Mit äußerster Anstrengung stemmte ich das rostige Tor auf, dass die seit langem stillgelegte Fabrik von der Außenwelt abschnitt. Ohne die hochwertige Brechstange, die ich mir im Baumarkt gekauft hatte, wäre es mir nicht gelungen sie aufzukriegen. So aber, lag die alte Werkshalle schutzlos vor mir wie die Organe in einem geöffneten Brustkorb. Als ich in die riesige Halle eindrang, kam ich mir vor wie ein Archäologe, der ein altes Pharaonengrab gefunden hatte und der nun die heilige Stille dieser Grabstätte stört. Meine Schritte hallten donnernd auf dem alten Boden wieder. Mir schlug ein scharfer Duft nach Schmierfett und altem Eisen entgegen. Durch die milchigen Fenster des verfallen Gebäudes strömte das Nachmittagslicht hinein und malte lange Lichtbahnen auf den Boden. Jahrzehntealter Staub tanzte wirbelnd in der Luft. Was für ein erhabener Anblick. Sofort zückte ich meine Kamera und schoss ein paar Bilder. Ich war froh, dass ich diesen Ort für mein Abenteuer gewählt hatte. Langsam schritt ich an den alten Maschinen vorbei. An Warnsymbolen, Instruktionen und Fließbändern. Erst als ich am Büro der Fabrikverwaltung ankam, machte ich Halt.
Irgendwo von dort hatte ich ein Geräusch gehört. Ein lautes Rascheln. So als hätte dort jemand hektisch in den Akten gewühlt. Aber wer sollte das sein? Irgendjemand von der Stadt, der über den Abriss der Fabrikruine entschied? Ein Journalist, der etwas recherchieren wollte? Ein anderer Verrückter wie ich? Aber die Tür war doch geschlossen gewesen. Gab es einen anderen Eingang, den ich übersehen hatte? Etwas beunruhigt trat ich aus der Halle in das kleine Büro. Dort gab es einen fleckigen braunen Schreibtisch, einen beigen Chefsessel aus Leder, der auch schon bessere Zeiten gesehen, einen Kalender von 1981 und angerostete metallene Regale voller Aktenordner. Sonst aber gab es dort nichts. Zumindest war dort keine Person zu sehen und auch keine Ratte, keine Katze oder sonst irgendein streunendes Tier. Wirklich seltsam. Akribisch suchte ich das Büro nochmals ab und fand immerhin zwei bemerkenswerte Dinge. Das erste war ein Aktenordner, der halb aus einem Regal hervorragte. Beim flüchtigen Durchblättern erkannte ich, dass es sich um eine Liste der Mitarbeiter der Fabrik handelte. Mir fiel wieder dieser Zeitungsbericht über vermisste Personen ein, den ich vor kurzem gelesen hatte.
Bereits vor knapp 34 Jahren – also kurz vor Schließung der alten Konservenfabrik waren dort mehrere Mitarbeiter als vermisst gemeldet worden und seitdem nie wieder aufgetaucht. Zu dem Zeitpunkt war die Fabrik bereits alt und marode gewesen. Unfälle hatten sich gehäuft und man hatte sogar die Fabrikleitung beschuldigt etwas mit dem Verschwinden der Arbeiter zu tun zu haben. Beweisen konnte das allerdings niemand. Und die Fabrikbesitzer beteuerten natürlich ihre Unschuld.
Der Artikel berichtete auch davon, dass kürzlich weitere Menschen in der Nähe der stillgelegten Fabrik verschwunden waren. Ein Zusammenhang zwischen diesen Vorfällen konnte – schon allein wegen des großen zeitlichen Abstands – nicht hergestellt werden.
So sehr mich der verschobene Ordner beunruhigte; die zweite Entdeckung, die ich machte, tat es noch viel mehr. Hinter dem Schreibtisch, direkt neben einem der Regale klaffte ein Loch in der Wand. Und davor waren Fußspuren. Frische Fußabdrücke von schweren Arbeiterstiefeln. Es brauchte nicht besonders viel Fantasie, um einen Zusammenhang zu dem seltsamen Geräusch herzustellen. Offensichtlich hielt sich irgendjemand hier versteckt.
Doch wer? Flüchtige Kriminelle? Verzweifelte Obdachlose? Aber welches Interesse hätten die an der Personalliste der Fabrik? Es gab nur einen Weg das herauszufinden. Ich begab mich auf alle viere und zwängte mich durch das Loch. Immerhin war ich doch auf der Suche nach Abenteuern.
Ich musste mich ziemlich klein machen, um durch das Loch hindurch zu kommen. Immerhin folgte dahinter ein etwas breiterer Gang. Trotzdem musste ich immer noch auf allen vieren hindurchkriechen. Das war nicht gerade einfach. Zum einen, weil der Gang abschüssig war. Zum anderen, weil ich in einer Hand die Brechstange und in der anderen mein Smartphone hielt um die allgegenwärtige Dunkelheit zu vertreiben. Die Luft im Gang war stickig und feucht. Ab und an tropfte mir von der Decke Wasser auf den Kopf. Ich hoffte zumindest, dass es Wasser war. Außerdem nahm ich einen leicht modrigen Geruch war, der sich mit jedem Schritt verschärfte. Mir wurde schwindelig und auch leicht übel. Aber an Umkehr war schon aus rein praktischen Gründen nicht zu denken: Der Gang war viel zu eng, um sich umzudrehen. Jetzt musste ich da durch.
Also kroch ich weiter durch den Gang, der immer abschüssiger wurde. Ich musste bereits tief unter der Erde sein. Außerdem musste ich mich zunehmend konzentrieren, um nicht unkontrolliert nach unten zu rutschen. Einmal wäre es mir dennoch fast passiert. Ich hatte mich dermaßen erschreckt als plötzlich eine fette Kakerlake vor mir auftauchte, dass ich den Halt verlor. Doch zum Glück verkeilte sich meine Brechstange in dem engen Gang. So blieb ich unversehrt, was man von der matschigen Kakerlake an meiner Hose nicht behaupten konnte.
Ohnehin sah – und spürte – ich immer mehr Ungeziefer. Kakerlaken, Spinnen, Maden und sogar Ratten. Es war fast als wären diese Tiere vor irgendetwas auf der Flucht. Zudem wurde der Gestank immer intensiver.
Irgendwann sah ich weit vor mir ein rötliches Licht. Und ich hörte laute Geräusche. Es klang fast … Nein. Das war unmöglich. Und doch: Es klang nach Maschinengeräuschen. Es kreischte, klackte, ratterte und polterte mechanisch. Kein Zweifel: Tief im Leib der alten Fabrik war der Betrieb wieder aufgenommen worden. Doch zu welchem Zweck? Und warum stank es hier so sehr nach Verwesung? Ich hatte wohl keine andere Wahl als es herauszufinden.
Dennoch fiel mir inzwischen jeder Schritt schwerer als der vorangehende und ich hielt es nicht mehr für eine besonders gute Idee hier hinabgestiegen zu sein. Das Ganze wurde mir langsam wirklich unheimlich. Als ich endlich das Ende des Tunnels erreichte, sah ich, dass mich mein Gefühl nicht getrügt hatte.
Was ich nun vor mir sah war unheimlich. Vorsichtig ausgedrückt. Ich sah eine weitere riesige Fabrikhalle. Doch diese war nicht tot und leer wie die oben. Hier bewegten sich riesige Fließbänder voller Konservendosen. Hier gingen dutzende Arbeiter ihrer Routine nach. Und doch war es keine gewöhnliche Fabrik. Die Arbeiter waren nämlich nicht menschlich.
Gut, manche von ihnen waren es vielleicht. Mehr oder weniger. Auch wenn sie leichenblass waren. Mit riesigen dunklen Augenringen und ausgemergelten Gesichtern. Wieder andere hatten kaum noch Haare, wenige Zähne und waren ungewöhnlich groß. Dies Schlimmsten aber, waren regelrechte Monster. Sie waren extrem dünn, hatten unnatürlich lange Arme, winzige Münder ohne Lippen und voller scharfer Zähne. Ihre Haut war gräulich und ihre Hände wie Klauen geformt. Sie – das Begriff ich sofort – waren die Aufseher dieser höllischen Fabrik. Ich wollte angesichts dieser Schrecken sofort umkehren, aber da wehte mir ein solch ekelhafter Duft in die Nase, dass ich mich heftig übergab. Die Wesen bemerkten mich natürlich sofort.
Noch während ich mein Mittagessen auf dem ohnehin schon schmutzigen Boden verteilte, kam einer von den Aufsehern auf mich zu. Trotz meines Zustands schaffte ich es noch meine Brechstange mit aller Kraft, die ich aufbringen konnte, auf seinen dünnen grauen Arm hinabsausen zu lassen. Doch es kümmerte ihn nicht. Er packte mich einfach mit seinen unglaublich kräftigen dünnen Fingern. Ich schrie, ich trat um mich, ich schlug immer wieder mit der schweren Brechstange auf ihn ein. Aber er blieb unbeeindruckt und schleifte mich einfach mit sich. Schnell sah ich die Sinnlosigkeit meines Tuns ein. Zwar hatten ein paar der menschenähnlicheren Arbeiter die Köpfe gehoben und gelegentlich sah ich in ihren Augen Mitleid. Vor allem aber wohnte darin Angst und Resignation. Niemand unternahm etwas, um mir zu helfen. So gab ich meinen sinnlosen Widerstand auf und verlegte mich aufs aufmerksame Beobachten. Vielleicht würde ich ja eine Möglichkeit zur Flucht entdecken. Doch alles was ich sah war nur ein endloser Strom von Konserven. Kidneybohnen, Mais, Erbsen, Kichererbsen und viele weitere Lebensmittel. Sie wurden hier anscheinend befüllt und verschlossen. Doch zu welchem Zweck? Was wollten diese Kreaturen mit all den Konserven anfangen? Sie essen?
Der Aufseher schleifte mich gnadenlos auf einen dunklen Gang am Ende der Fabrikhalle zu. Das letzte was ich von ihr noch sah, war einen Maschine, die eine seltsame graugrüne Brühe in jede der Dosen füllte. Ich wusste zwar nicht, was das alles sollte, aber ich hatte ein sehr ungutes Gefühl dabei. Dann verschwanden die Halle und ihr rötliches Licht hinter mir und mich umgab nur noch Dunkelheit.
Doch es dauerte nicht allzu lange, bis ich mich in grellem kalten Neonlicht wiederfand. Es schien von der Decke einer Zelle, die vielleicht fünf Quadratmeter breit war und in der es extrem nach Schimmel roch. Der Putz an ihren Wänden war abgebröckelt und sie waren mit pelzigen schwarzen Flecken übersät. Leider sah die Zelle aber trotz ihres Zustands sehr stabil aus, was nicht zuletzt an der rostigen, aber massiven Eisentür lag, mit der sie ausgestattet war. Außerdem war ich hier nicht allein. Neben mir saß ein älterer Mann. Er hatte nur noch wenige strähnige Haare, ein müde runzliges Gesicht und schuppige trockene Haut. Seine Lippen sahen aus als würden sie langsam von seinem Gesicht wegblättern.
„Herzlich Willkommen!“, begrüßte er mich mit rauer Stimme. Er lächelte. Oder er versuchte es zumindest. Dabei platzten seine dünnen Lippen auf und eine kleiner Blutfaden lief vermischt mit Spucke an ihnen herunter. Der Mann ekelte mich an. Und doch war er wohl der einzige, der mir mehr über all das erzählen könnte. „Wo bin ich hier? Was ist das für ein Ort?“ fragte ich ihn. Er sah mich mit funkelnden Augen an. „Natürlich eine Fabrik.“ sagte er lakonisch. „Doch sie stellt nicht nur Konserven her. Sie produziert auch Veränderung.“ Jedes mal, wenn der Mann den Mund öffnete kroch ein so abartiger Gestank daraus hervor, dass ich wünschte er würde ihn für immer schließen. Dennoch musste ich mehr erfahren. „Veränderung?“ fragte ich ihn deshalb verwirrt. Der Mann lächelte zynisch. „Ist dir die Maschine aufgefallen, die die Zusätze in die Dosen füllt?“ Natürlich erinnerte ich mich an die gräuliche Brühe. Ich nickte. „Nun. Das ist Schimmel. Schimmel und Fäulnis. Sie füllen es in die Dosen. Und die Dosen bringen die Veränderung.“ Jetzt erst begriff ich. Er wollte mir erklären, dass diese Konserven die Mitarbeiter in Monster verwandelten. Ein abscheulicher Gedanke. Aber wie sollte das funktionieren? Schimmel konnte Menschen krank machen oder auch töten. Aber sie so verwandeln?
Ich stellte die Frage laut. Er schüttelte amüsiert den hageren Kopf. Sein dünnes Haar peitschte um seinen Schädel. „Nein. Es ist kein gewöhnlicher Schimmel. Er enthält ihre Essenz. Ihre Macht.“. Er wirkte bei seinen Schilderungen beinah euphorisch. Ich war nur völlig verwirrt. „Wer sind sie?“ fragte ich ihn. Er hielt kurz inne und sprach dann mit dramatischer Stimme „Die Hüter des Verfalls. Götter der Verwesung. Kaiser des Niedergangs. Sie sind unsere Zukunft. Unsere einzige Zukunft“. Bei seinen Worten wurde mir ganz anders. „Die Zukunft von uns? Von den Menschen in dieser Fabrik?“. Er lachte laut auf. Fetzen von Haut und Schorf lösten sich von seinen Lippen. „Nein du Idiot. Die Zukunft der ganzen verfluchten Menschheit!“
Dann erzählte er mir die ganze Geschichte in grausamen und klaren Worten. Die Konserven waren nicht nur für die Arbeiter gedacht. Die Hüter des Verfalls lieferten sie an Supermarktketten, Einzelhändler, Discounter, Restaurants, Feinkostläden und Großhändler. Denn sie konnten sich leicht als Menschen tarnen, wenn sie nur wollten. Niemand sah dann einen Unterschied. Höchstens einen seltsamen Geruch, der schnell als Einbildung abgetan wurde.
Es gab tausende solcher Fabriken. In Europa, Asien, Afrika. Auf der ganzen verdammten Welt. Und es wurden auch nicht nur die Konserven verseucht. Auch Fertiggerichte und viele Getränke erhielten die gleiche Behandlung. Meinen Einwand, dass die Menschen doch am Aussehen, am Geschmack und am Geruch erkennen würde, dass buchstäblich etwas faul war, wischte er einfach weg. Wozu gab es Aromen, Duftstoffe und Farbstoffe? Die Menschen nahmen doch sowieso nur wahr, was sie wahrnehmen wollten. Und sie waren gierig auf schnelles Essen. Sie wollten immer mehr davon. Und so bekamen sie es.
Auch für meine zweiten Einwand, dass man die Veränderung der Menschen doch nach all der Zeit längst bemerkt hätte, hatte er nur ein müdes Lächeln übrig. Aus diesem Grund, erklärte er mir, würde man den Menschen da Draußen nur sehr kleine Dosen verabreichen. Sie sollten nicht zu früh gewarnt werden durch zu extreme Verwandlungen und Veränderungen. Aber die Zeichen waren dennoch bereits allgegenwärtig. Essstörungen, Magen-Darm Erkrankungen, Haarausfall, Hautkrankheiten, Allergien, Depressionen, Schizophrenie, emotionale Abstumpfung, Verdummung und steigende Aggressionen. Allein das politische und soziale Verhalten der Menschen beweise doch schon die Effektivität ihrer „Ernährung“. Das alles waren Zeichen eines Transformationsprozesses, der sich bei jedem anderes bemerkbar machte.
Nach diesen Ausführungen schwieg mein Zellengenosse und ließ mich mit meinen Gedanken allein.
Irgendwann brachte eines der Wesen uns Essen. Es handelte sich um Konserven, die mein Zellengenosse sofort mit hastiger Gier verspeiste. Nun, da ich die Wahrheit kannte, wollte ich mich erst weigern zu essen. Aber welchen Sinn hätte das?
Ich würde nur mein unvermeidliches Schicksal hinauszögern. Ein Schicksal, dass mich bald mit Sicherheit treffen würde. Ein Schicksal, dass auch Euch da Draußen ereilen wird, früher oder später. Denn wir alle hatten bereits tausende Male von ihrer Essenz gekostet. Und wer das einmal getan hatte, für den gab es kein Zurück mehr.
Also langte ich zu. Die Bohnen waren köstlich.