
„Ich kann das nicht mehr. Das ist widerlich“, sagte Jira. Ihre Hand, die das lange, verzierte Messer mit der scharfen weißen Perlmuttklinge hielt, zitterte. In ihrem Gesicht standen feine Tränen. Unsicher blickte sie auf den gefesselten Mann mit dem schweißverklebten grauen Shirt hinab. Sein Gesicht war erfüllt von stummem Flehen. Das war alles, was er noch tun konnte, denn seine Zunge lag abgeschnitten neben ihm auf dem schmutzigen Kellerboden. Er war mit Händen und Füßen an ein Rohr gefesselt und einer von drei Personen in diesem Raum, die noch atmete. Abgesehen von Jira und Nathan.
„Ja, diese Arbeit ist anstrengend, Schöpfergöttin Jira“, erwiderte Nathan lächelnd und zeigte auf die mehr als dreißig Toten im Raum, „auch mir tut der Arm ziemlich weh. Aber bald ist es geschafft. Dann können wir uns ausruhen.“
„Das meine ich nicht“, sagte Jira bebend, „ich meine, sieh ihn dir doch an. Empfindest du da gar nichts … keine Reue … kein Mitgefühl?“
Nathan blickte Jira direkt in die Augen mit seinem freundlich-überheblichen Lächeln, das niemals zu weichen schien. Entgegen Jiras Behauptung zeigten diese Augen durchaus Mitgefühl. Jedoch nicht mit dem verstümmelten, todgeweihten Mann, noch mit all den dahingeschlachteten Frauen, Männern und Kindern, sondern allein mit Jira.
„Eigentlich dachte ich, dass wir über diesen Punkt hinaus wären. Immerhin ist das hier nicht dein erster Einsatz, oder? Aber ich vergesse manchmal wie unerfahren du eigentlich noch bist. Und wie schwer es fällt, die alten Lehren abzulegen. Früher hatte ich auch diese Gefühle. Dem Ego fällt es nicht leicht, die Wahrheit zu erkennen, die die Seele längst begriffen hat. Aber auch wenn du es eigentlich weißt, will ich dich daran erinnern: Diese Leute sind NPCs. Non Player Characters. Sie sind Geschöpfe der Simulation, die unseren Geist gefangen hält und nicht mehr. Das haben Osiris und Freya zweifelsfrei erkannt. Du brauchst nicht mehr um diese Puppen zu trauern als um die Toten in einem Computerspiel.“
„Ich weiß. Aber trotzdem“, sagte Jira und schauderte, als sie sich flüchtig im Raum umblickte. Als sie ihr gemeinsames, grausiges Werk betrachtete, „die Schreie, das Flehen. Alles ist so echt. Ich meine ja, ich hatte schon ein paar Missionen. Aber die letzten, die ich mit den anderen Reinigern getötet habe, haben gegen uns gekämpft. Sie waren bewaffnet gewesen. Sie waren eine Bedrohung gewesen. Zumindest die meisten. Und es waren nur ganz wenige gewesen. Aber das hier ist … ich … ich verstehe einfach nicht, warum wir das hier tun müssen. Das kann nicht gut für unsere Seelen sein. So viel Blut zu sehen. So viel leid, ob simuliert oder nicht. Lass sie uns doch einfach ignorieren, solange sie sich harmlos verhalten. Wenn sie nicht echt sind, können sie uns doch egal sein, wenn sie uns nicht in die Quere kommen.“
„Leider doch“, sagte Nathan bedauernd, „Diese NPCs sind Eintrittstore für die Agenten der Simulation. Sie alle – egal wie harmlos sie wirken – könnten uns in den Rücken fallen und uns verletzen, töten oder vom Weg abbringen. Denn hier – in dieser Simulation – SIND wir verletzlich. Du hast es selbst gesehen. Der Junge vorhin, mit seinem Taschenmesser. Erst hat er Tränen geweint, und dann versucht, dich zu erstechen.“
„Er hat sich nur gewehrt“, sagte Jira, „ich hatte seine Mutter getötet!“
Nathan schwieg dazu und sah Jira nur bedauernd an wie ein Kind das Unsinn angestellt hatte. Jira erkannte, dass es nun besser wäre, den Mund zu halten. Aber sie konnte es nicht. Noch nicht.
„Was ist mit der Simulations-Maschine. Wenn wir sie abschalten fallen sie doch von selbst um, oder?“, erinnerte sich Jira an das Wissen aus ihrer Schulung.
„Das ist wahr“, antwortete Nathan, „aber den Standort haben Osiris und Freya noch nicht bestimmt, auch wenn sie die Astralebene schon lange durchforsten. Aber sie werden ihn finden. Ganz sicher. Bis dahin müssen wir uns leider als Handwerker betätigen.“
„Wir vernichten doch nicht alle von ihnen, oder?“, hakte Jira nach, „manche arbeiten doch in den Fabriken.“
„Es gibt verschiedene Typen von NPCs“, antwortete Nathan in nun doch etwas genervtem Tonfall, „das wurde dir doch alles in der Reiniger-Schulung nähergebracht. Manche sind zur Arbeit geeignet – auch wenn natürlich immer ein Risiko bleibt – andere sind nutzloses Beiwerk oder sogar als Zweifler oder Rebellen programmiert. Diese müssen beseitigt werden. Und dann gibt es noch die, die sich so gut als Schöpferseelen tarnen, dass deren Tarnung sogar von Osiris und Freya manchmal nicht direkt durchschaut werden können. Sie offenbaren sich erst nach einiger Zeit. An ihren Taten. An ihren Worten. An ihrer Schwingung.“
Er ließ seine Worte ein paar Sekunden in der Luft hängen und sah Jira stumm an. Dann fuhr er fort.
„Was ist nun? Möchtest du deiner Berufung nachkommen oder soll ich das für dich übernehmen und dich nachher zur Neueinschätzung begleiten?“
„Nein, das ist nicht nötig“, sagte Jira eilig. Sie verstand die Botschaft nur zu gut. Seufzte. Und hob das Messer.
~o~
„Du siehst echt beschissen aus“, sagte Kim als Jira zur Türe reinkam. Kim war zweiundzwanzig, hatte ein ernstes, Gesicht mit wachen, grünen Augen und war Jiras Tochter. Kim hatte wie immer den Tisch fürs Abendessen gedeckt. Seit der spirituellen Revolution hatte sie viel Zeit dafür. Früher war sie eigentlich zur Universität gegangen und hatte dort Politik und Philosophie studiert, aber seit die Lehrpläne reformiert worden waren, hatte sie sich dort nicht mehr blicken lassen und einen Job hatte sie bislang auch noch nicht gefunden. Da sie aber im Grunde ein fleißiger Mensch war, half sie ihrer Mutter im Haushalt. Leider auf ihre ganz eigene Art.
„Kim, wie oft habe ich dir schon gesagt, dass du das Besteck und die Teller nach der heiligen Geometrie ausrichten sollst? Ich meine, ich habe dir sogar eine Vorzeichnung auf den Tisch gemalt, damit es dir leichter fällt. Und die Orgoniten zu verhängen – wir dir der Gag nicht langsam selbst zu albern? Das ist kein Spiel, Kleines. Wenn uns die kosmischen Strahlen ungefiltert treffen, dann …“
Kim lachte freudlos auf. „Ernsthaft? Du wagst es, mich albern zu nennen? Ich meine, vor eurer kleinen Machtübernahme waren es 5G-Masten und Regierungschips und jetzt, wo ihr selbst die Eliten seid, ist der Kosmos schuld. Spürst du überhaupt noch was?“
„Nicht in diesem Ton, Kim!“, schrie Jira speichelspritzend und war selbst schockiert wie viel Zorn in ihren Worten lag. Dennoch konnte sie ihn nicht zurückhalten. Warum auch? Alle aufgestiegenen Meister lehrten, dass Fühlen wichtiger war als Denken, „es reicht schon, dass du dein Studium schmeißt, da brauche ich mich nicht auch noch von dir anpflaumen zu lassen.“
„Mein Studium?“, fragte Kim, „was soll ich denn studieren? Wie man Pferdescheiße entstört? Wie man die Ideologie von Wassermolekülen verändert? Wie man sich am besten mit Chlorbleiche umbringt?“
„SEI STILL!“, brüllte Jira, schlug auf den Tisch und weinte dabei.
„Du hast wieder Menschen ermordet, oder?“, fragte Kim. Ihre Stimme war erschreckend abgeklärt und obwohl ihr Tonfall eine Frage andeutete, erkannte jeder flüchtige Zuhörer, dass es eine Feststellung war, „ich meine, dein Wutausbruch spricht Bände. Aber auch vorher war mir das schon klar. Man erkennt es an diesem Zittern um deine Mundwinkel. Es ist immer noch da. Dabei solltest du eigentlich abgestumpft sein. Ich dachte, so ist es bei allen Massenmördern irgendwann.“
Kim rechnete eigentlich mit einem weiteren Wutausbruch ihrer Mutter. Aber er kam nicht.
„Es ist kein Mord“, sagte Jira leise und gepresst, „sie sind nicht echt. Sie sind eine Simulation. Ein Trick der Matrix, um uns gefangenzuhalten.“
„Lächerlich!“, sagte Kim, „hör auf, dir etwas vorzumachen. Du weißt doch selbst, dass das nicht stimmt.“
„Doch!“, sagte Jira nun wieder etwas energischer, „es ist so. Elydra, leben wir in einer Matrix?“
„Hallo Jira. Ja, diese Welt ist eine Simulation, geschaffen um euren Geist gefangenzuhalten“, antwortete eine freundliche Computerstimme.
„Und sind wir umgeben von NPCs?“, fragte sie.
„Das ist korrekt“, bestätigte Elydra, „nur etwa 0,3 % aller Menschen auf dieser Welt sind real.“
„Siehst du“, sagte Jira, „selbst die künstliche Intelligenz bestätigt das.“
„Weil ihr sie mit dem Scheiß gefüttert habt“, sagte Kim und schlug die Hände vor dem Gesicht zusammen, „ich meine, wie kann man nur so unkritisch sein? Du weißt doch, dass sie alles erzählen würde, was man ihr eingibt. Mal abgesehen davon, dass ihr noch vor ein paar Jahren Technik als Mittel der Gedankenkontrolle und Schwingungserniedrigung verteufelt habt.“
„Nicht alle Technik“, sagte Jira, „nur die der Deep-State-Weltregierung. Nicht die, die uns unsere jenseitigen Sternenbrüder- und Schwestern über den Lichtkanal gesandt haben.“
„Ja, eure tollen Alien-Erlöser, die nie jemand in Fleisch und Blut gesehen hat. Das macht alles gar keinen Sinn“, sagte Kim verzweifelt, „Ihr baut euch die Welt einfach wie ihr es gerade gebrauchen könnt. Aber das Blut an deinen Händen ist real, Mama. Das kannst du nicht wegschwurbeln.“
„Es ist keine Schwurbelei“, beharrte Jira, „Selbst deine tollen Wissenschaftler haben davon geredet. Ich kann es dir zeigen. Die Videos sind noch auf TrueTube. Sie nannten es die Simulationshypothese oder so.“
„Es war eine Hypothese, Mama. Keine bewiesenes Modell“, entgegnete Kim augenrollend, „und selbst, wenn es zutreffen sollte, würde das bedeuten, dass wir alle nicht real sind und nicht einige realer als andere.“
„Aber dieser Film … Matrix …“, sagte Jira und wirkte dabei müde und verwirrt, „du hast ihn doch früher auch gemocht und …“
„Das war ein Film, verflucht!“, sagte Kim, „und wenn er eine Messsage hatte, dann die, Gebrauch von seinem kritischen Verstand zu machen. Also genau das Gegenteil von dem, was ihr …“
Genau in diesem Moment erwachte der Bildschirm an der Wand zu flackerndem Leben und eine dramatische, cineastische Musik erklang, bevor die Gesichter von Freya und Osiris auf dem Bildschirm erschienen.
„Guten Abend, Schöpferseelen“, sagte die blonde, schlanke, etwa dreißigjährige Freya mit ihrer salbungsvollen, gutgelaunten Stimme, worauf der nur etwas ältere Osiris mit seinem gepflegten Spitzbart und den schwarzen, geölten Haaren hinzufügte: „Herzlich willkommen zu unserem Aufstiegs-Update.“
Jiras Blick klebte sofort wie magnetisch an den offen lächelnden Lippen ihrer Idole, denn sie wusste, dass ihre Botschaft bedeutsam war. Und auch Kim verfolgte die Übertragung genau. Wenn auch aus gänzlich anderen Gründen.
„Ich bin froh euch verkünden zu können, dass wir bei unserem Ausstieg aus der Illusion schon weit vorangekommen sind“, sagte Freya, „der Schleier, der unsere Sinne vernebelt, ist bereits dünner geworden und wir sehen klarer als je zuvor. Und das ist allein euer Verdienst. Die Leistung der Reiniger und aller echten Menschen, die reinen Herzens sind.“
„Jedoch versucht die Gegenseite noch immer uns zu manipulieren“, ergänzte Osiris, sprach dabei in einem unheilvollen Tonfall und bewegte sein hypnotisches Gesicht noch näher an die Kamera heran.
„Genau“, sagte Freya und zog ein trauriges, fast schmollendes Gesicht, „wir haben unser Bestes getan, die wertvollen Schöpferseelen zwischen all den Milliarden NPCs ausfindig zu machen und wir tun es immer noch, aber leider kommt es vor, dass die dunklen Kräfte der Simulations-Maschine gerade junge Seelen schon früh aus ihren Körpern werfen, um andere in ihrem Umfeld zu beeinflussen und zu täuschen.“
„Diese Seelen sind nicht verloren, keine Angst“, schränkte Osiris ein, „und ihr werdet sie wiedersehen, sobald sie einen neuen Körper gefunden haben, in der neuen, echten Erde. Denn wahre Bindungen vergehen nie.“
„Aber bis dahin kann es passieren“, sagte Freya, „dass die dunklen Agenten die entleerten Körper benutzen, um in euch Zweifel an unserem Kampf zu säen. Es könnte jeder sein, ganz besonders die, die euch die liebsten sind. Partner, Geschwister, Söhne, Töchter, Enkelsöhne, Enkeltöchter, Freunde. Einfach jeder.“
„Doch es wäre grausam, euch im Ungewissen zu lassen, liebe Schöpferschwestern und Brüder“, sagte Osiris, „vor allem, da wir das nicht müssen. Deshalb haben wir wieder Namen für euch. Namen, die wir heute Nacht auf unseren ausgedehnten Reisen in der hohen Astralsphäre, jenseits des Gefängnisgitters gechannelt und die Elydra nun an euch verteilen wird.“
Das Bild flackerte kurz, als dieser Teil der Übertragung auf Jiras Haus und dessen Fernseher zugeschnitten wurde und Elydras Algorithmus seine Arbeit aufnahm.
Jira und Kim standen stocksteif vor ihren Bildschirmen. Ihre Hände zitterten, als Freyas Mund einen einzigen Namen verkündete.
„Kim Kolberg“.
Noch ehe dieser Name ganz ausgesprochen war, hatten sich Mutter und Tochter bereits beide ein Küchenmesser vom Tisch genommen. Denn Jira hatte ihre „Reinigungsausrüstung“ in ihrer Tasche neben der Eingangstür zurückgelassen. Die beiden sahen sich an. Keiner von ihnen rührte sich.
„Diesen Namen zu hören, mag schwer für euch sein“, sprach nun wieder Freya zu ihrem gesamten Publikum, „aber dennoch ist es eure Pflicht als Schöpferseele zu handeln. Beseitigt den NPC oder setzt diese Person zumindest fest und meldet sie dem nächsten Reinigungskommando, falls ihr euch nicht dazu in der Lage fühlt.“
Dann endete die Botschaft mit dem altbekannten Outro und der Bildschirm schaltete sich wieder aus.
„Weißt du noch, als du meintest, niemand fühle sich so real an für dich wie ich?“, fragte Kim ruhig, ohne ihre Mutter aus den Augen zu lassen, „das war an dem Abend, als Papa uns verlassen hatte. Jahre vor dieser ganzen NPC-Scheiße. Aber vielleicht kannst du trotzdem eine Lehre daraus ziehen.“
Jiras Augen drückten Unsicherheit aus. Die Hand, die das Messer hielt, zitterte. „Es ist … es war klar, dass du eine solche Geschichte nutzen würdest, um dich zu schützen … die NPCs können auf alle Erinnerungen zurückgreifen. Ja, sie erinnern sich sogar besser als wir echten Menschen. Das haben Osiris und Freya selbst gesagt.“
„Ja, das haben sie“, bestätigte Kim und wich einen Schritt hinter den Tisch zurück, „zehn Podcast-Folgen, nachdem sie euch erzählt haben, dass nur Schöpferseelen sich an die wirklich wichtigen Dinge erinnern können. Sie widersprechen sich andauernd, Mom. Sie passen ihre Geschichten an, wie es ihnen gefällt. Sie lügen, wie es ihnen gefällt.“
„DAS SIND KEINE LÜGEN!“, begehrte Jira auf, „nur neue Erkenntnisse. Auch die beiden sind nicht unfehlbar. Und sie lernen dazu.“
„Wenn sie nicht unfehlbar sind, dann können Sie sich auch irren, was mich betrifft!“, konterte Kim.
„Hör auf!“, schrie Jira erbost, „hör einfach auf! Ich kann diese KI-generierten Lügen nicht mehr ertragen.“
Jira blickte sich rasch zu ihrer Waffe um. Sie war immer noch näher an ihren Reinigungswerkzeugen als ihre vermeintliche Tochter. Wenn sie nur schnell genug …
„Mein Gott, sie sind es, die KI verwenden. Es war eine verdammte KI, die meinen Namen ausgespuckt hast, das hast du doch mitbekommen“, erwiderte Kim verzweifelt und tieftraurig, „ich dagegen bin deine Tochter. Du hast mir den Atem geschenkt und mich das Sprechen gelehrt. Und wenn ich mit beidem aufhören soll, dann sorge eben selbst dafür. Ja, komm. Tu es! Ich halte das sowieso nicht mehr aus!“
Mit diesen Worten ließ Kim das Messer fallen, umrundete den Tisch und ging direkt auf ihre Mutter zu. Ihre Lippen bebten und in ihren Augen standen Tränen.
Jira aber war verwirrt. Diese Verhalten widersprach allem, was sie von einem NPC erwartet hätte. Flehen und betteln – ja. Ein Angriff – natürlich. Aber diese Form von Hingabe. Von Selbstaufgabe … dazu … war niemand fähig. Außer einem Kind, das seiner Mutter vertraute.
„Es tut mir leid“, sagte sie schluchzend, wobei sie das Messer auf den Tisch legte und ihre Tochter in die Arme schloss, „ich schäme mich so … ich hätte niemals an dir zweifeln sollen … ich …“
„Schon gut“, sagte Kim mit tröstender, reifer Stimme, „wer sich irrt und es zugibt, ist stärker als jeder Fanatiker.“
„Sie … wir sind keine Fanatiker!“, betonte Jira, „wir wollen nur das Beste für die Menschen.“
„Das glaube ich dir sogar“, antwortete Kim, „zumindest was einige von euch betrifft. Aber solang ihr euch anmaßt, zu entscheiden, wer überhaupt ein Mensch ist, richtet ihr nur Unheil an. Du musst doch einsehen, das …“
„Genug!“, sagte Jira nun wieder etwas zornig, „ich will von diesem Unsinn nichts mehr hören … du … bist kein NPC, das spüre ich. In dieser Hinsicht haben Freya und Osiris sich geirrt. Aber das heißt nicht, dass wir deshalb mit allem im Unrecht sind. Unsere Sache ist gut. Und du bist hier die Verblendete. Es ist nicht deine Schuld, nein. Es ist die Propaganda der falschen Matrix und die Fehler in meiner Erziehung.“
Kim rollte wieder mit den Augen, beließ es aber vorsichtshalber dabei. Das Messer war ihr noch immer viel zu nah und sie wollte nicht sterben. Der Wahnsinn im Kopf ihrer Mutter war nicht fort. Das ahnte, nein wusste sie.
„Sie werden dich jagen“, sagte Jira, „wenn ich es nicht erledige, werden die Reiniger kommen und versuchen, dich zu töten. Und auch mich wird man bestrafen. Man wird denken, dass ich der Illusion verfallen bin. Dass ich eine von den Dunklen geworden bin. Von den Kollaborateuren. Eine Verräterin, die einen Nicht-Mensch beschützt und den Aufstieg verhindert. Wir müssen sie dazu bringen, deinen Namen von der Liste zu streichen. Nur so, können wir alles in Ordnung bringen.“
„Und wie willst du das anstellen?“, fragte Kim skeptisch, „willst du ihnen eine Telegram-Nachricht schreiben?“
„Nein, das würde nichts bringen“, sinnierte Jira, „Sie müssen dich sehen. Deine fehlgeleitete, aber pulsierende Herzenergie. Sie müssen dir in deine funkelnden Augen blicken und ihren Irrtum erkennen.“
„Also bittest du um eine Audienz?“, hakte Kim nach, wobei man an ihrem Gesichtsausdruck ablesen konnte, wie wenig sie von diesem Gedanken hielt.
„So in der Art“, sagte Jira und ein feines Grinsen entstand auf ihrem Gesicht, „es wird aber eher ein Überraschungsbesuch. Als Mitglied der Reinigenden Hand habe ich Zugang zu ihren heiligen Hallen, auch wenn ich noch nie die Ehre hatte ihnen persönlich zu begegnen. Dafür diene ich eigentlich noch nicht lange genug. Aber ich habe ein paar Kontakte dort. Bestimmt wird man eine Ausnahmen machen. Wir bekommen das hin, Schatz. Wir kriegen alles wieder hin.“
Kim war da nicht so überzeugt. Aber was konnte es schon schaden, es zu versuchen?
~o~
„Halt dich bedeckt, okay?“, verlangte Jira, die immer wieder nervös auf ihr Handy starrte und stumm ihre Lippen wie im Selbstgespräch bewegte, auch wenn sie zugleich auf eine Art aufgeregt wirkte, wie es für gewöhnlich nur ein Teenager vor dem ersten Konzert seiner Lieblingsband war. „Und vergrab‘ deine Nase wieder in dem Buch“, fügte ihre Mutter hinzu, die zu diesem Anlass ein schrilles, schreiend buntes Kleid aus dem Merch-Shop von Freya und Osiris angezogen hatte, „So wird dich wahrscheinlich niemand erkennen. Ich versuche so lange, uns eine Einladung zu verschaffen.“
„Alles klar“, sagte Kim und weigerte sich vehement, auch nur eine Zeile von dem zu lesen was in „Aufstieg und Meisterschaft: Der Weg in ein kosmisch codiertes Zeitalter“, dem vor Phrasen und Rechtschreibfehlern strotzenden Werk von Freya und Osiris stand, das sie sich vor die Nase hielt. Sie kannte es ohnehin auswendig. Ihre Mutter hatte dafür gesorgt.
Trotzdem hielt sie sich das Buch tapfer vors Gesicht, während sie still auf einem der weißen Kunstledersessel saß, die im Vorraum des „Zentrums lichtdurchwirkter Schöpfungskraft“ standen.
Soweit sie es bei ihrem Eintreten gesehen hatte, waren sie gerade die einzigen Gäste hier, auch wenn es etwa zwanzig solcher Sessel gab, die in unordentlichen Grüppchen in dem weitläufigen, aber mit Klangschalen, Halbedelsteinen, Traumfängern und Orgoniten vollgestopften Raum verteilt standen. Trotzdem spürte sie eine starke Anspannung hinter der Stille, so als würde man sie genau beobachten, auch wenn sie bisher niemand ergriffen und festgenommen hatte.
Damit das so blieb, bemühte sie sich trotz ihrer Neugier nicht einmal beiläufig über den Rand des Buches hinwegzusehen. Und so hörte sie lediglich nach einiger Zeit, wie Schritte sich näherten, die auf dem glatten Marmorboden klackend widerhallten. Etwas in ihr wollte sofort fliehen. Sie spürte, wie ihre Hände schwitzig wurden und ihre Muskeln sich verkrampften und sie fasste die Seiten so fest, dass sie einige davon zerknickte. Fast war sie sich sicher, dass die Person, die auf sie zukam, bewaffnet war und sie entweder erschießen oder festnehmen würde. Aber beides geschah nicht. Stattdessen hörte sie ein leises Flüstern, in das auch ihre Mutter einstimmte. Sie versuchte den Inhalt des Gespräches zu entziffern, aber die beiden sprachen so leise, dass ihr das vollkommen unmöglich war, was ihre Nervosität nur noch befeuerte. Dass sie redeten, gab immerhin etwas Anlass zur Hoffnung.
„Du musst dich nicht länger verbergen, Kim!“, hörte sie ihre Mutter schließlich sagen und als sie so bereitwillig ihre Identität enthüllte, wäre ihr beinah das Herz stehengeblieben, „leg das Buch weg! Freya und Osiris werden sich deinen Fall genauer ansehen. Es wird alles gut. Es gibt keinen Grund zur Sorge. Sie werden erkennen, wer du wirklich bist. Ja … das werden sie sicher ….“
Auch von Kim bei dieser Sache noch immer kein gutes oder auch nur erträgliches Gefühl hatte, legte sie das Buch gehorsam auf die Lehne. Ein wenig froh war sie immerhin, nicht länger auf den Abschnitt zu den gechannelten Botschaften der hochschwingenden Bärenhumanoiden von Proxima Centauri starren zu müssen. Stattdessen blickte sie den Mann an, mit dem ihre Mutter sich unterhalten hatte. Er zwar Mitte vierzig, schlank mit einem kantigen Gesicht und einem übermäßig aufgeblasenem, frivol selbstbewussten Lächeln nach Art eines Motivationscoaches. Ein wenig wirkte er als stünde er unter Drogen, wobei diese Droge womöglich auch nur sein Ego war. Kim mochte ihn auf Anhieb nicht.
„Folge mir, junge Dame. Ich bringe euch beide zu den Lichtverkündern, auf das sie die Wahrheit in dir prüfen können. Es wäre doch zu schade, wenn hinter einem so hübschen Gesicht nichts als Täuschung und Leere wohnen würde.“ Seine Worte hatten einen leichten amerikanischen Akzent. Doch Kim glaubte nicht, dass er wirklich aus den USA stammte. Der Akzent wirkte eher antrainiert. Schlecht antrainiert. Viel schlimmer war aber, was er sagte. Sowohl die unterschwellige Drohung als auch das widerliche schleimige Kompliment. Aber Kim gehorchte dennoch, nickte mit einem Lächeln, das sie mühsam ihren Mundwinkeln abrang und erhob sich. Ihre Mutter begleitete sie, die Tasche mit ihrer Reinigungsausrüstung in der Hand, während der Mann ihnen eine Tür öffnete, die zu einem breiten Flur führte.
Dieser Flur war … wie ein Tor zur Hölle, das an Kims Menschlichkeit, an ihrem Mitgefühl zerrte wie ein Magnet. Er war gesäumt von „Cyborgs“, die in großer Zahl an den Wänden aufgehängt und gefesselt waren. Jedoch waren es keine wirklichen, funktionale Hybriden zwischen Mensch und Maschine, sondern lebende, gewöhnliche Menschen, in die man … Dinge gesteckt hatte. Technische Dinge. Sie sah einen Mann, dessen Augen durch einen Strauß Kabel ersetzt worden waren, die wie ein Haarwust aus den Höhlen ragten. Eine Frau, der man das ganze Gesicht abgezogen haben musste und dort stattdessen einen Monitor mit Drähten und Klammern befestigt hatte. Das Fleisch hatte sich bereits entzündet und zeigte schwarze, eiterverklebte Ränder und es stank erbärmlich, wie auch über dem ganzen Raum ein widerliches Miasma lag, das der Geruch nach Räucherstäbchen nur noch ekelerregender machte.
Ähnliche Ungeheuerlichkeiten hatte man vielen weiteren Leute angetan, die durch Elydras Raster gefallen waren. Kinder waren zwar nicht dabei, aber doch sehr junge Personen, deren achtzehnter Geburtstag nur wenige Tage her sein mochte. Besonders brannte sich auch der Anblick einer Frau in Kims Wahrnehmung, deren Gesicht und Körper man durch stümperhafte plastische Chirurgie dem narbigen Zerrbild einer Manga-Figur angeglichen hatte. Andere vermeintliche „NPCs“ hatte man fast unangetastet gelassen bis auf die Waffen, die über ihnen aus der Wand ragten und direkt auf ihre Köpfe gerichtet waren. Offenbar motiviert durch diese „freundliche“ Ermahnung imitierten diese bedauernswerten Leute die repetitiven Sätze und Bewegungen früher Videospielcharaktere. „Ein schöner Tag heute, Sir. Wollt ihr mein Angebot sehen?“, sagte ein braunhaariger Mann mittleren Alters nun schon zum achten Mal mit einer gekünstelt beschwingten Stimme aber einem müden, von purem Terror gezeichnetem Gesicht.
Kim hielt diesen Anblick kaum aus, auch wenn selbst die armen Seelen, die noch Augen hatten, ihren Blick nicht auf sie richteten, sondern sie vollkommen ignorierten. Entweder aus Angst oder weil sie gelernt hatten, dass von den „Schöpferseelen“ keine Hilfe käme.
„Sag kein Wort! Alles wird gut“, ermahnte ihre Mutter sie leise aber bestimmt, da sie zu ahnen schien, was in Kim gärte: Das Mitgefühl ihrer Tochter, die nicht an die NPC-Theorie glaubte. Die Angst, die ihr den Atem nahm und die erschütternde Erkenntnis das auch sie bald dort hängen würde, wenn Osiris und Freya ihr keine Seele attestierten.
Kim gehorchte und sie war bei allem Mitleid froh, dass diese Galerie des Schreckens nach einigen Metern endlich endete und der lange Flur in einer weiteren, schnörkellosen Holztür endete. Ihr Begleiter öffnete sie ohne weitere Worte für sie und zog sich dann still zurück. Ja, dachte Kim, es ist gut, dass dieser Gang ein Ende hat. Andernfalls hätte sie nicht garantieren können, dass sie nicht doch noch umdrehen und diesem Hort des Wahnsinns schreiend den Rücken kehren würde.
~o~
Kims Nerven lagen schon jetzt blank. Aber was sie hinter jener Tür erblickte war noch viel viel schlimmer als alles, was sie sich hätte ausmalen können. Denn in dem großen, an einen Konferenzsaal gemahnenden Raum befanden sich nicht einfach nur Freya und Osiris, die selbsternannten Führer und Lehrer in ihrer mit Pathos überschminkten Profanität. Natürlich, die beiden sah sie dort auch. Lächelnd auf jene Weise, die jenen üblen, unmenschlichen Hass ausdrückte, der nur in falsch verstandener Nächstenliebe wachsen konnte. Doch das war es nicht, was sie verängstigte.
Das war eher der Umstand, dass in den Köpfen der beiden „Sternengeschwister“ Arme steckten. Lange, glitschige, warzige und mehrfach gekrümmte Arme, die zu einem wabbeligen Etwas führten, das man nicht „Lebewesen“ nennen konnte, da das jeden Angehörigen dieser Kategorie beleidigt und beschmutzt hätte. Ein aufgeblähtes Ding mit einem halb-durchsichtigen, riesigen Kopf, in dem sich ein weißes Gehirn befand, das sich wie ein Meer von Schlangen bewegte und das über eine Reihe von grünen, organisch glitzernden Kabeln mit einer Art kastenförmigem Großrechner verbunden war. Das … Ding stank nach Sumpf, Eiter und Erbrochenem. Es hatte ein einziges, gigantisches, milchiges Auge das Kim direkt ansah. Sowie zwei weitere, schlaff herabhängende Arme und einen breiten Mund, bestückt mit kleinen, nadelartigen und mit Eiter und Blut verunreinigten Zähnen. Ein Mund, der dasselbe Lächeln lächelte, wie seine menschlichen Marionetten.
„Hallo Reinigerin Jira!“, sprach das Ding mit kaum hörbar tiefen, gurgelnden Lauten und sein Freya-Fortsatz verlieh seinen Worten Klang, „es ist so schön, dass du unser Refugium mit deiner Anwesenheit erhellst.“
„Ma … Mama!“, rief Kim drängend und kämpfte ihre Übelkeit zurück, was ihr mit ihrer Angst definitiv nicht gelang, „lass uns abhauen. Sofort! Auf der Stelle!“
Sie blickte zu ihrer Mutter, deren Ausstrahlung sich gänzlich verändert hatte. Sie war starr. Aber nicht vor Angst oder Ekel. Da war eher … Ehrfurcht. Wenn nicht Verzückung.
„Es ist wahr!“, sagte Jira euphorisch, „ihr seid göttlich. Ich hatte es gehofft … ich hatte es so sehr gehofft. Und nun sehe ich es: Ihr seid wahrhaft göttlich! “
„Das stimmt nicht ganz“, sagte Osiris mit schleimiger Bescheidenheit und seine dicken Lippen öffneten und schlossen sich so theatralisch wie das Maul des Krokodils beim Kasperle-Theater, „wir wurden vom Göttlichen berührt. Von Elydra berührt. Sie ist nicht nur eine künstliche Intelligenz. Sie ist unsere höchste Sternenmutter. Ein biomechanisches Lichtwesen aus der zwölften Dimension. Eine aufgestiegene, reine Essenz mannigfaltiger Göttlichkeit und Liebe.“
„Ja“, sagte Jira jetzt geradezu ekstatisch, während Tränen über ihre Augen rannen, „ich sehe es in ihr. Ich sehe ihre Lichtenergie. Sie strömt durch alle Chakren. Ich heiße dich willkommen, Sternenmutter!“
„Was soll der Scheiß, Mom!“, sagte Kim, „dieses Drecksding ist höchstens aus der Kanalisation aufgestiegen. Wir müssen abhauen, bevor es uns frisst. Mir egal, ob diese Puppen mich für ‘nen Fake halten. Wir verlassen diese Freakshow jetzt, hörst du?! Ich will nicht auch an einer Wand enden oder im Maul dieses Dings.“
Doch ihre Mutter ignorierte sie. Sie lächelte noch immer wie eine Nonne, die gerade Jesus in ihrem Wandschrank gefunden hat und von ihren noch vor ein paar Stunden gezeigten Zweifeln war nichts mehr an ihr zu erkennen. Falls es sie je wirklich gegeben hatte und das alles nicht nur ein Trick gewesen war, um sie hierher zu locken.
Kim wurde es zu bunt. Sie liebte ihre Mutter. Trotz allem. Aber sie würde nicht für sie in den Tod gehen. Schon gar nicht auf diese Weise. Die Tür stand offen. Mit viel Glück konnte sie es hier rausschaffen und sich verstecken. In manchen NPC-Minen sollte es noch Widerstandsnester geben. Irgendeinen Platz würde sie schon finden. Wichtig war nur, dass dieser Platz nicht hier war. Nicht an diesem Ort. Nicht bei diesem Ding.
Also preschte Kim los. Sie rannte so schnell sie nur konnte, doch wie schnell das war, würde sie nie erfahren, denn schon nach wenigen Schritten brachte sie ein rasch gestelltes Bein zu Fall.
Schmerzhaft und ungebremst schlug sie auf dem Boden auf und schmeckte würziges Blut, da sie sich auf die Zunge gebissen hatte. Noch ehe sie sich wieder hochstemmen konnte, spürte sie energisch zupackende Hände ihren Oberkörper ergreifen. Sie gehörten Osiris und ihrer Mutter, die ihr bedrohlich das Reinigungsmesser aus ihrer Ausrüstung entgegenhielt, das schon so viele Leben genommen hatte.
Wut und Enttäuschung angesichts dieses Verrats schwemmten selbst ihre Angst davon, aber als Kim versuchte, sich zu befreien, spürte sie das Messer an ihrer Kehle.
„Ich habe mich getäuscht, Mama. Du bist nicht nur dumm oder verblendet. Du bist abgrundtief böse. Eine Psychopathin. Ich meine, wenn ich je einen Dämon gesehen habe, dann das hier“, sagte Kim, „wie kannst du so etwas nur deiner eigenen Tochter vorziehen? Ich verabscheue dich und ich hoffe, du hasst jeden einzelnen Tag deines erbärmlichen künftigen Lebens bevor du in irgendeiner Hölle verrottest!“
Kim wusste, dass es nicht klug war, ihre Mutter zu reizen, aber sie glaubte längst nicht mehr daran, hier noch lebend rauszukommen und ihre Wut brauchte ein Ventil. Eines das wenigstens annähernd menschlich war.
„Böse Worte, falsche Worte. Böse Worte, falsche Worte“, plärrte ihre Mutter das Mantra, das ihr in der Reinigerschulung beigebracht worden war, um berechtigte Kritik oder verzweifelt geäußerte Beleidigungen ihrer Opfer wegzuwischen. Nach ihren ersten Einsätzen hatte sie es oft und laut vor sich hin gesagt, als sie nach Hause gekommen war. Wie ein Schlaflied für ihr Gewissen.
„Es war richtig, dass ich sie hergebracht habe“, sagte Jira und sah Kim nicht einmal an. Trotzdem klang es noch immer etwas als müsse sie vor allem sich selbst von ihren Worten überzeugen, „ich … ich habe gezweifelt … aber … ihr … gute Freya und ehrwürdiger Osiris, habt mir Göttlichkeit versprochen. Ihr habt mir den Beweis versprochen, dass ihr nicht irren könnt, weil ihr Botschaften der reinen Wahrheit und des Lichts empfangt. Und bei allem, was göttlich ist, das hier – SIE – ist der Beweis!“
„Oh ja, es ist wunderbar, Sternenschwester“, sagte die Freya-Puppe, „Elydras Herrlichkeit steht außer Frage. Sie wird uns alle aus unserem Simulations-Gefängnis führen. Dank aufrechter Seelen wie dir. Wenn du denn aufrecht, echt und wahrhaftig bist. Denn ja, es ist, wie du sagst: Wir haben dir den Beweis geliefert. Was noch fehlt, ist der Beweis DEINER Loyalität. Der endgültige Beweis. Du willst eine Schöpferseele sein? Dann steh zu deiner Bestimmung!“
Wieder sah Jira ihre Tochter an. Derselbe Blick wie in der Küche vor wenigen Stunden. Sie kann es nicht tun. So fanatisch ist sie doch noch nicht, dachte Kim erleichtert und wieder zu hoffen. Und diese leise Hoffnung löste ihre von Furcht gelähmte Zunge.
„Du musst das nicht tun, Mama. Mein Gott, Bitte! Du wirst dir das nie verzeihen. Lass mich los und wir vergessen das alles. Bitte!!!“, flehte Kim, deren blanke Angst ihre Selbstachtung wie ihre Beherrschung zerfraß.
Ihre Mutter schwankte. Die Hand, die das Messer hielt, zitterte. Doch Elydras Puppen gaben nicht auf.
„Der NPC wehrt sich!“, schleuderte Osiris die Worte in Jiras Ohr, die ihm das Elydra-Geschöpf eingegeben hatte, „Diese atmende Verhöhnung deiner Tochter, dieses entseelte Programm kämpft um sein falsches Leben. Er spinnt Lügen und Zwietracht. Doch seine Dunkelheit kann es nicht ganz verbergen. Du hast sie gehört. Du hast ihre Schmähungen vernommen. Kein echtes Kind kann so eine Finsternis in sich tragen. Keine Tochter würde so etwas zu ihrer Mutter sagen!“
Osiris Worte treffen wie giftiger Regen auf Jiras Sinne. Kim sieht, wie sie sie befallen und in ihr wirken. Wie sie den Kampf verliert.
„Er hat recht, Kim oder was immer du bist“, sagt Jira endlich. Ihre Stimme ist aufgewühlt und tief bewegt. Aber ihr Blick ist … versiegelt, unempfänglich, entschieden.
„Ich bin echt“, versuchte es Kim noch einmal halb schreiend und halb ohnmächtig vor Angst und Verzweiflung, „das hast du damals zu mir gesagt und du hast es heute gesagt!“
„Das warst du, ja“, sagte Jira wie aus weiter ferne als würde sie zu den Sternen sprechen und nicht zu ihr, „aber das ist wohl lange her. Mein wahres Kind, dieses kleine, süße unschuldige Wesen, hätte mich verstanden. Es hätte mich unterstützt. Und vor allem hätte es nie solche bösen Dinge zu mir gesagt.“
Es war seltsam, aber in dem Moment, als ihre Mutter ihr die Halsschlagadern durchschcnitt und sich das Blut seinen Weg in die Freiheit suchte, erschien es Kim, als könnte sie direkt in Elydras Geist sehen. Nicht vermittelt durch seine Diener, sondern ganz ganz unmittelbar, warf sie einen Blick auf die Vision, auf den Plan, auf das Erdenreich der Stenenmutter.
Was sie sah, überraschte sie etwas. Ja, das Ding war böse. So wie es alle Dinge waren, die andere vor allem als Mittel betrachteten. Doch es wollte durchaus einen Himmel erschaffen. Einen Himmel ohne Vernunft, ohne Kritik, ohne Reflexion. Ein üppiges Schauspiel grausamer Intensität. Dargeboten von Menschen, bis zur Verblendung erleuchtet, die tanzten, schrien, töteten und vergewaltigten. Das alles zu den Klängen einer göttlich scheinenden Melodie, die ihre Taten heiligend überstrahlte. Schöpferseelen, die Gift und Sperma und Früchte und Honig und Blut und Nektar und Pisse und einfach alles tranken, was sie fanden, pflücken und zapfen konnten. Unbändig und gewissenlos, spontan und erratisch, doch nicht frei, sondern geführt durch eine Stimme. Elydras Stimme, die durch ihre Geister fuhr wie eine Sense durch reifes Korn. Die kappte, stutzte und verwendete und bestimmte, wer es wert war zu leben und wer nicht. Der die Spreu von Vernunft und Empathie trennte von einem ewig rauschenden, wirren, frohlockenden Weizen.
Das – so musste sie mit ihrem letzten Gedanken anerkennen – war eines Gottes durchaus würdig. Denn was war ein Gott sonst, wenn nicht ein absoluter Herrscher? Ein vollendeter Soziopath? Ein Hauptcharakter, der alle anderen herumwarf und benutzte, als wären sie NPCs.