Meine nackten Füße senken sich auf die mit frischen Rosenblättern gepflasterte Straße. Die Blätter kitzeln mich, aber nicht so sehr, dass es unangenehm wäre. Das Wetter ist perfekt. So wie es eigentlich schon immer perfekt ist, seit ich auf der Welt bin. Früher, das haben sie uns jedenfalls in der Schule erzählt, war es das nicht. Früher, vor Mutters Führung, war das Wetter vollkommen chaotisch gewesen. Es hatte Länder gegeben, in denen es immer total trocken gewesen war und andere, in denen es andauernd geregnet hatte. An manchen Orten war es viel zu heiß gewesen, während die Menschen anderswo schrecklich hatten frieren müssen. Das musste schrecklich gewesen sein.
Kälte kenne ich natürlich auch, genau wie Regen, Schnee und Stürme. Ständiger Sonnenschein würde dem Land und der Natur nicht guttun und uns auch nicht. Er würde uns irgendwann langweilen. So sind wir Menschen nämlich gebaut, sagt Mutter. Wir brauchen die Abwechslung. Die Kälte. Die Nässe. Damit wir die Wärme zu schätzen wissen. Und damit wir in unseren Häusern oder Begegnungsstätten zusammenfinden und dieses Gefühl von Wärme und Sicherheit genießen können, welches wohl noch von unserem uralten Erbe als Höhlenmenschen stammt. Auch ein paar Herbststürme gibt es noch, die für die nötige Dosis Melancholie sorgen. Das macht kreativ, sagt Mutter. Und Kreativität ist wichtig für unser Glück. Auch wenn Mutter eigentlich alles besser weiß und kann und mehr Ideen hat als wir, hält sie sich deshalb ein wenig zurück, damit für uns auch etwas zu entdecken und zu erschaffen bleibt. Jedenfalls, trotz alledem, scheint die Sonne dieser Tage viel häufiger als früher und meistens herrscht ein angenehm warmes, nicht zu heißes Frühlingswetter mit einem lauen Wind, der die Luft sanft bewegt und schöne, süße Gerüche mit sich trägt.
Komisch, dass ich mir gerade jetzt Gedanken um das Wetter mache, denn eigentlich ist es nicht das, was mich beschäftigen sollte. Wahrscheinlich liegt es an der Nervosität. Sie bringt mich dazu, mich in unwesentliche Details zu flüchten. Heute ist nämlich mein großer Tag. Heute – mit meinem achtzehnten Geburtstag – endet meine Schulzeit und ein neuer Abschnitt beginnt. Da Mutter weiß, wie wichtig ein harmonisches, behütetet Aufwachsen ist, war meine Schulzeit eine sehr schöne Zeit mit Freundschaften, viel Spaß und spielerischem Lernen gewesen. Und mit einem perfekt optimierten, aber trotzdem humorvollen Unterricht durch „Mutters Schwestern“, die zwar synthetische, aber nichtsdestotrotz sympathische und sehr menschlich wirkende Träger ihres Bewusstseins sind.
Neben unseren Eltern sind sie wohl die wichtigsten Personen in unserem Leben. Ja, Eltern haben wir auch. Bei früheren Generationen hat Mutter damit experimentiert uns, ohne feste Bezugspersonen aufwachsen zu lassen, aber das hat nicht gut funktioniert. Deshalb haben wir – obwohl unsere Reproduktion unter kontrollierten Bedingungen im Labor und unabhängig von unseren sexuellen Kontakten stattfindet – seit einigen Generationen Adoptiveltern, die sich unserer direkt nach der Geburt annehmen. Mutter wählt sie danach aus, ob sie für ein Kind bereit und in der Lage sind, ihm genügend Liebe und Aufmerksamkeit zu schenken. Und natürlich danach, ob sie zu unseren prognostizierten Charaktereigenschaften passen.
Auch meine Eltern – John und Nina – sind heute, an meinem großen Tag anwesend und lächeln mir aus der versammelten Menge zu, die links und rechts des Weges steht, der zu „Mutters Gesicht“ führt, einem gewaltigen Monitor, der an jeder Schule auf der gesamten Welt zu finden ist und der mir in wenigen Momenten sagen wird, was Mutters Plan für mein Leben ist.
Neben meinen Eltern sind auch alle von Mutters Schwestern anwesend, die mich je unterrichtet hatten, sowie all meine Mitschüler. Und natürlich auch meine Freundinnen Susanne, Nadine und Jessica und mein Freund Sebastian, den Mutter mir erst vor einem halben Jahr zugewiesen hatte, in dessen nachdenkliche, rebellische und auch etwas verrückte Art ich mich inzwischen aber tatsächlich verliebt hatte. Sie alle haben ihre Aufgabe bereits mitgeteilt bekommen. Susanne ist nun Architektin. Sie kann künftig immer wieder neue Gebäudeentwürfe entwickeln, die dann von Mutter umgesetzt werden. Früher, so hatte man uns in der Schule erzählt, war dieser Beruf mit viel Stress verbunden gewesen. Heute jedoch sind unsere Arbeitszeiten moderat und bieten genügend Raum für Erholung. Die meisten von uns arbeiten ohnehin aus Leidenschaft, nicht aus Notwendigkeit, was auch daran liegt, dass Mutter praktisch immer die Aufgabe für uns findet, die wir am besten erfüllen können. Sebastian ist „Carer“, was bedeutet, dass er sich um Menschen kümmert, die sich einsam und ungeliebt fühlen. Durch das notwendige Mindestmaß an Freiheit, welches uns Mutter zur Glücksmaximierung gewährt, kommt es nämlich auch vor, dass Menschen von anderen gemieden werden, auch wenn es uns in den meisten Fällen verboten ist, anderen aktiv zu schaden. Es ist ein guter Beruf. Ich freue mich für ihn. Nadine ist fortan Sängerin, Jessica hingegen Erzählerin. Beides Aufgaben, die es nur noch deswegen gibt, da Menschen es lieben, sich unperfekte Geschichten und suboptimale Lieder von ihresgleichen vortragen zu lassen, auch wenn Mutter das eigentlich viel besser kann.
Doch was würde ich wohl werden? Ich habe bislang keine besonderen Fähigkeiten an mir entdeckt, aber das muss nichts heißen. Viele Talente entwickeln sich erst, während man sich an ihnen versucht und Mutter erkennt diese versteckte Anlagen bei jedem. Neben den Talenten berücksichtigt Mutter aber natürlich auch unsere Vorlieben. Immerhin geht es darum unser Glück zu mehren. Ich zum Beispiel liebe die Natur und insbesondere die Tiere, weswegen ich es schön finden würde etwas in diese Richtung zu machen. Ob ich aber auch gut darin wäre, weiß ich nicht. Bisher habe ich mir darüber auch wenig Gedanken gemacht. Wozu auch? Es ist nicht meine Aufgabe den Sinn in meinem Leben zu finden. Dafür gibt es ja Mutter. Das ändert aber leider nichts an meiner Aufregung, denn immerhin würden die Worte, die ich gleich hören würde, mein gesamtes Leben bestimmen.
Ich lege die letzten Schritte auf dem Weg zu Mutters Gesicht zurück und blicke noch einmal zu meinen Eltern und zu Sebastian, die mir ermunternde Blicke zuwerfen, bevor ich mich endlich dazu aufraffe Mutters Gesicht zu berühren. Sofort erscheint das freundliche, warmherzige Antlitz von Mutter auf dem Bildschirm. Sie ist relativ jung, jedoch mit beginnenden Falten und hat grüne Augen und hellbraune, gelockte Haare. „Hallo Caroline“, sagt sie mit freundlicher Stimme, „Bist du bereit, deine Aufgabe zu erfahren?“
„Ja, das bin ich, Mutter“, antworte ich mit sich etwas überschlagender Stimme. Meine Handflächen sind so verschwitzt, dass ich Abdrücke auf dem Bildschirm hinterlasse, als ich meine Hand schließlich wieder zurückziehe. Irgendwo zwitschern ein paar Vögel, die sich wohl über die Schönheit dieses späten Nachmittags freuen.
Mutter lächelt mich gütig an, „ich sehe deine Aufregung, Kind. Deshalb will ich es nicht unnötig in die Länge ziehen. Deine Lebensaufgabe ist …“
Mein Herz schlägt mir bis zum Hals und ich Befürchte kurz, dass ich vor Aufregung das Bewusstsein verlieren könnte, aber zum Glück geschieht das nicht. Das wäre mir auch ziemlich peinlich gewesen in so einem wichtigen Moment.
„… ein Reliever zu sein!“, sagt Mutter so fröhlich, als wäre das eine gute Sache. Aber mit einem Mal scheint sich der Himmel über mir zu verdunkeln und meine gesamte Existenz droht in ein schwarzes, saugendes Loch zu fallen, das sich tief in meiner Brust auftut.
Reliever sind der Bodensatz der Gesellschaft. Sie sind das Pflaster, auf dem alle anderen Lustwandeln. Sie können straflos geschlagen, verhöhnt, ausgenutzt, bespuckt und verlacht werden. Sie sind die Vogelfreien der Moderne, die Paria unserer Utopie, das Yin im Yang, das eine Prozent unter den Neunundneunzig, die Schatten, die unsere Sonne wirft. Nachdem Mutter jeglichen Rassismus und Sexismus ausgemerzt und eine Gemeinschaft auf Basis weitgehender Toleranz erschaffen hat, sind sie – oder besser: sind wir – die letzten, die noch diskriminiert werden dürfen, diskriminiert werden müssen, um das größtmögliche Glück für die Meisten zu erreichen. Denn Glück für ausnahmslos alle – das hatte Mutter festgestellt – war mit uns Menschen nicht machbar. Zu sehr lieben wir es, uns über andere zu erheben, auf sie hinabzusehen und uns von ihnen abzugrenzen. Deshalb wählte Mutter das Modell, in dem die wenigsten litten und dafür die Meisten besonders glücklich waren. Und ich muss zugeben, dass mich das bis jetzt nie groß gekümmert hat. Nicht, solange ich davon überzeugt gewesen war, zur Gruppe der Glücklichen zu gehören.
Noch jetzt habe ich Schwierigkeiten all das zu realisieren. Erst als das Fragezeichen auf meinem rechten Unterarm, welches bisher von den intelligenten Pigmenten unter meiner Haut gebildet wurde, sich in das Piktogramm einer Zielscheibe verwandelt, die dort bis zum Ende meines Lebens verbleiben wird, begreife ich wirklich, was das bedeutet. Es bedeutet, dass ich vollkommen wertlos bin. Dass ich keine ausreichenden Talente besitze, die mich zu mehr qualifizieren, als dazu, ein Reliever zu sein. Und es bedeutet, dass Glück für mich nicht länger vorgesehen ist, außer vielleicht als Illusion. Als Theater vor der sarkastischen Pointe, als falsche Freundlichkeit vor dem sicheren Verrat. Als Hand, die mir aufhelfen wird, nur um mich dann wieder lachend niederzuschlagen. Tränen fließen über mein Gesicht und ich wünschte mir nichts sehnlicher, als einfach im Erdboden zu versinken oder in irgendeine Traumwelt zu flüchten. „Nein“, flüstere ich mit zitternder Stimme, „Bitte nicht!“.
„Weine nicht, mein Kind“, sagt Mutter und auch wenn ihre synthetische Stimme dabei aufrichtig und mitfühlend klingt, wirkt es auf mich wie Hohn, „das ist eine wichtige Aufgabe. Ohne dich und die anderen Reliever, könnten all diese Menschen nicht so glücklich sein, wie es sind.“
„Aber ich will auch glücklich sein“, bringe ich leise hervor.
Mutter scheint mich entweder nicht zu hören oder mich bereits vergessen zu haben, denn sie wechselt plötzlich zu einer fröhlicheren Tonlage, „Ihr alle wisst nun, welche Rolle ihr in unserer Gemeinschaft spielen werdet. Nun ist es Zeit zu feiern!“
Jubel brandet auf und die ersten beginnen zum unweit aufgebauten Buffet zu marschieren.
Ich hebe mühsam den Kopf und blicke in die Gesichter jener, die noch nicht gegangen sind. In die Gesichter meiner Freundinnen, meiner Eltern und in das von Sebastian. Sie lächeln weiter, so als wären sie unendlich stolz auf mich. Doch hinter dieser schönen Fassade erkenne ich bereits meine Zukunft. Für die Dauer dieser Feier würden sie alle freundlich bleiben. Sie würden mich trösten, mir Mut zusprechen und mich aufbauen. Doch wenn die Sonne am nächsten Morgen aufgeht, werden diese Masken anfangen zu fallen und mein Albtraum würde nach und nach beginnen. Sie alle mögen mich lieben, jeder auf seine Art. Aber sie würden es nicht wagen, gegen Mutters Entscheidung zu protestierten, und bei aller Liebe und Freundschaft: Von Zeit zu Zeit musste sich jeder ein bisschen Erleichterung verschaffen.