sehen musste. Ich hörte nur ab und an ein insektenhaftes Zirpen in dem erschreckenderweise menschliche Worte mitschwangen oder ein tiefes dämonisches Grunzen. Einmal sah ich auch ein katzenartiges Wesen, das acht Beine und einen Skorpionschwanz besaß und das eine feurige Spur auf dem Asphalt hinterließ. Zum Glück verschwand es schnell im nächsten Gebüsch. Vielleicht um eine Maus zu jagen deren wahre Gestalt ich mir lieber nicht vorstellen wollte.
Zum Glück kannte ich den Weg wirklich in und auswendig, weswegen ich zuletzt beide Augen schloss und hoffte in keinen Unfall verwickelt zu werden. Mehr Angst als vor Unfällen oder vor den Kreaturen hatte ich aber vor meiner eigenen Frau. Besser gesagt, vor ihrer wahren Gestalt.
Ich hatte das schöne und gütige Gesicht von Sabrina stets jeden Tag vor Augen und es war aktuell so ziemlich das einzige was mich davon abhielt vollkommen durchzudrehen. Ich beschloss, gar nicht wissen zu wollen, wie sie in Wahrheit aussah. Ich wollte einfach nur von ihr gehalten werden und die schrecklichen Erlebnisse und Bilder vergessen. Selbst wenn sie ein dreiköpfiger Troll mit Tenkakeln und einem Unterleib aus giftspuckenden Geschwüren sein sollte, so wollte ich das nicht erfahren. Sogar dann, wenn sie bereits zwanzig eiskalte Morde begangen hatte und jeden Freitagnachmittag einen Welpen erwirkte, so war mir das egal. Ich sehnte mich einfach nur nach Unwissenheit.
Mein Entschluss stand fest. Ich würde mir eine Augenbinde anlegen und was von einer Augnentzündung erzählen. Notfalls würde ich mich auch selbst auf dem verfluchten Auge blenden, wenn es nicht anders ginge. Ich hatte schon genug von dieser Wahrheit gesehen und konnte sehr gut darauf verzichten. Mit einem Auge würde ich durchaus leben können. Mit dieser Realität nicht. Irgendwann würde ich vielleicht auch das verdrängen können was ich bereits wusste. Es gab doch auch solche Hypnosetherapeuten. Vielleicht konnte einer von denen mein Gehirn von dieser Last befreien. Und wenn nicht, würde ich mir einfach die Gehirnzellen mit Alkohol oder Drogen zunebeln, bis ich nicht mal mehr den Namen meiner Mutter wusste. Hauptsache die verdammte Wahrheit verschwand im Nirvana.
Endlich war ich an meiner Haustür angekommen. Langsam drehte ich meinen Schlüssel im Schloss herum und drückte behutsam die Tür auf. Mit etwas Glück schlief Sabrina bereits und ich würde sie nicht zu Gesicht bekommen, bis ich mein Auge verdeckt hatte. Vorsichtig schlich ich in unser Schlafzimmer und öffnete die Schublade mit den Stofftaschentüchern. Ich hörte dabei Sabrina leise atmen. Irrte ich mich oder klang ihr Atem ungewöhnlich tief und rasselnd? Ich versuchte nicht weiter darauf zu achten und betete, dass sie nicht erwachen würde. Endlich hatte ich ein Taschentuch in der passenden Größe gefunden. Ich ging ins Bad, um es mir um mein verfluchtes Auge zu wickeln und schaltete das Licht ein. „Karsten?!“ hörte ich fast gleichzeitig eine blubbernde Schrille Stimme aus dem Schlafzimmer rufen, die nur sehr entfernt an Sabrina erinnerte, aber wahrscheinlich dennoch ihr gehörte.
Ich beschloss, mich mit der Augenbinde zu beeilen. Dafür sah ich zum ersten mal seit dem Vorfall mit dem Buch in den Spiegel. Was ich dort erblickte, war sogar noch schlimmer als alles was ich ohnehin schon erleben musste. Im Spiegel blickte mich nicht etwa eine monströse Kreatur an. Nein. Das was ich dort im Spiegel sah, war ein Schwarzer Fleck. Ein dunkler gestaltloser Schatten. Ein Abdruck aus stoffgewordener Leere. Und ich wusstete was das bedeutete. Der wahre Kern meines Wesens. Die Summe meinenr Eigenschaften, war nichts. Gar nichts. Es machte überhaupt keinen Unterschied ob ich existierte.
„Karsten?! Bist du da?“ rief die blubbernde Stimme erneut und klang diesmal schon näher. Ich hatte die Augenbinde beinah fertig gebunden. Trotzdem sah ich noch, wie sich eine dürre knochige Klaue mit faltiger fleckiger Haut durch die halb geöffnete Türe schob.
Dann hatte ich endlich die Binde angelegt und sah Gott sei Dank nur Sabrinas wunderbares Antlitz vor mir, als sie die Tür ganz geöffnet hatte.. „Hey Schatz. Was ist los? Was soll diese Augenbinde? Ist dir was passiert?“ Ihre Stimme klang jetzt wieder so voll und lieblich wie ich sie in Erinnerung hatte. „Eine Augenentzündung. Nichts wildes. Ich erzähle dir Morgen mehr darüber. Lass uns jetzt einfach ins Bett gehen.“ Ich nahm sie an ihrer warmen und etwas feuchten Hand und so gingen wir gemeinsam ins Schlafzimmer wo ich mich einfach dem Zauber ihrer Umarmung hingab. Ich mochte ein Nichts sein, aber zumindest dieser Moment gab meinem Leben einen Sinn. Während ich die Zärtlichkeit genoss und halbwegs erfolgreich all die schrecklichen Bilder der letzten Stunden ausblendete, beschloss ich nach dem Buch zu suchen und es zu zerstören. Es gab ganz einfach Wahrheiten, die niemand kennen sollte.