„Hallo Freunde des Knochens, hier ist wieder Rone, the Bone. Echtes Sorry dafür, dass ihr so lange auf dieses Video warten musstet, aber ich hatte die letzten Tage noch ‘ne Menge um die Ohren.“ Der Junge auf dem Bildschirm war höchstens zwanzig Jahre alt. Fein geschnittene Gesichtszüge, ein fröhliches Lächeln, sanfte Augen, langes, dunkelbraunes Haar. Er trug ein T-Shirt mit der Aufschrift „My true beauty lies inside“ und saß auf einem breiten Chefsessel vor einer extrem hellen, weißen Wand mit schwarzen Regalen, auf denen grinsende Skelett-Figürchen, aber auch Schädel, Fingerknochen, Rippen und dergleichen aufgereiht waren. Unmöglich zu sagen, ob es sich um Nachbildungen oder echte Exponate handelte.
„Ich hoffe, ihr habt euch nicht gelangweilt und euch tapfer an den Schmerzkontrollübungen versucht, die wir im letzten Video besprochen haben. Wenn ja, bin ich verdammt stolz auf meine kleinen Bonies. Wenn nicht, ist’s aber auch okay. Wie ihr wisst, hatte ich, als ich den Ruf gehört hatte, auch erst Schiss vor der Klinge, aber ihr bekommt das noch hin. Wichtig ist, dass ihr dranbleibt. Dass ihr nicht aufgebt.“
Seine Arme waren nackt und muskulös. Zumindest dort, wo es noch Muskeln gab, denn seine beiden Unterarmknochen lagen frei. Erst ab Höhe des Handgelenks sah man wieder von braungebrannter Haut bedecktes Fleisch. Die verbleibende Haut zierte das Tattoo einer Schere samt Schnittmuster.
„Wie gesagt, ich mache auch süßen Angsthäschen keinen Vorwurf“, betonte Rone erneut, „aber für alle Bonies, die meinen, dass sie die kleinen fiesen Schmerzbiester schon gezähmt haben, gibt es heute ein ganz besonderes Geschenk von eurem lieben Rone.“
Der junge Mann hob einen kleinen Käfig mit einem kalkweißen Teddybären darin in die Höhe. Der Bär klopfte mit seinen verknöcherten Plüschpfoten gegen die Gitterstäbe und schnappte mit seinem, mit spitzen Zähnen ausgestatteten Mund, herzhaft nach Rones Händen, ohne ihn erreichen zu können.
„Dieses niedliche Kerlchen stammt direkt aus einem verlassenen Haus in einer der Knochenstädte. Wie ihr sicher wisst, ist es verdammt schwer, an sowas ranzukommen. Vor allem, seit die Regierung angefangen hat, diese Häuser abzusperren und sie zu bewachen, aber für euch, meine Community, meine Bonies, meine Freunde habe ich das Unmögliche möglich gemacht. Und da in meinem Brustkorb sehr viel Platz für euch alle ist, denke ich gar nicht daran, diesen cuten Kollegen für mich zu behalten. Nein, einer von euch kann ihn als seinen neuen besten Freund gewinnen.“
Rone machte eine dramatische Pause und beugte sich vor. Sein Gesicht füllte nun die Kamera ganz aus.
„Alles, was ihr dafür tun müsst, ist euren Knochen zu befreien. Jeden, der so mutig ist, seinem Skelett wenigstens ein bisschen Tageslicht zu gönnen, werde ich in meinem nächsten Video ausgiebig würdigen, wenn er mir ein Beweisvideo oder zumindest ein Foto schickt. Ihr wisst, dass ich Fakes erkenne, also versucht es gar nicht erst. Ansonsten seid ihr von allen kommenden Gewinnspielen leider ausgeschlossen. Aber über jede ehrliche Einsendung freue ich mich bis ins Mark, auch wenn natürlich nicht jeder von euch gewinnen kann. Nur der Bonie, der am mutigsten und großflächigen cuttet, wird unseren süßen Bärenfreund nach Hause geschickt bekommen. Ist das kein verflucht geiler Deal?“
Ein breites Grinsen erschien auf Rones breitem Mund, bevor sein Gesicht wieder einen ernsten Ausdruck annahm.
„Hört mal, Bonies, ich weiß, dass das eine toughe Challenge ist. Aber wenn ihr echte Bonies seid, dann wisst ihr ja inzwischen längst, dass es sich lohnt. Nicht nur wegen des knuddeligen Knochenbären, sondern auch, weil ihr dann ein für alle Mal zu den Gewinnern gehört. Jeder Schnitt bringt euch Macht, Wahrheit und die Chance zu einer fucking Sagengestalt zu werden, bei deren Anblick sich die ganzen Fleischfetischisten ordentlich in die Hose machen werden. Vor allem aber schweißt jeder Schnitt uns näher zusammen. Ich sehe uns als Freundeskreis, meine Bonies, als echte Gemeinschaft. Und eine Gemeinschaft braucht ein Erkennungszeichen. Also Bonies, wetzt die Messer und wenn ihr nicht mehr genau wisst, wie ihr das störende Fleisch am besten abbekommt, schaut euch gern noch mal mein Tutorial dazu an, das ich euch gerade einblende. Falls ihr noch irgendwelche Fragen habt oder einfach mit euren Entfleischungsvorhaben vor der Community angeben wollt, schreibt es gern in die Comments. Wir sehen uns dann bei meinem nächsten Video. Und denkt daran:“It’s the Bone, the Bone, the Bone alone!“.
Das Gesicht von Rone verschwand. Sein Logo, welches einen hüpfenden Knochenaffen zeigte, der auf einer seiner eigenen Rippen herumkaute, erschien und dazu erklang der Song „Fleischvernichter“ von der inzwischen verschollenen Underground-Band „Knochenherz“.
Als das Video stoppte, atmete die sechzehnjährige Anita Rosberg tief durch. Schweißnass vor Aufregung öffnete sie ihren Werkzeugkoffer. Sie hatte lange nach den richtigen Werkzeugen gesucht und vor ihren Eltern dutzende vorgeschobener Gründe genannt, warum sie sie unbedingt benötigte.
Sie hielten sie inzwischen für eine passionierte Handwerkerin und das war sie in gewisser Weise auch. Immerhin würde sie jetzt ihr Meisterstück abliefern. Die ersten Schnitte mit der Klinge hatten sehr wehgetan und waren ihr extrem zuwider gewesen. Eigentlich neigte sie nicht zu selbstverletzendem Verhalten, aber sie wollte nicht schwach sein, einmal in ihrem Leben wollte sie nicht schwach sein und so hatte sie tapfer geschnitten, dort wo ihre Eltern es nicht so schnell bemerken würden.
Nun aber würde sie einen Schritt weiter gehen. Einen gewaltigen Schritt. Entschlossen wählte sie eines der Instrumente aus ihrem Koffer aus und setzte es direkt an ihren linken Unterschenkel nur etwas unterhalb ihres Knies. Dort würde sie anfangen, aber sie würde dort nicht aufhören. Die Tür war abgeschlossen und ihre Eltern waren auf einer Parteiveranstaltung. Niemand würde sie aufhalten können. Sie würde diesen Bären bekommen und was noch viel wichtiger war: Rone würde stolz auf sie sein.
Anita lächelte als sie schnitt.