Fortgeschritten: Die Gläsernen Archive von Rihn 2


Um ehrlich zu sein, hatte ich das erste Mal, als ich diese Rutsche ins Tal von Rihn benutzt habe, eine Heidenangst gehabt. Nicht nur wegen der Geschwindigkeit und der zwar sanften, aber zahlreichen Kurven, sondern auch, weil ich nicht gewusst hatte, wo mein Fall enden würde. Diesmal jedoch ist es anders. Jetzt bereitet es mir einfach nur ein Mordsvergnügen durch den blau schimmernden und leicht aus sich heraus leuchtenden Kristall zu schlittern und den Kitzel einer zwar aufregenden, aber sicheren Achterbahn zu erleben, während ich Tarenas bewusstlosen Körper fest umschlungen halte und vor allem ihren Nacken stabilisierte. Es erinnert mich an die kurze, vor allem von meinem Vater inspirierte Phase meiner Kindheit, in der ich mich sehr für Schlittenfahrten und Rodelbahnen interessiert hatte, was mir ein nostalgisches Lächeln aufs Gesicht zaubert.

Meinem Vergangenheits-Ich, das direkt hinter mir und damit noch vor Andy die Rutsche hinuntersauste, ist jedoch augenscheinlich weit weniger begeistert von der Rutschpartie. Sein Gesicht ist kreidebleich und seine Augen vor Angst geweitet als er missmutig zu mir hinüberschaut.

„Was grinst du so?“, fragt er mich.

„Ich genieße die Fahrt“, sage ich großspurig, „nach all dem Wandern ist es eine großartige Abwechslung, sich treiben zu lassen, findest du nicht?“

„Ich weiß ja nicht. Spätestens seit Uranor bin ich kein Fan von solchen Höhen“, gesteht Vergangenheits-Adrian.

„Lügner, das warst du schon in Dank-Qua nicht“, erinnere ich ihn.

„Stimmt“, gibt er widerwillig zu, „doch wie hat sich das geändert?“

„Nur eine Theorie, aber du wirst noch so viel Scheiße erleben, so viele Ängste durchstehen und so viele kranke Phobien entwickeln, dass in deiner Amygdala vielleicht einfach kein Platz mehr für die guten alten Klassiker ist“, vermute ich nur halb im Scherz.

„Eine beschissene Theorie“, urteilt mein anderes Ich.

„Wahrscheinlich“, sage ich, „vielleicht liegt es nur daran, dass ich weiß, dass mir nichts passieren wird. Und daran, dass es Spaß macht, mich leiden zu sehen, ohne selbst darunter zu leiden.“

Dabei finde ich es beunruhigend, wie viel Wahrheit hinter meinen dahergesagten Worten steckt. Es macht mir tatsächlich ein wenig Spaß, mein vergangenes Ich zu quälen.

„Kranker Bastard!“, zischt Vergangenheits-Adrian gepresst und mit unterdrückter Übelkeit in der Stimme.

„Danke für die Blumen“, sage ich schulterzuckend und drücke der bewusstlosen Tarena einen Kuss auf die Lippen. Der seltsame, eifersüchtige Blick, den mein Alter-Ego mir zuwirft, verdoppelt die Freude daran.

~o~

Schließlich kommt es genau wie in meiner Erinnerung. Als die lange Rutschpartie schließlich endet, landen wir statt auf knallhartem Kristallboden auf einer Matte aus weichem Material, die mich sehr an meinen verhassten Turnunterricht erinnert, nur dass diese Matte nicht in diesem biederen Dunkelblau, sondern in einem sanften, lachsfarbenen, mit silbernen Einsprengseln verzierten Farbton gehalten ist. Auch ist sie in ihrer Konsistenz eher wie weiches Gummi oder Gel als wie Schaumstoff und schafft es nicht nur unseren Fall zu dämpfen, sondern ihm die Wucht vollständig zu nehmen.

Dieser tiefe Fall fühlt sich damit nicht viel anders an, als aus dem Bett aufzustehen. Der einzige Grund, aus dem ich überhaupt etwas länger auf der Matte liegen bleibe, ist das Gefühl, von Tarenas warmen Körper an meinem und die kuschelige, satinartige Oberfläche unter mir. Schließlich jedoch stehe ich doch auf, wobei ich Tarena sanft und zärtlich auf dem Boden ablege, da ich nicht riskieren will, dass ein anderer Benutzer der Rutsche auf ihr landet. Kaum da ich mich aufgerappelt habe, stlele ich faest, dass Andy und mein anderes Ich sich ebenfalls schon erhoben haben und ohne einzusinken, auf der eigentlich weichen Oberfläche stehen, die sich durch irgendeine technische oder magische Raffinesse genauso problemlos begehen lässt, wie ein konventioneller Bürgersteig. Über diese besondere Eigenschaft hatte ich mich damals schon gewundert.

„Ist dieser Anblick für dich noch immer so fantastisch wie beim ersten Mal?“, fragt mich Vergangenheits-Adrian, auf dessen von Übelkeit gezeichneten Gesicht sich fast kindliches Staunen ausbreitet, während er auf die Landschaft vor uns deutet.

Eine flache Granitebene, durchschnitten von einer Straße aus Bergkristall, mit Einschlüssen aus Silber, Eisen und geschliffenem Diamant. Besiedelt von geschäftig bewirtschafteten Minen, die wie kunstvolle Intarsien in das Fleisch des Kristallgebirges eingegraben sind und tief in sein inneres führen. Unzählige Symbole und Logos, glitzernd im Licht der Monde. In ihrem Schatten gigantische Maschinen, gläserne Arbeiterunterkünften und all die Rihn-Ha, Deovani oder Bravianern in ihren langen, hellgrauen, von Kristallstaub bedeckten Gewändern, die dort in Lohn und Brot stehen oder gerade irgendein Geschäft abschließen.

Dahinter, verstreut im gesamten Tal, kleine und große Farmen, mit kristallbestäubten Ähren, die sich üppig im Wind wiegen und mal von Personen, mal von Maschinen und Drohnen bewirtschaftet und gepflegt werden, auf dass sie dem zwar gerade so fruchtbaren, aber wie ich weiß, doch ziemlich kargen Boden ein wenig Nahrung entlocken können.

Vor allem aber die Archive, mit ihren glitzernden Türmen, Kuppeln und Kammern. Wie eine Krone, die ein detailverliebter Gott dieser rauen Welt zur Zier aufgesetzt hat und deren Wurzeln doch weit weit tiefer reichten als das Auge sieht.

„Nein“, antworte ich auf Adrians unschuldige Frage und bemerke zu meinem Erschrecken, dass es stimmt, „ich glaube, mit der Zeit verliert fast alles seinen Zauber.“

„So zynisch will selbst ich nie werden“, sagt mein Vergangenheits-Ich verächtlich, „wenn wir die Schönheit in all dem Schrecken nicht mehr erkennen, sind wir verloren.“

„Schönheit ist oft nicht mehr als ein Lockmittel“, antworte ich unbeeindruckt, “der Köder. Der Käse in der Falle. Wenn du den Käse ignorierst, wirst du auch nicht vom Metall zerquetscht.“

„Dafür verhungerst du“, entgegnet mein Vergangenheits-Ich.

„So sehr ich diese Metaphern-Schlacht auch schätze“, sage ich, „leider habe ich keine Zeit dafür. Wir müssen jetzt dringend zu den Archiven und können dort nicht im Doppelpack auftauchen. Es wird Zeit für unsere Verschmelzung.“

„Sollten wir nicht abwarten bis Tarena erwacht ist?“, fragt mein anderes Ich und blickt besorgt auf den noch immer reglosen Körper meiner geliebten Diplomatin.

„Sie wird schon aufwachen. So oder so. Sie ist eine starke Frau. Und ich werde mich um sie kümmern“, sage ich, „deine Hilfe brauche ich dabei nicht. Andy und ich regeln das schon. Alles, was ich von dir möchte, ist, dass du stillhältst und die Magie des Pendels wirken lässt. So wie abgemacht.“

Trotz meiner großspurigen Worte weiß ich nicht wirklich, wie dieser Vorgang funktionieren soll. Aber ich vertraue darauf, dass das Pendel es womöglich weiß. Any wird es mir nicht ohne Grund überlassen haben. Also greife ich danach und …

„Suchst du das hier?“, fragt mein Vergangenheits-Ich grinsend und schwingt das Pendel lässig in seiner Hand. Irgendwie musste er es an sich genommen haben. Wahrscheinlich während unserer Landung.

„Gib es mir zurück!“, verlange ich wütend und gleichzeitig erschrocken, „wir hatten eine Abmachung. Du spielst mit dem Schicksal des Multiversums.“

„Nein“, antwortet mein anderes Ich entschlossen, „ich will nicht mit dir verschmelzen. Du bist ein zynischer, abgestumpfter, egoistischer Bastard, der nichts aus seinen Fehlern gelernt hat und dem seine Mitgeschöpfe am Arsch vorbeigehen.“

„Denk immer daran, dass du hier über dich selbst urteilst“, erwidere ich, „außerdem weißt du rein gar nichts über mich. Ich bin nicht so, wie du mich beschreibst. Und selbst, wenn du recht hättest, würde das nichts daran ändern, dass deine Weigerung genauso egoistisch ist. Wir müssen verschmelzen.“

Dabei frage ich mich fieberhaft, wie ich an das Pendel kommen soll. Leider ist es meine einzige Waffe gewesen, während der andere Adrian seine Kompassnadeln und das Pendel hat und noch dazu auf der Matte eine erhöhte Position einnimmt. Ich muss also schnell sein. Oder Andy miteinbeziehen. Wenn er meinen Doppelgänger ablenkt und das Feuer auf sich zieht, könnte ich …

„Ihr müsst verschmelzen, Liebling. Wenn einer von euch am Leben bleibt, genügt das völlig“, höre ich Tarenas zitternde Stimme und fühle plötzlich einen brennenden, scharfen Schmerz. Ich blicke an mir herunter uns sehe, wie sich ein Blutfleck auf meiner Brust ausbreitetet. Gleichzeitig mit der finsteren, unerschütterlichen Erkenntnis in meinem Gehirn.

„Tarena …?!“, sage ich fassungslos, während mir Tränen des Schmerzens und der Enttäuschung ins Gesicht schießen und mein Bewusstsein mir langsam entgleitet. Mein uralter Überlebensimpuls will mich zur Rache antreiben. Dazu, mich umzudrehen und Tarena zu erwürgen. Die Überraschung und die Schmerzen sind dafür aber zu groß und dann … ist es mir auch physisch unmöglich. Meine Muskeln sind gelähmt, gefangen vom Einfluss des Pendels, das Any mir gegeben hatte und das mein Alter-Ego jetzt an meiner statt mit instinktiver Kunstfertigkeit schwingt.

Ich sehe Tarenas so menschliches Gesicht vor mir, die mir immerhin die Gnade gönnt, mir ins Gesicht zu sehen. Doch diese Gnade ist vergiftet. Mein Kopf, mein Herz, mein ganzes Sein droht zu zerspringen. Tarena. Mein Fixpunkt, meine Retterin, das einzig bleibende und gute auf meinem schmerzhaften Weg ist meine Henkerin geworden.

„Warum?“, blutet die offensichtliche Frage aus meinem Mund, während ich an Korf denken muss, den Mann, den Freund, den ich fast auf dieselbe weise hintergangen habe, wie sie nun mich. In einer anderen Welt. Zu einer anderen Zeit. Aus einem anderen Grund.

„Es gab tausend Gründe“, sagt Tarena sanft, „unzählige kleine und große Verrate. Und doch war es das nicht, mein Reisender, mein Lehrer.“

Tarena hält kurz inne. Sie zittert wie unter Krämpfen, in ihren Augen stehen Tränen. Keine falschen, geheuchelten, wie ich sie in diesem Moment erwarte, sondern echte. Mein verschleierter Blick schweift kurz zu meinem Alter-Ego. Auch er sieht erschüttert aus. Vollkommen überfordert mit der Situation, auch wenn er sie ganz in Adrian-Manier zu seinem Vorteil ausgenutzt hat. Jedenfalls wirkt er nicht wie ein Eingeweihter, nicht wie ein Kollaborateur. Aber auch nicht wie ein Verbündeter. Genauso wenig wie Andy dessen Facettenaugen mich völlig mitleidlos begutachten. Ich spüre die Schwäche in meinem Gliedern, den letzten Schlaf, der nach mir greift. „Wir hätten Freunde bleiben können“, mache ich einen lahmen, von Galgenhumor getriebenen Scherz, der Tarena nur ein schiefes Lächeln entlockt.

„Any hat es mir mitgeteilt“, fährt sie ihrerseits wie versteinert fort, „telepathisch. Kurz vor ihrem Tod. Sie … sie meinte, dass du verloren bist. Dass du nicht in der Lage wärst, deine Fehler zu korrigieren und die Dinge geradezurücken. Dass du zu verdorben bist. Zu chaotisch. Zu selbstsüchtig. Dass du unweigerlich wieder die selben Fehler machen und das Multiversum verdammen würdest. Dass du weder lernen noch dich ändern könntest. Nicht mehr.“

„Und du … vertraust ihr?“, bringe ich mühsam hervor.

Meine Augen fallen zu. Schwärze umfängt mich und ich spüre, wie ich irgendwo hingesaugt werden. Wie ich mich verliere, zerstreue. Wie ich weine und zittere als ein nacktes, winziges Kind, weit unselbstständiger als es Andy nun ist. In der Dunkelheit greife, schreie ich nach Karmon, der vergangen ist, nach Korf, der weit weg ist und nach meinen Eltern, die ihren Sohn längst für tot halten. Doch niemand antwortet. Niemand, außer die bedauernde, unsichere Stimme von Tarena.

„Ich vertraue ihr genauso wenig wie dir“, schlängeln sich einige letzten Schallwellen durch die einstürzenden Ruinen meines Gehirns, durch flackernde Synapsen und stotternde Neuronen, „aber eine Entscheidung musste ich treffen. Und im Gegensatz zu dir hat Any mich noch nicht verraten.“

Dann geben meine Ohren auf und alles, was bleibt, ist Stille.

~o~

„Das war verdammt abgefuckt“, bemerke ich, Vergangenheits-Adrian und der einzige Adrian, der auf dieser Ebene noch atmet, „ich meine, ich weiß nicht sehr viel über eure Vorgeschichte oder über eure Beziehung, aber der Kerl – ich meine dieses andere Ich – hat dich ohne Zweifel geliebt. Und selbst wenn nicht, ist das kein Grund, jemanden gleich umzubringen. Egal, was Any dir auch erzählt hat. Das ist einfach nur düster. Und böse.“

Mit tränennassen Augen hebt Tarena ihren Blick, der bislang starr auf ihren toten Freund gerichtet war und sieht zu mir. Ihr Blick ist verletzt. Aber auch wütend.

„Du hast recht“, sagt sie hart, „du verstehst absolut gar nichts!“

„Aber das kann sich ändern“, fügt sie sanfter hinzu, während sie ihre Tränen hinunterschluckt, „Nein, das muss sich ändern. Denn du bist die Version von ihm, auf die wir setzen müssen. Die Version, die noch aus ihren Fehlern lernen und ein besserer Mensch werden kann.“

„Ach, ist das so?“, frage ich provokant, „dann hast du mir ja gerade eine vorbildliche Lektion in Mitmenschlichkeit gegeben. Was ist dabei eigentlich wichtiger? Der hinterhältige Verrat oder die Rechtfertigungen danach? Ich selbst habe mich da noch nicht entschieden, obwohl ich zu meinen Zeiten in Konor sehr gut in Übung war.“

„Dann sei besser als ich!“, platzt es aus Tarena hervor, die meine Worte durchaus hart zu treffen schienen, „ich bin kein gutes Vorbild. Das habe ich nie behauptet. Ich bin eine Kindermörderin, die Dienerin eines Ungeheuers und nun … nun … hab ich mir auch das hier zuzuschreiben.“

Sie zeigt auf Adrians Leiche.

„Aber dennoch habe ich eine Entscheidung getroffen, die ich treffen musste“, sagt Tarena doch in ihrem zerrissenen Gesicht kann man sehen, wie wenig sie von ihren eigenen Worten überzeugt ist.

„Auch mein Vater war kein gutes Wesen“, bekräftigt Andys Wasserkopf mit zirpend-blubbernder Stimme, „er war ein selbstsüchtiges, verantwortungsloses Arschloch.“

Tarenas Augen wurden riesengroß. „Du … du kannst sprechen?“, fragt sie.

„Ja“, bestätigt Andy und klingt dabei wirklich erfreut, „endlich kann ich es. Es gab zu viele Dinge, zu denen ich schweigen musste.“

Gerührt und einen Moment von ihren Gewissensbissen abgelenkt, geht Tarena zu ihrem Sohn und schließt ihn in die Arme. „Das ist wundervoll, mein Schatz“, sagt sie nach Worten ringend, „das ist … das ist einfach nur fantastisch.“

„Das ist es“, sagte Andy leise zu seiner Mutter, so leise, dass ich es kaum verstehe, „wenn dafür doch nur seine Stimme schweigen würde. Ich höre sie, Mutter. Ich höre sie die ganze Zeit.“

Die beiden tauschen einen wissenden Blick, während ich rein gar nichts verstehe.

„Sieht aus als hättest du Argos Zoo eine Menge zu verdanken“, kommentiere ich, „die Frage ist jetzt nur, was unsere süße kleine ‚Familie‘ mit ihrer trauten Dreisamkeit anstellen wird. Ich meine, wie sie zum Beispiel kosmische Zeitlinien ändern will, ohne das Wissen das guten alten, toten Adrians hier. All die schönen Erinnerungen rotten doch jetzt nutzlos im Gehirn meines Doppelgängers vor sich hin oder?“

„Nicht ganz“, widerspricht Tarena, lässt Andy los, geht zu Adrian, beugt sich herunter. Zögernd streicht sie ihm über das blasse Gesicht. Dann greift in seine Tasche, wo sie seinen Fehlstein herausholt.

Meine Miene verdüstert sich und fast schon körperlich schmerzendes Mitleid ergreift von mir Besitz. „Sag mir nicht, dass diese Version von mir erneut in diesem verfickten Stein festsitzt. Das ist schlimmer als der Tod.“

„Leider ist es so“, bestätigt Tarena und streichelt den Stein, der dies natürlich nicht spüren kann, mit einem schuldbewussten Gesichtsausdruck, „aber sein Leid wird nicht von Dauer sein. Any meinte, dass seine geistigen Überreste ohnehin mit der Zeit verblassen und nur eine Version von euch zurückbleiben wird. Bis das geschieht, müssen wir die Archive erreichen und seine Erinnerungen kopieren. Nur die Erinnerungen, nicht seine Seele. Sie kann dann endlich doch ihre Heimat finden.“

„Heilige Scheiße, Mädel! Hörst du dich selbst überhaupt reden? Bist du bei Wornaara oder On-Grarin in die Lehre gegangen?“, frage ich angewidert.

„Nein“, sagt Tarena schwermütig und sieht mich dabei direkt an, „bei dir, Adrian!“

~o~

Den Weg zu den Archiven legen wir schweigend zurück. Kein Wunder, denn wir alle haben genügend, über das wir nachdenken müssen. Bei mir kommt hinzu, dass ich mich in der Gegenwart meiner neuen Gefährten nicht übermäßig wohlfühle. Tarena macht zwar keinen gänzlich unsympathischen Eindruck, aber mit On-Grarins Peitsche in der Hand, dem Fehlstein in dem mein Alter-Ego gefangen ist und dem Wissen, dass sie selbiges gerade um die Ecke gebracht hat, wirkt sie auch nicht wirklich vertrauenswürdig.

Zugegeben, mein Zukunfts-Ich hat sich im Laufe der Jahre nicht wirklich zum Besseren verändert und auf seine „Verschmelzungsnummer“ hatte ich auch keine Lust, aber ein solches Schicksal hatte er auch nicht verdient.

Zudem hatte Tarena davon gesprochen, eine Kindermörderin und die Dienerin eines Ungeheuers zu sein und auch wenn ich nicht weiß, was genau sie damit meint, rückt sie das auch nicht in ein besseres Licht. Auch ihr Sohn, dieses finstere, frühreife, hungrige, insektoide Wasserkopfungetüm, bereitet mir Unbehagen. Im Gegensatz zu Tarena scheint ihm der Tod seines Vaters nicht einmal besonders nahezugehen, ja er scheint sich sogar regelrecht darüber zu freuen.

Doch vielleicht bin ich auch nur zu misstrauisch. Vielleicht haben die beiden wirklich gute Gründe für ihr Verhalten. Womöglich versteht Any, diese rätselhafte Frau, der ich in Deovan begegnet bin, die Regeln des Multiversums besser als wir gewöhnlichen Sterblichen und vielleicht hat mein Alter Ego in der Zwischenzeit auch mehr grausamen Scheiß angestellt als ich mir vorstellen kann. Letztlich fehlt mir das nötige Wissen, um diese Dinge zu beurteilen. Wie passend also, dass wir momentan auf dem Weg zum sprichwörtlichen Zentrum des Wissens sind. Zu einem Ort, an dem ich nicht nur mehr über meine eigene Zukunft, sondern vielleicht auch über den Verbleib meines alten Freundes Pingo erfahren kann. Denn bei Gott, einen Freund könnte ich gerade wirklich gebrauchen.

Als wir endlich das Tor zu den von Wissensdurstigen umschwärmten Archiven erreichen, staune ich nicht schlecht. Das riesige Haupttor, das in die atemberaubende Konstruktion aus Türmen, Hallen und Kuppelbauten eingelassen ist, besteht nicht nur aus dutzenden verschiedenen Kristallen in allen nur denkbaren Farben, die sich in einem harmonischen Verlauf aneinanderreihen, sondern auch aus einer Person. Einer glatzköpfigen Rihn-Ha, deren Körper direkt in das Material der Tür eingelassen ist und die dabei doch sehr lebendig aussieht und uns aus wachen Augen ansieht. Sie erinnert mich vage an eine Steingeweihte, auch wenn ich nicht glauben kann, dass sie eine solche als Wächterin einsetzen würden.

„Überlass mir das Reden. Immerhin bin ich eine Diplomatin“, zischt Tarena, bevor ich das Wort ergreifen kann und schiebt sich einfach vor mich. Ich lasse es zu. So scharf darauf, dieses Gespräch zu führen bin ich dann auch wieder nicht und ein Streit vor dem Eingang der Archive wird uns ganz bestimmt nicht bei unseren Anliegen weiterhelfen.

„Ehrenwerte Wächterin des Tores“, beginnt Tarena feierlich, „wir begehren Einlass in diesen Ort des Wissens, um Erkenntnis zu erlangen. Wollt ihr uns ihn gewähren?“

Unerwartet erklingt ein schalkhaftes Lachen aus dem kristallenen Mund der Frau. „Gut gesprochen, Krebsbotin. Aber weder du noch deine Brut haben hier das Recht zu reden. Auch wenn ich nicht so ehrenwert bin, wie du meinst, so ist dies doch ein ehrenwerter Ort und er ist nicht der Zersetzung, sondern der Bewahrung der Dinge gewidmet. Aber du, Fortgeschrittener, magst sprechen. Euresgleichen bringt zwar oft genug Ärger, aber auch viel Erhellendes.“

Ich kann es mir nicht verkneifen, Tarena ein spitzbübisches Lächeln zuzuwerfen, während ich vor die Wächterin trete. Trotzdem bleibt Tarenas Gesicht neutral und gefasst, wie es einer Diplomatin würdig ist. „Wie ihr wünscht“, sagt Tarena nur, verbeugt sich und tritt ein paar Schritte zurück.

„Also. Welches Wissen begehrst du, Weitgereister?“, erschallt es in hohem, klingendem Ton aus dem Tor heraus. Aus der Nähe erkenne ich, dass die Wächterin beim Sprechen feinen, schillernden Kirstallstaub ausstößt.

„Muss ich diese Frage beantworten?“, frage ich skeptisch, da es mir seltsam erscheint, unser Anliegen laut herauszuposaunen, auch im Hinblick darauf, dass sich etliche weitere Besucher der Archive in unserer direkten Umgebung aufhalten, die entweder bereits eine Antwort auf ihr Anliegen erhalten haben oder noch den nötigen Mut sammeln, um ihre Fragen zu stellen.

„Nein, das musst du nicht“, erwidert der Mann, „ich muss es nicht wissen, denn die Archive werden es ohnehin erfahren. Aber nur, wenn wir dein Anliegen kennen, können dir den Weg weisen. Allein in den Archiven zu forschen kann gefährlich sein und meine Kollegen legen keinen Wert darauf, neue Verlorene aus den Katakomben zu fischen. Der Platz in den Sanatorien und Ruhestätten ist begrenzt.“

„In diesem Fall will ich gerne sprechen“, sage ich, „wir suchen nach dem Wissen über eine bestimmte Zeitlinie, mit dem Ziel, den Lauf der Dinge zu korrigieren und ihre Ordnung zu bewahren. Das sollte doch im Sinne der Archive sein, oder nicht?“

Das Gesicht der Kristallfrau nickte anerkennend. „Wenn dies der Fall ist, seid ihr natürlich hochwillkommen. Habt ihr denn auch die nötige Entlohnung bei euch? Eine Führung in die Halle des Hochwissens kostet aktuell 800 Rihn-Splitter. Oder alternativ 5.000 Dominanten oder 12.300 Bra-Vren, wenn ihr in diesen Währungen zahlen wollt.“

Mein Blick ging Hilfe suchend zu Tarena, die sofort energisch den Kopf schüttelte.

„Leider haben wir kein Geld“, sage ich bedauernd, „gibt es denn keine andere Möglichkeit, Einlass zu finden?“

„Oh natürlich“, antwortet die Wächterin, „der Besuch der Archive steht jedem frei. Jedoch wirst du deinen Weg allein finden müssen, mit allen Risiken und Gefahren, die das mit sich bringt.“

„Ich bin Gefahren gewohnt“, sage ich schulterzuckend.

„Gewiss“, erwidert die Frau lächelnd, „und wir sind Selbstüberschätzung gewohnt. Immerhin müssen wir ihre Resultate täglich bergen. Aber wie gesagt, es steht dir frei hineinzugehen oder umzukehren und mit dem nötigen Geld wiederzukommen.“

„Dann wähle ich wohl ersteres und versuche vorsichtig zu sein“, sage ich, „aber eine Frage kannst du mir vielleicht direkt hier beantworten, wenn du magst. Ich suche nicht nur nach Wissen, sondern auch nach meinem alten Freund Pingo Dellagrahn, der einst hier gearbeitet habt. Weißt du etwas über seinen Verbleib?“

„Da hast du tatsächlich Glück“, antwortet die Wächterin, „Pingo befindet sich hier in den Archiven unter der Obhut von Welthüter Pongras. Du findest Pongras in seiner Forschungskammer, direkt am Ende des flüsternden Ganges. Er kann sicher ein Treffen mit deinem Freund arrangieren und vielleicht kann er dir auch deine Pläne ausreden, die Archive auf eigene Faust zu erkunden. Irgendwie mag ich dich, Fortgeschrittener. Du hast einen scharfen Verstand. Wäre doch schade, wenn du ihn einbüßt.“

Bei allen unheilvollen Andeutungen lassen mich diese Neuigkeit dennoch hoffen. Nicht nur, dass ich Pingo wiedersehen könnte, ich werde sogar direkt Anys Kontaktmann begegnen. Zwei Dorwenng-Fliegen mit einer Klappe.

Kaum da sie ihre letzten Worte gesprochen hat, bewegt die Torwächterin ihre Hände auseinander und ihr Körper teilt sich samt des Tores in der Mitte. Dabei kommen ihre von Kristallstaub bedeckten Organe und Blutgefäße zum Vorschein, jedoch, ohne dass auch nur ein Tropfen Blut fließt oder die Frau den geringsten Schmerzenslaut von sich gibt. Der Anblick ist nichtsdestotrotz widerwärtig, aber immerhin steht uns der Weg ins Innere der Archive frei.

Als sich aber neben mir auch Tarena und Andy auf das Tor zubewegen, beginnt der Mund des Wächters – obgleich geteilt – erneut zu sprechen.

„Halt!“, sagt er streng, „du darfst eintreten, Fortgeschrittener. Aber die Krebsberührten bleiben draußen.“

„Sie sind meine Freunde“, beharre ich, auch wenn das technisch gesehen nicht stimmt.

„Das magst du glauben, bis du eines Besseren belehrt wirst. Aber selbst, wenn du ihnen dein Leben zu verdanken hättest, würde das nichts ändern. Entweder du gehst allein oder ihr alle bleibt draußen“, sagt die Wächterin hart.

„Es ist schon in Ordnung“, antwortet Tarena gefasst, „wir warten draußen, bis du zurückkehrst. Aber du wirst das hier brauchen.“

Sie streckt ihre Hand aus. Ich ergreife sie und spüre den Fehlstein. Den Fehlstein des anderen Adrian, indem er immer noch aller Sinne beraubt leidet und stumm gegen eine Unendlichkeit aus Stille und Dunkelheit anschreit.

„Weißt du, wie es funktioniert?“, frage ich, während ich den Stein in meiner Tasche verstaue, direkt neben meinem eigenen, „die Übertragung der Zeitlinieninformationen, meine ich.“

„Nein“, sagt Tarena kopfschüttelnd, „das hat mir Any leider nicht erklärt.“

„Typisch“, sage ich mit einem schiefen Lächeln, „dann werde ich wohl improvisieren müssen. Wie so oft.“

Mit diesen Worten betrete ich das erste Mal in diesem Leben die Gläsernen Archive von Rihn.

~o~

„Ich bin ein Ungeheuer“, sagt Tarena leise zu sich selbst, während sie auf das Kristallgebirge starrt, über dem sich inzwischen langsam die rihnnische Sonne erhebt.

„Sag so etwas nicht, Mutter“, erwidert Andy, dem ihre Worte nicht entgangen sind, erwachsen, „sie sind engherzige Feiglinge, wenn sie sich gegen die verschließen, die anders sind als sie.“

„Das hast du sehr gut ausgedrückt, Kleiner“, sagt Tarena mütterlich und blickt in das aufgeblähte Insektengesicht ihres Sohnes, in dem sie viel besser lesen kann, als jeder andere. Sie erkennt dort eine Reife, eine Intelligenz, die unfassbar ist und die unmöglich allein vom Angriff der Krabbengeschöpfe herrühren kann, „aber das meine ich nicht. Nicht nur das jedenfalls. Ich habe Adrian getötet, Andy. Den Mann, den ich liebte. Noch immer. Ich habe ihn ermordet. Hinterhältig. Kaltblütig. Und das ist etwas, was nur Ungeheuer tun.“

„Wenn das Töten einem zum Ungeheuer machst, war er auch eins und du brauchst nicht traurig sein“, schlussfolgert Andy, „außerdem hast du noch einen von der Sorte in Reichweite, wenn dir danach ist. Falls er sich bewähren sollte und dich glücklich macht, bleibt er am Leben. Ansonsten findest du etwas Besseres.“

Tarena schauderte bei den kalten Worten ihres Sohnes. „Trauerst du gar nicht um deinen Vater?“, fragt sie ihn.

„Warum sollte ich?“, entgegnet Andy, „er hat mir kaum Liebe geschenkt. Ich konnte seine Ablehnung, seine Abscheu seit meiner Geburt spüren. In jeder Sekunde. Von all meinen Geschwistern hat er mich am meisten verachtet und das nur, weil ich nicht seinem Schönheitsideal entsprochen habe. Obendrein hat er mich – und dich – immer wieder verraten und im Stich gelassen. Was du getan hast, war nur gerecht. Selbst, wenn es keinem höheren Zweck gedient hätte. Und das hat es, Mutter. Du trägst dazu bei, die Existenz der Dinge zu bewahren, egal wie oft dich dieses Torgeschwür als Agentin des Zerfalls bezeichnet hat. Ihr ganzer arroganter Laden wird ohne uns aus der Geschichtsschreibung verschwinden. Sie sollten dankbar sein für unsere Hilfe. Ja, eigentlich sollten sie uns die Füße küssen.“

Tarena fühlte Stolz über die Logik ihres Sohnes, über seine Wortgewandtheit und doch … irgendwie machte es sie auch traurig. Irgendwie war es nicht so, wie sie sich die Mutterschaft vorgestellt hat. Keine unbeschwerte Heiterkeit. Kein gemeinsames Neuentdecken der Welt. Nein, vielmehr war es so, dass Andy IHR die Welt erklärte. Durch eine nüchterne, abgeklärte Brille.

„Lieb, dass du das sagst“, antwortet Tarena so mütterlich, wie sie nur konnte, „aber ich wünschte dennoch, Nollotsch hätte uns nie in seine Fänge bekommen. Er hat mir Macht verliehen, Fähigkeiten, Intelligenz. Aber unser Glück und unsere Freiheit hat er uns genommen. Wenn ich das nur loswerden könnte. Wenn ich nur neu anfangen könnte!“

Verzweifelt hob Tarena ihre Hände und ihre Klauen in die Höhe, während Feuchtigkeit in ihren Augen glitzerte. Andy sagte hingegen nichts. Er wirkte lediglich nachdenklich.

Dafür meldete sich eine andere Stimme.

„Entschuldigen Sie meine Störung, oh Zierde es Kristalls, aber ich konnte nicht umhin, die letzten Worte ihres kleinen Dialogs mitzubekommen“, meldete sich ein Rihn-Ha mittleren Alters zu Wort. Er trug ein schillerndes, von rotem und blauen Kristallsplittern bestäubtes Gewand, hatte eine schwarze Halbglatze und einen breiten, fleischigen Mund in einem recht sympathisch wirkenden Gesicht.

„Warum teilen Sie uns das mit?“, fragt Andy, der sich sofort drohend zu dem Unbekannten umdreht, „wollen Sie sterben?“

„Gewiss nicht“, sagt der Mann und hebt deeskalierend seine rauen, nach harter Arbeit aussehenden Hände, „aber ich vermute, Sie würden auch nicht wollen, dass ich sterbe. Jedenfalls nicht, wenn Sie erst mein Ansinnen vernommen haben. Mein Name ist Triwengo Dargran. Ich bin freischaffender Forscher und mein Forschungsgebiet ist die Mundocanceristik. Ich beschäftige mich mit Planetenkrebsen, ihrer Ausbreitung und mit der Befreiung von Planeten und Individuen von ihrem Einfluss.“

„Und wie kommen Sie darauf, dass ich unter einem solchen Einfluss stehe?“, fragt Tarena.

Ein Schmunzeln schleicht sich auf Triwengos Gesicht, „Nun, zum einem habe ich Ohren. Es war nicht einfach zu ignorieren, wie vehement die Torwächterin Ihnen den Einlass verwehrt hat. Doch ich habe auch andere Methoden.“

Triwengo holt ein kleines, silbernes Röhrchen mit einem Display aus poliertem Bergkristall hervor.

„Was soll das sein? Ein Dildo?“, fragt Tarena unbeeindruckt.

„Nein, ein Vastatometer. Es kann die Beschmutzung durch einen Planetenkrebs nachweisen“, erklärt Triwengo, „wenn keine solche Verderbnis vorliegt, erscheint die Anzeige klar. Andernfalls …“

Er tritt näher und führt die Röhre näher an Tarena und auch an Andy heran, wobei letzterer mit einem drohenden Zirpen und Klacken reagiert.

„… färbt sie sich pink“, beendet Triwengo seinen Satz und die Verfärbung dieses Gerätes bestätigt seine Worte.

„Das muss überhaupt nichts bedeuten. Sie können das Gerät manipuliert haben. Oder es misst lediglich körperliche Attraktivität“, erwiderte Tarena kühl, womit sie Triwengo ein herzhaftes Lachen entlockt.

„Wer weiß“, sagt er zwinkernd, „aber nehmen wir mal an, ich habe recht. Dann bietet sich Ihnen die einmalige Chance, Ihr Schicksal zu ändern.“

„Danke, aber wir nehmen unser Schicksal lieber in die eigene Hand“, lehnt Andy entschieden ab.

„Das glaube ich gerne“, erwidert Triwengo beschwichtigend, wobei er durchaus besorgt auf die scharfen Klauen des Jungen blickt, „Sie beide erscheinen mir wie selbstbewusste Individuen. Doch die Kontrolle durch den Krebs ist subtil und lässt sich nur schwer erkennen und bekämpfen. Selbst von den willensstärksten Krebsdienern. Außer natürlich, man wird diesen Einfluss gänzlich los. Genau diese Möglichkeit biete ich an.“

„Und wie soll das funktionieren?“, fragt Tarena, „haben Sie eine Pille oder so was dabei?“

„Und die wichtigere Frage“, fügt Andy hinzu, „was wollen Sie im Gegenzug?“

„Sehr berechtigte Fragen. Wirklich“, antwortet Triwengo, „auf die ich natürlich auch Antworten habe. Eine Pille habe ich nicht. Aber es gibt einen Planeten namens ‚Chrednah‘, nur etwa zwei Flugwochen entfernt. Dort betreibe ich eine Forschungsstation. Wir nutzen eine auf dieser Welt natürlich vorkommende Heilquelle, deren Wirkung wir mit unseren Methoden lenken und kanalisieren. Noch heute startet ein Shuttle dorthin und ich suche noch ein paar Passagiere, die mitfliegen wollen. Ihre Gegenleistung besteht darin, dass Sie unsere Forschung unterstützen und wir die Wirkung des Heilmittels an Ihnen erforschen dürfen. Sobald das Heilverfahren marktreif ist, wird es ziemlich teuer werden. Aber noch ist es experimentell und deshalb vollkommen gratis, wenn Sie so offen sind, den Fortschritt zu unterstützen.“

„Wir sollen also Ihre Versuchskäfer werden“, fasst Andy zusammen, „und wenn es schiefgeht, zahlen wir mit unserer Gesundheit.“

„Nein“, widerspricht Triwengo und winkt theatralisch ab, „es wird auf keinen Fall für Sie von Nachteil sein. Unsere Forschung ist noch nicht abgeschlossen, das stimmt. Aber es gibt keine nachteiligen Nebenwirkungen. Nur das noch nicht gänzlich ausgeschlossene Risiko, dass der Einfluss des Krebses zurückkehrt. In jedem Fall werden aber sämtliche DNA-Schäden, versteckte Erkrankungen, sowie alle ungünstigen Veränderungen und Missbildungen von der Heilquelle entfernt. Ihre Gesundheit kann also nur profitieren.“

„Haben Sie mich gerade als Missgebildet bezeichnen wollen?“, fragt Andy bedrohlich und geht mit vorgestreckten Klauen und ausgefahrenen Mandibeln ein Stück auf den Forscher zu.

„Auf … auf keinen Fall“, entgegnet Triwengo beschwichtigend und weicht ein paar Schritte zurück, „wir urteilen nicht über Äußerlichkeiten. Das tut auch die Quelle nicht. Es geht lediglich um die Beseitigung von Faktoren, die sich negativ auf Lebensqualität und Lebenserwartung auswirken. Aber wie gesagt, der Krebseinfluss steht bei uns im Fokus. Also, was sagen sie, sind Sie dabei?“

Andy schüttelt energisch den Kopf, doch Tarena ist hin- und hergerissen. Sie weiß, dass Andy der Gedanke nicht gefällt, aber sie spürt auch, dass er Nollotsch ebenfalls nicht gefällt und das macht ihr den Vorschlag gleich viel schmackhafter. Außerdem wäre es die Chance, zu bekommen, was sie will: Ein unbeschwerteres, freieres Leben für sich und ihren Sohn. Andererseits konnte sie unmöglich einfach einen Monat oder länger verschwinden, ohne Adrian Bescheid zu geben. Für heute hatte sie wirklich genug Verrat begangen. Überdies war sie auf einer Mission. Auf einer wichtigen Mission.

„Leider muss ich ablehnen“, sagt Tarena, „ich warte hier auf meinen Freund und kann nicht einfach so verschwinden.“

„Das ist schade“, sagt Triwengo bedauernd, „das Shuttle fliegt in einer halben Stunde los. Aber natürlich können Sie jederzeit auf eigene Faust meine Forschungsstation besuchen. Hier sind die Koordinaten und die offizielle Zutrittsgenehmigung.“

Der Mann reicht Tarena ein hartes, weißes Metallkärtchen, das sie entgegennimmt.

„Warten sie aber nicht zu lang. Wenn wir erst den Durchbruch geschafft haben, müssen sie wie jede andere für die Therapie bezahlen. Bis dahin wünsche ich Ihnen noch einen schönen Tag und Ihrem Freund alle Antworten, die er sucht.“

Mit diesen Worten entfernt sich der Forscher und lässt Tarena und Andy etwas verwirrt zurück.

„Du wirst darauf doch nicht eingehen, oder?“, will Andy von seiner Mutter wissen, „ich meine, ist es nicht ein bisschen verdächtig, dass dieser Typ hier so rein zufällig auftaucht und dann noch offen etwas von einer magischen Heilquelle faselt, für deren Entdeckung ihn wahrscheinlich alle Gesunder aus Hyronanin und sämtliche Pharma-Konzerne Deovans in Grund und Boden verseuchen würden? Und selbst, wenn er die Wahrheit sagt: Willst du allen Ernstes auf die ganze Macht verzichten, die Nollotsch uns bietet? Auf unsere Wissen? Auf unsere Intelligenz?Immerhin könnten wir all das gut gebrauchen, wenn wir Anys Mission vollenden wollen.“

Für einen Augenblick ist Tarena sprachlos. Nicht nur, dass ihr Sohn so verdammt klug und erwachsen ist, er scheint auch schon früher jedes Wort von Adrians Aufzeichnungen verstanden und regelrecht verschlungen zu haben. Ja, in diesem Moment fühlte sie sich nicht wie die Mutter, sondern eher wie das Kind.

„Da magst du Recht haben, mein Schatz. Aber ich halte mir gerne alle Möglichkeiten offen“, sagt Tarena schließlich und steckt das Kärtchen ein. Und auch während ihrer restlichen Wartezeit kehren ihre Gedanken immer wieder zu Triwengos Angebot zurück.

~o~

In meiner Kindheit hatte ich manche Märchen und Geschichten gehört, in denen Eispaläste vorgekommen waren. Meist waren es so grauenhafte und gefährliche wie auch wunderschöne Orte gewesen, die ich mir mit großer Begeisterung bis ins Detail gedanklich ausgemalt hatte. Und doch hätte keiner dieser Orte – ob in Wirklichkeit oder in meiner Imagination – mit den Archiven konkurrieren können. Das Innere dieses Ortes wird nämlich nicht von engen, bescheidenen Gängen und Tunnel beherrscht, sondern besitzt eher die Weite einer prachtvollen Bibliothek, bei der sich die schillernden Wände bis hinauf an eine kaum noch erkennbare, luftige Decke erstrecken, bei der jeder Schritt der Anwesenden in einem traumhaften, leisen Echo zurück geflüstert wird und sich ihre Gestalten als kaleidoskophaft gebrochene Version im schillernden, stabilen Bergkristall spiegeln.

Dieser Kristall ist jedoch nicht das einzige Material, das man hier vorfindet. Es gibt Muster und regelrechte Bilder aus Rubin, Onyx, Opal, Karneol und Pyrit. Mal in den klaren Halbedelstein hineingetrieben, mal daraus hervorblühend wie Blumen im Frühling. Sie zeigen Rihn-Ha, suchend, schreibend, forschend und träumend, die sich symbolhaft durch die Weiten eines glitzernden Kosmos bewegen. Und ich ahne, spüre, weiß: Welche Fragen ich auch in meinem Herzen trage, hier kann ich die Antwort finden.

Und doch habe ich paradoxerweise momentan schon Schwierigkeiten damit, eine Antwort auf eine der grundlegendsten Fragen zu finden. Nämlich, wo sich dieser gottverdammte „flüsternde Gang“ befindet. Denn vor mir, jenseits der imposanten Eingangshalle sehe ich nicht weniger als acht hohe, weitläufige Gänge, die fast alle von unterschiedlichen Farben beherrscht werden und durch die vereinzelte Besucher und manche Angestellte in ihren weiten kristallgesprenkelten Gewändern ein- und ausgehen.

Kurz erwäge ich einen der Anwesenden anzusprechen, doch ich verwerfe diesen Gedanken schnell wieder. Die Angestellten zu bemühen, kommt schon mangels Barschaft nicht infrage. Und auch bei den Besuchern der Archive rechne ich mir keine großen Chancen auf Hilfe aus. Die anderen Neuankömmlinge sind vollkommen auf ihre Fragen fokussiert, während jene Besucher, die mir entgegenkommen, entweder zutiefst in Gedanken versunken oder von Euphorie, Trauer, Wut oder Wahnsinn erfüllt sind. Und das ist keine Übertreibung.

Einige von ihnen strahlen übers gesamte Gesicht und bewegen sich leicht und tänzelnd wie Verliebte durch die Hallen, andere passieren mich heftig schluchzend, fluchend oder mit gesenktem Kopf und kraftlosem Schritt. Am meisten erschüttert mich jedoch eine wimmernde Frau, die damit begonnen hat, sich die Ohren abzuschneiden und die Haut mit einem Messer vom Schädel zu kratzen und die gerade von zwei kräftigen, in purpurne Gewänder gehüllten Mitarbeitern der Archive an einen mir unbekannten Ort geschleift wird. An einen Ort, von dem ich nur hoffen kann, dass er ihrer Behandlung dient und nicht ihrer Entsorgung. Es scheint, als wäre das Wissen hier wirklich nicht ungefährlich.

Doch all diese Geräusche, egal wie stark die Emotionen sind, die hinter ihnen stehen, erklingen gedämpft, so als würden sie zart und flüsternd hervorgebracht. Ja, es ist, als würden die für Bibliotheken üblichen Regeln hier rigoros und auf magische Weise durchgesetzt. Und das kommt mir entgegen, denn so höre ich über all diese Dramen hinweg ein besonderes, geisterhaftes, hohes Flüstern, das direkt aus dem Gang zu meiner Linken zu kommen scheint, der einer der beiden Gänge ohne besondere farbliche Kennzeichnung ist.

Mich daran erinnernd, dass der Torwächter von einem „flüsternden Gang“ gesprochen hat, nehme ich diesen Pfad und fühle mich dadurch bestätigt, dass sich niemand sonst dorthin bewegt. Gute Voraussetzungen, wenn man nach einer Art Büro oder Forschungsraum sucht, für den sich Besucher für gewöhnlich nicht interessieren. Während ich den vergleichsweise schmalen und niedrigen Korridor durchschreite (falls man bei einer Deckenhöhe von sicher acht Metern von niedrig sprechen kann) entdecke ich immer wieder kreisrunde, türlose Öffnungen, die in kugelförmige und offenbar ziemlich leere Räume zu führen scheinen. Doch wann immer ich einen davon betreten will, wird das Flüstern der Stimmen urplötzlich zu einem so lauten, schmerzhaften Getöse, dass ich letztlich davon absehen muss. Ganz so als ob die Stimmen, deren Sprache ich entgegen meines sonst praktisch universalen Sprachverständnisses nicht verstehe, nicht wollen, dass ich diese Räume betrete. Zunächst fordert das meinen Trotz heraus. Doch schnell begreife ich, dass dies wahrscheinlich auch dazu dient, mir den Weg zu weisen, auf welche eigenartige Weise auch immer die Stimmen von meinem Anliegen Kenntnis erlangt haben.

So probiere ich jede Türe aus und wage mich stets nur so weit vor, bis ich feststellen kann, ob die Stimmen etwas gegen meinen eingeschlagenen Weg einzuwenden haben.

Endlich finde ich eine Öffnung, bei der sie nicht nur darauf verzichten zu schreien, sondern sogar immer leiser werden, je mehr ich mich ihr nähere. Derart ermutigt trete ich ein und erblicke einen weiteren kugelförmigen Hohlraum mit einer niedrigen, gerade einmal etwas mehr als zwei Meter messenden Decke. Anders als im Rest des Gebäudes ist der Kristall hier rau, wild und unbearbeitet, mit vielen langen und scharfen Spitzen und meine Angst vor einer Infektion mit der Kristallkrankheit – so unwahrscheinlich sie an diesem Ort auch sein mag – treibt mich fast automatisch in die Mitte des Raums. Genau in diesem Moment schließt sich die Eintrittsluke. Nicht durch eine verborgene Tür, sondern ganz so als würde sie nahtlos zuwachsen und als hätte es niemals eine solche Öffnung gegeben. Kurzum: ich bin gefangen. Wenigstens für den Moment.

Doch das ist nicht das Schlimmste. Das Schlimmste ist die Abwesenheit aller Geräusche. Nicht einmal das ferne, leise Gemurmel der Besucher dringt noch herein. Keine noch so gedämpften akustischen Erinnerungen an die Außenwelt. Und selbst mein Atem und mein Herzschlag werden vollkommen absorbiert. Panisch beginne ich zu schreien, doch kein Laut verlässt meine Lippen. Nicht einmal ein raues Krächzen.

Ich hatte von solchen Kammern gehört. Auch auf der Erde. Kammern, bei denen der Schall fast vollständig ausgeschaltet wurde und die einen schon nach kurzer Zeit in den Wahnsinn treiben sollen. Doch das hier ist nicht nur schallisoliert. Es ist schallvernichtend. Und schon jetzt sehnt mein von Tönen verwöhntes Gehirn sich nach Klang, während die Unwirklichkeit meinen Verstand zu sprengen droht. Entgegen meiner vorherigen Vorsicht finde ich es plötzlich sehr verlockend, eine der scharfen Kristallspitzen durch meine Hand zu treiben, um endlich wieder so etwas wie Realität zu spüren.

Doch bevor ich so etwas Dummes tun kann, spüre ich einen Sog, einen starken Windzug, der direkt aus dem Boden zu kommen scheint und werde einen Lidschlag darauf direkt durch die Decke gezogen.

~o~

Verwirrt, von Schwindel ergriffen und doch erleichtert, finde ich mich in einem gänzlich anderen Raum wieder. Der gesamte Boden, die Wände und die Decke bestehen hier aus glatt poliertem, milchigem Bergkristall und auf dem Boden liegen flauschige Teppiche in der Farben von Rosenquarz, sowie vier Sessel und zwei Tische aus kunstvoll geschliffenem Onyx. Auf zwei der Stühle sitzen Personen. Eine davon, ein großgewachsener, muskulöser Rihn-Ha mit langem schwarzem Bart und einem bernsteinfarbenen Gewand, ist mir unbekannt, auch wenn ich natürlich vermute, dass es sich um Pongras handelt. Die andere kenne ich hingegen sehr gut. Es ist eine Gesunderin, deren weißes Gewand zumindest an den Säumen ebenfalls mit Edelsteinen besetzt ist, die dieselbe Farben, wie das Gewand des Mannes haben. Die Frau ist aber nicht nur irgendeine Gesunderin, sondern Jarma, an deren Seite ich zuletzt in Uranor gekämpft hatte und ihres Zeichens Pingos Freundin. Sofort hellt sich meine Stimmung etwas auf. Auch, weil die Geräusche inzwischen wieder ihren gewohnten Gesetzen zu folgen scheinen. Was mir jedoch Bedenken bereitet, ist ein mit roten Kristallen besetztes Halsband, welches Jarma nicht nur um ihren Hals trägt, sondern das auch direkt mit ihrem Fleisch verbunden scheint. Es braucht nicht viel Fantasie, um zu erahnen welchem Zweck solch ein „Accessoire“ dient.

„Hallo Adrian“, begrüßt mich Jarma freundlich und ihr Gesicht drückt sowohl Freude als auch Betrübtheit aus, „es freut mich wirklich, dich zu sehen!“

Kaum, da Jarma diese Worte ausgesprochen hat, zuckt sie krampfend auf ihrem Stuhl zusammen und der Welthüter wirft ihr einen strengen Blick zu. „Was habe ich dir über Emotionen in diesem Raum gesagt, Jarma?“

„Sie sind untersagt“, sagt Jarma gepresst, „es ist ein Ort der Erkenntnis, nicht der Sentimentalität.“

„Wenn du das weißt, warum wendest du dieses Wissen dann nicht an?“, fragt Pongras und klingt dabei wie ein enttäuschter Grundschullehrer, der sich über ein lernunwilliges Kind echauffiert.

Aufgeblasener Bastard, denke ich und tröste mich mit der Fantasie, dieser Kreatur eine Gehirnakupunktur mit einer der Kristallspitzen im Vorraum zu verpassen.

Jarma schweigt dazu. Wohl allein schon aus Angst, wieder etwas Falsches zu sagen.

„Mich freut es auch“, erwidere ich betont emotional und sehe dabei sowohl Jarma als auch Pongras an, „auch wenn euer Vorraum sehr gewöhnungsbedürftig ist. Genauso wie die Sklavenhalter-Mentalität, die hier herrscht.“

„Wer es nicht mal ein paar Momente allein mit seinen eigenen Gedanken aushält, sollte auch uns nicht mit ihnen belästigen“, bemerkt Pongras, „und was Jarmas Regeln betrifft, so hat das alles seine Berechtigung. Jedoch erkenne ich deine Wut und Wut ist Gift für den Geist. Also würde ich vorschlagen, dass wir diesen emotionalen Ballast zuerst abhandeln, bevor wir zum Wesentlichen kommen, nämlich deinem Engagement für Pendula. Also, um es abzukürzen. Ja, du wirst deinen alten Freund wiedertreffen und ja, er lebt und befindet sich ganz in der Nähe. Alles Weitere zu seinem Zustand wird dir Jarma später mitteilen, wenn du sie in Pingos Kammer wiedersiehst. Dort mögt ihr dann auch freier sprechen und euch darüber echauffieren, was für ein grauenhaftes Monster ich doch bin. Bis dahin aber würde ich meine geschätzte Assistentin bitten, Pingo in seiner Kammer Gesellschaft zu leisten, damit ich und der Fortgeschrittene in Ruhe sprechen können.“

Jarma gehorcht ohne Zögern. Die kluge und fähige Frau und ihres Zeichens Erfinderin von Amorphium, einer unglaublich mächtigen und wandelbaren Substanz, steht auf und verschwindet still und folgsam, den Blick gesenkt wie ein geprügelter Hund. Zum Glück bin ich es gewohnt, mit Unsympathen zu reden und zu verhandeln. Andernfalls …

„Hör zu“, sagt Pongras, kaum da Jarma die Tür hinter sich geschlossen hat, „normalerweise kümmert es mich wenig, was andere über mich denken, aber Pendula braucht dich und die Erfahrung zeigt, dass Missverständnisse und Rachegefühle einer solchen Zusammenarbeit jegliche Grundlage entziehen. Deshalb will ich gleich einige Punkte klären. Erstens, ja, Jarma ist mir zu Diensten, jedoch hat sie diesen Dienst freiwillig angetreten. Im Tausch gegen meine Hilfe bei der Beseitigung von Pingos Leiden. Zweitens, Sadismus ist mir fremd. Ich will sie weder schikanieren noch leiden sehen. Meine Maßnahmen dienen lediglich der Konditionierung und Disziplinierung, um hier eine nüchterne und konzentrierte Arbeits- und Diskussionsatmosphäre zu schaffen. Jarma ist ein brillanter Geist, aber sie ist impulsiv und das hilft weder ihr noch mir oder Pingo weiter. Drittens, ich weiß, wovon ich rede.“

Mit diesen Worten holt er eine gläserne Kugel hervor, die auf einem kleinen Tisch neben ihm liegt und wirft sie in die Luft. Sofort erweitert sie sich, wird so groß wie ein Medizinball und in ihrem Inneren erscheint eine Projektion. Sie zeigt Pongras, eine jugendliche Version von ihm. Er sitzt in seinem Zimmer auf seinem Bett, das Gesicht wutverzerrt, als sich die Tür öffnet und eine Frau hereinkommt. Höchstwahrscheinlich ist es seine Mutter. Ein Streit entspinnt sich, was ich eindeutig erkenne, auch wenn kein Ton zu hören ist. Pongras steht auf, gestikuliert wild. Die Wut auf seinem Gesicht wird immer deutlich, immer intensiver und plötzlich verändert sich der Raum. Das Bett, die Vorhänge, die Möbel fangen Feuer und seine Mutter … schmilzt. Tobend vor Schmerz versucht sie ihre sich verflüssigende Haut festzuhalten wie ein schlecht sitzendes Kleid, bevor sie sich in eine dampfende Pfütze verwandelt. Dann endet das Bild.

„Ich bin ein Motrav, ein Emotionsmagier“, erklärt Pongras, „meine Gefühle sind nicht nur Gefühle, sondern bergen reale Macht. Eine zerstörerische Macht, die ich nicht unterbinden und deren Wirkungen ich nicht kanalisieren kann. Das widerspricht der Logik dieser Gabe oder besser dieses Fluchs. Und es nicht nur die Wut allein. Meine Trauer hat bereits Überschwemmungen ausgelöst. Meine Freude Erdbeben hervorgerufen. Sie wollten mich töten damals. So wie zuvor alle mit dieser seltenen Eigenschaft. Dass ich noch lebe, verdanke ich dem Forscherdrang meines verstorbenen Mentor Trevros, meiner eigenen Genialität, der Unterstützung durch Pendula und vor allem eiserner Disziplin. Seit Abschluss meines von Trevros entworfenen Trainingsprogramms habe ich kein Unglück mehr ausgelöst und konnte meine Affekte auf ein absolutes Minimum reduzieren. Es ist kein genussvolles Leben, aber dank meines Wirkungskreises hier und bei Pendula dennoch ein bedeutendes. Ich sage das nicht, weil ich Mitleid will, sondern damit du verstehst, warum ich Emotionen meiden muss. Bei mir und bei anderen in meiner Umgebung. Verstehst du das?“

„Ja“, sage ich und versuche mir vorzustellen, wie es sein musste, solch ein Leben auf Sparflamme zu führen. Tatsächlich verstehe ich den Welthüter nun etwas besser, jedoch bedeutet das nicht, dass ich ihm verzeihe, was er Jarma angetan hat und noch antun wird. Sie ist vielleicht nicht meine beste Freundin, aber sie ist die Freundin eines guten Freundes und selbst wenn sie eine Fremde wäre, wäre das nicht in Ordnung.

„Gut“, sagt Pongras, „ich muss also nicht damit rechnen, dass du etwas Törichtes tust und wir können sachlich über das reden, was in der Causa Pendula zu besprechen haben?“

Ich nicke.

„Hervorragend“, sagt Pongras und beugte sich etwas in seinem Sitz vor, „warum ich über deine Mission Bescheid weiß, ist dir bewusst, oder?“

„Die Archive“, vermutete ich, „du hast es dort gelesen.“

„Exakt“, bestätigt der Welthüter, „natürlich kann auch ich dort nicht alles verfolgen, aber für gewisse Ereignisse habe ich mir Geistesanker gesetzt, sodass mir zugetragen wird, wenn sie sich ereignen. Alles rund um Fortgeschrittene gehört dazu. Genauso natürlich alles, was Zeitreisen betrifft. Oder Dopplungen von Personen. Gerade letztere sind nämlich nicht ungefährlich.“

Hashtags für die Archive, denke ich und gönne mir ein Schmunzeln, was Pongras mit leichtem Missmut quittiert. Aber drauf geschissen. Immerhin trage ich kein Schockhalsband.

„Mein Doppelgänger existiert nicht mehr“, bemerke ich bemüht nüchtern, auch wenn ich dabei das Gefühl habe, dass der zweite Fehlstein in meiner Tasche mich vor lauter empfundenen Mitleid in den Boden hineinzieht, „wir können also direkt zum Punkt kommen: Warum wollte Any, dass ich mit dir Kontakt aufnehme und was sind unsere nächsten Schritte, um zu verhindern, dass das Multiversum zugrunde geht?“

„Ich schätze Zielstrebigkeit“, antwortet Pongras, „und würde sie gerne mit direkten Antworten belohnen. Doch leider ist die Situation nicht ganz so einfach. Die Archive sind kein Ort der Politik. Und auch wenn sie Mitglieder von Pendula eher tolerieren als die Agenten von Astrera, kann es mich meine Position kosten, wenn ich hier zu sehr ins Detail gehe.“

„Werden wir hier denn abgehört?“, frage ich alarmiert.

„Nicht direkt“, sagt Pongras, „jedenfalls belauscht kein intelligentes Wesen unser Gespräch. Aber die Archive selbst hören zu. Es gibt eingeschriebene Regeln, ähnlich wie das Gebot des Flüsterns. Und wenn ich mein Büro als politische Kommandozentrale missbrauche und mich zu oft und zu radikal äußere … nun … erinnerst du dich an die Torwächterin?“

„Ja“, sage ich, „niemand, mit dem ich gerne tauschen würde.“

„Sie hat ein vergleichbares Gebot gebrochen“, bemerkt Pongras, „und sie ist dabei noch gut weggekommen. Andere Körper landen in den Wänden, Böden oder Decken von Kammern und Hallen, die seit Jahrhunderten niemand mehr betreten hat. Und nicht jedem von ihnen ist es erlaubt, zu sprechen.“

„Gilt das auch für …“, beginne ich.

„Nein, keine Angst, Besucher sind davon ausgenommen. Sie müssen nicht neutral sein. Sie müssen sich lediglich zu benehmen wissen“, beruhigt Pongras mich.

„Doch welchen Sinn hat unser Gespräch, wenn du mir überhaupt nichts sagen kannst?“, frage ich den Welthüter.

„Den Sinn, den auch Any darin gesehen hat“, erwidert dieser, „dir den Standort unseres Hauptquartiers mitzuteilen und das Wissen über die toxische Zeitlinie zu sichern. Beides betrifft die Weitergabe von Wissen und das ist in den Archiven nicht verboten. Was den ersten Punkt angeht, so wird das hier helfen.“

Pongras greift in seine Tasche und holt einen Gegenstand hervor.

„Noch ein Pendel?“, frage ich skeptisch und betrachte das Kleinod aus Bergkristall, das an einer Kette aus fein geschmiedeten Metallgliedern hängt.

„Ja, aber es vermag lediglich, dich zu führen. Nichts sonst. Und sobald du das Hauptquartier gefunden hast, wird es nutzlos werden. Präge dir also den Weg besser gut ein“, warnt Pongras mich, „wenn du erst dorthin gelangst, wird dich Any in die Details unserer Pläne einweihen. Zeige ihr dafür alles, was du auf deinem Pendel gespeichert hast. Sie wird dann Bescheid wissen.“

„Danke“, sage ich und hoffe dabei, dass mich mein Orientierungssinn nicht im Stich lassen wird.

„Was ist mit dem zweiten Punkt? Die Torwächterin hat mir gesagt, dass es gefährlich ist, die Archive ohne Hilfe zu durchforsten und Geld habe ich leider keines“, bemerke ich.

„Damit hat sie auch recht“, bestätigt Pongras, „aber Pingo wird dich führen können. Er ist kein offizieller Mitarbeiter der Archive mehr, aber er kennt sich aus und wenn ich ihm die Erlaubnis erteile, kann er dich in die Hochwissensabteilung begleiten. Ich würde dir jedoch tatsächlich nicht empfehlen, auf eigene Faust herumzustöbern. Doch ich muss dich noch vor einer anderen Sache warnen. Den Archiven selbst ist es zwar egal, aber die Führung hier sieht es nicht allzu gerne, wenn Informationen auf Datenträgern gespeichert und mitgenommen werden. Es gibt spezielle … Kammern für jene, die bei so etwas erwischt werden und die du lieber nie zu Gesicht bekommen willst. Sei also besser diskret.“

„Das bin ich immer“, sage ich trocken und versuche den Gedanken an dieses Risiko zu verdrängen. Ich hatte in meinem Leben weiß Gott genügend Zeit in außerirdischen Kerkern verbracht, „kann ich jetzt zu Pingo?“

„Ja“, antwortet Pongras, „feiert euer Wiedersehen. Auch wenn es vielleicht nicht ganz so festlich ausfallen wird, wie du es dir erhoffst.“

~o~

„Ach du Scheiße!“, entfährt es mir, als ich Pingo das erste Mal seit langer Zeit wiedersehe. Doch so unsensibel diese Äußerung auch ist, so wenig kann man sie mir wohl vorwerfen. Der Steingeweihte bildet ein wahres Bild des Jammers. Er ist abgemagert, seine verbliebene biologische Haut aschfahl, seine freundlichen Augen nun nichts weiter als blühende Pyrit-Landschaften. In seiner Brust und in seinem Bauch klaffen große Lücken, teilweise bis hinab auf den Knochen, an denen der Kristall herausgebrochen und eine grünlich schimmernde Paste aufgetragen wurde. In seinem Kopf hingegen stecken so viele Nadeln, dass ich sofort an die Horrorfilm-Gestalt „Pinhead“ denken muss, auch wenn die Nadeln hier nicht halb so ordentlich und regelmäßig angebracht worden waren. Meinen alten Freund so zu sehen, zerreißt mir fast das Herz.

„Ich freue mich auch dich zu sehen, Adrian“, sagt Pingo und sein pyritbedeckter Mund teilt sich zu einem traurigen Lächeln. Auch seine Worte sind traurig. Von Schmerz gezeichnet, aber nicht von gackerndem Wahnsinn, wie manchmal zu früheren Zeiten.

„Habt … ich meine … arbeitet ihr nicht an einer Heilung?“, frage ich Jarma, die nicht minder betrübt aussieht, nun, wo sie ihre Emotionen nicht länger in Zaum halten muss.

„Das tun wir“, bekräftigt sie, während sie vorsichtig über Pingos kristallübersäte Haut fährt, „aber es ist … nicht so einfach … wir …“

„Kein Grund so herumzustammeln, Liebes“, sagt Pingo und wirkt mit einem Mal fast glücklich, während er seinen übel zugerichteten, aber offenbar nicht blinden Kopf zu Jarma dreht, „fast jeden meiner klaren Gedanken in den letzten Monaten verdanke ich diesem zauberhaften, liebenswerten Genie hier. Nun … vielleicht auch ein wenig Pongras und seinem Labor. Eventuell ist es dir nicht aufgefallen, Adrian, aber ich spreche nicht mehr in Reimen. Und meine Gedanken gehören mir. Nur mir allein.“

„Das ist großartig, Pingo“, sage ich und da ich nicht lebensmüde genug bin, meinen mit infektiösen

Spitzen bedeckten Freund in die Arme zu schließen, streiche ich ihm freundlich über eine der wenigen Stellen seines Körpers, an der es noch normale Haut gibt, „auch wenn ich dein poetisches Talent stets bewundert habe.“

Ich lache herzhaft und Pingo stimmt mit ein. Auch dieses Lachen klingt nicht gezwungen oder zynisch, sondern ehrlich, warmherzig und befreit. Es ist Balsam für meine Seele.

„Also seid ihr einer Heilung auf der Spur?“, frage ich Jarma, die immer wieder nervös zu Boden blickt.

„Ja“, sagt sie, „nach allem, was wir wissen, haben wir seinen Geist vollständig von der Infektion befreit. Sein Hirngewebe enthält nicht mal mehr die geringste Menge an Pyrit-Markern.“

„Das sind doch großartige Neuigkeiten!“, erwidere ich euphorisch, „aber warum so betrübt? Ich meine, okay, er sieht nicht gerade gut aus, aber wenn er zumindest er selbst bleiben kann, dann …“

„Es ist kein Grund zur Freude“, sagt Jarma bitter und krallt ihre sieben Fingernägel fest in ihre Innenhandflächen, „jedenfalls nicht nur. Die Experimente, die dafür nötig waren. Das Leid, das er erdulden musste … selbst einige meiner Gesunder-Kollegen wären davor zurückgeschreckt. Niemand, ich meine wirklich niemand sollte so etwas ertragen müssen und ich weiß nicht, ob die psychischen Wunden jemals heilen werden. Aber das ist es nicht allein. Die Sache ist …“

Jarmas Worte verloren sich in einem unhörbaren Flüstern.

„… ich werde sterben“, beendete Pingo ihren Satz, so nüchtern und endgültig, dass es mich fröstelt.

„Das stimmt“, greift Jarma den Faden wieder auf, „sein Körper ist dahin. Seine Gesundheit ist ruiniert. Entweder werden ihn die Folgen der vielen Eingriffe dahinraffen oder er wird versteinern. Ein intaktes Hirn in einem unbeweglichen Kristallkörper. Wenn er Glück hat, wird er verhungern oder austrocknen. Doch das kann lange dauern. Bevor das passiert, muss ich ihn erlösen.“

Mit einem Mal habe ich das Gefühl, dass ein schwarzer Stein meine Magengrube nach unten zieht. Warum zur Hölle muss dieses verfickte Multiversum so unglaublich düster und unfair sein?

„Gibt es wirklich keine Hoffnung mehr?“, frage ich.

„Oh doch“, sagt Jarma bitter, „das Schicksal schenkt dir immer etwas davon. Genug, um dich weitermachen zu lassen und deine Qual zu verlängern. Also ja, ein bisschen Hoffnung gibt es noch. Fern und kalt wie ein Stern am Firmament, bei dem du nicht weißt, ob er eigentlich längst verglüht ist.“

„Und wie sieht die aus?“, frage ich.

„Komm, ich zeige es dir“, sagt Jarma und betätigt einen Schalter an der Wand, woraufhin sich eine glitzernde Treppe auftut, die hinab in den Boden führt.

~o~

„Aber das … das ist unglaublich … das ist Magie“, sage ich als ich die verborgene Kammer zu Gesicht bekomme, die mich an ein Abbild von Shaktas Höhle erinnert, so wie sie mir damals von Pingo und Sandra beschrieben wurde. Ein kleiner Tümpel mit einer amorphen Flüssigkeit darin und in seiner Mitte Pingo. So wie er wahrscheinlich ausgesehen hat, bevor der Kristall ihn berührt hatte.

„Nein, das ist Wissenschaft“, erwidert Jarma nüchtern, „oder eher gelerntes Handwerk, denn es basiert auf meinem üblichen Amorphium-Verfahren. Doch immerhin konnte ich es anwenden. Pongras ist ein eiskalter Dreckskerl, unter dem wir beide eine Menge gelitten haben und er ist auch nicht halb so genial, wie er es gerne wäre. Aber eines muss man ihm lassen: Er gewährt einem Privatsphäre und vorbehaltlose Unterstützung für die eigenen Forschungen. Ohne ihn wäre all das nicht möglich gewesen. Mag sein, dass er ahnt, was ich hier tue, aber er hat weder interveniert noch hat er uns verraten. Zumindest, solange ich ihm eine gute Dienerin bin.“

„Besitzt diese … Kopie … ein Bewusstsein?“, frage ich, während ich auf Pingos intaktes Abbild deute und muss an Nojun und die anderen Laarmaschk denken, an Autemga oder an die wahnsinnigen Shakta-Abbilder von denen man mir erzählt hatte.

„Nein“, sagt Jarma, „diesen Fehler mache ich nicht erneut. Meine alten Verfahren waren fehlerhaft. Sie produzieren nur Irrsinn und Leid. Das will ich Pingo nicht auch noch antun. Dies hier ist lediglich eine Hülle ohne Bewusstsein.“

„Aber sie wartet auf eines“, schlussfolgere ich, „wie bei den Laarmaschk.“

„Genau“, bestätigt Jarma, „doch Pingo ist kein Laarmaschk. Zum Glück. Jedoch bedeutet das auch, dass er nicht die nötige Magie besitzt, um sein Bewusstsein zu transferieren. Dafür bräuchte es Hilfsmittel. Hilfsmittel, die mir nicht mal Pongras zur Verfügung stellen kann.“

„Und die wären?“, frage ich.

„Eigentlich ist es nur eins“, erwidert Jarma, „ein Turaxit. Man nennt ihn auch ‚Seelenbrücke‘. Ein schwarz-weiß-gestreifter und äußerst seltener Kristall, stets umgeben von einer Korona aus diffuser Schwärze. Laut Pongras ist er sogar so selten, dass man ihn selbst in Rihn das letzte Mal vor zweihundert Jahren gefördert hat. Doch ich habe Pongras beobachtet. Habe versucht zu lernen, wann immer ich konnte und dabei sind mir einmal Aufzeichnungen von ihm in die Hände gefallen. Aufzeichnungen über Pendula. Ich habe mich dort nicht eingelesen, das wäre mir zu riskant gewesen, aber ich habe sie zumindest durchgeblättert. Darin waren detaillierte, dreidimensionale Zeichnungen von ihrem Hauptquartier und eines der Ornamente dort sah eindeutig nach einem geschliffenen Turaxit aus. Das wäre zumindest eine Quelle, die du erreichen könntest. Denn dass Pongras dich zu Pendula schicken will, ist mir bekannt.“

„Wir können das nicht von Adrian verlangen“, meldet sich Pingo zu Wort, „Etwas aus dem Hauptquartier einer der beiden größten Interessengruppen des Multiversums zu stehlen ist keine gute Idee. Erst recht nicht, wenn man sie eigentlich als Verbündete braucht.“

„Es ist nur ein Klunker“, sage ich fest und blicke Pingo direkt an, „und sie sind auch auf meine Hilfe angewiesen. Ich werde diesen Kristall bekommen. Ob ich ihn nun stehlen oder darüber verhandeln muss. Der Stein wird nicht gewinnen. Hörst du, Pingo?“

Trotz seiner vorherigen Worte wirkt Pingo mit einem Mal außerordentlich erleichtert. „Ich weiß gar nicht, warum du so einen schlechten Ruf hast“, sagt er, „unterm Strich bist du gar kein übler Kerl.“

„Mein schlechter Ruf ist wohlverdient“, widerspreche ich, „aber ich sehe keinen Grund, warum ich mir den nicht auch noch ruinieren sollte.“

„Wir beide wären dir sehr dankbar“, sagt Jarma und klingt dabei so warmherzig wie ich es noch nie bei einer Gesunderin vernommen hatte, „aber wenn du ihm helfen willst, solltest du dich beeilen. Niemand weiß, ob sein Körper erst in einigen Wochen oder bereits in wenigen Stunden aufgibt.

„Ich bin auch noch mit im Raum, falls euch das nicht aufgefallen ist“, witzelt Pingo.

„Was ein Segen ist“, sagt Jarma mit einem mitfühlendem und zugleich liebevollen Blick, „und ich weiß, dass du stark genug für die Wahrheit bist. Aber jetzt sollten wir Adrian nicht länger aufhalten. Bring uns den Turaxit oder wenigstens einen Splitter davon, wenn es dir gelingt. Oder kehre wenigstens zu uns zurück, um Pingo in seinen letzten Tagen beizustehen.“

„Ich komme wieder“, sage ich nur, „aber zuvor muss Pingo mich ohnehin noch begleiten. Ich muss die Archive konsultieren und Pongras hat erlaubt, dass er mich führt, damit ich dabei nicht versehentlich meinen Verstand verliere. Wärst du dazu bereit, Pingo?“

Der Ausdruck auf Pingos Gesicht wechselt von Überraschung, über Ehrfurcht zu Freude. „Natürlich“, sagt er, „es wäre mir ein Vergnügen, die Archive wiederzusehen.“

„Überanstrenge dich dabei nicht“, warnt Jarma, „du weißt, wie riskant zu viel Bewegung für dich ist. Erst recht an Orten mit so starker Mantianz.“

„Adrian wird mir schon beistehen“, antwortet Pingo zuversichtlich, „das tut er immer. Und ich sorge dafür, dass sich sein Gehirn nicht in Matsch verwandelt. Also los, brechen wir auf!“

~o~

„Und wie sorgen wir dafür, dass wir nicht in diese Falle stürzen?“, fragt Sandra Aninga barsch, auf den Pfad vor ihnen deutend?

„Wir gehen einfach an den Hängen entlang“, erklärt Aninga.

„Saublöde Idee“, schimpft Sandra, „Bildung hast du wohl eher nicht genossen. Oder kannst du etwa auf Wänden laufen?“

„Ich nicht, aber Derrin“, stellt Aninga klar, „wenn wir uns an ihm festhalten, kommen wir einer nach dem anderen sicher auf die andere Seite gelangen.“

„Wenn du glaubst, dass ich mich an dem dreckigen Schwanz dieses hässlichen Ungeziefers festhalte, dann bist du sogar noch dümmer als …“, beginnt Sandra und staunt nicht schlecht, als ihr die flache Seite von Aningas großem Schwert gegen den Kopf donnert und sie mit brummendem Schädel auf den Boden fällt. Kurz darauf stellt sich ein Stiefel auf ihre Brust. Direkt neben einer funkelnden Schwertspitze.

„Zu mir könnt ihr alles sagen“, sagt Aninga mit brennenden Augen, „aber wenn ihr noch einmal wagt, Derrins Ehre zu beschmutzen oder seinen Wert infrage zu stellen, schneide ich euch in Streifen oder werfe euch gleich im Ganzen in die Lytriden-Grube. Haben wir uns verstanden?“

„Schon okay, schon okay. Tut mir leid“, sagt Sandra und ärgert sich zugleich über sich selbst. Sie hätte ahnen können, welche Grenzen sie besser nicht überschreiten sollte. Der Aventurin macht Aninga selbstlos und heroisch. Aber bei aller Selbstverachtung bedeutet das auch, dass sie ihre Freunde verteidigt. Wäre ihr diese Äußerung mitten über dieser Grube rausgerutscht, wäre sie nun vielleicht Futter für was auch immer.

„Wunderbar“, antwortet Aninga, die sofort wieder gut gelaunt scheint. Der Stein erlaubt es ihr wohl nicht, nachtragend zu sein.

„Derrin!“, ruft sie und die Tausendfüßler-Kreatur kommt augenblicklich zu ihr gelaufen wie ein Hund. Passend dazu streichelt und tätschelt sie seinen hässlichen Kopf.

„Trägst du uns an den Felshängen entlang über diese Falle hinweg?“, fragt sie das seltsame Haustier und zur Antwort krabbelt das Tier an der Felswand hoch und streckt seinen Schwanz einladend und fast so obszön aus, als würde es sich um ein Geschlechtsteil handeln.

„Packe ihn fest!“, verlangt sie und Sandra muss sich große Mühe geben, sich ihren Ekel nicht anmerken zu lassen. Um zu verhindern, dass ihr am Ende doch noch eine gefährliche Bemerkung entweicht, greift sie beherzt zu und schüttelt sich am ganzen Körper als sie merkt, wie unheimlich klebrig der Schwanz des Wesens ist. Das mag zwar aus Sicherheitsgründen beruhigend sein, jedoch trägt es nicht eben dazu bei, ihren Ekel zu verringern. Dennoch hält sie es aus und ist schließlich auch dankbar für diesen Halt, als das Tier höher krabbelt und sie mit sich zieht. Kurz fürchtet sie abzustürzen, aber es ist, als wären ihre Hände an Derrins Leib festgenagelt.

„Wie kann ich ihn am Ende wieder loslassen?“, fragt sie, während ihre Füße bereits etwa einen halben Meter über dem Boden schweben.

„Das ist kein Problem. Derrin lässt dich los, wenn er es möchte. Er sondert dann einen Stoff ab, der das Sekret auflöst“, antwortet Aninga und Sandra fühlt sich von dieser Information alles andere als beruhigt. Es ist fast, als würde die Steingeweihte es genießen, sie zu piesacken. Offenbar hätte sie ihr Vieh wirklich nicht beleidigen dürfen. Sie konnte nur darauf hoffen, dass der verfluchte Kristall Aningas Gehirn schnell zerfressen und ihre Persönlichkeit auslöschen würde. Unter dem tumben Heldentum verbirgt sich anscheinend jemand, mit dem man sich lieber nicht anlegt. Jemand, der Sandra gar nicht so unähnlich ist.

Während die Kreatur an Höhe gewinnt und sie versucht, sich von dem rauen Kristall nicht vollständig zerkratzen zu lassen, denkt sie darüber nach, dass ihr Leben allein von der Vertrauenswürdigkeit dieser Kreatur und ihrer Herrin abhängt, was das Wesen ihr durch ihrer Meinung nach absichtliche Stopps und gelegentliches Schwanzwackeln konstant ins Gedächtnis ruft. Sandra hasst das. Egal wie sehr sie auch strampelt, offenbar kann sie ihre Rolle als Untergebene nicht ablegen und dieses Vieh scheint gerade schlau genug zu sein, um sich ihrem Willen nicht zu beugen. Sie hofft nur, dass ihre Macht bald zunehmen wird. Vielleicht kann ihr Astrera ja bald dabei helfen. Während sie sich mit hart angespannten Armmuskeln und schmerzenden Schultern am klebrigen Schwanz des Wesens festklammert und langsam aber sicher an der übergroßen Falle vorbei gelangt, versucht sie, mit aller Macht nicht nach unten zu sehen.

Irgendwie ist die ganze Situation eine gute Metapher für ihr Leben. Sie hängt in der Luft, hofft auf Beistand und ist dabei schon zu hoch geklettert, um wieder sicher auf dem Boden landen zu können. Ihr einziger Weg führt vorwärts. Und weiter hinauf.

Nach einer gefühlten Ewigkeit setzt sie der Tausendfüßler endlich ziemlich lieblos auf der gegenüberliegenden Seite des gefährlichen Pfades ab. „Drecksvieh!“, ruft sie dem Tausendfüßler hinterher, der sich sofort auf den Weg zu seinem Frauchen macht, doch sie ruft es sicherheitshalber sehr sehr leise. Immerhin weiß sie nicht, wann sie diesen Verbündeten noch gebrauchen wird. Wie Aninga versprochen hatte, verliert Derrins Sekret rasch seine Klebrigkeit. Was sie jedoch nicht erwähnt hat, ist, dass es sich nicht verflüchtigt, sondern als schleimige und ziemlich nasse Substanz an ihren Fingern zurückbleibt. Mangels Alternativen wischt sie sich das Zeug an ihrem teuren Deovan-Outfit ab.

Trotz ihres Ekels muss Sandra aber zugeben, dass so eine Kreatur auch für sie sehr nützlich wäre. Nicht nur, dass sie einem helfen kann, Abhänge und Fallen zu überwinden und einen gekonnt aus Felsspalten ziehen kann, sie wäre sicher auch im Kampf eine unschätzbare Hilfe. Solange sie aber im Besitz von Aninga ist, ist sie für sie nutzlos. Sandra überlegt, ob sie die Intelligenz verringern und sie für ihre eigene Kontrolle empfänglich machen kann, indem sie ihr Gehirn beschädigt. Aber dafür weiß sie zu wenig über die Anatomie des Wesens. Sie könnte es genauso gut unbrauchbar machen, töten oder bei dem Versuch gefressen werden.

Noch bevor sie weiter über solche Pläne sinnieren kabb, taucht Derrin bereits mit Aninga im Schlepptau über ihr auf. Das liegt wohl auch daran, dass das Drecksvieh sich bei ihr nicht so viel Zeit gelassen hat. Ich werde deinen Willen brechen, schwor sie sich, irgendwie.

„Seht ihr, es war alles ganz leicht“, kommentiert Aninga strahlend und Sandra denkt kurz darüber nach, die Steingeweihte einfach die Falle zu schubsen. Nur reine Selbstbeherrschung hält sie letztlich davon ab.

„Lass uns weiter gehen“, sagt sie, zu genervt, um auch nur mit einer weiteren Beleidigung zu reagieren, „und sag mir diesmal schneller Bescheid, bevor wir in eine Falle geraten.“

„Natürlich“, verspricht Aninga.

Doch eine solche Warnung sollte nicht nötig werden. Jedenfalls nicht für die nächsten Kilometer ihrer Reise, die sie über zwar bergiges und schroffes, aber dafür vergleichsweise ungefährliches Gelände führt. Nicht einmal Wegelagerer oder Ungeheuer lauern ihnen auf. Doch obwohl Sandra die Richtung vorgibt, achtet sie sorgsam darauf, die schwertschwingende Pseudo-Xenia und ihr stinkendes Haustier vorausgehen zu lassen. So ganz traut sie ihnen noch immer nicht. Es braucht nur einen Moment der Klarheit, nur ein stärkeres Aufblitzen ihres alten Ichs, um Aninga zu einer echten Gefahr werden zu lassen.

Immerhin verringert sich die Distanz zu ihrem Ziel mehr und mehr und die Sonne steht noch immer recht hoch am Himmel als der Standortpunkt auf ihrer Navigationskarte beinah deckungsgleich mit dem Zielpunkt ist. Doch wie so oft warten die größten Hürden gerne direkt vor der Ziellinie. In diesem Fall besteht diese Hürde aus einer gigantischen Schlucht, die sicher zweihundert Meter breit, verdammt tief und so lang ist, dass ihr Ende nicht abzusehen ist. Die andere Seite verliert sich in dichtem Nebel und diesmal gibt es keine Gebirgswand, an der Derrin sie entlangführen kann.

„Sag mir bitte, dass du eine Ahnung hast, wie wir hier rüber kommen“, sagt sie an Aninga gewandt.

„Oh gewiss, die habe ich“, antwortet sie, „wir benutzen die Brücke.“

„Bist du blind?“, fragt Sandra zornig, „ich sehe hier nirgends eine verfickte Brücke.“

„Weil du nicht richtig hinsiehst“, sagt Aninga schmunzelnd und deutet nach oben.

Sandra folgt dieser Geste und erblickt ein großes, rechteckiges aus schwarzem Kristall bestehendes Plateau, welches über ihnen in der Luft schwebt wie ein Raumschiff.

„Da oben bringt sie uns herzlich wenig“, kommentiert Sandra säuerlich, auch wenn sie zugeben muss, dass sie von diesem Anblick fasziniert ist.

„Ihr müsst Euch nur gedulden“, antwortet Aninga, „die Brücke folgt einem Zyklus. Sie wird ihre Position wechseln und dann können wir einfach hinüberschreiten.“

„Und wann soll das geschehen?“, hakt Sandra nach.

„In vier oder fünf Stunden, schätze ich!“, gibt Aninga zurück.

„Was!!“, entfährt es Sandra, „willst du mich verarschen, du blöde Kuh?! Welchen hirnrissigen Sinn sollte das haben?“

„Auf der anderen Seite beginnt eine Art Meditationspfad“, erklärt Aninga, „so soll sichergestellt werden, dass ihn nicht zu viele gleichzeitig beschreiten und er den Wanderern Ruhe und Sicherheit bietet.“

„Wieder so ein Religionsschwachsinn?“, fragt Sandra und fühlt sich sofort unangenehm an Uranor erinnert.

„Für manche ja, für die meisten nicht“, antwortet Aninga, „Entspannung ist auch ein Bedürfnis von Atheisten. Außerdem verhindert die Brückenmechanik, das gefährliche Kreaturen hinübergelangen. Oder Scharen von Deovanischen Minenbesitzern.“

„Mag alles sein, aber im Moment verhindert es, dass ich meinen Weg fortsetzen kann und das ist eine verdammt große Scheiße!“, bemerkt Sandra missmutig, „können wir nicht mit Derrin die Wände der Schlucht hinabklettern und dann wieder hinauf?“

Sandra kann selbst kaum glauben, dass sie den glibberigen Tausendfüßler noch einmal als Transportmittel ins Spiel bringt, aber so kurz vor dem Ziel hält sie es kaum noch aus, nicht zu wissen, was Astrera genau ist und wie es in diesem vermaledeiten Hauptquartier aussieht.

„Das würde etwa viermal so lange dauern. Ihr habt keine Vorstellung davon, wie unheimlich tief diese Schlucht reicht und an ihrem Grund warten auch diverse Gefahren. Wir sollten also lieber warten. Doch so schlimm ist es nicht. Wir können einfach rasten, reden und uns etwas ausruhen“, sagt Aninga.

„Wo sollen wir denn rasten?“, fragt Sandra schlechtgelaunt, „etwa hier auf dem Boden?“

„Nein, das wär albern“, sagt Aninga schmunzelnd, „im Teehaus natürlich.“

„Was für ein Teehaus?“, fragt Sandra ungläubig und ihr liegt bereits ein abfälliger Kommentar über Aningas Dummheit auf den Lippen, als sie zu ihrer Rechten tatsächlich einen kuppelförmigen Bau aus Jade entdeckt, der wie eine Mischung aus Waldhütte und asiatischem Tempel aussieht.

Bei diesem Anblick und den Assoziationen, die das Wort auslöst, merkt Sandra erst, wie durstig sie ist und wie aufgequollen und trocken sich ihre Zunge anfühlt. „Von mir aus“, knurrt sie, „dann gehen wir zu diesem verfluchten Teehaus. Aber wehe, dort wird irgendeine beschissene Musik gespielt.“

~o~

Entgegen ihrer Befürchtungen dudelte in dem Teehaus keine penetrante Entspannungsmusik aus der Panflötenhölle. Lediglich das Rauschen des Wassers war zu vernehmen. Ja, Wasser, denn inmitten des aus Smaragd gefertigten Tisches sprudelt eine frische Quelle hervor, die über ein Labyrinth von aus diversen Edelsteinen gefertigten Rohren wieder in dem massiven, mit dem Boden verbunden Möbelstück verschwindet. Sowohl Aninga als auch Sandra nehmen Platz auf einem der schillernden, langlehnigen Bergkristallstühle, die inmitten dieser kleinen, von silbernen Säulen umstellten Oase stehen. Und selbst Derrin rollt sich auf einem der freien Stühle zusammen und sieht Sandra aus ausdruckslosen Insektenaugen an.

„Was wollt ihr trinken?“, fragt Aninga.

„Was wohl Dummerchen? Da steht wohl nicht viel zur Auswahl außer diesem Pisswasser, oder?“, bemerkt Sandra und streckt dabei die Beine unter dem Tisch aus. Es ist gefühlt Ewigkeiten her, dass sie sich so entspannen konnte und insgeheim ist sie dankbar für diese Zwangspause, auch wenn sie das Aninga natürlich niemals verraten wird.

„Da habt Ihr natürlich recht“, sagt Aninga, während ihre Finger gedankenlos mit dem Schwertknauf spielen, „aber das Wasser hier schmeckt nicht nur nach Wasser. Sonst wäre es ja kein Teehaus. Mit diesen Bechern dort könnt Ihr ihm Geschmack verleihen.“

Sie deutet auf eine Reihe vielfarbiger Kristallkrüge, die in einer Nische in der Wand aufgereiht stehen.

„Aha“, sagt Sandra gelangweilt, auch wenn sie durchaus beeindruckt ist, „und wonach schmecken die? Nach Vogelkot und alten Steinen?“

„Nach verschiedenen Früchten aus Rihn und anderen Ländern. Ich persönlich bevorzuge Tianga-Beere. Sie hat ein eher zartes, aber frisches Aroma“, antwortet Aninga, greift sich einen gelben Krug und hält ihn in die Fontäne, „aber ich kann auch Hiammo empfehlen. Sie mundet süß und kräftig.“

„Apfel wäre mir lieber“, sagt Sandra und kam sich für einen Moment vor wie das Kind von damals, das beim Eismann seine Auswahl treffen musste. Eine einfachere Zeit. Langweilig, aber einfach. Damals hatte sie Apfeleis geliebt. Gerade, weil das Aroma oft sehr künstlich rüberkam. Sie hatte nie begriffen, warum etwas natürlich schmecken musste, wenn es auch einfach nur gut schmecken konnte.

„Dann ist heute Euer Glückstag“, sagt Aninga, trinkt einen großen Schluck von ihrem Wasser und füllt dann auch für Sandra einen dunkelgrünen Krug, den sie vor ihr hinstellt.

Sandra blick auf das Wasser und meint bereits den intensiv-säuerlichen Geschmack auf der Zunge zu spüren. Wieder merkt sie, wie durstig sie ist. Sie führt den Krug zum Mund und leert ihn in einem Zug.

„Das schmeckt nicht nach Apfel“, beschwert sie sich und verzieht das Gesicht, „das ist saubitter.“

„Oops“, sagt Aninga mit einem plötzlich gänzlich anderen Gesichtsausdruck. Nicht naiv und freundlich, sondern hart, kalkulierend, schlau. Und ziemlich angepisst.

„Was war da drin?“, fragt Sandra, die sich nicht gut fühlt und nicht glauben kann, dass sie tatsächlich so blöd gewesen war, etwas zu trinken, das die Steingeweihte ihr eingeschüttet hat. Durst hin oder her.

„Klares Wasser“, sagt Aninga grinsend, „Eigentlich viel zu gut für ein verdorbenes Miststück wie dich! Aber die Becher sind magisch, weißt du? Meiner hat Heileigenschaften und kann den Einfluss des Aventurins für eine Weile zurückdrängen. Es ist nicht von Dauer, aber es reicht, um ein paar Dinge zu regeln, wenn du verstehst.“

„Wofür hältst du dich, dass du so mit mir redest? Ich bin eine Herrscherin. Eine Kommandeurin. Im Grunde eine Göttin“, beschwert sich Sandra und will sich wütend zu Aninga vorbeugen, doch abgesehen von ihren Gesichtsmuskeln, gehorchen ihr ihre Muskeln nicht. Sie ist wie eingefroren. Versteinert. Hilflos.

„Du bist ein ärmliches, böses Geschöpf. Nicht besser als jemand, der aus Niedertracht ein treues Haustier tritt. Ich muss dir folgen, der Stein verlangt es. Ich muss dich beschützen, weil du hier vollkommen hilflos bist, ‚Göttin‘! Weil du ohne mich krepieren würdest. Doch selbst, wenn du eine echte Göttin wärst, würde das nichts bedeuten. Du wärst nicht besser als ich. Du wärst auch nur ein Bewusstsein, das in all dem Chaos zurechtkommen will und kein Stück glücklicher als ich. Doch das ist egal, Bitch! Mein Urteil über dich ist längst gesprochen. Aber was viel interessanter ist, ist, wie der Stein über dich denkt. Er denkt in Schablonen. Er will das Gute beschützen und das Böse beschützen. Sobald er dich für zweiteres hält, wird dieses hübsche Schwert hier dich köpfen. Leider ist er ein wenig schwer von Begriff. Also helfen wir ihm auf die Sprünge: Warum bist du wirklich hier? Was ist dein Ziel in dieser Welt, hilflose Göttin?“

Mit diesen Worten bringt sie ihre Schwertklinge direkt an Sandras Kehle und auch Derrin krabbelte von seinem Sitz hinunter und an Sandras Körper hoch, den klebrigen Schwanz hoch erhoben, den Mund weit geöffnet.

„Sprich, Steinstäubchen!“, bekräftigt Aninga ungeduldig, „und sag die Wahrheit. Es gibt hier auch Krüge, die dich dazu zwingen, aber ich vertraue da meiner Intuition. Und meinem Schwert.“

Scheiße, denkt Sandra und erkennt sofort, dass die Zeit für Stolz und Trotz nun vorbei ist. Es heißt jetzt Kreide fressen und überleben.

„Schon gut, ich sage es dir“, beteuert Sandra, „ich haben den Auftrag mich Astrera anzuschließen. Einer Organisation, über die ich selbst nur wenig weiß. Keine Ahnung, ob sie etwas Gutes oder Böses will. Aber ich weiß, dass ich dort ein Ziel finden werden. Und einen Platz, um zu wachsen.“

Sandra fährt der Angstschweiß in die versteinerten Glieder als Derrin missbilligend zischt und sich an ihrem Kinn festkrallt. Seine kleinen Beißzangen sind nun direkt vor ihrem Gesicht.

„Es ist die Wahrheit“, versichert Sandra mit Schweißperlen auf der Stirn.

„Ich habe von Astrera gehört“, kommentiert Aninga, „jedoch nicht viel Gutes. Sie sollen ein Bund des Chaos sein und verantwortlich für eine Menge Unheil. Wenn du mich zu ihnen, direkt in ihr Hauptquartier führen könntest, könnte mein Stein-Ego wenigstens etwas Gutes bewirken und sie alle auslöschen. Andererseits, wie heißt dieses Erdensprichwort: Lieber ein Spatz in der Hand als …“

Aninga hebt ihr Schwert, holt damit aus und Sandra macht sich für einen Schlag bereit. Doch auch wenn sie nicht mehr darauf gehofft hatte, kehrt das das Leben in ihren Körper zurück, kurz bevor die Klinge durch ihren Hals fährt. Sandra stürzt sich vom Stuhl hinunter und duckt sich so rasch weg, dass selbst Derrin überrascht von ihr abfällt.

Sofort springt Sandra vom Boden auf und duckt sich hinter dem Stuhl weg, um einem weiteren Schlag zu entgehen. Sie gönnt sich ein kurzes Luftholen und schreit erschrocken auf, als sie einen Schatten auf sich zuspringen sieht. Wie einer dieser Facehugger aus diesen Alien-Filmen landet Derrin direkt auf ihrem Gesicht und krallt sich daran fest. Sie feine Nadel bohren sich seine Beine in ihr Gesicht. Jedoch hält er sich nicht mit Fortpflanzungsspielchen auf. Stattdessen wickelt sich sein Schwanz eng um ihren Hals und drückt zu. Sandra spürt einen unangenehmen Druck auf ihrem Kehlkopf und greift panisch nach dem harten Körper des riesigen Kristall-Insektes. Sie zerrt an ihm, tastet nervös nach irgendeiner Schwachstelle, hämmert wie wahnsinnig auf seinen Panzer ein, ohne dass der Druck auf ihren Hals auch nur eine Winzigkeit nachlässt.

Sandras Atem wird knapp und ihr Kehlkopf scheint kurz davor nachzugeben. Schließlich schlägt sie – mangels irgendeiner anderen Alternative – den Kopf hart gegen den Kristallstuhl und hört irgendetwas brechen. Zuerst hält sie es für Derrins Panzer und jubiliert innerlich, doch ein stechender Schmerz zeigte ihr, dass es nicht ihn, sondern ihren Nasenknorpel getroffen hat. Fuck!, denkt Sandra nur, während ihre Welt langsam verblasst, grau wird, stirbt, Fuck! Fuck! Fuck!

In einer letzten Anstrengung greift sie nach ihren Delimiter-Kräften, versucht noch einmal Derrin ihren Willen aufzuzwingen, doch das interessiert den Tausendfüßler nicht im Geringsten. Im Gegenteil, fast glaubt sie, dass sie ihn damit noch mehr anstachelt und dass …

„Derrin!“, erklingt eine empörte Stimme, „Lass sie sofort in Ruhe!“

Auf diesen Befehl zumindest hört die Kreatur. Blitzschnell entrollt sich Derrins Schwanz und Aningas Haustier krabbelte flugs von Sandra herunter. Sofort nutzte Sandra die Gelegenheit für einen tiefen, schmerzhaften Atemzug. Ihre Nase und ihr Hals fühlen sich an, als hätte sie eine Inquisitionsbefragung hinter sich. Aber sie lebt. Wenigstens das. Sobald ihr Schwindel nachlässt, stemmt sie sich in die Höhe und sieht in ein bedauerndes, naiv-dümmliches Gesicht von Aninga. Offenbar hat auch die Wirkung von ihrem Tee nachgelassen.

„Es tut mir leid“, stammelt Aninga entsetzt, „sonst ist er nicht so. Ich weiß nicht, warum …“

„Du solltest dein Schoßhündchen besser unter Kontrolle haben“, tadelt Sandra streng, während sie sich ihre gequetschte Kehle reibt, „ansonsten verletzt er Unschuldige, wie du siehst. Willst du das?“

„Nein, auf keinen Fall! Da habt ihr recht … es … wir … was machen wir überhaupt hier? Alles ist so neblig“, sagt Aninga verwirrt und orientierungslos. Sandra vermutet, dass Aninga ihre kurzfristige Klarheit mit einer Verschlimmerung ihrer Krankheit bezahlt hat. Gut.

„Wir haben Tee getrunken“, klärt Sandra sie auf, „aber nun haben wir keinen Durst mehr und sollten lieben draußen warten, bis die Brücke herunterkommt.“

Aninga nickt, augenscheinlich dankbar für die Erinnerungsstütze, und gemeinsam verlassen sie das Teehaus.

Die restlichen Stunden verbringen die beiden mit wortlosem Warten. Und das nicht nur, weil Sandra kein gesteigertes Interesse am Gespräch mit der Aventurin-Geweihten hat. Vor allem liegt es daran, dass Aninga von sich aus sehr schweigsam ist. Sie starrt nur ins Leere, kuschelt sich verloren an Derrin, küsst und streichelt seinen harten Panzer, während sich ihre Lippen wortlos bewegen, als würde sie versuchen sich an die passenden Worte zu erinnern.

Ihr Verstand zerfällt unglaublich schnell, denkt Sandra, das erklärt auch, warum die Steingeweihten dieses Teehaus nicht in Scharen aufsuchen. Dort etwas zu trinken ist für sie wie eine Flasche Wodka für einen Leberkranken. Und auch wenn es Sandra gar nicht in den Kram passt, nimmt sie der Anblick mit, ja erweckt sogar etwas Mitleid in ihr.

Zum ersten Mal begreift sie wirklich, wie schlimm es sein muss, die Kontrolle über seinen eigenen Verstand zu verlieren. Nicht nur an den Zerfall und das Vergessen, sondern an einen fremden, stärkeren Willen. Fühlen sich so die Wesen, die sie kontrolliert? Wahrscheinlich nicht, da sie nicht das nötige Bewusstsein besitzen. Aber die Bleigeweihten in Deovan hatten sich sicher so gefühlt. Und irgendwann, wenn sie stärker werden wird, werden sich auch intelligentere Wesen ihrem Willen beugen. Kein schönes Schicksal für sie. Gewiss nicht. Aber immerhin wäre es ihr Wille, oder? Der Wille einer werdenden Göttin. Eigentlich war es ein Privileg, sich ihr zu unterwerfen. Doch so ein Stein. So ein blöder, infektiöser Stein hatte kein Recht über den Verstand höherer Wesen zu triumphieren. Plötzlich schmeckte die Genugtuung über diesen Triumph, über diesen schnellen Niedergang von Aninga schal. Ganz gleich, ob Aninga sie noch vor wenigen Stunden köpfen und ihr Haustier sie hatte erdrosseln wollen oder nicht.

Im Grunde, das versteht Sandra nun, hat sie Aninga unfair behandelt. Doch vielleicht kann sie das sogar wiedergutmachen. Heilen kann sie sie natürlich nicht und selbst wenn, würde das nicht infrage kommen. Niemand trachtet ihr nach dem Leben, ohne sein eigenes Leben zu verlieren. Aber vielleicht gibt es einen Weg, um Gnade und Rache zu verbinden: zum Beispiel einen glatten, sauberen Tod.

Bemüht leise steht Sandra auf und geht auf Aninga zu. Die Steingeweihte hockt direkt am Rand der Schlucht, den Blickt abgewendet und Derrin fest umklammert. Ein kurzer Fall, dann wäre es vorbei.

Doch aus ihrem geplanten Gnadentod wird nichts. Sandra hat kaum die Hälfte der Strecke zurückgelegt, als ein kräftiger Windstoß vom Himmel auf den Boden niedergeht und sie so kräftig niederdrückt als würde au Rihn mit einem mal die vierfache Schwerkraft herrrschen. Als sie sich endlich etwas an diesen Druck gewöhnt hat, sieht sie nach oben, wo sich der Brückenkristall in Bewegung setzt und geradezu auf die Schlucht zurast.

„Als hättet ihr den Moment erahnt“, kommentiert Aninga abwesend und spricht damit die ersten Worte seit geraumer Zeit, während sie wie mechanisch aufsteht und Derrin von ihrem Schoß herunterkrabbeln lässt, ohne auch ihm viel Beachtung zu schenken.

Mit einem lauten Donnern rastete der Felsen wie ein Teil eines 3D-Puzzles in der Schlucht ein und der mörderische Wind endet abrupt.

„Ich habe wohl einen siebten Sinn“, antwortet Sandra auf die Bemerkung der Steingeweihten, wirft einen kurzen Blick auf ihre Karte und beschreitet hastig die Brücke. Sie will sie unbedingt überqueren, bevor dieser nervige Zyklus von neuem beginnt und sie womöglich Stunden in er Luft hängen muss. Aninga und Derrin folgen ihr.

~o~

Auf der anderen Seite erwartet Sandra ein unerwarteter Anblick. Ganz im Gegensatz zu den sonstigen Nadelgebirgen, die von mal schroffen und mal glatten Kristallstrukturen, von Ebenen, Tälern und Hängen dominiert werden, gibt es hier eine Wiese. Ein grünes Meer, gespickt mit schillernden, bizarren Blüten mannigfaltiger Färbung, die ihren Blütenstaub im Wind verteilen und die sich wie in einem romantischen Gemälde bis zum Horizont erstrecken.

„Ich dachte, hier wächst nichts“, sagt Sandra mit einer fast kindlichen Faszination.

„Das stimmt nicht“, gibt Aninga teilnahmslos zurück, „es gibt fruchtbare Flecken in Rihn. Vor allem im Tal. Allein der Handel könnte die Bevölkerung auch nicht versorgen. Aber das hier ist keiner davon. Das sind lediglich Kristallausblühungen. Sie entstehen durch den hohen Grundwasserspiegel, aus dem sich auch das Teehaus speist. Sie sind zwar wunderschön, aber nicht lebendig. Und der Staub ist nicht ungefährlich. Atmet besser flach.“

Sandra hört auf diesen Rat. Ihre Kehle ist in den letzten Stunden ohnehin schon immer rauer und trockener geworden, ihre Lippen rissig und sie hat sogar einen gewissen Hustenreiz entwickelt, der durch Derrins Attentat auf ihre Kehle sich nicht besser geworden ist, der aber vorher schon dagewesen ist. Alles in allem hegt sie den Verdacht, dass dieser Ort noch auf ganz andere Weise gefährlich ist als sie bisher angenommen hat. Zum Glück signalisiert ihr ihre Karte bereits mit einem wilden Blinken, dass der Eingang zum Versteck von Astrera unmittelbar in der Nähe sein muss.

Aber wie soll sie ihn finden? Einem Impuls folgend kniet sie sich nieder, mitten in das vermeintliche Blumenmeer und streicht vorsichtig mit den Fingern über die „Blumen“. Sie bestehen tatsächlich aus Kristall, auch wenn sie feucht und ungewöhnlich weich sind, und was sie für Blütenstaub gehalten hat, scheint eine Art Abrieb zu sein, den der Wind und die Feuchtigkeit produzieren. Der Staub kitzelt und kribbelt an ihren Fingern. Unwillkürlich musse sie an Dank Qua denken. An die fremde und bedrohliche Schönheit der Maschinengärten, die ihr Entdeckerherz belebt und herausgefordert hatten und die das wahre Tor in ihr Leben als Fortgeschrittene gewesen waren. Sie muss an den rostigen Metallstaub denken, die gefährlichen Zahnradblumen, die Ölflüsse und die großen, metallenen Bienen.

Auch jetzt ist ihr Forschergeist wieder geweckt. Sie blendet Aninga aus, blendet Derrin aus und konzentriert sich ganz darauf ihr Ziel zu finden. Und ihr Eifer wird belohnt, denn während sie prüfend auf den von rauem Smaragd dominierten, grünen Boden starrt, macht sie eine Entdeckung. Eine weiße Linie, die so gerade und tief durch den Smaragdboden gezogen ist, dass sie unmöglich natürlichen Ursprungs sein kann. Sie wischt den falschen Blütenstaub weg und entdeckt eine weitere Linie und noch eine, die sich schließlich zu einem sechszackigen Stern verbinden. Aufgeregt kriecht sie weiter und entdeckt den Beginn eines weiteren Sterns. Diesmal in einem leuchtenden Orange und mit vier Zacken. Darauf folgt ein roter fünfzackiger und …

Plötzlich gibt der Boden unter ihr nach. Sandra fällt. Nicht sehr tief, aber hart. Jedoch nicht so hart, dass sie sich ernsthaft verletzt, wenn man von einem schmerzenden Steißbein einmal absieht. Direkt vor sich sieht sie ein Tor. Nein, eher ein torförmiges Kaleidoskop, ein Prisma aus dutzenden verschiedenen und scharf geschliffenen Kristallen, die das Licht in allen nur erdenklichen Weisen brechen.

„Das ist er. Das ist der Eingang!“, flüstert Sandra aufgeregt zu sich selbst und fühlt sich plötzlich wie ein Mädchen vor seinem ersten Schultag. Nervös, etwas fehl am Platz und doch überwältigt von all dem, was es zu entdecken gibt. Dies hier wird ihr Leben verändern, so viel ist klar.

„Scheint als habt ihr euren Weg gefunden. Direkt in die Höhle des Drachen hinein. Zu euresgleichen“, ertönt eine harte Stimme über ihr. Sie ähnelt der von Aninga, aber ist gleichzeitig so anders, so selbstbewusst und energisch und ohne jeden Zweifel, dass sie sie beinah nicht erkannt hätte.

Sandras Blick wandert nach oben. Aninga steht direkt über der Kuhle, in die sie gestürzt ist. Groß und aufrecht, das gefährliche Schwert erhoben, als wäre sie ein lebendiges Kriegerdenkmal und Derrin wie einen scharfen Hund zu ihren kristallenen Füßen.

„Die, die war, hat mir ihr Wissen über diesen Ort hinterlassen. Das Wissen, dass er das Böse beherbergt. Und das Böse muss ausgelöscht werden. Restlos“, sagt Aninga – oder besser gesagt, der Aventurin. Aninga ist tot, da ist sich Sandra sicher. Der Stein hat sie übernommen und er ist ziemlich angepisst, ganz genau wie es Aninga ihr prophezeit hatte.

Aninga geht einen Schritt nach vorne. So schnell als würde sie sich teleportieren. Und Sandra ist sich gar nicht so sicher, ob sie es rechtzeitig durch das Prisma-Portal schaffen kann. Wenn ihr der Durchgang denn überhaupt möglich ist. Natürlich, ihre Reflexe sind seit dem Einsatz des Delimiters schnell, aber vielleicht nicht ausreichend schnell. Und wenn sie die Steingeweihte provoziert oder das falsche sagt, könnte das ihr Ende sein. Zum Glück sind Muskeln und Reflexe nicht das Einzige, was sie zu bieten hat.

„Die, die war, hatte kein Wissen. Sie hatte nur Gerüchte gehört“, sagt Sandra bestimmt, auch wenn sie natürlich nicht weiß, ob diese Vermutung der Wahrheit entspricht, „nicht alles, was man nicht versteht, ist gleich böse. Und wenn du dort hineingehst und jeden abschlachtest, ohne die Wahrheit zu kennen, kannst du auch Unschuldige treffen. Willst du das? Wäre das etwa heldenhaft?“

Zu ihrer Erleichterung schleichen sich tatsächlich Zweifel auf das zornige Gesicht der Steingeweihten. „Das mag sein“, sagt sie, „aber selbst, wenn Ihr wegen Astrera recht habt, so gibt es bei Euch kaum Zweifel an Eurer Gesinnung. Ihr wart gehässig und verletzend. Ihr habt die, die war, grausam behandelt und sie bei jeder Gelegenheit ausgenutzt und erniedrigt. Wenn ich Euch richte, mache ich bestimmt keinen Fehler.“

„Ich war unfreundlich, ja“, gesteht Sandra überraschend angstfrei, „und das tut mir leid. Aber ich habe Ihr nichts angetan. Anders als sie, die mich allein wegen einiger Gerüchte umbringen wollte. So betrachtet war sie bösartiger als ich. Und ein paar unbedachte Worte rechtfertigen doch sicher nicht gleich den Tod. Genauso wenig wie ein schlechter Ruf, der oft genug das Ergebnis von Propaganda der Gegenseite ist. Ich würde deshalb vorschlagen, dass du mich gehen lässt und dir ein anderes Ziel für deinen Zorn suchst. Es gibt dort draußen sicher Diebe, Mörder und Vergewaltiger, die du richten kannst. Dort wäre dein Heldenmut besser aufgehoben.“

Sandra sieht der Aventuringeweihten direkt in die Augen, hält ihrem Blickt eisern stand, lässt keine Zweifel oder Falschheit erkennen. All diese Dinge hat sie bereits gegenüber ihrem Team in Deovan eingeübt und perfektioniert. Und es funktioniert auch diesmal.

„Eure Worte tragen einige Wahrheit in sich“, gibt sich die Geweihte geschlagen, „aber ich denke, ich werde bleiben und auf Euch warten. Und ich gebe Euch eine Aufgabe mit auf den Weg. Zeigt mir jemanden, ein Mitglied von Astrera, das für das Gute kämpft. Zeigt mir jemanden, der edler und freundlicher ist als Ihr. Bringt ihn mit und ich lasse Euch ziehen, kämpfe vielleicht sogar an Eurer Seite, wenn Eure Sache gerecht ist. Solltet ihr so jemanden jedoch nicht finden können und allein wieder hier herauskommen, werde ich handeln. Ich werde Euch nicht töten. Davon, dass das nicht gerecht wäre, habt Ihr mich überzeugt. Aber wenn es nichts Gutes an diesem Ort gibt, werde ich es wohl schaffen müssen. Notfalls aus Euch. Dann werdet Ihr sicher bald erkennen, was Gerechtigkeit und Heldenmut bedeuten.“

Sandras Laune verdüstert sich. Sie hat wenig Lust als eine beschissene Steingeweihte zu enden. Und bei dem wenigen, was sie über Astrera weiß, kann es gut sein, dass es unmöglich ist, die Forderung der Steingeweihten zu erfüllen. Ein Verein, der enge Kontakte zu Kollom Nehmer und Disruptor Yonis pflegt, kann wohl kaum aus einem Haufen guter Samariter bestehen. Andererseits kann es ja durchaus sein, dass dort drin jemand eine Lösung für ihr Problem weiß. Immerhin können sie ja auch nicht scharf darauf sein, dass ihr Unterschlupf von einer irren Fanatikerin heimgesucht wird. Sie hofft nur, dass man ihr nicht zur Last legt, dieses Ungeziefer überhaupt angeschleppt zu haben. Doch damit kann sie sich noch immer auseinandersetzen, wenn es so weit ist.

„Einverstanden“, sagt Sandra, „ich komme mit der nettesten Person wieder, die du dir nur vorstellen kannst.“

Dann wendet sie sich an, betritt die Prismatür und lässt ihr altes Leben für immer hinter sich.

8 thoughts on “Fortgeschritten: Die Gläsernen Archive von Rihn 2

  1. Uff…

    Mit der Aktion von Tarena hab ich jetzt alles andere als gerechnet Oo

    Aber mal wieder eein sehr gelungenes Kapitel 🙂

    Ich bin gespannt wie es weitergehen wird =D

    Herzallerliebste Grüße Deniz

    1. Hallo Deniz, tut mir leid, ich hatte deinen Kommentar hier irgendwie übersehen :(. Aber danke, freut mich sehr, dass dir das Kapitel gefallen hat. Ja, Tarena ist immer mal für eine Überraschung gut ;). Das neue Kapitel ist auch schon in Arbeit und wird wohl so Mitte / Ende Februar rauskommen. Allerdings schauen wir da erstmal wie es Callan und Clary in Anntrann ergeht. Nach Rihn gehts dann danach wieder. LG Angstkreis

      1. Ach was alles gut Chris ^^

        Wie gesagt, Fortgeschritten ist seit langer Zeit ein Story die mich mehr als nur fesselt. Sie hat mich förmlich in ihren Bann gezogen. Ich bin echt gespannt wie es allgmein weitergeht… Egal um welchen Charakter es jetzt im nächsten Kapitel auch gehen sollte, deren Geshcichten müssen ja auch fortgeführt werden (:

        Herzallerliebste Grüße ^^

        1. Hallo Deniz,

          inzwischen hat der neue Teil ja das Licht der Welt erblickt. Ich hoffe, er gefällt dir. Werd bald auch anfangen die Geschichte von Adrian, Sandra, Tarena und Co. weiterzuspinnen. Die warten schon ganz ungeduldig ;).

          LG
          Chris

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