Moonwalker

„Guter Mond, du gehst so stille
Durch die Abendwolken hin
Deines Schöpfers weiser Wille
Hieß auf jene Bahn dich zieh’n
Leuchte freundlich jedem Müden
In das stille Kämmerlein
Und dein Schimmer gieße Frieden
Ins bedrängte Herz hinein!“

Der glucksende Gesang der Frau schallte mit naiver Inbrunst durch die Nacht. Beginnender Irrsinn tropfte wie grauer Honig aus jeder einzelnen Silbe, die aus ihrem spröden Mund kroch. Die in einen schmutzigen Mantel gehüllte, ungekämmte, vierzigjährige Dame wäre nicht die Erste, die in den letzten Wochen ihren Verstand verloren hatte. Immerhin war sie noch nicht so verrückt, ihren Blick zu heben. Wie bei uns allen richtete er sich halb nach vorne und halb auf den Boden, sorgsam jede Spiegelung meidend, die etwas anderes zeigte als das eigene, verängstigte Gesicht.

Wo sie wohl hinging? War sie auf dem Weg in ihr blickdichtes Zuhause, nach einem vergeblichen Versuch etwas Essbares in einem der überteuerten Supermärkte aufzutreiben oder war sie eine von den Unglücklichen, die kein Zuhause mehr hatten? Jene, die schon länger obdachlos gewesen waren oder die man in der Silberlichtnacht aus ihren Häusern geworfen hatte? Dass ihre Kleidung unter all dem Schmutz noch immer halbwegs intakt war und dass sie nicht allzu unterernährt aussah, sprach für letzteres.

In diesem Fall hatte sie wahrscheinlich kein wirkliches Ziel. Suchte stattdessen auf den glänzenden Pflastersteinen nach dem Glück, einem Wunder oder dem Tod.

Wie kaum anders zu erwarten, fand sie letzteren. Er kam in Form dreier Gestalten, die wie verstohlen abgefeuerte Pfeile aus engen Seitengassen hervorschossen. Dunkle Schemen in dunkelblauer Kleidung, auf deren Brust ein grinsender Sichelmond mit scharfen Zähnen und großen Augen prangte. Im kalten Mondlicht erkannte ich, dass sie allesamt pechschwarze, blickdichte Brillen trugen. Das war nicht selbstverständlich. Viele der „Moonwalker“ hatten sich entweder die Augen ausgestochen (was schmerzhaft war) oder verließen sich bei ihrer schmutzigen Arbeit auf ihre geschlossenen Lider (was gefährlich war). Die „Blinder“ genannten Brillen hingegen waren teuer und schwer aufzutreiben. Es musste sich also um echte Fanatiker handeln und nicht um eine der vielen gewaltgeilen Gangs, die unter diesem Banner durch die Straßen marodierten.

Das war schlecht. Es würde mein eigenes Vorhaben erschweren. Umso schneller würde ich handeln müssen, wenn ich nicht selbst in Schwierigkeiten geraten wollte. Noch während die zwei schlanken Frauen und der muskulöse, glattrasierte Mann auf die Obdachlose zurasten, kletterte ich so leise wie möglich von meiner erhöhten Position in die Gasse hinab und drückte mich an die Wand, bemüht meinen Atem flach zu halten. Sehen konnten sie mich mit ihren Brillen nicht. Aber hören. Ich konnte nur hoffen, dass ihr erwähltes Opfer sie genügend ablenken würde. Da ich mich notgedrungen langsam und leise fortbewegen musste, gönnte ich mir den zweifelhaften Luxus, die Mondjagd zu beobachten.

So gut abgestimmt wie die Finger einer Hand packten die beiden Frauen den Körper der Obdachlosen, während der Mann ihr den Weg abschnitt. Geschockt und überrumpelt unterbrach sie ihren Gesang und wechselte in ein so prosaisches wie panisches „Hilfe!“, auf das niemand reagieren würde. Es war nicht so, dass es keine guten Menschen mehr gab. Aber die hockten zu dieser Zeit in ihren Häusern und beschützten ihre Liebsten oder ihr nacktes, eigenes Leben, während sie bibbernd die Sekunden bis zum Sonnenaufgang zählten. Und wenn sie doch des Nachts auf den Straßen unterwegs sein mussten, waren sie ängstliche, feige Geister mit einer Mission, so wie ich. Nein, Hilfe hatte diese arme Frau nicht zu erwarten.

Das erkannte schließlich auch sie und versuchte sich stattdessen selbst zu helfen, indem sie dem Mann mit Wucht zwischen die Beine trat. Leider hatte dieser mit so einer Aktion gerechnet und war flink zurückgewichen. Kaum hatte sie ihr Bein ganz ausgestreckt, trat er mit seinen schweren Stiefeln gegen ihre Kniescheibe und ein spitzer Schrei entwich ihrer Kehle, während die beiden Frauen ihren Rücken auf die feuchte, dreckige Straße drückten und der Man seine Knie auf ihrem verletzten und ihrem, gesunden Bein niederließ.

„Sieh hinauf, Mondkalb!“, verlangte eine der Fanatikerinnen mit vor Lust zitternder Stimme, während sie nun auch den Kopf der Frau niederdrückte und versuchte, ihre fest geschlossenen Lider auseinanderzuziehen, „Sieh hinauf und betrete die Silberbrücke des Ernährers. Sei fruchtbar und fliege deinen letzten Flug!“

Doch die Frau, deren Gesicht mittlerweile gegen ihren Willen direkt auf den Mond gerichtet war, presste ihre Lider fest zusammen, legte ihren ganzen, verbliebenen Widerstandsgeist in diese winzigen Muskeln. Drückte so fest, dass sie zitterten.

„So lass mich dir helfen, Mondkalb!“, sagte die andere Kultistin, zückte ein Skalpell und setzte es behutsam an das linke Lid der Frau.

Ich erschauderte innerlich als ich dies sah und schämte mich wirklich, der armen Frau nicht helfen zu können, aber ich beruhigte mein ramponiertes Gewissen damit, dass ich im Begriff war, zu etwas beizutragen, dass vielen anderen helfen und diesem unseligem Kult die Lebensgrundlage entziehen würde.

Die Obdachlose spürte wohl den kalten Stahl an ihrer Haut, denn sie begann sich aufzubäumen. Nicht, um sich zu befreien, wie ich vermutete, sondern um einen Unfall zu provozieren. Lieber blind sein oder tot als diesem Schicksal ins Auge sehen. Doch die Kultistinnen verstanden ihr Handwerk. Sie hielten ihren Kopf in Position, während sie erst das eine und dann das andere Augenlid sorgsam entfernten, ohne den empfindlichen Augapfel zu verletzten. Die Pupillen der hilflosen Frau waren nun entblößt und jenem Anblick ausgeliefert, den ich nur noch aus meiner Erinnerung und von den Fotos und Videoaufnahmen kannte, die die einzigen sicheren Wege waren, den Blick des Mondes zu erwidern.

Die Frau jedoch schaute kein solches, digitales Abbild und so wurde sie emporgerissen aus den Fingern, die sie nun so sanft aus ihrem Griff entließen, wie sie sie vorher unbarmherzig festgehalten hatten. „Ad Lunarem“, rief der männliche Kultist. Dann erklang ein lautes, saugendes Geräusch und die Frau entschwand aus meinem halb nach unten gerichteten Blick, im Begriff, ihre kurze und endgültige Reise anzutreten und ein Teil von all jenen zu werden, die dort oben, am Firmament langsam und qualvoll verdaut wurden.

~o~

Der alte Mond hätte so etwas natürlich nie gekonnt oder gewollt. Er war gnädig zu uns gewesen. Ein Freund und Beschützer, der allen Sagen zum Trotz weder Werwölfe noch andere Monster gebar. Ganz im Gegensatz zu seinem Nachfolger. Doch jene Göttin aus Stein, die unserem Planeten für Jahrtausende eine treue Gefährtin gewesen war, existierte nicht mehr. Ein regelrechtes Bombardement von Objekten aus den Tiefen des Asteroidengürtels hatte unsere einstige Beschützerin zertrümmert. Große Brocken aus ihrem uralten, steinernen Fleisch waren in die Tiefen des Alls geschleudert worden und hatten all das mitgenommen, was sie von den besseren Zeiten der Menschheit gesehen hatte. Immerhin war der Aufprallwinkel günstig gewesen. Nur ein winziger Teil des Mondes war auf unseren Planeten hinabgestürzt. Das meiste war in der Atmosphäre verglüht und nur etwa dreizehn Millionen Menschen hatten ihr Leben durch die größeren Splitter verloren. Ich sage „nur“, weil das ein schlechter Witz war, gegen die Schrecken, die auf die plötzliche Leere an unserem Nachthimmel folgten.

Das Erste, was wir bemerkten, war die Flutwelle. Gewaltiger als jeder bekannte Tsunami überspülte sie viele Küstenstriche bis weit ins Landesinnere. Jeder, der das überlebte, wurde mit kurzen Tagen konfrontiert, die nur noch acht anstelle von vierundzwanzig Stunden dauerten. Sie verwirrten unsere Gehirne, zermürbten unseren Verstand, zertrümmerten unseren Biorhythmus genauso wie den der Tiere, die in den finsteren, mondlosen Nächten kaum noch Nahrung fanden und den der Pflanzen, deren Erträge unter den veränderten Lichtverhältnissen stark litten.

Stürme, mit einer Gewalt von bis zu fünfhundert Stundenkilometern, verwüsteten vieles, was Wasser und Hunger noch übrig gelassen hatten und trieben die Opferzahlen weiter in die Höhe. Die Überlebenden musste sich anpassen und einem erbärmlichen Leben in einer von Extremen heimgesuchten, unwirtlichen Erde entgegensehen.

Oder sie hätten es zumindest gemusst, wenn es das Buch nicht gegeben hätte. „Spiratio lunae“ – „Der atmende Mond“, lautete der Name dieses Werkes und niemand weiß genau, wo es herkam oder wer es geschrieben hatte. Der sinistre, arrogante Okkultist, Frederic Huangard, der es der „Weltöffentlichkeit“ in einem Boulevard-Programm präsentiert hatte, war jedenfalls nicht der Autor gewesen und allen außer ihm selbst schien vollkommen klar zu sein, dass er lediglich als amüsante Kuriosität in die abendliche Talkshow geladen worden war.

Als Ablenkung von den Grausamkeiten einer neuen Welt, deren fragile Ordnung sich noch schneller zersetzte als vor der Katastrophe, nun, da sich Armut, Hunger und Ungleichheit noch weiter beschleunigten.

Ja, jeder hatte es als geschmacklose und unfreiwillige, aber unterhaltsame Comedy-Darbietung begriffen, als Huangard aus dem reich illustrierten, in altertümlichem Latein verfassten Buch, vorgelassen hatte, um – wie er behauptete – einen neuen Trabanten für die Erde zu erschaffen. Solange jedenfalls, bis alle die kleine, silbrig-grüne, organisch pulsierende Kugel am Himmel bemerkt hatten, die dort wie aus dem Nichts erschienen war. Sie besaß nur ein zwanzigstel der Größe des alten Mondes, aber sie war unbestreitbar existent.

Schlagartig rutschte dem überheblichen Moderator sein ironisches Grinsen aus dem Gesicht und verwandelte sich in kindliches Staunen. Dieses Staunen wiederum wandelte sich in einen angewiderten Ausdruck, als Huangard, dem dank Mund-zu-Mund-Propaganda inzwischen fast neunzig Prozent der Weltbevölkerung über Fernseher oder Livestream bei seinem Auftritt zusahen, erklärte, wie aus diesem Mondsamen ein vollwertiger Himmelskörper werden könnte.

Dafür, so eröffnete der Okkultist, der mit einem Schlag zum berühmtesten Menschen unserer Zeit geworden war, wurden die Leichen von Tieren und Menschen benötigt. Um dies zu demonstrieren, holte der Mann eine lebendige Ratte aus seinem Rucksack und stieß ihr vor den laufenden Kameras seinen Opferdolch ins Herz. Kaum da das Tier zuckend verendet war, sprach er die Worte „Ad Lunarem“ und vor den Augen der staunenden Menschen wurde das Tier aus dem Studio emporgehoben und direkt durch die geschlossene Decke in den Himmel gesaugt.

Einen Monat später zählte die Kirche des vermeintlichen Scharlatans zweihundertneunundachtzig Millionen Mitglieder und noch mehr Sympathisanten, die fleißig Leichenhallen und Friedhöfe plünderten und unzählige Wild- und Haustiere töteten, um dem „atmenden Mond“ neue Nahrung zu geben. Anfangs gab es Widerstand und Empörung gegen diese Praxis, aber mit der Zeit wandelte sich die Stimmung und es dauerte nicht mehr lange, bis man den Kultisten freiwillig gab, was sie begehrten. Schon bald wurde jede Beerdigung von einem solchen Priester geleitet und die Trauernden mussten zusehen, wie ihre geliebten Angehörigen sich aus ihren Gräbern erhoben und ein Teil des „atmenden Mondes“ wurden.

Das mag fast poetisch klingen. Aber das war es ganz und gar nicht. Es war kein romantischer Elfenzauber, bei dem die Verstorbenen als hübsches, kitschiges Glitzerlicht in den Schoß von Mutter Luna eingingen. Der Aufstieg der Leichen geschah so profan, als hätte sie ein Industriestaubsauger angesaugt und das narbige, pulsierende, grau-grünlich-schmierige Ding am Himmel hatte tatsächlich einen großen Mund, mit dem es Knochen und Fleisch zermalmte und die unliebsamen Reste als feine Asche in schmutzigen Niederschlägen auf die Erde hinabregnen ließ. Dabei fraß es so laut, dass man seine Kaugeräusche trotz der gewaltigen Entfernung jede Nacht tausendfach vernehmen konnte. Und die Menschen, die ihm von unten ängstlich zusahen und den Blick seiner hellen, weißen, Leichenlichtaugen auf sich ruhen fühlten, nannten ihn fortan auch den „Schmatzenden Mond“.

Doch auch wenn von diesem Moment an, durch die Ströme von emporfliegenden Leichen, endgültig jegliche friedliche Mondscheinromantik passé war, brachte der neue Moment nicht nur Schlechtes mit sich. Als „Spiratio lunae“ seine finale Größe erreicht hatte, stabilisierte sich die Umlaufbahn der Erde, die Gezeiten beruhigten sich und die Tage kehrten zu ihrer gewohnten Dauer zurück. Auch spendete er ein zwar hässliches silbergrünes, aber doch ausreichend helles Licht, bei dem nicht klar war, ob es reflektiertes Sonnenlicht oder ein chemisches Verdauungsprodukt seiner unappetitlichen Diät war.

Bei Tag wurde der neue Mond wie der alte vom immer noch reinen Licht der Sonne überstrahlt, auch wenn viele auch dann noch meinten, seine gehässige Fratze als blassen Umriss am wolkenlosen Himmel prangen zu sehen.

Es wäre übertrieben zu behaupten, dass wir mit dieser neuen Situation glücklich waren, aber die Meisten konnten sich besser damit arrangieren als mit dem Chaos davor und – so dachten zumindest viele – machte es wirklich einen Unterschied, ob die Toten in der Erde verrotteten oder dem Mond als Opfer dargebracht wurden?

Jedenfalls wuchs die Dankbarkeit gegenüber Frederic Huangard, der das wohl offensichtlichste Wunder vollbracht hatte, das die Menschheit je erlebte. Die bestehenden Kirchen und Glaubensgemeinschaften verurteilten sein Wirken als Teufelswerk, aber sie verloren immer schneller an Mitgliedern. Was hatten sie schon dafür getan, diese Krise der Menschheit zu beheben? Weder Jesus, Buddha, Jehova, Allah, Zeus noch sonst einer dieser Fantasiegestalten hatte die Macht besessen, uns einen verfickten Mond an den Himmel zu zaubern. Gut möglich, dass Huangard ein Priester des Teufels war, aber wenn der etwas tat, wo seine Gegenspieler nur Däumchen drehten, dann war er vielleicht doch so kein übler Dude, oder?

Auch ich dachte – bei aller Furcht und Skepsis – lange so. Zumindest so lange, bis sich herausstellte, dass sich der Fresser am Himmel nicht länger mit Aas zufriedengab und bald die fernen, schwächlichen Schreie jener die Nacht erfüllten, die ihren Flug durch das kalte Vakuum des Alls durch irgendeine finstere Macht überlebten, nur um dann ihre Todesqualen bei vollem Bewusstsein erleben zu dürfen.

Auch die Moonwalker richteten ihre verdunkelten Blicke nach oben, als würden sie dem Flug der Frau durch ihre pechschwarzen Brillengläser folgen können. Dabei sprachen sie leise, unverständliche Verse, während ich darin meine letzte Chance erkannte, mich ungesehen zu entfernen. Leider hatte mich das Geschehen vor meinen Augen so sehr abgelenkt, dass ich nur einen Bruchteil des Weges hinter mich gebracht hatte. Mit klopfendem Herzen wagte ich meine Schritte noch ein wenig zu beschleunigen, bis ich endlich die Seitengasse erreichte. Noch bevor ich mich leise und vorsichtig umdrehen konnte, hörte ich die Worte der Moonwalker verstummen und spürte im selben Moment, wie kräftige Hände nach mir griffen. Beinah hätte ich geschrien und wäre dann wohl das nächste Opfer für den atmenden Mond geworden, doch dann erkannte ich die etwas faltige, raue Hand, die sich auf meinen Mund legte, wieder und entspannte mich.

Lautlos drehte ich mich um und sah in das so freundliche wie traurige Gesicht von Dr. Jeffrey Lambert. Auch er trug Blinders, was seiner fast schon Phobie zu nennenden Panik vor dem atmenden Mond geschuldet war, die offenbar so extrem war, dass er die temporäre Blindheit dafür in Kauf nahm. Außerdem trug er einen schwarzen Rollkragenpullover, eine graue Jeans und schütteres blondes Haar. Wir kannten uns schon eine ganze Weile und so wunderte ich mich nicht, dass er so zuvorkommend gewesen war, den geheimen Zugang zu unserem Forschungslabor für mich zu öffnen, auch wenn ich es stets aufs Neue faszinierend fand, wie sicher er ohne die Nutzung seiner an sich noch intakten Augen agierte. Er machte eine auffordernde Geste und ich zögerte nicht länger und kletterte durch die hochgeklappte Bodenplatte in den Schacht hinab. Dr. Lambert folgte mir und schloss den Zugang über uns, noch ehe die Moonwalker auf die Idee kommen konnten, uns zu folgen.

„Sie haben mich zu Tode erschreckt!“, beschwerte ich mich bei ihm, während wir die Metall-Leiter hinabkletterten.

„Das tut mir leid“, erwiderte seine sonore Stimme, „aber alleine hätten Sie es nicht bis zum Eingang geschafft, bevor die Moonwalker Sie bemerkt hätten. Und wenn Sie mich in der Gasse erblickt hätten, wäre das Risiko zu groß gewesen, dass Sie irgendeinen überraschten Laut von sich geben.“

„Ich bin nicht dumm!“, beschwerte ich mich.

„Nein, ganz im Gegenteil“, antwortete Dr. Lambert, „Sie sind zu intelligent, um Ihr Leben zu gefährden. Nur leider schützt Intelligenz nicht vor Angst. Schon gar nicht in einer Welt wie dieser.“

Ich verkniff mir eine weitere Reaktion, weil ich wusste, dass solche Diskussionen zu nichts führen würden. Außerdem war das hier zu wichtig für Zank und Eitelkeiten. Lieber ich schluckte meinen Stolz herunter als dass dieses Monster dort oben uns alle schluckte.

„Haben Sie die Konstruktionsdrohnen verstaut und geprüft?“, fragte ich Dr. Lambert stattdessen.

„Ja, habe ich. Alles, was jetzt noch fehlt, ist Ihre Software. Sie haben sie doch hoffentlich dabei?“, erkundigte sich Dr. Lambert.

„Natürlich“, versicherte ich und klopfte bestätigend auf meine Hosentasche mit dem USB-Stick. Ich hatte viele Wochen an diesem Programm geschrieben und dabei stets mit der Angst gekämpft, dass meine Wohnung von Moonwalkern aufgebrochen und gestürmt werden könnte. Doch glücklicherweise war das nie geschehen. Ich hoffte nur, dass mir in meiner Nervosität kein Fehler unterlaufen war.

„Wunderbar“, seufzte Dr. Lambert erleichtert, „dann schreiben wir heute Geschichte!“

„Nein“, korrigierte ich ihn, „wir schreiben keine Geschichte. Wir löschen diese letzten Höllenjahre aus dem Geschichtsbuch!“

~o~

In unserem unterirdischen Labor herrschte reges Treiben. Neben fünf weiteren Wissenschaftlern gehörten zu unserem Team zwei weitere Programmierer, zwanzig Ingenieure und etwa achtzig Freiwillige, die sich um einfachere, aber nicht weniger wichtige Hilfsarbeiten kümmerten. Sicherheitsleute hatten wir nicht. Jeder von uns war bewaffnet.

Die meisten von uns lebten dauerhaft in dem unterirdischen Komplex, der bereits kurz nach der Zerstörung des alten Mondes eingerichtet worden war, mit dem Ziel eine Lösung für den mondlosen Himmel zu finden, die nicht in schwarzer Magie bestand.

Nur ich und eine Handvoll andere, begaben sich gelegentlich an die Oberfläche, um für teures Geld etwas von den knappen Vorräten zu beschaffen, die man noch erwerben konnte. Die meisten Supermärkte und Drogerien waren unter der Kontrolle der Moonwalker oder des „Atmenden Ordens“, wie sich Huangards Kirche selbst nannte. Sie gaben dort nur jenen Rabatt, die Tote oder besser noch lebendige Opfer für den noch immer hungrigen, atmenden Mond anzubieten hatten. Alle anderen zahlten im wahrsten Sinne des Wortes Mondpreise, die wir wegen unserer Rücklagen zum Glück begleichen konnten.

Die Notwendigkeit der Nahrungsmittelbeschaffung war bei mir jedoch nicht der Hauptgrund gewesen, aus dem ich mich freiwillig an die Oberfläche begeben hatte. In Wahrheit konnte ich es in diesem unterirdischen Bunker nicht lange aushalten, bevor ich drohte, den Verstand zu verlieren. Ich litt an Troglophobie, einer krankhaften Angst vor unterirdischen Räumen und Höhlen, und meine ersten Versuche, die Software für die Konstruktionsdrohnen hier unten zu schreiben, waren in einem Desaster geendet.

Deshalb hatte ich mich notgedrungen für diese Lösung entschieden, auch wenn niemand sonderlich begeistert davon gewesen war, die Chefprogrammiererin unseres Vorhabens einem solchen Risiko auszusetzen. Doch letztlich war es gutgegangen und die beiden Raketen, die für zwei der drei Phasen unseres Plans notwendig waren, standen nach drei Jahren harter Arbeit endlich bereit.

Die eine Rakete mit dem Namen „Lunar Eclipse“ war verhältnismäßig klein. Sie enthielt eine schlagkräftige Mischung aus verschiedenen atomaren und nicht-atomaren Sprengköpfen. Die zweite, mit dem Namen „New Moon“ war größer und besaß einen wuchtigen, silbern lackierten Kopf, in dessen Inneren sich achttausend automatische Konstruktionsdrohnen befanden. Drohnen, die – wenn ich meine Arbeit gut gemacht hatte – Bruchstücke aus der Umlaufbahn und dem Asteroidengürtel sammeln und mit dem ebenfalls in der Rakete gelagerten Molekularkleber verbinden würden, um binnen weniger Tage einen neuen Mond zu konstruieren. Lunar Eclipse hingegen, würde zuvor den von Huangard geschaffenen, unheiligen Bastard von einem Trabanten pulverisieren und den verfluchten Moonwalkern hoffentlich seinen Staub in die Fresse blasen. Trotz der Beklemmungen, die ich hier unten empfand, verspürte ich auch Stolz und Vorfreude, angesichts unserer gemeinsamen Leistung.

Dieses kurze Hochgefühl bekam jedoch einen ordentlichen Dämpfer, als mein Blick auf Wayne Newton fiel. Der hagere, etwa enddreißigjährige Mann mit den nachtblau gefärbten, silbrig gesträhnten, langen Haaren war kein gewöhnliches Teammitglied. Obwohl er nicht die Tracht des Kultes oder die der freischaffenden Moonwalker trug, sondern lediglich eine schwarze Jeans und ein weißes, an der Brust offenes Hemd, war der Kult tief in sein Gesicht eingegraben.

Dies betraf jedoch nicht nur das Mondbrandzeichen an seiner Stirn, sondern vor allem seine Augen. Newton war bis vor einigen Monaten ein hohes Mitglied von Huangards Orden gewesen und deshalb grinste einen jeden Beobachter das hungrige, lächelnde Mondgesicht von „Spiratio lunae“ aus seinen Augen an. Und das nicht nur metaphorisch. Das Abbild des Mondes, war buchstäblich in seinen Augäpfeln zu sehen.

Während die meisten Mitglieder der Kirche genauso wie die normale Bevölkerung sorgsam darauf achteten, „Spiratio lunae“ nicht anzublicken, weil der schmatzende Mond keinen Unterschied zwischen seinen Anhängern und Gegnern machte, gab es immer genau achtundzwanzig Kultisten, die ihn gefahrlos ansehen konnten und die dabei lediglich mit seinem Mal gezeichnet wurden.

Manche behaupteten, dass der Mond dadurch ihre Hingabe belohnte, andere, dass er zwar nicht ihren Körper gefressen hatte, dafür aber ihre Seelen. Ich persönlich hatte mir nie viel Gedanken über Konzepte wie die Seele gemacht und derlei Dinge doch eher als metaphysischen Unsinn abgetan. Das hatte aber sicher auch für menschenfressende Leichenmonde gegolten.

Fakt war jedenfalls, dass „Spiratio lunae“ einen aus Newtons Augen heraus anstarrte und niemand wusste, ob das lediglich ein Erkennungszeichen oder eine leibhaftige Projektion des atmenden Mondes war.

Newton selbst hatte mehrfach beteuert, dass er sich endgültig von dem Kult losgesagt und damit den Zorn des Mondes und seiner ehemaligen Glaubensbrüder auf sich gezogen hatte. Ich persönlich hatte ihm diesen Sinneswandel nie wirklich abgekauft, aber leider brauchten wir ihn. Er war der einzige, der die Magie beherrschte, um das am Himmel thronende Ungeheuer so weit zu schwächen, dass „Lunar Eclipse“ seine Wirkung tun konnte. Zumindest behauptete Newton das. Der Beweis stand noch aus.

Immerhin besaß er tatsächlich ein okkultes Buch, das dem von Huangard nicht unähnlich war und er hatte uns zumindest bewiesen, dass er Objekte schweben lassen, Wasser ohne Berührung bewegen und Licht verdunkeln oder auch heller machen konnte. Das hatte mich zwar von seinen Kräften überzeugt, aber mich auch noch stärker an seinen Motiven zweifeln lassen. Warum sollte ihm der Mond diese Kraft immer noch gewähren, wenn er sich tatsächlich von ihm abgewandt hatte?

Doch selbst, wenn ich Newton mehr vertraut hätte: als logisch denkender Mensch hasste ich es aus Prinzip, dass derartige okkulte Kräfte in diese Mission involviert waren. Jedoch musste ich mir auch eingestehen, dass wir hier kein natürliches Phänomen bekämpften.

„Hallo, Misses Kolding“, sagte Newton mit einem breiten britischen Akzent, „haben Sie der Maschine erfolgreich Ihren Willen eingeflüstert?“. Er saß auf einer Bank, ein altes Buch auf dem Schoß und blickte sie mit seinen grinsenden Mondaugen an, während sein eigener Mund keine Regung zeigte.

„Ich habe das Programm fertiggestellt, ja“, bestätigte ich nüchtern, unwillig auf seine schwülstige Metaphorik einzugehen. Ich hatte grundsätzlich nichts gegen solche Sprachbilder, aber aus seinem Mund wirkten sie so attraktiv wie ein klebriges, feuchtes Bonbon, das man in seiner Winterjacke entdeckte.

„Sind Sie auch vorbereitet?“, beeilte ich mich zu fragen, bevor Newton noch auf die Idee kommen konnte, mich weiter zu löchern.

„Das bin ich“, versicherte der Okkultist, diesmal doch behutsam lächelnd, was mir nicht entging, da ich seinem Blick auswich und so fast zwangsläufig auf seinen Mund sah, „es war ein Glücksfall, dass ich vor meinem Ausscheiden ein Exemplar des „Exustio rerum“ entwenden und es schließlich auch entziffern konnte. Dem guten Huangard wird das nicht gefallen haben, aber sie – und das gesamte Erdenrund – können bald frohlocken.“

Du selbst nennst dich dabei aber nicht, was?, dachte ich skeptisch, während ich mich der unangenehmen Aufgabe widmete, mir eine Erwiderung auf diesen schmierigen Pathos zu überlegen.

„Hey, Nina, was ist nun mit dem Stick?“, unterbrach Mira Henning unser Gespräch. Die äußerst sympathische, junge Ingenieurin mit den kurzen, roten Haaren hatte ihre Hand ausgestreckt und kam mir in dem Moment fast wie ein Engel vor, der mich aus der Hölle des Dialogs mit Newton erretten konnte.

„Natürlich, hier“, sagte ich zu ihr und reichte ihr den unscheinbaren Datenträger.

Sie nickte dankbar und kletterte dann auf die Leiter und zur Spitze der „New Moon“, wo sie die Kontrolltafel an der Spitze freilegte und den Stick in den dafür vorgesehenen Port einstöpselte. Der Rest würde automatisch ablaufen.

„Fertig“, sagte Mira während sie die letzten Sprossen der Leiter mit einem Sprung auf den Boden überwand,“wir können jetzt starten.“

„Noch nicht!“, widersprach Dr. Lambert ernst, „erst muss Mister Newton seine Kunst vollbringen. Sind Sie soweit, Magister!“

„Selbstverständlich“, sagte der Mystiker, dem bei der Geburt ironischerweise der Name eines berühmten Wissenschaftlers Zuteilgeworden war, legte sein Buch ab und erhob sich.

„Meine werten Damen und Herren“, nutzte Newton die ungeteilte Aufmerksamkeit, die auf ihm ruhte, für eine kleine Ansprache, während seine Zuhörer seinem Mondblick zuverlässig auswichen, „sie alle haben die letzten Jahre viel Unbill ertragen und erleiden müssen und an nicht wenig davon, trage auch ich eine Mitschuld. Diese möchte ich jetzt restlos tilgen, heute in dieser bedeutenden, magischen Nacht. Vergessen wir die Mühen und die Angst der Vergangenheit und heißen wir eine neue Zeit willkommen!“

Das überhebliche und zugleich zynische Lächeln, mit dem er diese Worte vortrug, gefiel mir ganz und gar nicht. Genauso wenig wie diese unfassbare Arroganz, mit der er einfach annahm, dass er seine Verantwortung für all die Millionen von ermordeten und gefolterten Menschen so einfach wegwischen könnte. Vor allem jedoch fragte ich mich, ob er es überhaupt wollte oder ob er seinem alten Herren in Wahrheit noch immer treu war.

Wenn dem so war, so schwor ich mir, würde ich diesen Wichser zur Verantwortung ziehen und dafür sorgen, dass „Lunar Eclipse“ trotzdem abgefeuert werden würde, selbst wenn die Rakete nur dazu taugen würde, dem Monster am Himmel einen kleinen Arschtritt zu verpassen.

Während Newton zu einem unverständlichen Singsang anhob, der nur entfernt an gewöhnliches Latein erinnerte, schaltete sich ein großer, an der Wand befestigte, Monitor an, der ein erschreckend hochaufgelöstes Bild vom atmenden Mond zeigte, mit all seinen fauligen, grauen, pulsierenden Muskelsträngen und seinem hungrigen Maul, in dessen Tiefen sich die Leiber unzähliger Individuen langsam auflösten. Auch wenn ich wusste, dass mir ein bloßes Kamerabild nichts anhaben konnte, hielt ich mich unwillkürlich an einer Tischplatte fest, aus der puren Angst heraus, einfach durch die Decke nach oben gesaugt zu werden, wissend, dass mir das nicht viel helfen würde. Ein kurzer Blick in die Runde verriet mir, dass es nicht nur mir allein so erging. Zu meiner großen Erleichterung passierte aber nichts. Oder besser gesagt: Es passierte nichts mit UNS.

Auf dem Monitor jedoch passierte eine Menge. Das Gesicht des atmenden Mondes verzerrte sich, verlor seinen grausam-fröhlichen Ausdruck und ging über in eine Art hilflosen Zorn. Das war aber noch nicht alles. Zuerst hielt ich es für bloße Einbildung, aber je mehr Sekunden verstrichen, desto deutlicher stellte sich heraus, dass der grausige Mond langsam an Substanz verlor. Gleichzeitig stieg ein gelblicher Dunst von seiner Oberfläche auf, fast so als würde er langsam gekocht.

Offenbar hatte Newton doch Wort gehalten. Und dass er dieses Wort nicht leichtfertig gegeben hatte, wurde mir endgültig bewusst, als sich ein schmerzerfülltes Zittern in Newtons Singsang mischte. Neugierig geworden wandte ich meinen Blick kurz vom dem Bildschirm ab und richtete ihn auf den Okkultisten. Dieser trug seine Beschwörungsformeln nicht länger aufrecht und stolz, sondern mit nach innen gekrümmten Rücken und zur Decke gerichtetem Blick vor, während derselbe gelbliche Dunst, der dem schwindenden Leib des Mondes entstieg, von seinem Körper und insbesondere von seinen Augen aufstieg.

Sofort eilte unser Erste-Hilfe-Team zu ihm, doch Newton hielt sie mit einer herrischen Geste auf Abstand, obwohl seine Haut langsam rot wurde und an einigen Stellen aufzuplatzen begann.

Dennoch trug er seinen Singsang tapfer weiter vor und, wie der Monitor zeigte, durchaus mit Erfolg. Der anfangs langsame Prozess beschleunigte sich mehr und mehr und es dauerte nur wenige Minuten, bis vom atmenden Mond nur noch jene kleine, verfluchte Kugel übriggeblieben war, die Huangard vor drei Jahren in den Himmel gepflanzt hatte.

Zu diesem Zeitpunkt war Newton kaum noch am Leben. Seine einstmals stolze Gestalt war verwandelt in ein verkohltes, vor Schmerzen wimmerndes Geschöpf, dessen rasselnder Atmen mir durch Mark und Bein ging. Es war fast als wäre seine Lebenskraft an die seines ehemaligen Herren gekoppelt gewesen. Trotz aller Antipathie fühlte ich nun tiefes Mitleid mit dem geläuterten Kultisten, der sich hiermit sicherlich einen rühmlicheren Platz in den Geschichtsbüchern gesichert hatte als seine Schwestern und Brüder. Ich bezweifelte nicht, dass die anderen Anwesenden sein Schicksal ebenfalls bedauerten, jedoch überwog eindeutig die Freude über diesen ersten Erfolg, der man lautstark und mit wildem Jubel Ausdruck verlieh. Und das war mehr als verständlich: das Ungeheuer, das uns alle über Jahre versklavt hatte, war so gut wie erledigt.

Der gelbliche Nebel hatte sich zwar wie eine Glocke um den Planeten gelegt, aber es wäre nur eine Frage der Zeit, bis er sich zerstreuen und in die Weiten des Alls entweichen würde.

„Starten wir Phase 2!“, sagte ich, auch wenn das eigentlich Dr. Lamberts Befugnis gewesen wäre, „geben wir diesem Bastard den Rest!“

Erneut brandete Jubel auf, während alle gebannt darauf warteten, dass der Countdown für „Lunar Eclipse“ begann.

Doch es geschah nicht. „Was ist da los, warum startet sie nicht?“, fragte ich Mira.

Aber die junge Frau starrte nur verständnislos auf ihren Computerbildschirm und schüttelte den Kopf.

„Keine Ahnung!“, sagte sie, „ich habe den Prozess initialisiert, aber es passiert einfach nichts. Es gibt nicht einmal eine Fehler ….“

Ihre Worte wurden übertönt von zündenden Triebwerken. Erst überkam mich Erleichterung, die sich sofort in Grauen verwandelte, als ich begriff, dass es nicht die „Lunar Eclipse“ war, die sich in die Lüfte erhob, sondern die „New Moon“.

„NEIN!“, schrie ich, „Es ist zu früh! Wenn wir jetzt mit der Konstruktion beginnen, können wir den Tyrannen nicht mehr zerstören, ohne auch den neuen Mond zu gefährden. Stoppen Sie das, verdammt! Sofort!“

„Das versuch’ ich ja bereits!“, erwiderte Mira, die wie der Rest des Teams hektisch an ihrem Rechner arbeitete.

„Sie können es nicht stoppen“, meldete Dr. Lambert sich plötzlich in einem leisen, aber durchdringenden Tonfall, „und das müssen sie auch nicht.“

„Was meinen Sie damit?“, fragte ich ihn irritiert.

Zunächst reagierte er nicht. Dann jedoch drehte er sich zu mir um. „Weil alles nach Plan läuft“, behauptete er und hob seine „Blinders“ ein Stück weit an. Zum ersten Mal seit langer Zeit sah ich seine Augen, aus denen mich das intakte Bildnis von „Spiratio Lunae“ gehässig anstarrte.
Dasselbe boshafte Grinsen wie auf dem Antlitz des Mondes, fand sich nun auch in Dr. Lamberts Gesicht.

„Verräter!“, rief ich, da dieser Auftritt für mich keine Zweifel an seinen Loyalitäten ließ.

„Ich bin kein Verräter“, verneinte Dr. Lambert, „anders als Mister Newton bin ich bin meinem Herren treu ergeben. Dem einzigen Beschützer unserer Welt. Ich wechsele meine Loyalität nicht wie die Mondphasen.“

Diesmal sprach er so laut, dass sein Verrat, mittlerweile jeden in der Basis bewusst geworden sein sollte. Ich rechnete mit Aufständen, mit Verzweiflungstaten, Racheakten und vergeblichem Heldenmut, aber keiner von uns rührte sich von der Stelle. Wir alle starrten unseren vermeintlichen Mentor und Missionsleiter nur fassungslos an.

In diesem Moment öffnete sich die Luke über uns und ließ etwas von dem Nebel herein, in den Newton den einstigen, atmenden Mond verwandelt hatte und der offensichtlich auch in unsere Atmosphäre eingesickert war. Ein vergorener, käsiger Geruch hing in der Luft. Einige von uns fingen an zu husten, während Dr. Lambert den widerlichen Duft tief in sich einsog. Dann schließlich startete die „New Moon“ und erhob sich wie ein dunkler Drache in den dunstigen Himmel.

„Was glauben Sie, haben Sie oder ihr grinsender Dämon davon, wenn die Rakete einen neuen Mond konstruiert?“, versuchte ich Dr. Lambert mit kalter Logik zu begegnen.

„Sie wird keinen Mond konstruieren, Mondkalb“, widersprach Lambert nun vollends im Duktus eines Fanatikers.

„Oh doch, das wird sie“, entgegnete ich selbstbewusst, „Genau dafür habe ich sie konzipiert! Das allein ist ihre Programmierung.“

„Ihr Programm ist nur ein Teil eines größeren Ganzen und ich bin äußerst dankbar, dass Sie die ungestörte Ruhe in Ihrer Wohnung gut genutzt und mir dabei stets Einblick in Ihre Arbeit gewährt haben“, sagte Lambert, „andernfalls wäre mir das hier wahrscheinlich nicht möglich gewesen.“

Fast gegen meinen Willen blickte ich zum Bildschirm, der nicht mehr den Nachthimmel zeigte, sondern die Kamerabilder der „New Moon“ lieferte. Offenbar hatte die Rakete schon längst die Atmosphäre verlassen. Dank unserer verwendeten, hochmodernen Technologie und eines Artefaktes, welches uns Newton gespendet hatte, dauerte es nur wenige Augenblicke, bis „New Moon“ den verbliebenen Mondkern erreicht hatte.

Doch sie stieß dort nicht wie geplant ihr Antriebsmodul ab, um anzuhalten. Stattdessen sammelte sie den stinkenden Nebel, der sich um die Welt gewickelt hatte, einfach ein, legte ihn wie einen warmen Mantel um sich und flog weiter, immer weiter. Erst an der Venus und dann am Merkur vorbei, wo sie endlich das ausgebrannte Schubmodul abstieß, anhielt und die wertvolle Ladung in ihrer Spitze entließ.

Tausende von Drohnen, die ich, ich allein, mit Intelligenz ausgestattet hatte, schwärmten aus, explodierten aus der Spitze der „New Moon“ hervor und drangen direkt in die Sonne ein. Wie Viren, die einen Zellkern erobern wollten.

„Das ist unmöglich“, protestierte ich, „sie sollten einfach schmelzen! Mein Gott, selbst die New Moon sollte nur noch ein Klumpen heißen Metalls sein!“

„Seine Geschenke sind vielfältig“, antwortete Lambert, doch ich hörte seine Worte nicht mehr.

Ich sah allein auf das Grauen, das sich für uns alle gut sichtbar auf dem großen Bildschirm abspielte. Der glühende Glasball, dessen Hitze die Linse der Bordkamera entgegen jedweder physikalischen Gesetzmäßigkeit nicht verformte, veränderte sich vor unser aller Augen. Erst erschienen lediglich graue Flecken, die sich kaum von Sonnenflecken unterschieden. Dunkle, kalte Inseln in einem Meer aus so tödlicher wie lebensspendender Hitze.

Dann verbreiterten sich diese Flecken und aus ihrer Mitte bohrten sich graue, dünne Stränge wie hungrige Würmer durch die Sonnenoberfläche, verzweigten und verflochten sich miteinander; formten ein Netz und schließlich eine Art grünlicher Blase, ein hässliches, wabbliges Ding, welche die Sonne vollständig einhüllte.

Nein, das ist nicht richtig. Die Sonne wurde nicht einfach nur davon eingehüllt – sie wurde dieses Ding, verwandelte sich bis ins Letzte ihrer Moleküle hinein.

Dessen war ich mir hundertprozentig sicher. Denn diese Stränge hörten nicht auf, gaben sich nicht mit ihrem verruchten Werk zufrieden. Zu hunderten eruptierten sie wie koronale Massenauswürfe aus dem korrumpierten Stern und expandierten in die Weite des Alls hinaus.

Die Kamera der „New Moon“, deren Rumpf noch immer wie ein Affront gegen die Naturgesetze in der Umlaufbahn der Sonne schwebte, gab diese Bilder nicht her, aber ich würde mich nicht wundern, wenn wir am nächsten Morgen – falls es ein Morgen geben würde – einen vollkommen veränderten Planeten vorfinden würden. Eine absonderliche, phantasmagorische Erde, beherrscht von unzähligen, abscheulichen Sonnenfäden, die aus dem Himmel auf die Erde hinabreichten, wie Sonnenstrahlen in einer kindlichen Zeichnung, nur nicht symbolisch, sondern schauderhaft greifbar. Eine Kathedrale des Schreckens, eine vielfingrige, stellare Kralle, deren Griff wir nie mehr würden entrinnen können.

„Was haben Sie getan, Jeffrey? Was zur Hölle haben Sie getan?“, fuhr ich meinen einstigen Freund an, schon allein um der Verzweiflung ein Ventil zu geben, die wie Krebs in mir wucherte.

„Mond und Sonne sind Geschwister“, sagte Dr. Lambert ruhig, beinah verträumt und ich meinte eine andere Stimme unter der seinen wispern zu hören, „sei uralter Zeit. Sie speisen sich von selbem Licht, trotzen derselben großen Leere. Ich habe sie nur wieder vereint, habe sie angeglichen, ganz so wie es sein soll.“

„Dieses Ding produziert kein Licht, Sie Wahnsinniger!“, brüllte ich und versuchte den Fanatiker am Kragen zu packen, was der stinkende Nebel, der ihn beschützte, jedoch verhinderte, „es ist dunkel wie die Nacht! Sie haben uns alle zum Sterben verdammt!“

„Mitnichten“, erwiderte Dr. Lambert, „Die Menschen werden überdauern. Sie werden atmen, gebären und gedeihen. Sie werden sich vor dem Himmel fürchten und sich doch flehend an ihn wenden, wie es zu alten Zeiten noch Brauch war, als sie die Götter in ihren Herzen trugen. Und der Himmel wird sie speisen, mit Wärme und Licht, so wie er auch von ihnen speisen wird. Ein Geben und Nehmen, ein neuer, kosmischer Kreislauf, der in Kürze beginnt.“

Lambert ging zu einem der Rechner und schaltete die Ansicht des großen Monitors zurück auf den irdischen Nachthimmel. Was ich dort sah, bewies mir, dass ich mich geirrt hatte. Wir mussten nicht bis zum Morgen warten. Man konnte sie bereits sehen, im kranken Licht des neue erwachenden atmenden Mondes. Man sah sie nicht sehr deutlich, aber doch als krankhafte Schemen, als drohende, längliche Schatten vor den Sternen.

Mehr als seine Andeutungen äußerte Dr. Lambert nicht. Er ging nicht ins Detail, und dennoch sah ich, wie sich alles vor meinem geistigen Auge entfaltete. Frierende, gewaltige Trauben verzweifelte Menschen, die an diesen Auswüchsen hängen würden wie Welpen an den Zitzen ihrer Mutter. Menschen, die sich darum schlagen würden, einen Platz an diesen schrecklichen, giftig-nährenden, suchterzeugenden Adern zu ergattern, um einen schnellen Tod einzutauschen, gegen einen lange Qual. Und ich erschauderte.

„In einem haben Sie natürlich recht“, fügte Dr. Lambert hinzu, „Sie werden sterben. Die neue Welt braucht sie nicht mehr.“

Dann explodierte die „Lunar Eclipse“ in einer Kaskade aus Hitze und Licht und ein kurzes Erdbeben erschütterte diesen winzigen Teil des verdammten Planeten.

Dann endete es und einzig Dr. Lambert, beschützt vom staubigen Atmen seines düsteren Gottes, entstieg unverletzt den Resten der unterirdischen Forschungsstation, um den Menschen ihren neuen Platz unter Sonne und Mond zu weisen.

2 thoughts on “Moonwalker

  1. Wow, was für eine wahnsinnig tolle Geschichte. Echt sehr interessant, was dir so für Stories einfallen. Ich mag den Endzeit Charakter der einzelnen Geschichten sehr. Und auch, dass dies nicht so diese 08/15 Hintergründe sind wie in vielen Filmen und Büchern schon gelesen, sondern deine Geschichten immer irgendwie abgedreht und beklemmend sind, aber nie total unglaubwürdig.

    Gerne mehr davon!

    1. Herzlichen Dank! Ja, mein Faible für Endzeit merkt man mir vielleicht ein klein wenig an ;D. Aber irgendwie reizt es mich halt, wenn die Protragonisten in Schwierigkeiten globalen Ausmaßes stecken. Aus einem verfluchten Haus kann man fliehen, aus der Apokalypse nicht so leicht ^^. Es freut mich jedenfalls sehr, dass dir die Geschichte gefallen hat und es wird sicher nicht die letzte dieser Art gewesen sein. LG Angstkreis

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