Hexe hatte immer eine blühende Fantasie gehabt. Und doch hätte sie sich früher nie ausmalen können, sich in einer dermaßen hoffnungslosen und beängstigenden Situation wiederzufinden. Dafür, dass ihre Situation so verfahren war, gab es verschiedene Gründe.
Einer davon war dieser Ort. Hexe hatte im Laufe ihrer Abenteuer mit Davox, Bianca, Jonathan und den anderen eine Menge über den Knochenwald erfahren und sich auch zur Genüge mit seinen Kreaturen auseinandersetzen müssen. Aber wahrhaft dort zu sein, das Knarren der dürren Knochenbäume zu hören, die verrottenden Kadaver in ihren Ästen zu riechen und zu erblicken, die Knochenasche auf der Zunge zu schmecken und unter dem seltsamen, deprimierenden Licht der schwarzen Sonne zu wandeln, war etwas völlig anderes.
Hexe war kein ängstlicher Mensch und die Ereignisse der Vergangenheit wie auch ihre neu entdeckten Kräfte hatten sie sogar noch mutiger und selbstbewusster werden lassen. Aber das änderte nichts daran, dass ihr ganzes Wesen gerade von Angst bestimmt war. Sie war in ihrem Schweiß, der von den stetig wehenden schwülwarmen Winden von ihrer Haut gefegt wurde. Sie war in ihrem Atem, der in der stickigen, übelriechenden Luft des Waldes so träge durch ihre Lungen floss, als müsste die Luft erst mühsam von ihrem Körper atembar gemacht werden. Vor allem aber war die Angst in ihren Gedanken. Und dass sie sich dort befand, lag nicht allein an dem grauenhaften Ort. Es lag auch nicht an den Geschichten, die sie über diesen Ort gehört hatte oder den gewaltigen, halb verrotteten Titanen-Skeletten in den sich wiegenden Knochenbäumen. Es lag an ihren Begleitern.
Professor Arnold Wingert war schon immer ein seltsamer, verschrobener Vogel gewesen und dass er ein Knochenzombie wurde, hatte es nicht wirklich besser gemacht. Jedoch hatten seine Freundschaft zu Jonathan und die Tatsache, dass Davox gelegentlich seine Gedanken für sie hatte hörbar machen können, ihn wenigstens etwas menschlicher erscheinen lassen. Aber seit er sie beide durch das Portal gestoßen hatte, hatte er sich nicht zum Besseren verändert. Früher hatte er sich noch um eine normale Gangart bemüht, nun aber bewegte er sich oft seltsam mechanisch und ruckartig, so als wollte er jede Menschlichkeit hinter sich lassen. Beinah als würde er sich darüber freuen, ja es geradezu feiern, dass er mittlerweile eine der bizarren Kreaturen war, deren dunkle Wurzeln in seinem so geliebten Knochenwald lagen. Auch hatte sie in den letzten Stunden bemerkt, wie er sie des Öfteren gierig mit halb ausgefahrener Knochenzunge angestarrt hatte. Früher hatte er so etwas nie getan. Und sie fragte sich, was passieren würde, wenn sie einmal ihrer Müdigkeit nicht mehr würde widerstehen können.
Verglichen mit Davox war Professor Wingert jedoch geradezu vertrauenswürdig. Ihr einstiger Geliebter stapfte als komplett entfleischtes Skelett neben ihr her. Lediglich in seinem Schädel konnte sie noch sein feuchtglänzendes Gehirn beobachten, das neben dem Sehnerv und den damit verbundenen Augen alles war, was noch an Fleisch in seinem Kopf zurückgeblieben war. In seinem Brustkorb schlug nach wie vor ein kräftiges, rotes Herz und seine Lungenflügel hoben und senkten sich gleichmäßig. Auch Magen, Milz, Leber, Galle, Gedärme und dergleichen waren noch an ihrem Platz, obwohl sie nicht wusste, wozu Davox sie noch benötigte und wie sie ohne Muskeln, Bauchfell oder anderes stützendes Gewebe an Ort und Stelle bleiben konnten. Sein Geschlechtsteil war verschwunden, was sie immerhin etwas erleichterte, denn so erinnerte es sie nicht daran, dass sie mit diesem ekelhaften Geschöpf im Bett gewesen war.
Es war aber nicht nur sein Äußeres, das sie verstörte. Schlimmer noch waren die telepathischen Äußerungen, die ihr der Weise des Gebeins von Zeit zu Zeit übermittelte. Dass seine Liebe für sie erloschen war, konnte sie ihm nicht verdenken. Bei ihr war es nicht anders. Aber seine charakterliche Veränderung ging noch weit über dieses kleine Faktum hinaus.
Eigentlich war es kaum zu glauben, dass Davox gerade noch alles geopfert hatte, um die Welt vor dem grauenhaften Einfluss des Knochenwaldes zu bewahren, denn nun wirkte er ganz und gar nicht mehr wie ein Held. Nicht mal wie ein tragischer.
Jeder Funke von Humor und Einfühlungsvermögen war aus ihm gewichen und wer er seine Gedanken an sie richtete, ging es meistens nur darum, sie zu einer schnelleren Gangart anzutreiben. Das war natürlich leichter gesagt als getan, da Davox und Arnold Wingert nicht ermüdeten und unendliche Ausdauer besaß, während sie eine (größtenteils) menschliche Frau in einem noch dazu gealterten Körper war. Zwar war sie eine Drix Tschatha, aber bisher hatte sie noch nichts gefunden, dass sie für ihre Magie benutzen konnte. Sie war von tausenden Knochen umgeben, die sie eigentlich nutzen können sollte, aber irgendwie hinderte dieser Ort sie daran, ihre Kräfte zu gebrauchen. Wahrscheinlich lag es daran, dass seine Magie das genau Gegenteil ihrer eigenen darstellte, aber genau wusste sie das natürlich nicht.
Jedenfalls hatte sie keine Möglichkeit ihre Magie zu nutzen, um ihr Vorankommen zu beschleunigen. Und so klebte ihr ihre verschwitzte Kleidung bereits unangenehm feucht am Körper, ihre Muskeln hatten zu Schmerzen begonnen, ihr Atem ging schwer und auch ihre rotgrauen Locken hingen ihr kraftlos und Nass im Gesicht. Sie wusste nicht, wie lange sie das noch durchhalten konnte, zumal das schmutzige, besudelnde Licht der schwarzen Sonne ihre Stimmung noch weiter drückte.
Davox war ihre Lage herzlich egal. „Geh weiter oder wir lassen dich zurück!“, war noch das freundlichste, was sie bislang von ihm zu hören bekommen hatte. Hexe wusste genau, dass das ein Todesurteil für sie sein würde. Denn so unangenehm die Gegenwart von Davox auch war und so schwarz und verdorben die Aura war, die ihn umgab, immerhin hatte er es bislang geschafft, sie vor den anderen Gefahren dieses Ortes zu bewahren. Ein paar Mal hatten sich ihnen kleine oder auch größere Rudel von Schneidmaden genährt. Wilde, hässliche, aggressive Kreaturen, die noch bedrohlicher wirkten als jene, die sie in ihrer Welt gesehen hatte. Ja, dachte sie, Lucys Kreaturen hatten dagegen geradezu niedlich gewirkt. Jedenfalls wollten sich die Bestien zielstrebig auf Hexes Fleisch stürzen, aber es hatte nur eines einzigen Blicks aus Davox freiliegenden Augen bedurft, um sie zurückzuhalten. Anfangs hatte sie Davox dafür gedankt, aber er hatte ihren Dank entweder ignoriert oder mit einer verächtlichen Bewegung seiner Skelett-Hand reagiert. Irgendwann hatte sie es aufgegeben. Sie glaubte auch nicht mehr, dass er sie aus Mitgefühl oder Sentimentalität beschützte. Wahrscheinlich betrachtete er sie eher als sein Eigentum.
Doch was auch der Grund dafür war, solange sie unter seinem Schutz stand, war sie vorerst sicher. Sobald sie aber alleine wäre … Sie wollte lieber nicht darüber nachdenken. Also tat sie ihr Bestes, sich irgendwie weiterzuschleppen.
Wenn sie wenigstens gewusst hätte, wohin sie unterwegs waren. Obwohl, wenn sie ehrlich war, wusste sie das ja eigentlich. Für einen Weisen des Gebeins gab es an diesem Ort eigentlich nur ein Ziel: Eine der Kultstätten zu finden, an der sich die anderen Weisen aufhielten. Außer natürlich, Davox würde direkt zum Herzen des Waldes wollen. In beiden Fällen malte sich Hexe keine großen Überlebenschancen aus. Die Weisen waren ausgesprochen grausam und die Drix Tschatha waren zudem noch ihre uralten Erzfeinde, die sie in ihrer Welt für restlos ausgelöscht hielten. Von IHNEN ausgelöscht.
Wahrscheinlich würden die Weisen sie schon bald nach ihrer Entdeckung zu Tode foltern oder in den Milchigen See werfen. Womöglich beschützte Davox sie genau aus diesem Grund. Um sie ihnen als unversehrte Opfergabe und Willkommensgeschenk zu übergeben, sobald sie ihr Ziel erreicht hätten.
Immerhin sind Bianca und die anderen in Sicherheit vor diesem verfluchten Wald und seinen Dämonen, dachte Hexe, immerhin das habe ich erreicht.
Trotz ihrer depressiven Gedanken, die unter dem Licht der Nichtsonne und dem trostlosen Anblick der Knochenbäume immer dunkler wurden, schritt sie tapfer weiter über den mit Knochen bedeckten Boden, bis sie irgendwann merkte, dass es nicht mehr ging. Entkräftet und müde stolperte sie über einen hervorragenden Vogelknochen und fiel der Länge nach auf den nach Horn und Verfall stinkenden Boden. Eine Wolke von Knochenstaub wurde aufgewirbelt und sie fing an zu Husten, auch wenn sie beinah zu schwach dazu war.
Sofort erklang Davox’ eiskalte Stimme in ihrem Kopf. „Weiter. Wir müssen weiter. Ich werde nicht auf dich warten!“, mahnte er.
Trotz ihrer Entkräftung und obwohl einige der Knochen ihr leichte Schnitt an Beinen und Armen zugefügt hatten, schaffte es Hexe den Kopf zu heben und die skeletthafte Gestalt von Davox anzusehen. Entgegen seiner Worte war er nicht weitergelaufen. Noch nicht. Er stand vielmehr wie eine strenge, mitleidlose Statue über ihr und wirkte aus ihrer Perspektive geradezu riesig. Wie hab ich dieses Monster nur lieben können, fragte sie sich erneut. „Ich brauche eine Pause“, keuchte Hexe. „Und ich brauche Wasser und Essen“, fügte sie zitternd hinzu.
Davox starrte mit feurigen Augen auf sie herab. Und auch Arnold Wingert, dessen widerwärtiger Geruch sogar durch die abscheulichen Düfte des Knochenwalds drang, hatte sich ebenfalls zu ihr umgedreht. Er trug noch immer das Bandshirt, das Davox ihm einst geliehen hatte, das Motiv war aber vor lauter Dreck kaum mehr zu erkennen.
Arnold Wingert nahm sie aber nur am Rande wahr. Es war Davox, von dem ihr Schicksal abhing, so sehr sie das auch störte. Während sie ihn ansah, spürte sie, dass er unentschlossen war. Sie konnte fast sehen, wie es in seinem freiliegenden Gehirn arbeitete. „Wenn ich keine Ruhe und keine Nahrung bekomme, werde ich sterben. Falls du mich noch brauchen solltest, könnte dich das vielleicht interessieren“, sagte sie und versuchte dabei so nüchtern wie möglich zu klingen. Sie wollte ihm die Konsequenzen seines Handels klarmachen, nicht an sein weiches Herz appellieren.
Doch sie erreichte sogar mehr als sie erwartet hatte. In Davox Augen zeigte sich nun tatsächlich etwas wie … Reue? Mitleid? Nein, so weit würde sie nicht gehen. Aber zumindest Verständnis. „Wir rasten hier“, erklang seine düstere Stimme in ihrem Kopf, „und ich werde dir eine Schneidmade jagen.“
„Nein!“, protestierte Hexe. Allein der Gedanke an das, was mit Lucy und ihren Madenkindern geschehen war, bereitete ihr Übelkeit. Von der Vorstellung das Fleisch dieser ekelhaften Kreaturen zu essen ganz zu schweigen.
Davox Augen sprühten vor Zorn und er beugte sich bedrohlich zu ihr herunter. Sein blankgeschälter Schädelknochen war jetzt nicht mehr als ein paar Zentimeter von ihrem Gesicht entfernt. Seine Stimme presste sich wie eine mit Schwung geführte Klinge in ihren Verstand. Jedes seiner Worte wurde von Kopfschmerzen und Schwindel begleitet. „Was willst du sonst essen, undankbares Weib? Hier gibt es keine feinen Fünf-Sterne-Restaurants.“ Er ließ ein grauenhaftes Lachen erklingen.
„Glasbeeren“, schrie sie ,“gib mir Glasbeeren!“
Sie würde lieber süchtig nach diesen aus Menschenblut bestehenden Früchten werden und nie mehr andere Nahrung zu sich nehmen können, als zu einer seelenlosen Psychopathin zu werden. Wenn sie hier starb, dann wenigstens als der Mensch, der sie Zeit ihres Lebens gewesen war.
„In Ordnung“, sagte Davox amüsiert, „ich besorge dir deine Beeren. Der Gute Arnold wird so lange auf dich aufpassen.“
Mit diesen Worten setzte er sich in Bewegung und verschwand im Gewirr der Knochenbäume.
Erst als Davox in dem dämmrigen Zwielicht des Waldes nirgendwo mehr zu erblicken war, wurde Hexe wirklich bewusst, dass sie nun keinen Schutz mehr hatte. Abgesehen von Professor Wingert, der ihr gegenübersaß und sie gelegentlich debil angrinste oder ihr seine Knochenzunge wie den Lauf einer geladenen Waffe präsentierte, war sie ganz allein.
So gut es ihr auch tat nach diesem Gewaltmarsch endlich etwas Ruhe zu finden und ihre geschwollenen Füße auszustrecken, so sehr beunruhigte und verängstigte sie diese Situation auch. Mit jeder Sekunde, die verstrich, wurde der Wunsch, dass Davox bald zurückkehren würde, intensiver. Wingert war das eine Problem. Auch wenn sie davon ausging, dass sein seltsames Verhalten nur seine kranke Art von Humor war, konnte sie sich auch nicht sicher sein, dass er nicht doch den Wunsch verspürte, sie umzuwandeln. Vielleicht tobte in seinem Inneren auch gerade ein Kampf zwischen seiner finsteren Natur und dem letzten Rest an Menschlichkeit, den er sich bewahrt hatte. Wenn dem so war, würde er diese Menschlichkeit mit Sicherheit verlieren. Immerhin war dies der Knochenwald.
Neben Wingert, den sie so gut wie möglich im Auge behielt, gab es aber noch ein weitaus dringenderes Problem. Sie befand sich mitten auf dem bevorzugten Jagdgebiet der Schneidmaden. Und auch, wenn sie sie bislang im ewigen Dämmerlicht nicht erkennen konnte, machte ihr das große Sorgen.
Die Zeit verstrich. Noch immer war keine Spur von Davox zu sehen. Um nicht vor Angst den Verstand zu verlieren, begann Hexe die Sekunden zu zählen. Als sie bei 712 angekommen war, hörte sie ein Geräusch, welches klang, als ob die Knochen auf dem Boden von etwas niedergedrückt werden würden. Da Arnold Wingerts Kopf sich ebenfalls ruckartig in die Richtung drehte, aus der das Geräusch gekommen war, konnte sie sicher sein, es sich nicht eingebildet zu haben.
„Davox?“, rief sie vorsichtig, „Davox, bist du das?“
Aber die düstere Stimme des Weisen des Gebeins formulierte keine Antwort in ihrem Kopf. Stattdessen nahm sie eine rasche Bewegung von etwas Weißem war, dass im Begriff war sich auf sie zu stürzen. Trotz ihrer Erschöpfung schaffte es Hexe irgendwie dem Angriff der etwa fünfzig Zentimeter hohen und fast zwei Meter langen Schneidmade zu entgehen, die versucht hatte, sich ihr Bein zu schnappen. Arnold, der von einem ähnlich großen Exemplar angegriffen wurde, hatte weniger Glück. Das Ungetüm hatte mit seinen scharfen Zähnen direkt in seine Brust gebissen und begann nun das Gewebe des Knochenzombies aufzulösen. Wingert wehrte sich zwar mit aller Kraft, die sein untoter Leib hergab, aber trotz aller Anstrengungen schaffte er es nicht, die Made zu entfernen und für den Einsatz seiner Knochenzunge war der Winkel zu ungünstig.
Der Professor interessierte Hexe jedoch nur am Rande, denn sie hatte genug eigene Probleme. Die Schneidmade war zwar durch das Momentum ihrer Bewegung an ihr vorbeigetragen worden, hatte ihren massigen Körper aber bereits wieder gewendet und sich erneut auf sie gestürzt. Diesmal gelang es der erschöpften und künstlich gealterten Frau aber nicht, dem Angriff des übernatürlich schnellen Tieres zu entgehen. Sie schaffte es noch „Davox!“ zu rufen, als das Tier seine Zähne bereits in ihren Bauch gegraben hatte.
Der Schmerz der flachen, scharfe Zähne war ungeheuerlich und sie spürte augenblicklich, wie die aggressiven Verdauungssäfte damit begannen ihr Fleisch aufzulösen. Es würde nur eine Frage der Zeit sein, bis sich das Tier oder seine Magensäure bis zu ihren Organen vorgearbeitet haben würde. Das wäre dann das Ende. Sie könnte ihre Magie einsetzen und dabei aus ihrer eigenen Essenz schöpfen, aber sie hatte wenig Lust als Greisin die letzten erbärmlichen Stunden ihres Lebens an diesem Ort zu fristen. Einmal mehr versucht sie die Energie für ihren Zauber aus anderen Quellen zu ziehen. Doch weder die Knochen auf dem Boden, noch die Skelette in den Bäumen, die Maden oder auch Arnold Wingert (bei dem sie es ebenfalls versuchte) lieferten ihr die nötige Kraft. Auch ihre physischen Attacken gegen die Made brachten ihr wenig. Zwar entwickelte sie dabei in ihrer Todesangst erstaunliche Kräfte und es gelang ihr durchaus, das Geschöpf ein paar mal hart in den weichen, ekelhaften Bauch zu treffen, allerdings brachte ihr das nur zusätzliche Schmerzen ein. Denn der gierige Kopf ruckte zwar bei jedem ihrer Schläge wild in der von ihm geschaffenen Wunde hin und her, löste sich aber nicht. Zudem bemerkte sie mit Schrecken, dass die Verdauungssäfte, die aus dem Körper der Made traten, ihre Hände verätzten.
Sie war schon kurz davor aufzugeben und sich gedanklich von Bianca, ihren Eltern und allen anderen Menschen zu verabschieden, die sie je geliebt hatte, als sie plötzlich eine harte, erbarmungslose Präsenz in ihrem Kopf fühlte, die ihr beinah das Gehirn zu zerquetschen drohte. Jedoch geschah das nicht. Stattdessen hörte sie einen quiekenden, schrillen Schrei aus dem Maul der Made, die augenblicklich von ihr abließ, sich einige Meter in die Luft erhob und daraufhin wie eine überreife Frucht platzte. Die gefährlichen Körpersäfte des Tieres regneten in einem eng begrenzten Radius hinab, ohne weiteren Schaden anzurichten, wenn man von den sich auflösenden Knochenstücken auf dem Boden einmal absah.
Kurz darauf spürte Hexe ein grauenhaftes Ziehen in ihrem Bauch und sah einen Strom aus weißer Flüssigkeit aus ihrer Wunde entweichen.
Als der Schmerz etwas nachgelassen hatte, sah sie in die wütenden Augäpfel von Davox, der in seinen knöchernen Händen einen ganzen Haufen blauer Beeren trug. „Ihr seid so erbärmlich“, donnerte seine unbarmherzige Stimme in ihren Geist und sie wusste, dass er in dem Moment sowohl zu ihr als auch zu Arnold Wingert sprach.
„Ich frage mich ernsthaft, warum ich euch hilflose, nutzlose Geschöpfe überhaupt mit mir schleppe. Ich sollte euch auf der Stelle töten!“, sinnierte er.
Dann wandte er sich eindeutig Hexe zu, wobei er noch einige Schritte näherkam und seine bedrohliche Präsenz wie eine vergiftete Speerspitze vorausschickte.
„Aber wenn ich das täte, hätte ich diesen Mist hier umsonst gepflückt!“, dachte er verärgert.
Achtlos warf er Hexe die blauen Beeren vor die Füße, die trotz der groben Behandlung nicht platzten.
Dann setzte er sich zwischen ihr und Arnold auf dem Boden. Dabei bemerkte Hexe, dass am rechten Bein des Professors ein großes Stück fehlte, auch wenn er wahrscheinlich – anders als Hexe – keine nennenswerten Schmerzen verspürte.
Davox erhob erneut seine Gedankenstimme und wendete sich diesmal allein an Hexe. „Du hast nun noch sechs Stunden Zeit, zu essen und zu schlafen. Ich werde hier bleiben und darauf achten, dass weder du noch der unfähige Professor Madenfutter werden, ganz gleich wie sehr ihr das auch verdient hättet. Was deine Wunde betrifft, so habe ich das Madengift daraus entfernt. Sie kann jetzt heilen oder sich entzünden und dich töten. Das bestimmt allein das Schicksal. Wärst du nicht so unwürdig, würde ich dich zu einer Weisen des Gebeins machen, aber bei einem Weichling wie dir wäre das ein Sakrileg. Nun also iss und schlaf und denke nicht, dass du morgen auch nur eine Winzigkeit langsamer sein darfst als heute. Ich habe keine Lust, mich weiter von dir aufhalten zu lassen. Nun also iss und schlafe … Hexe.“
Dann wurde Davox still, sah auf den Boden vor sich und beachtete sie nicht weiter. Das letzte Wort jedoch – ihren Spitznamen – hatte er mit vollendetem Spott ausgesprochen (bzw. gedacht), so als würde sie dieser Bezeichnung in keiner Weise gerecht. Und gerade stimmte das ja leider auch.
Sie sah auf die Glasbeeren vor ihren Füßen hinab. Es waren blaue Beeren. Jene Früchte, in denen die Seele eines Menschen oder Tieres eingefahren war, nachdem der Glasstrauch alles Blut und alle Lebensenergie aus dem bedauernswerten Opfer gesaugt hatte. Wenn Hexe davon aß, wäre sie verflucht. Im Grunde wäre sie eine Mörderin, oder – schlimmer noch – eine Seelenmörderin. Allerdings hatte sie solche Hunger und solchen Durst und die Beeren rochen derart verführerisch, dass es ihr mit jeder Sekunde schwerer fiel, der Versuchung zu widerstehen. Sie blickte noch einmal verstohlen zu Davox und Arnold, die wie leblose Statuen im Halbdunkel hockten, dann hob sie die erste Beere auf und drückte sie vorsichtig zwischen ihren Fingern. Die Schale war sehr fest. Dennoch platzte sie durch den Druck ein wenig auf und der verführerische Duft wurde mit einem Mal so überwältigend, dass jeder Gedanke an die arme Seele, die sie da gerade in den Händen hielt, verflog. Gierig steckte sie sich die Frucht in den Mund und sammelte kurz darauf hektisch auch die anderen Beeren vom Boden auf, wobei es sie nicht einmal störte, dass Knochenstaub und sogar winzige Knochensplitter daran klebten. Alles was zählte, war der köstliche Geschmack, der sich würzig, kühl und erfrischend auf ihrer Zunge ausbreitete. Das Aroma erinnerte sie an einen ganz besonderen Tag in ihrer Kindheit. Sie war beim Toben ausgerutscht und hatte sich beide Knie aufgeschürft. Es hatte sehr weh getan, aber Hexes Mutter hatte ihre Wunden versorgt und ihr zum Trost den mit Zimt gewürzten Kakao gemacht, denn sie so sehr mochte. Die Beeren schmeckten nach diesem Kakao und sie rochen zugleich nach dem Shampoo ihrer Mutter.
Als sie alle Beeren aufgegessen hatte, trat an die Stelle von Hunger, Durst und Erschöpfung eine entspannte und angenehme Müdigkeit und während sie sich zwischen dem herrischen Weisen des Gebeins und dem unberechenbaren Dorgat Nasra im dunkelsten und feindseligsten Ort des Universums auf den staubigen, stinkenden Knochenboden legte, fühlte sie sich so sicher und geborgen wie noch nie in ihrem Leben.
Dann jedoch …
… begannen die Träume.