Neugierig und aufmerksam betrachtete ich den unbekannten Söldner, an dessen linkem Arm sich keine Hand, sondern eine pechschwarze Waffe befand, aus mit der er – wie ich schon aus der Luft heraus beobachtetet hatte – sehr gut umgehen konnte. Beim Anblick dieses ungewöhnlichen Armschmucks klopfte irgendetwas an meinen Hinterkopf. Irgendeine Erinnerung, die ich jedoch nicht genau greifen konnte. Am besten würde ich Surano und Zrivarna dazu befragen, sobald wir erst zurück in Neu-Arganon wären. Die beiden kannten sich besser mit Geschichten und Legenden aus, als ich und waren ohnehin viel gescheiter, selbst wenn man seltsamerweise mich zur Arnivel bestimmt hatte. Jedenfalls hörten hier die Eigenartigkeiten dieses Mannes nicht auf. So hatte er etwa mechanische Unterschenkel und Füße, die sich nahtlos an seine aus Fleisch bestehenden Oberschenkel anschlossen, eine glatte, rosige Haut, wie sie auch bei Bravianern und Andrin vorkam, eine aufrechte, etwas steife Haltung und kurze, dunkelbraune Haare. Er lächelte, doch obwohl mir dieses Lächeln warm und aufrichtig erschien, stellten sich mir dabei die Nackenspitzen auf. Vielleicht lag das aber auch an seiner Gesellschaft – einer jungen Andrin, die mich mit Schalk im Blick und zugleich verschlagen ansah. Ich hatte noch nie viel für Andrin übriggehabt – sie waren noch grausamer als die Rorak und es kam praktisch nicht vor, dass wir sie in unsere Dienste stellten.
„Welches Wort trägt dein Glühen?“, fragte ich den Söldnerführer. Der runzelte die Stirn, wahrscheinlich aufgrund der von mir gewählten, zeremoniellen Grußformel. Noch bevor ich meine Frage jedoch in profaneren Worten wiederholen konnte, gab er mir die gewünschte Antwort. Offenbar begriff er schnell. „Adrian“, sagte er und der Klang dieses Wortes ließ mich erschauern. Es klang fremd, exotisch und erinnerte mich zugleich beunruhigend stark an die „Andrin“. Gab es zwischen ihnen womöglich doch eine Verbindung?
„Und welchen Namen trägt unsere Retterin?“, fragte der Mann lächelnd. Ich suchte nach Tücke in seinem Lächeln. Nach Falschheit und Schauspiel, aber ich fand nichts davon. Eigentlich rieten mir fast alle meine Sinne dazu diesen Fremden sympathisch zu finden, aber zugleich sagte mir irgendetwas, dass er es nicht war. Es war paradox.
„Scavinee“, antwortete ich, „441. Arnivel der Jyllen. Aber ich bin nicht eure Retterin. Wenn überhaupt, gebührt diese Ehre uns allen.“ Mit einer weit ausholenden Geste wies ich auf die Kriegerinnen und Krieger an meiner Seite. Das war mir wichtig. Niemand sollte glauben, dass wir den Obrigkeitsmist der Rorak mitmachten.
„Dann muss ich mich wohl bei euch allen bedanken“, sagte Adrian und verbeugte sich respektvoll vor unseren Soldaten, „Ohne euch wären wir sicher nicht mehr hier.“
„Warum seid ihr denn überhaupt hier?“, wollte ich wissen, „Was sucht eine so große Gruppe von Söldnern so nah an unseren Grenzen, noch dazu im Kampf mit Rorak-Soldaten? Ich würde ja gerne glauben, dass ihr einfach aus dem Boden gewachsen seid, um uns zu helfen, aber leider weiß ich, dass so etwas höchstens in den Erzählungen der Narantinnen geschieht. Leute mögen in Konor tatsächlich gelegentlich aus dem Boden wachsen, aber weder in solcher Zahl, noch mit einer derart gut abgestimmten Kampfstrategie.“
„Natürlich hast du recht“, sagte Adrian, „in Wahrheit sind wir gemeinsam mit den Rorak zu euch gekommen. Und zwar, um euch anzugreifen.“
„Was?!“, fuhr Honwivee, der Drymar unserer Panzerstreitkräfte auf, „du und deine Leute habt euch mit unseren Feinden verbrüdert und einen Angriff auf uns geplant und besitzt auch noch die Frechheit uns das ins Gesicht zu sagen? Wenn es unsere Gesetze nicht verbieten würden, würde ich dich dafür am liebsten zu Zrymfutter verarbeiten, du …“
„Aber genau das verbieten sie nun mal, Honwivee“, wandte ich ein, „und das aus gutem Grund. Niemand, der nicht die Waffe gegen uns erhebt, soll durch die Jyllen gerichtet werden und das haben er und seine Leute nicht getan. Im Gegenteil: Sie haben ihre Waffen gegen unsere Feinde gerichtet. Außerdem bin ich mir sicher, dass Adrian mit seiner Erklärung noch nicht am Ende angekommen war.“
Adrian nickte, „wie gesagt, wir hatten den Befehl euch anzugreifen, aber wir haben uns dagegen entschieden, wie ihr ja gesehen habt. Den Rorak ist ein Söldnerleben weniger wert als der Dreck unter ihren Stiefeln. Sie hätten uns beim Angriff in der vordersten Front verheizt. Das wollten wir nicht mit uns machen lassen, erst recht nicht für diese Tyrannen, deshalb haben wir unsere Loyalitäten noch einmal überdacht. Ihr machtet uns einen weitaus unterstützenswerteren Eindruck und auf eurer Seite schätzt man den Wert eines Lebens höher. Das zumindest erzählt man sich.“
„Verfluchte Opportunisten“, ätzte Honwivee, wobei das durchaus wörtlich zu verstehen war, denn die Spucke, die er dabei demonstrativ auf den Boden schleuderte, brannte sich tatsächlich zischend durch das Erdreich. Dies ist eine Fähigkeit, die unserem Volk zu eigen ist: Wenn unser Zorn groß genug wird, sinkt der pH-Wert unseres Speichels drastisch, was ihn schon fast zu einer Art Waffe werden lässt.
„Niemand sucht sich aus, wo er in dieser Welt erscheint“, warf die Andrin ein, „wer als Fremder im Rorak-Imperium überleben will, muss sich als Söldner verdingen. Das weißt du so gut wie ich.“
„Sie hat recht“, sagte ich, „man kann niemandem vorwerfen, dass er überleben will. Wer so handelt, wie sie gehandelt haben, ist kein Opportunist, sondern ein Rebell und für solche können wir als ein Volk, welches jahrzehntelang unterdrückt worden ist, nur den größten Respekt übrig haben.“
Adrian nickte dankbar.
„Nachdem das geklärt ist, bleibt nur noch die Frage, was als nächstes geschehen soll. Wollt ihr Söldner in unseren Diensten werden? Wobei „Söldner“ eigentlich der falsche Begriff ist, denn wie ich hörte, erwarten viele in diesem Zusammenhang eine Bezahlung. Die werdet ihr aber nicht bekommen. Allerdings werdet ihr dennoch mit allem Wesentlichen versorgt werden. Nahrung, Getränke, Waffen. Was immer ihr wollt oder benötigt. Wir sorgen für unsere Leute. Seid ihr mit diesen Bedingungen einverstanden?“
„Ja“, sagte Adrian, „das sind wir.“
Mein Gesicht verfinsterte sich. „Wir schätzen es nicht, wenn jemand sich anmaßt für andere zu sprechen. Erst recht nicht in einer so entscheidenden Frage.“
„Ich bitte um Entschuldigung“, beeilte Adrian sich zu sagen und irgendwie hatte ich das Gefühl, dass er sich nicht nur allein für diesen unbewussten Bruch der Etikette entschuldigte, sondern auch für etwas, dass mir entgangen zu sein schien.
„Gewährt“, sagte ich, „immerhin seid ihr von den Rorak ja eine andere Form der Organisation gewöhnt.“
„Mit Verlaub, Scavinee, aber auch du maßt dir an für andere zu sprechen“, wandte Honwivee ein, „dir als Arnivel obliegt es nicht, eigenmächtig Söldnerverträge auszustellen. Darüber muss der Jyllat entscheiden.“
„Denkst du, das weiß ich nicht, Honwivee?“, antwortete ich dem kleinen, ernsten, muskulösen, glatzköpfigen Mann, der von Anfang an nicht gerade begeistert von meiner Ernennung gewesen war und das nicht nur, weil er der Zrynada-Fraktion angehörte, die ganz andere politische Auffassungen vertrat, als meine Garvilla-Fraktion, „ich mag noch nicht sehr lange Arnivel sein, aber der ein oder anderen Jyllat-Anhörung habe auch ich schon beiwohnen dürfen. Ich weiß, dass die Jyllati erst ihr Einverständnis geben müssen und ich würde das auch gar nicht anders wollen. Im Gegensatz zu euch Zrynada wollten wir die Befugnisse des Arnivel nie erweitern. Trotzdem kann es ja nicht schaden zu erfragen, ob überhaupt Interesse besteht, oder etwa nicht?“
Honwivee antwortete mir nicht. Stattdessen ergriff die Andrin das Wort. „Was geschieht denn, wenn dieser Jyllat uns ablehnt?“, wollte sie wissen.
„Ihr werdet verbannt“, sagte Honwivee düster.
„Wohin?“, erkundigte sich Adrian, „Etwa zurück in das Gebiet der Rorak? Damit würdet ihr doch euren Feind stärken.“
„Würden wir das?“, fragte Honwivee lauernd, „wenn dem so wäre, hätten wir wohl die richtige Entscheidung getroffen, denn in diesem Fall würden wir zumindest keine potenziellen Verräter in unsere Mitte aufnehmen. Falls ihr wirklich aus Überzeugung die Seiten gewechselt habt, würde ich eher erwarten, dass ihr euer Bestes tut, um die Kriegsanstrengungen der Rorak zu sabotieren.“
„Hier liegt ein Missverständnis vor“, sagte Adrian relativ unbeeindruckt, „Ich habe nicht von uns gesprochen. Das war eher eine allgemeine Überlegung.“
„Und sie war so falsch nicht“, gab Honwivee überraschenderweise zu, „viel lieber würden wir diejenigen hinrichten, denen der Jyllat nicht vertraut. Aber das Gesetz verbietet das leider.“
Honwivee warf mir einen Blick zu, der zwar noch nicht feindselig war, aber an der Grenze dazu balancierte. Ich kannte diesen Blick. Wir spielten dieses Spielchen schon seit mehr als zwei Jahren und deshalb wusste ich sein Verhalten zu interpretieren. Honwivee mochte mich nicht und der Tag, an dem ich mein Amt verlor, würde ihm ein Feiertag sein. Aber er hasste mich auch nicht. Nicht auf die Art, wie es unter Andrin, Bravianern, Rorak, Menschen und anderen Völkern üblich war. In extremen Ausnahmefällen kam es vor, dass ein Jyllen einen anderen zum eigenen Vorteil umbrachte, aber angesichts eines so zahlreichen Volkes geschah das auffällig selten. Wir mochten uns ganz gerne um unsere Ämter bringen, aber um unsere Leben eher weniger.
„Gibt es keine andere Möglichkeit?“, fragte Adrian.
„Oh doch“, sagte Honwivee grinsend, „Ihr könntet auch ein Exil in den unbegehrten Landen wählen. Das jedoch würde ich nicht empfehlen. Der Tod wäre gnädiger und ehrlich gesagt misstraue ich euch dann doch nicht genug, um euch ein solches Schicksal zu gönnen.“
„Genug davon“, sagte ich, „das alles ist Zukunftsmusik. Außerdem glaube ich nicht, dass euch der Jyllat die Aufnahme verweigern wird. Das geschieht eher selten. Also macht euch deswegen keine Sorgen.“
„Wir werden sehen“, sagte Honwivee nur dazu.
„Sorge dafür, dass jeder deiner Leute von unserem Angebot erfährt“, sagte ich an Adrian gewandt, „Jene, die sich dem Jyllat stellen wollen, können mit uns kommen. Alle anderen haben eine Stunde, um unser Territorium zu verlassen. Andernfalls sind wir leider gezwungen das Feuer auf sie zu eröffnen.“
„Ich werde ihnen deine Bedingungen überbringen“, erwiderte Adrian, woraufhin sich sowohl er, als auch die Andrin entfernten.
„Ich traue dem Ganzen nicht“, sagte Honwivee.
„Das kann ich sehr gut verstehen“, antwortete ich, worauf Honwivee mich überrascht ansah.
„Warum so verblüfft?“, fragte ich, „ich bin nicht das naive Pflänzchen, für das du mich hältst. Die Flammenmutter hat auch meine Augen mit Licht gesegnet. Irgendetwas an diesem Adrian und an dieser Andrin ist faul. Das zumindest sagt mir mein Gefühl.“
„Wenn das so ist“, fragte Honwivee, „warum willst du diese Söldner dann überhaupt bei uns aufnehmen? Niemand zwingt dich dazu. Du könntest sie allesamt wegschicken.“
„Weil ich niemanden aufgrund eines bloßen Gefühls seinem Schicksal ausliefere“, sagte ich ein wenig verärgert, „natürlich, es kann sein, dass unser Bauchgefühl recht behält und wir damit eine potenzielle Bedrohung loswerden. Aber es kann genauso gut sein, dass wir mögliche Verbündete dafür bestrafen, dass sie sich für unsere Sache eingesetzt haben.„
„Unsichere Verbündete sind schlimmer als Feinde“, sagte Honwivee.
„Das mag sein, aber am schlimmsten ist es seine Prinzipien zu verraten. Die Rorak haben Milliarden von uns getötet, aber erst, wenn sie uns dieses Opfer abverlangen, haben sie gewonnen. Unser Staat wurde auf dem Recht gegründet, nicht auf der Willkür. Vergiss das nicht“, ermahnte ich.
„Das werde ich nicht“, sagte Honwivee düster, „und ich werde auch nicht vergessen, wer für unseren Untergang verantwortlich war, falls es so weit kommt.“
„Jetzt sei nicht so dramatisch“, sagte ich lachend, „was soll schon passieren? Das hier sind etwas mehr als sechzig Söldner. Glaubst du ernsthaft, dass die den Untergang von sechzig Milliarden Jyllen herbeiführen könnten?“
~o~
Das Geplänkel mit Honwivee zog sich noch eine Weile hin, aber zuletzt sprach ich ein Machtwort und sicherte ihm zugleich zu, jeden einzelnen Söldner gründlich auf versteckte Objekte, Sprengsätze oder andere Sicherheitsrisiken durchsuchen zu lassen.
Ich hielt dieses Versprechen und ließ jeden der vierundsechzig Söldner, die sich allesamt für den Dienst bei uns entschieden hatten, gründlich von unseren Leuten abtasten und jeden Quadratzentimeter ihrer Uniformen zusätzlich von unseren Detektoren durchleuchten. Was wir fanden, war relativ unspektakulär. Einige Söldner trugen tatsächlich kleinere Sprengsätze und Granaten bei sich, die jedoch eher für den Kampfeinsatz oder die Zerstörung von Panzern, als für Anschläge geeignet waren. Trotzdem konfiszierten wir sie sicherheitshalber, genau wie wir alles beschlagnahmten, was uns nur im Entferntesten dazu geeignet schien, irgendwelche Funksignale zu übermitteln. Ansonsten blieb die Ausbeute jedoch mager, mit Ausnahme von Adrian, bei dem wir tatsächlich einen interessanten Gegenstand entdeckten. Dabei handelte es sich um eine kleine, runde Scheibe in deren Zentrum sich eine Art Edelstein befand. Als wir ihn deswegen zur Rede stellten, erklärte er sich bereit uns den Zweck des Objekts zu demonstrieren und zauberte auf Knopfdruck eine Peitsche daraus hervor, die sich durch hohe Zielgenauigkeit auszeichnete. Honwivee verlangte, dass auch dieser Gegenstand beschlagnahmt werden sollte, ich jedoch sprach mich dagegen aus. Immerhin erschien es mir ziemlich widersinnig einem Mann, der bei uns als Södner anheuern wollte, seine Waffe abzunehmen.
Außerdem fanden wir eine Art Buch mit vielen leeren Seiten bei ihm. Darauf angesprochen gab er offen zu, dass er darin Notizen und Gedanken über seine Reisen festhalten wolle. Honwivee befürchtete deswegen Spionage, jedoch teilte ich diese Befürchtungen nicht. Vielleicht lag es auch daran, dass ich selbst zuweilen Tagebuch führte und deshalb wusste, wie wichtig so etwas für die eigene geistige Gesundheit sein konnte.
Kurz darauf traten wir unseren gemeinsamen Einzug in Neu-Arganon an. Während die meisten Zrym-Piloten ihre Tiere bestiegen, ließ ich Hyuna alleine fliegen. Irgendwie erschien es mir besser die Söldner im Auge zu behalten, auch wenn sich das seltsame Völkergemisch fürs Erste harmlos und gesittet verhielt. Mit Freude nahm ich dabei zur Kenntnis, unter ihnen einige Connitoren waren. Auch in unserer Stadt beherbergten wir eine Handvoll von ihnen und der Schmerz, die Sehnsucht, die Einsamkeit, die die Angehörige dieses kollektivistisch ausgerichteten Volkes empfanden, weil sie nur so wenige waren, hatte mich oft schon zu Tränen gerührt. Sie immerhin würden sich freuen weitere Angehörige ihres Volkes zu treffen und sich mit ihnen verbinden zu können.
Auch wenn wir sehr unterschiedlich waren, konnte ich diese Sehnsucht dennoch nachvollziehen. Obwohl Zrivarna nach wie vor an meiner Seite war und mir zusammen mit Surano als Beraterin diente, war es uns untersagt, mehr als nur eine rein freundschaftliche Beziehung miteinander zu pflegen. Drei Jahre: mehr war keinem Jyllen für seine Beziehung erlaubt. Danach musste ein Wechsel erfolgen. Der Sinn dieser Tradition sollte es sein, dass jeder von uns in seinem vergleichsweise kurzen Leben – selbst Zivilisten wurden niemals älter als fünfzig, oft nur vierzig Jahre – möglichst viel Kontakt zu anderen Mitgliedern seines Volkes aufbaute. Es sollte den Zusammenhalt fördern und zugleich Erstarrung verhindern.
Mir erschien es eher grausam und unnötig. Ich liebte Zrivarna immer noch und ich wusste, dass es bei ihr genauso war. Würde es nach mir gehen, hätte ich diese schwachsinnige Tradition ignoriert. Aber leider war das unmöglich. Zum einen konnte ich es mir, solange ich Arnivel war, schon politisch nicht leisten, es mir mit den ultra-religiösen zu verscherzen, die mich ohnehin mit äußerster Skepsis beäugten, da ich es mit dem Glauben nun wirklich nicht allzu genau nahm. Zum anderen war die Strafe, die jene erwartete, die sich nach der vorgeschriebenen Frist noch beim Sex oder bei anderen Intimitäten erwischen ließen, drakonisch. Wer dabei ertappt wurde, landete nicht selten in der Jonmella, jener Nährsuppe, die zugleich auch als eine Art von Blut durch unsere Adern fließt, und von der wir und die Zrym uns zugleich – zumindest zum Teil – ernährten.
Für gewöhnlich wurden nur die Körper unserer Toten in die Jonmella überführt. So etwas lebenden Jyllen anzutun war eine schreiende Ungerechtigkeit, denn selbst die meisten Gewalttäter wurden für gewöhnlich nicht derart drakonisch bestraft. Natürlich gab es die theoretische Möglichkeit, dass der Jyllat, der bei uns auch für die Rechtsprechung zuständig war, von dieser eigentlich vorgeschriebenen Strafe absah, jedoch geschah das leider nur äußerst selten. Zwar wurde der Jyllat per Los bestimmt, um jedem aus unserem Milliardenvolk zumindest theoretisch die Chance zu geben, sich politisch zu beteiligen, aber leider gab es nun mal sehr viele, die die Chavrila, den Zwang zur Veränderung als etwas quasi Göttergegebenes betrachteten.
All das hatte mich, zusammen mit meiner Rolle als Arnivel, förmlich dazu gezwungen, mir einen anderen Partner zu suchen. Schon in den letzten paar Monaten der knappen Zeit, die Zrivarna und mir gegeben worden war, hatte ich mich auf die Suche begeben müssen. Eigentlich hatte ich es mit meinem alten Freund Surano sogar noch ganz gut getroffen. Dass er ein Mann war, stellte für mich kein größeres Problem dar. Die meisten Jyllen waren in dieser Beziehung flexibel, zumal wie wir auch in der Lage waren unser Geschlecht bei der Fortpflanzung notfalls zu verändern.
Auch war Surano nicht nur ein guter Freund, sondern auch verlässlich, vertrauenswürdig und intelligent und so habe ich – ohne allzu große Überwindung – auch bereits zwanzig Kinder mit ihm zeugen können. Wir Jyllen bringen unsere Kinder außerhalb unseres Körpers zur Welt, weswegen das weniger dramatisch war, als es klingt, selbst wenn die Kinder nach ihrem Eierstadium auch Jonmella von uns trinken, was natürlich schon ein wenig Aufwand bedeutet. Dafür wurde immerhin das Bewachen und Warmhalten unserer Eier, wie es in archaischer Zeit noch praktiziert werden musste, inzwischen von entsprechenden Technologien übernommen. Zudem kannten wir keine wirkliche elterliche Verantwortung, wie sie manch anderer Spezies zu Eigen ist. Unsere Kinder wurden früh selbstständig und wenn sie Hilfe, Nähe, Zuwendung oder Unterweisung brauchten, konnten sie bei jedem der Erwachsenen darum ersuchen und stießen stets auf offene Arme und Ohren. Jedenfalls, auch wenn Surano ein durchaus anständiger Partner war, so liebte ich ihn nicht und ich fragte mich oft, ob es eigentlich nicht viel mehr gegen die Prinzipien von Mutter Flame verstoßen sollte, dass ich gezwungen war mit jemandem zusammenzuleben, der mein Feuer nicht entzündete.
Nun bin ich weit von meiner eigentlichen Erzählung abgewichen, aber dies hier soll auch die Geschichte meines Volkes sein und deshalb halte ich es für berechtigt, seine Eigenheiten und Eigenschaften festzuhalten.
Was ich auch festhalten möchte, ist die Tatsache, dass der Tag, an dem wir die Söldner in unsere Stadt führten, ein ziemlich schöner Tag war. Das war bemerkenswert, denn schon seit vielen Jahrzehnten gab es in Konor kaum noch schöne Tage.
Vor etwa siebzig Jahren hatte eine ungünstige Kombination aus einem chemischen Angriff der Rorak und einer unserer biologischen Waffen die Atmosphäre für immer aus dem Gleichgewicht gebracht. Dass wir überhaupt noch atmen konnten, verdankten wir den Terraforming-Generatoren, die unsere beiden Kriegsparteien anlässlich dieser Katastrophe installiert hatten und die nicht nur die Luft aufbereiteten, sondern auch verhinderten, dass unser Planet schmilzt oder zufriert. Einst war unser Planet – zumindest was die Beschaffenheit der Natur betraf – ein regelrechtes Paradies gewesen. Nun jedoch war er das nur noch auf den Videoaufzeichnungen in unseren Archiven. Landwirtschaft war so gut wie unmöglich geworden und die Nahrungsproduktion hatte sich auf unterirdische Farmen, gentechnisch veränderte Viehbestände, Labore und natürlich auf die Nutzung der Jonmella verlagert. Sonnige, wolkenlose Tage, die nicht dämmriges Zwielicht getaucht waren, waren dennoch eine Seltenheit geworden. Trotzdem liebte ich unsere Stadt und war deshalb auch durchaus ein bisschen Stolz sie Augen zeigen zu können, die sie noch nie zuvor gesehen hatten. Adrian, der neben mir lief, schien das zu bemerken.
„Eine wunderschöne Architektur“, sagte er mit aufrichtigem Staunen. Und wie sollte das auch anders sein? Selbst die Augen einer Statue hätte dieser Anblick zu Tränen gerührt. Hohe, schlanke, zart gestaltete, hellgrüne Türme, an deren Spitzen unsere Wohnungen und Begegnungsstätten, unsere Archive und Geschäfte, unsere Gaststätten und Schulen wie schillernde, violette Trauben hingen.
Lediglich unsere Regierungsgebäude, die Militärgebäude und Brutstätten, sowie unsere Tempel waren ebenerdig errichtet worden. Unsere Kasernen und Waffenproduktionsgebäude waren dabei kantig und quadratisch wie bei vielen Völkern, auch wenn sie oft mit kleinen Statuen, Waffenrepliken oder Sinnsprüchen wie dem beliebten Zitat „Scyndalla anvenda, innut Shiranosch scyndalla“ dekoriert waren, was ungefähr so viel hieß wie: „Verschieße dein Gift, so wie du Liebe verschießt.“ Sie waren zumeist auch nicht aus gehärteter Jonmella, sondern eher aus Stein oder Stahl gefertigt, da es uns respektlos erschienen wäre unsere Toten mit dem Krieg in Verbindung zu bringen.
Die Brutstätten hatten die Form aufgeschichteter Eier, die wie ein Haufen glitzernder, rundgeschliffener Edelsteine zu einem Gebäude aufgetürmt worden waren. Zum größten Teil lagen sie jedoch unterirdisch, so wie auch die Tempel, die wir zu zu Ehren von Vater Coross errichtet hatten, zum größten Teil aus Gängen bestanden, die man tief in den Boden geätzt hatte. Mutter Flamme hingegen wurde in stets stark aufgeheizten Gluttempeln gehuldigt, die man ohne entsprechende Kleidung nicht betreten konnte.
Die Jonmella jedoch, jene Lebensversicherung für unser Volk, die uns Friedhof und Lebensquell zugleich war, befand sich in keinem einzelnen Gebäude, sondern in unterirdischen Reservoirs, die wie die Adern eines gewaltigen Körpers durch weitverzweigte Leitungssysteme über all unsere Städte hinweg miteinander verbunden waren. Wann immer eine unserer Städte an die Rorak fiel, koppelten wir sie durch Schleusen vom kollektiven Leitungssystem ab.
Analog zu diesem gewaltigen unterirdischen Konstrukt verlief oberirdisch ein weitverzweigtes Netz von Straßen, welche in der Dunkelheit geisterhaft fluoreszierten und nicht nur innerhalb unserer Städte alles miteinander verbanden, sondern oft auch Verbindungslinien zwischen ihnen schufen, die für Truppentransporte, aber auch für private Besuche genutzt werden konnten.
Über allem thronten die Nester unserer nächsten tierischen Verwandten, der Zrym, die als der Schwerkraft trotzende Inseln mehr als hundert Meter über der Stadt schwebten. Dort zogen sie ihren Nachwuchs auf und heilten die Wunden, die sie im Kampf erlitten hatten.
„Du besitzt einen besseren Geschmack, als ich erwartet hatte“, witzelte ich und Adrian lachte.
„Das habe ich noch nicht oft gehört“, sagte er, „Allerdings kannst du dir auf dieses Urteil vielleicht doch etwas einbilden. Ich habe schon viele Orte gesehen.“
„Hast du das?“, fragte ich skeptisch, „Mehr als Konor und deine Heimatwelt können es doch wohl kaum gewesen sein, oder?“
„Doch“, widersprach Adrian, „In meiner Heimat bereisen wir die Sterne. Fremde Völker und ihre Städte sind uns deshalb nicht fremd.“
„Beeindruckend“, antwortete ich, „Sollte dieser unselige Krieg je enden, wollen wir das auch in Konor tun. Die technologischen Voraussetzungen haben wir, jedoch verhindert das unendliche Schlachten, dass wir sie auch nutzen können. Dabei träume ich oft davon, andere Welten zu besuchen und zu entdecken, doch fürs Erste wird das wohl nur ein Traum bleiben. Vielleicht kannst du mir mal ein wenig von deinen Erlebnissen berichten, wenn wir etwas Zeit dafür finden.“
„Sehr gerne!“, versprach Adrian, „Das ihr euer Potenzial nicht nutzen könnt, ist wirklich deprimierend. Aber vielleicht dauert der Krieg ja nicht mehr allzu lange.“
„Wie meinst du das?“, fragte ich verwirrt.
„Nur so ein Gefühl“, wiegelte er ab, „Vielleicht liegt es an eurer beeindruckenden Stadt, vielleicht einfach an der Tatsache, dass ich jetzt auf eurer Seite bin. Den eigenen Einfluss überschätzt man immer maßlos. Das ist eine zutiefst menschliche Eigenschaft.“
„Nicht nur eine menschliche“, gab ich zurück.
„Ich verstehe“, sagte Adrian lächelnd.
„Das ist gut“, erwiderte ich, „was ICH allerdings nicht verstehe, ist, warum man dich mit diesen Prothesen ausgestattet hat. Um natürliche Merkmale deiner Spezies wird es sich doch wohl eher nicht handeln, oder? Zumindest an den Beinen erkenne ich eindeutig Rorak-Technik und ihre Verbindung zum Fleisch scheint mir nicht organisch genug.“
„Gut beobachtet“, antwortete Adrian, „Wir Menschen sind genauso aus Fleisch und Blut wie die Andrin, die Rorak oder die Jyllen. Die künstlichen Unterschenkel und die Waffe an meinem Arm sind mir von Rorak-Wissenschaftlern eingesetzt worden.“
„Warum?“, fragte ich, „Normalerweise sind die Rorak nicht so freigiebig mit ihren Geschenken. Erst recht nicht gegenüber Angehörigen fremder Völker.“
„Es war kein Geschenk“, sagte Adrian düster, „Es war grauenhaft. Sie haben mir ohne Betäubung die Unterschenkel entfernt und ihrer Stelle diese Dinger hier eingesetzt. Was sie mit meinem Arm angestellt haben, verstehe ich bis heute nicht so ganz, jedoch tat auch das unheimlich weh und hat mir am Ende diesen Waffenarm beschert. Ich denke, es war ein Experiment. Ein Experiment, bei dem sie lieber das Leben und die Gesundheit eines Söldners riskiert hatten, anstatt das ihrer eigenen Leute. Anscheinend wollten sie damit eine Art Supersoldaten erschaffen. Ob ich es überleben würde, kümmerte sie nur am Rande, aber da es mir gelungen war, hatten sie anscheinend gehofft, dass ich wenigstens für ein bisschen Aufregung bei euch würde sorgen können.“
„Das tut mir leid“, sagte ich und legte dem Söldnerführer tröstend eine Hand auf die Schulter, „Die Rorak sind leider unbeschreiblich grausam. Und rassistische Arschlöcher noch dazu.“
Bereits kurz bevor wir die Stadt erreichten, schoben sich die breiten Tore unserer hohen, gelbgrünlich schimmernden Stadtmauer aus verhärtetem Jonmella auseinander und spuckten einen Strom von Soldaten mit ernsten, leeren Gesichtern aus. Zehntausende, die uns wie eine Flutwelle entgegen brandeten und sich um uns herum teilten wie ein Fluss, um einen großen Stein. Anders als die normalen Jyllen-Soldaten trugen sie alle eine weiße Kapuze zu ihrer gelben Uniform.
„Was ist das?“, fragte Adrian beeindruckt, „Eine Großoffensive?“
Ich lachte, aber mein Lachen hatte etwas Bitteres, „Das ist keine Großoffensive. Für unsere Verhältnisse wäre das bestenfalls ein mittelgroßer Trupp. Nein, das hier sind An-Jyll, die zu ihrem letzten Gefecht ausziehen.“
„Wer oder was sind An-Jyll“, wollte Adrian wissen.
„Mutter Flamme brennt uns aus“, sagte ich traurig, „Das ist der Preis dafür, wenn man so hell brennt wie wir. Irgendwann verlöschen wir, werden zu Asche, verlieren unseren Antrieb, unsere Lebensfreude, letztlich sogar die Schärfe unseres Geistes. Unwiederbringlich. Daran sterben wir auch, falls uns nicht vorher der Krieg dahinrafft. Ein Teil von jenen, die merken, dass dieses Schicksal naht, geht aus freien Stücken in die Jonmella ein, der Rest schließt sich den An-Jyll an und sucht im Kampf den Tod. Dieses Schicksal steht auch mir bevor, frühestens in fünfzehn, spätestens in etwa fünfundzwanzig Jahren.“
„Was ist die Jonmella?“, fragte Adrian. Ich erklärte es ihm, wobei ihn diese Erklärung gleichermaßen abzustoßen, wie zu faszinieren schien. Wahrscheinlich sollte mich das nicht verwundern. Immerhin hatten viele Völker ein Problem damit ihre Toten zu verzehren. Außer den Kannibalen aus Dank Qua, die dies sogar bei Lebenden praktizierten, was mich wiederum zutiefst anwiderte.
„Das klingt alles grauenhaft“, sagte Adrian schließlich, „bringt das Opfer dieser armen An-Jyll euch wenigstens etwas? Können sie den Rorak mit ihren Angriffen schaden zufügen?“
„Es ist kein Opfer“, widersprach ich, „die An-Jyll haben nichts mehr, was sie opfern könnten. Asche kann man nicht mehr entzünden, man kann sie bestenfalls dem Feind ins Gesicht werfen, so lange sie noch glüht und ihm damit womöglich ein wenig behindern. Genau dazu taugen die An-Jyll durchaus: Sie stoppen den Vormarsch des Feindes und bringen seine Pläne für Offensiven durcheinander. Als Angriffsheer taugen sie aber nicht. Dafür sind sie zu unkonzentriert, zu verzweifelt und unmotiviert. Komplexe Strategien lassen sich nicht mehr mit ihnen besprechen. Dennoch bin ich ihnen dankbar. Vielleicht ist dir aufgefallen, dass es hier relativ ruhig ist. Das liegt vor allem daran, dass Neu-Arganon die zweitgrößte unserer Städte ist. Lediglich Hujannen, unsere Hauptstadt ist noch größer, jedoch liegt sie weit weg von der Front, tief in unserem Kernland. Jedenfalls bringt so eine große Stadt auch viele An-Jyll hervor und diese sorgen wiederum dafür, dass sich die meisten Offensiven der Rorak eher auf andere Teile unserer Grenze konzentrieren. Wir haben den An-Jyll viel zu verdanken und doch – oder gerade deswegen – bedauere ich ihr Schicksal. Das würde ich selbst dann tun, wenn es mir nicht selbst bevorstünde.“
„Wie könnt ihr überhaupt weiterkämpfen, wie könnt ihr überhaupt leben, mit dieser Gewissheit?“, fragte mich Adrian.
„So schwer ist das gar nicht“, antwortete ich, „andere Völker wissen, dass sie am Ende ihres Lebens krank werden, dass sie in ihren Betten dahinsiechen, dass sie in Folterkellern verenden oder in den ewigen Schatten fallen. Diese Schicksale sind nicht weniger leicht zu ertragen. Diese ganze Show hier, diese irre Abfolge von Gesprächen, Gedanken, Erinnerungen, Aromen, Hoffnungen und Erfahrungen ist womöglich alles, was wir haben, Adrian. Keiner von uns weiß mit letzter Sicherheit, ob es danach weitergeht und selbst wenn doch, schmälert das nicht die Notwendigkeit zu leben. Im Gegenteil: Wenn es keine Flucht ins Nichts gibt, sind wir umso mehr gezwungen das zu umarmen, was wir haben. Wir können in unsere Fantasie entfliehen, gedanklich in andere Welten abtauchen, uns mit der Wärme unserer Erinnerungen oder dem Glanz einer möglichen Zukunft trösten, aber Leben müssen wir. Warum also nicht versuchen das Beste aus der Zeit zu machen, die wir haben?“
„Und wenn danach nichts kommt?“, hakte Adrian nach, „wenn all das keinen tieferen Sinn hat.“
„Einen tieferer Sinn?“, fragte ich skeptisch, „was genau soll das überhaupt sein? Die Befehle und Erklärungen eines unerreichbaren Gottes, dessen Ziele und Beweggründe du niemals ganz verstehen kannst? Dann wäre Sinn nichts anderes als Sklaverei. Nein, Adrian. Den Sinn trägst du in dir. Wenn du dir eine bestimmte Anordnung von Punkten und Strichen ansiehst, wird daraus für dich ein Wort, dann ein Satz und – wenn er gut ist – sogar ein Satz, der für dich Sinn ergibt, der dich bewegt, der deine Weltsicht verändert und dein Herz aufblühen lässt. Trotzdem sind es eigentlich nur Striche und Punkte, die irgendwie den Weg in deinen Kopf gefunden haben. Erst du machst daraus etwas Großes, Bedeutendes. Genauso verhält es sich mit dem Leben: Du selbst hast es in der Hand aus diesem wirren Strudel von Momenten etwas zu machen, das größer ist als seine Teile. Sinn ist keine festgeschriebene Formel, keine Offenbarung. Sinn ist ein Gefühl.“
„Ziemlich philosophisch“, lobte Adrian, „und auch ziemlich atheistisch für eine Frau, die an eine ‚Mutter Flamme‘ glaubt.“
„Oh, ich glaube nicht an sie. Nicht in diesem Sinne. Ich bin nicht besonders religiös. Aber ich mag Geschichten. Natürlich sind Geschichten auch manchmal gefährlich und die falschen Geschichten können den Weg in Barbarei und Erstarrung ebnen. Aber gute Geschichten können inspirieren und Halt geben und dafür muss man nicht einmal daran glauben, dass sie wahr sind“, erklärte ich schmunzelnd.
„Du bist eine beeindruckende Frau“, sagte Adrian als wir die letzten der An-Jyll passierten und durch das noch immer geöffnete Tor in die Stadt traten.
Er sagte es ohne dabei übertrieben schmeichelnd oder schleimig zu klingen, weswegen ich in seinen Augen nach einem Zeichen von Ironie oder Lüge suchte. Ich fand nichts davon. „Mag sein“, sagte ich deshalb keck, „ich stamme ja auch aus einem beeindruckenden Volk.“
Kurz darauf erreichten wir den Sitz des Jyllat, ein kuppelförmiges, ebenfalls ganz aus verhärteter Jonmella gebautes und mit gelben Kristallen verziertes Gebäude, vor dem vier Wachen in zeremoniellen, blassroten Uniformen standen. Diese Wachen waren unbewaffnet, da sie nicht wirklich dem Schutz des Jyllats dienen, sondern eher den symbolischen Schutz unserer Gesetze repräsentierten. Dennoch beäugten sie die Adrian und die anderen Neuankömmlinge neugierig.
„Hier trennen sich unsere Wege“, sagte ich zu dem Söldnerführer, „Gehe zum Tor und erzähle den Wachen, dass du und deine Leute beim Jyllat vorsprechen wollt, um euch als Söldner zu bewerben. Wir sehen uns dann zur Anhörung wieder. In der Zwischenzeit kannst du auch nach Verpflegung fragen. Wir haben auch nicht nur Jonmella, falls du das befürchtest.“
„Das werde ich mir merken“, sagte Adrian verschmitzt.
„Gut“, sagte ich und während der Söldner sich dicht gefolgt von der Andrin und seinen Soldaten in das Jyllat-Gebäude begab, bewegte ich mich auf das viel kleinere, schlichtere und schmucklosere Gebäude zu, in dem ich lebte und arbeitete. Die Jyllati – die zufällig ausgewählten Mitglieder des Jyllats – hatten mich und viele vor mir zur Arnivel bestimmt und da unsere Macht von unserem Volk ausging, sahen wir keinen Grund, uns über es zu erheben. Die wahre Macht lag ohnehin beim Jyllat. Wann immer ein Arnivel grausam gegen andere Jyllen gehandelt oder sein Amt auf andere Weise missbraucht hatte, war es ihm über kurz oder lang wieder entzogen wurden. Manche Fraktionen, wie die Zrynada oder die religiösen Pyreen waren unzufrieden damit, dass dem bzw. der Arnivel kein „härteres Durchgreifen“ erlaubt war, aber ich konnte sehr gut damit leben.
Der Sitz des Arnivel bestand aus sieben Räumen. Einem Raum, der der Körperpflege und Hygiene diente, einem Speiseraum, inklusive einem Vorratsmodul mit Zubereitungsmöglichkeiten für gewöhnliche Nahrungsmittel und einem direkten Anschluss an die Jonmella, sowie drei Privaträume, die dem Arnivel, sowie seinen beiden Beratern gehörten, die traditionell aus seinem aktuellen und seinem letztem Lebensgefährten bestanden. Dies mag nach Vetternwirtschaft klingen, aber so ist es nicht. Zum einen haben wir die Erfahrung gemacht, dass jene, die den Arnivel gut kennen ihn auch am besten ergänzen können, da niemand anders seine Stärken und Schwächen so gut beurteilen konnte. Zum anderen war so sichergestellt, dass er sein Privatleben und die damit verbundene Ausgeglichenheit behalten kann, ohne dabei von seiner Aufgabe abgelenkt zu werden. Vor allem aber endet das Amt des Arnivel ohnehin nach einer festgelegten Zeit, weswegen er kaum Gelegenheit hätte, irgendwelche Seilschaften aufzubauen. Hinzu kamen das Büro des Arnivel und der kleine Anhörungssaal direkt am Eingang, in dem gelegentlich Fraktionsführer, Bürger oder Gäste empfangen wurden und in dem wir drei den Großteil unseres Arbeitstages verbrachten.
Dies war auch der Raum, in dem mich Surano und Zrivarna empfingen, als ich grübelnd und mit dem Staub des Kampfes bedeckt in das Gebäude zurückkehrte.
„Hallo Scavinee“, sagte Surano fröhlich, „schön zu sehen, dass deine Flamme noch brennt“, seine Erleichterung war ihm dabei deutlich anzumerken, jedoch nur, weil ich ihn bereits seit unseren Kindertagen kannte. Für Fremde oder oberflächliche Bekannte war sein Gesicht stets so gut wie unbewegt.
Ohnehin war Surano – mit seinen kurzgeschnittenen, hellgelben Haaren und dem traditionellen, eigentlich selbst bei den meisten Konservativen aus der Mode gekommenen, steifen und dunkelgrauen Jylva-Gewand – die fleischgewordene Entsprechung einer frisch errichteten Steinmauer. Standhaft, undurchsichtig, reizlos, etwas rau und dennoch zuverlässig, wenn man Halt brauchte. Obwohl er nicht gänzlich unattraktiv war, hatten mich mehr die Not und die Freundschaft als die Leidenschaft in seine Arme getrieben. Zwar stand es jedem normalen Bürger frei sich für die Partnersuche so viel Zeit zu lassen wie er wollte, aber für den oder die Arnivel galt das nicht, da die Beraterämter schnellstmöglich besetzt werden mussten. Schon während meiner Zeit mit Zrivarna hatte ich Surano deshalb als ihren Nachfolger bestimmen müssen, weil ich schlicht nicht die Kraft gehabt hatte, lange nach jemand anderem zu suchen. Wir hatten – wie bereits erwähnt – auch Kinder miteinander gezeugt, um kein Gerede aufkommen zu lassen. Doch während er ihre Zeugung einigermaßen genossen zu haben schien, was selbst in solchen Situationen bei ihm nicht einfach zu erkennen war, hatte ich dabei kaum etwas gefühlt.
Mit Zrivarna war mein Leben ganz anders gewesen. Verrückt und leidenschaftlich, so wie auch sie selbst äußerst leidenschaftlich war. Zrivarna war Wissenschaftlerin und zugleich Künstlerin, was bei uns keine so seltene Kombination war. Wir versuchten möglichst viel aus unserem vergleichsweise kurzen Leben zu machen, solang unsere Flamme noch brannte. Auch jetzt gerade widmete Zrivarna, die noch immer jedes enge, dunkelrote Kleid trug, welches ich ihr geschenkt hatte, als wir beide noch Anmella – also verbunden – gewesen waren, der Kunst. Auf ihrem Schoß ruhte eine halb vollendete Skulptur aus hellgrauem Stein, die sie bearbeitete, indem sie ihren leicht korrosiven Speichel darauf auftrug und so Linien, Rundungen und Kanten schuf. Soweit ich das erkennen konnte, sollte diese Skulptur „Anmunee“ darstellen. Eine gefeierte Kriegsheldin unseres Volkes, die vor etwa zweihundert Jahren unsere Stadt durch einen geschickten Überraschungsangriff mit ihren Zrym vor einer Eroberung durch die Rorak bewahrt hatte. Jeder Jyllen kannte und schätzte sie für ihren Mut und ihr taktisches Geschick. Dennoch hat man sie schon kurz nach ihrer Heldentat gezwungen in die Jonmella zu steigen. Man hatte ihr vorgeworfen, die Chavrila nicht geachtet zu haben und sie hatte sich sogar dann geweigert hatte, ihrem Partner zu entsagen, als man ihr ausnahmsweise, wegen ihrer Verdienste für die Jyllen, ihre Strafe erlassen wollte, wenn sie dies tat. Wahrscheinlich war das auch der Grund, warum Zrivarna diese Skulptur anfertigte: Für sie war Anmunee genau deshalb eine Heldin gewesen und nicht wegen ihres Kriegsgeschicks.
Zrivarna sah von ihrer Arbeit auf und begrüßte mich auf ihre eigene Art. Ohne Worte, doch mit Schmerz im Blick und mit zitternden Lippen. Sie wollte sich ihre Gefühle nicht anmerken lassen. Dieser Raum war öffentliches Terrain. Selbst wenn gerade niemand hier war, konnte jeder Bürger ohne Anmeldung eintreten. Privatsphäre gab es nur in der Nacht. Am Tag hatten sich der Arnivel und seine Berater im Anhörungsraum aufzuhalten. Selbst wenn Kriegseinsatz, Hygiene, Nahrungsaufnahme oder andere Aufgaben unsere temporäre Abwesenheit entschuldigten, musste sich immer mindestens einer von uns hier befinden, damit die Bürger einen Ansprechpartner hatten. Zrivarna wusste all das und deshalb wollte sie möglichst nicht riskieren öffentlich ihre Fassung zu verlieren.
Ich verstand sie gut. In meinem Inneren sah es nicht viel anders aus, auch wenn ich es besser verbarg. Es wurde wirklich Zeit, dass diese verfluchte Chavrila abgeschafft wurde. Aber die Chancen dafür standen miserabel. Die Garvilla-Fraktion war nach der letzten Losperiode stark genug gewesen, um mich zu wählen, aber für eine solche Gesetzesänderung bräuchte es eine Zweidrittelmehrheit. Diese würde es für uns niemals geben, solange dieser verfluchte Krieg andauerte. Die Leute klammerten sich in Zeiten der Gefahr besonders fest an Traditionen.
„Sie brennt in der Tat noch, Surano“, sagte ich, ging ein paar Schritte auf ihn zu und ging mit ihm „Anmella“, ohne jede Leidenschaft und nur, um die Etikette zu wahren. Unsere Zungen umschlangen sich nur für einen winzigen Moment und auch die Nervenstränge, die aus unseren Schultern und aus unseren Ellenbogen hervorschossen, um unsere Gefühle miteinander zu verbinden, stellten nur einen derart kurzen Kontakt zueinander her, dass ich wahrscheinlich aus dem Studium seines Gesichtes noch mehr über seinen Gemütszustand hätte erfahren können. Aber auch wenn die Anmella mit ihm alles andere als aufregend war, kostete sie mich auch keine allzu große Überwindung. Ich liebte Surano nicht, aber wenigstens mochte ich ihn, schon allein wegen all dem, was er für mich getan hatte, als wir beide noch Kinder gewesen waren. Zrivarna sah währenddessen weg.
„Was genau ist denn dort draußen geschehen“, fragte Surano mich, als wir uns wieder trennten, „Hat dieses Häufchen Rorak tatsächlich versucht uns anzugreifen?“
„Ja“, erwiderte ich, „Allerdings war es so wie wir vermutet hatten: Ihre eigenen Söldner haben sich gegen sie gewandt und sich stattdessen auf unsere Seite geschlagen. Der Kampf war schon vorbei gewesen, kaum dass er begonnen hatte.“
Plötzlich erwachte Zrivarnas Interesse an unserem Gespräch. „Das könnte unsere Chance sein“, sagte sie aufgeregt, „wenn nun sogar schon die Söldner es wagen, den Tyrannen die Treue zu brechen, können wir diesen Krieg vielleicht wirklich beenden. Zumindest, falls das nicht nur ein Einzelfall war und mehr Söldner so denken wie sie. Zusammen mit unseren Kontakten zu den Friedensstiftern könnte diese Unzufriedenheit genügen, um Sahkscha zu stürzen und einen neuen, dauerhaften Frieden auszuhandeln.“ – und uns endlich Hoffnung auf ein Zusammenleben zu geben fügte ihr Blick hinzu, ohne es auszusprechen.
„Wir sollten nichts überstürzen“, widersprach ich, auch wenn es mir wehtat, „Die Friedensstifter sind nach wie vor deutlich in der Unterzahl. Selbst mit allen Söldnern und mit den Ausgestoßenen, mit denen wir in Kontakt stehen, wäre der Ausgang einer Rebellion alles andere als sicher. Sahkscha ist dafür einfach zu stark und die Kriegslust der meisten Rorak ist noch um ein vielfaches stärker.“
„Sie müssen Sahkscha ja nicht allein stürzen“, widersprach Zrivarna, „wir können eine Großoffensive starten und sobald unsere Truppen vor ihren Toren stehen, erheben sich auf unser Signal hin auch die Söldner, die Harex und die kriegsmüden Rorak. Das könnte wirklich funktionieren, Scavinee. Nach all den Jahren hätten wir endlich Aussicht auf Frieden.“
„Ich würde es mir so sehr wünschen, Zrivarna“, sagte ich mit mehr Schmerz und Liebe in der Stimme als angemessen war, „das ist ein wundervoller Traum. Aber ich bin mir nicht sicher, ob es mehr ist als nur das. Wenn wir jetzt alles auf eine Karte setzen, können wir damit leichtfertig die Ausrottung unserer Spezies riskieren. Willst du wirklich ein so hohes Risiko eingehen und all unsere Schwestern und Brüder in den möglichen Tod schicken?“
„Das ist nun mal das Wesen des Krieges“, widersprach Zrivarna energisch, „deswegen hasse ich ihn ja so. Aber wenn wir ihn beenden wollen, müssen wir Risiken eingehen. Wir treiben dieses Spiel seit Generationen, Scavinee. Wir gewinnen etwas Land und verlieren es wieder. Die Rorak erobern eine unserer Städte und wir erobern sie zurück, ohne, dass sich irgendetwas Wesentliches tut. Wenn wir weiter eine Chance nach der anderen verstreichen lassen, wird das noch hunderte Generationen so weiter gehen. Das bedeutete viele Milliarden weiterer Leben, die von Angst bestimmt sein werden, die von Tod bestimmt sein werden, die von Hoffnungslosigkeit bestimmt sein werden, falls wir nicht schon vorher den Krieg oder – was beinah noch schlimmer wäre – uns selbst verlieren!“
„Unsere Stärke liegt aber leider gerade in unserem langen Atem“, widersprach ich, „Die Rorak vermehren sich viel langsamer als wir. Ihr technologischer Vorsprung hat sich seit knapp hundert Jahren, als sie diese verfluchten Driggdonn-Panzer entwickelt hatten, eher verringert als vergrößert. Sie mögen ihre seltsame Sahkscha-Magie und mehr Ressourcen und Disziplin haben, aber wir haben mehr und kreativere Wissenschaftler. Ohne den Zustrom der Söldner, die sie so verachten, hätten sie diesen Patt schon längst nicht mehr aufrechterhalten können. Wenn sie diesen Vorteil jetzt auch noch verlieren und wenn die Zahl der Kriegsmüden weiter wächst, werden wir die Rorak letzten Endes besiegen können. Aber das wird Zeit brauchen. Ein paar Jahre. Vielleicht auch nur einige Monate. Aber so lange werden wir warten müssen.“
„ICH WILL NICHT LÄNGER WARTEN!“, schrie Zrivarna so laut, dass sowohl Surano als auch ich zusammenzuckten und sogar einige Passanten neugierige Blicke durch den immer offenen Eingang riskierten und warf dabei ihre Anmunee-Skulptur so heftig zu Boden, dass sie zerbrach und sich im ganzen Anhörungssaal verteilten, „Wenn das alles ist, zu dem wir hier in der Lage sind, können wir uns auch gleich in die Jonmella stürzen.“
„Du vergisst dich, Zrivarna!“, tadelte ich sie, auch wenn mir ihr offensichtlicher Schmerz das Herz zerriss.
„Oh ja, ich vergesse mich“, sagte Zrivarna nun wieder deutlich leiser und mit vor Verzweiflung zitternden Händen, „Ich vergesse mich mit jedem Tag ein Stückchen mehr …“
„Vielleicht ist die Lage gar nicht so aussichtslos wie du meinst“, sagte Surano, der gerade einen Blick auf das Display an seinem rechten Unterarm warf, plötzlich.
„Inwiefern?“, fragte ich.
„Gerade habe ich einen Bericht von unseren Agenten erhalten. Im Reich der Rorak tobt ein Bürgerkrieg“, erklärte Surano.
„Was?“, fragte ich vollkommen verblüfft.
„Es beginnt“, sagte Zrivarna und weinte gelbe Tränen der Erleichterung, die wie ein reinigender Regen über ihr Gesicht liefen, „Die Friedensstifter erheben sich!“
„Das leider nicht“, wiegelte Surano ab, „Aber die Hardliner um Unterdiant Derok erheben sich gegen die amtierende Sahkscha.“
„Die sind ja sogar noch schlimmer als die bestehende Regierung“, antwortete ich, „fanatische Rassisten, Frauenhasser und Kriegsfetischisten.“
„Das stimmt“, sagte Surano, „dennoch könnte uns das entstehende Chaos nützen. Derok und sein Männerbund ist zwar – wenn man das gesamte Rorak-Imperium betrachtet – zahlenmäßig nicht viel stärker als die Friedensstifter, aber gerade im Hauptquartier und in der umliegenden Stadt sind sie eine nicht zu unterschätzende Macht und haben viele Anhänger in zentralen Positionen. Außerdem sind sie gut ausgerüstet und haben sich lange auf diesen Schritt vorbereitet, auch wenn ich nicht damit gerechnet hätte, dass ich ihre Rebellion noch erleben würde. Wenn nun allerdings wirklich Bürgerkrieg herrscht und sich die Rorak gegenseitig an die Gurgel gehen, ist Zrivarnas Plan längst nicht mehr so riskant, wie er scheint.“
„Bekämpfen sie sich denn bereits?“, wollte Zrivarna wissen.
„Noch nicht. Derok mobilisiert wohl noch seine Truppen, nachdem er all seine Verbündete in einer Nacht- und Nebelaktion aus dem Hauptquartier geholt hat um einer möglichen Säuberung durch Sahkschas Schatten zuvorzukommen und Sahkscha bereitet sich auf den Sturm vor, der da kommen wird. Unsere Informanten außerhalb des Hauptquartiers meinten aber, dass es wohl nur noch eine Frage von Tagen ist. Fall es überhaupt so lange dauern wird“, antwortete Surano.
„Wir müssen handeln, Scavinee“, flehte Zrivarna, „wahrscheinlich wird der Sieger schnell feststehen und wenn er feststeht, ist unsere Gelegenheit vertan. Nur solange sie uneins sind, können wir losschlagen. Außerdem: Sollte Derok gewinnen, könnte es für uns noch übler werden als zuvor. Nach allem, was wir über ihm wissen, ist er ein rücksichtsloser Bastard, gegen den Sahkscha noch eine vernünftige Gegenspielerin ist. Wahrscheinlich wird er auch nicht vor experimentellen Waffen zurückschrecken, die das Risiko bergen seinen eigenen Leuten zu schaden. Vielleicht nimmt er sogar die Zerstörung von ganz Konor in Kauf. Ich bitte dich, Scavinee, wir müssen angreifen!“
Ich sah in die Augen der Frau, die ich liebte und sah ihre Entschlossenheit. Dann sah ich zu dem Mann, den ich respektierte und registrierte sein überzeugtes Nicken. Beides schaffte es nicht meine Zweifel gänzlich zu beseitigen, aber dennoch …
„In Ordnung“, sagte ich, „wir werden angreifen. Ich werde Botschaften an die Con-Arnivel aller grenznahen Siedlungen schicken, damit sie uns so viele ihrer Soldaten, Zrym und Panzer entsenden, wie möglich.“
„Danke, Scavinee“, sagte Zrivarna begeistert, „damit tust du unserem Volk einen großen Gefallen!“
„Ich hoffe es“, sagte ich, „aber es gibt eine Bedingung: Bevor wir losschlagen, will ich mich der Unterstützung der Söldner versichern.“
„Und wie willst du das anstellen?“, fragte Surano, „unsere Kontakte zu den Söldnern sind dürftig, um nicht zu sagen inexistent. Die meisten von ihnen befinden sich im Hauptquartier unter ständiger Aufsicht von Sahkschas Schatten. Wie soll es uns da gelingen mit ihnen Kontakt aufzunehmen?“
„Uns vielleicht nicht. Aber mit etwas Glück haben wir bald einige neue Söldner in unseren Reihen, die das für uns leisten könnten“, erklärte ich.
„Die, die sich gegen die Rorak erhoben haben?“, fragte Surano skeptisch.
„Genau die“, antwortete ich, „wenn wir einige von ihnen mit unseren schnellsten Panzern oder mit den Zrym transportieren sind sie in wenigen Stunden in der Nähe des Hauptquartiers, selbst wenn wir berücksichtigen, dass wir sie nicht so nah heranbringen können, dass die Aufklärer der Rorak etwas davon mitbekommen. Sobald sie erst das Hauptquartier erreicht haben, können sie sich zum Schein erneut den Rorak-Söldnern anschließen und für uns spionieren.“
„Ich glaube, das stellst du dir etwas zu einfach vor, Scavinee“, protestierte Surano, „Immerhin ist es nicht ausgeschlossen, dass die Rorak vom Verrat dieser Söldner Wind bekommen haben.“
„Das glaube ich nicht. Du hättest sehen sollen, wie ihr Anführer, Adrian, unter den Rorak gewütet hatte. Selbst ohne unsere Hilfe hätten er und seine Leute sie vielleicht überwunden. Sie haben irgendwas mit ihm angestellt. Er ist zur Hälfte ein kybernetischer Organismus und das ist noch nicht alles. Er … er hat Reflexe und eine Zielgenauigkeit, die schier unbeschreiblich ist. Und seine Präsenz hat etwas … Einnehmendes. Als wäre seine Seele größer als die anderer Wesen. Wenn sich so jemand plötzlich gegen dich richtet, denkst du nicht daran Meldung an deinen Vorgesetzten zu machen, dann denkst du nur an dein nacktes Überleben. Außerdem werden sie ihre Rebellion gut geplant haben und du weißt so gut wie wir alle, dass die Rorak-Kommunikation streng hierarchisch funktioniert. So idiotisch es ist: Nur der Anführer eines Trupps hat die Möglichkeit Nachrichten ans Hauptquartier zu senden. Adrian weiß das bestimmt. Er wird den Anführer seiner Einheit also mit Sicherheit als Erstes ausgeschaltet haben“, konterte ich.
„Nehmen wir einmal an, du hast recht“, sagte Surano, wobei er sich nervös die Stirn knetete – ein Zeichen dafür, dass er die Argumentation seines Gegenübers für mindestens mittelgroßen Schwachsinn hielt, „dann glaube ich dennoch nicht, dass die Rorak deinen Adrian und seine Leute einfach wieder aufnehmen werden. Sie sind in ihren Augen Versager und als solche könnten sie noch froh sein, wenn man sie friedlich auf den Straßen ihrer Stadt verhungern lässt.“
„Normalerweise mag das stimmen“, sprang mir Zrivarna bei, „aber Sahkscha ist in Bedrängnis. Wenn Derok praktisch vor ihrem Thronsaal lauert, wird sie keine Unterstützung ablehnen, egal ob erfolgreich oder nicht. Im Grunde kann sie sich sogar keinen besseren Verbündeten als ihn wünschen. Nicht nur, weil er solch eine Kampfmaschine ist, wenn das stimmt, was Scavinee beschreibt, woran ich nicht zweifle. Anders als ihren eigenen Leuten steht er auch nicht im Verdacht einer von Deroks Agenten zu sein, da Derok jeden, der kein Rorak ist, inbrünstig hasst. Sie wird ihn mit Sicherheit aufnehmen und wenn er die anderen Söldner davon überzeugen kann, dass wir für ein Ende ihrer Unterjochung und ein Leben in gegenseitiger Toleranz stehen und dass wir gute Chancen haben die Rorak zu schlagen, haben wir so gut wie gewonnen. Dann haben wir Verbündete im Herzen des Feindes und wenn wir dann mit unserer gesamten Stärke angreifen, helfen ihnen selbst ihre beschissenen Driggdonn-Panzer nicht mehr weiter.“
„Was ist nur in euch beide gefahren?“, fragte Surano, “habt ihr einmal darüber nachgedacht, was passiert, wenn dieser Adrian oder einer seiner Leute unseren Plan verrät? Er hat einmal die Seiten gewechselt, warum sollte er das nicht wieder tun?“
„Ich sehe keinen Grund, aus dem er das tun sollte. Er und seine Leute haben ein großes Risiko auf sich genommen als sie sich Mitten im Sturm auf unsere Stadt gegen die Rorak gewendet haben. Sie konnten sich nicht sicher sein, dass wir ihnen helfen. Außerdem haben sie alle unter den Rorak gelitten. Ich sah es in ihren Gesichtern. Sie haben keine Liebe für sie übrig. Nein, Surano. Dies taten sie nicht leichtfertig, sondern aus Überzeugung.“
„Warum stellst du dich denn plötzlich überhaupt so quer?“, fragte Zrivarna, „du warst doch gerade noch selber für diesen Angriff.“
„Ja, weil ich denke, dass die Uneinigkeit unserer Feinde vollkommen ausreicht. Wir können das Schicksal aller Jyllen doch nicht von der Loyalität eines fremden Söldners abhängig machen.“
„Das ist rassistisch“, sagte Zrivarna.
„Das ist nicht rassistisch“, sagte Surano, „das ist vernünftig. Seine Herkunft wäre mir vollkommen gleichgültig, wenn ich ein paar Monate mit ihm gelebt hätte. Aber wir kennen ihn kaum. Wie sollen wir ihm dann vertrauen?“
„Sahkscha hat ihm vertraut“, wandte Zrivarna ein.
„Und DAS soll mich beruhigen? Außerdem hat sie ihn BENUTZT. Das ist ein Unterschied“, antwortete Surano.
„Schluss damit!“, sagte ich, „wir werden diesen Plan verfolgen.“
„Aber …“, wollte Surano aufbegehren.
„Ich bin die Arnivel. Es liegt an mir diese Entscheidung zu treffen und ich halte meinen Plan – trotz aller mehr oder weniger berechtigten Zweifel – für den Besten.“
„Für eine Garvilla redest du ganz schön autoritär“, sagte Surano, der selbst der eher zentristischen Onvilla-Fraktion angehörte, „eigentlich dachte ich, dass du selbst nicht viel von Macht hältst.“
„Halte ich auch nicht. Ich habe sie nie gewollt. Aber der Jyllat hat sie mir nun einmal verlieren. Und jetzt wo ich sie habe, will ich sie nach bestem Wissen und Gewissen nutzen“, erwiderte ich.
Zrivarna sah mich dankbar an, während Surano sichtlich mit sich rang, wobei er sich zu einem Nicken zwang. Äußerlich blieb er gefasst, wie es nun mal seine Art war, jedoch floss ein winziger Speicheltropfen aus seinem Mund, der sich trotz seiner geringen Größe zischend in den nicht aus Jonmella, sondern aus glänzendem silbrigen Stahl bestehenden Boden fraß. Der Tonfall der Worte, die daraufhin seinen Mund verließen, war nicht weniger ätzend, wenn auch nicht offen aggressiv, „Wo wir gerade beim Jyllat sind, liebste Scavinee: Anscheinend hast du die Rechnung ohne ihn gemacht, denn wenn sie deine Söldner nicht akzeptieren, wird aus all dem nichts.“
„Daran habe ich natürlich gedacht“, sagte ich, ohne mich aus der Ruhe bringen zu lassen, wobei es eigenartig war sich einmal besonnener zu fühlen als der sonst stets so beherrschte Surano, „Im Jyllat sitzen im Moment 368 Garvilla, 281 Onvilla, 220 Zrynada und 131 Pyreen. Für den Abschluss neuer Söldnerverträge reicht eine einfache Mehrheit von 501 Stimmen. Die Stimmen der Garvilla-Fraktion werde ich mit etwas Überzeugungsarbeit wahrscheinlich bekommen. Die Pyreen können wir vergessen. Sie sind zwar nicht so fremdenfeindlich wie die Rorak, aber sie sind dennoch fest davon überzeugt, dass Mutter Flamme uns allein dazu auserkoren hat unsere Kriege zu führen. Nicht wenige der Zrynada denken ähnlich, zumal sich unter ihnen auch einige befinden, die mich absolut nicht leiden können und schon deshalb gegen alles Stimmen würden, was auch nur ansatzweise nach einem Erfolg für mich aussehen könnte. Trotzdem sollte man sie in dieser Angelegenheit nicht außer Acht lassen. Die Onvilla haben damals mehrheitlich für meine Ernennung gestimmt, wobei ihnen mein Gegenkandidat wohl einfach zu radikal-religiös war. Sie lieben mich nicht gerade, aber ich denke dennoch, dass wir hier am ehesten auf Stimmen hoffen können. Aber es bleibt eine Unsicherheit, denn letztlich entscheidet jedes Jyllat-Mitglied für sich selbst. Deshalb meine Bitte an euch: Tut was ihr könnt, um die Jyllati zu überzeugen.“
„Auf mich kannst du zählen“, sagte Zrivarna, „auch wenn ich nicht weiß, welchen Einfluss ich nehmen kann. Ich war vor meiner Zeit als Beraterin, wie du ja weißt, Künstlerin und Biologin und habe mich mehr mit Skulpturen und Zellkulturen, als mit der Politik, dem Knüpfen von Kontakten oder dem Aufbau meines Charismas beschäftigt.“
„Trotzdem danke ich dir, Zrivarna“, antwortete ich mit einem angedeuteten Lächeln, „ich weiß nämlich noch zu gut, wie überzeugend du sein kannst.“
Wir wechselten einen kurzen Blick, der die Schönheit der Erinnerung mit dem Schmerz des Augenblicks verband. Dann wandte ich mich an Surano, „Wie sieht es mit dir aus, Surano.“
„Den Jyllat zu überzeugen ist eigentlich die Aufgabe der Söldner und die deine, falls du als ihre Fürsprecherin auftrittst“, antwortete Surano kühl.
Auch wenn mich seine Skepsis nicht überraschte, enttäuschten mich seine Worte dennoch, „Du bist mein Berater, verdammt! Und mein Anmella. Wie kannst du mich da im Stich lassen?!“, donnerte ich.
Surano sah mich auf eine überhebliche, fast schon väterliche Art an, die er zum Glück nicht oft an den Tag legte, die mich aber jedes Mal zur Weißglut brachte. „Was hat das damit zu tun? Ein Berater gibt dir seinen Rat und ein Anmella seine Liebe. Zu beiden Rollen gehört es nicht Jyllat-Mitgliedern in ihre Gewissensentscheidungen reinzureden. Aber ich werde dennoch mein Bestes tun, um den Onvilla, die ich kenne, die Argumente näherzubringen, die du vorbringst. Ich werde aber weder irgendwelche Psychotricks anwenden, noch die Lage beschönigen oder mit meiner eigenen Meinung hinter dem Berg halten. Das ist alles, was ich dir anbieten kann.“
„Das ist nicht gerade viel“, sagte ich leicht verärgert.
„Aber das ist mein letztes Wort“, sagte Surano, „ich bin dein Anmella, nicht dein Sklave.“
Es folgte eine angespannte, frostige Stille, die erst endete, als Zrivarna das Wort ergriff, „Wir sollten etwas essen“, schlug sie vor, „das wird uns allen guttun.“
„Das ist eine wunderbare Idee“, sagte ich, „der Kampf und dieses Gespräch haben mich mehr ausgelaugt als ich erwartet hätte.“
„Geht ruhig“, sagte Surano nüchtern, „ich habe keinen Hunger. Ich werde derweil die Stellung halten und das entsorgen, was von Zrivarnas Kunstwerk übrig geblieben ist. Sobald ihr wieder zurück seid, würde ich mich gerne ein wenig um die Stadtkinder kümmern, wenn meine Arnivel nichts dagegen hat…“
„Aber …“, wollte ich einwenden.
„Keine Angst“, erwiderte Surano, „in der Jugendhalle werden auch einige Leute aus dem Jyllat sein, mit denen ich reden kann.“
„In Ordnung“, sagte ich und kam mir schäbig vor Suranos Ehrenhaftigkeit so in Frage gestellt zu haben, noch dazu, wo er nichts weiter verlangte, als einen Dienst an der Gemeinschaft tun zu dürfen, „Grüße Sira und Onwavinee von mir.“
Dabei handelte es sich um ein Mädchen und einen Jungen, die ich von meinen viel zu seltenen Besuchen in der Jugendhalle kannte. Dennoch hatte ich die beiden liebgewonnen und sie mochten mich. Zumindest war das vor einigen Monaten noch der Fall gewesen.
„Das werde ich tun“, antwortete Surano knapp.
Kurz dachte ich darüber nach, ob ich noch einmal „Anmella“ mit ihm gehen sollte, aber so richtig war ich nicht in der Stimmung und als Zrivarna mich aufforderte, mit mir etwas Essen zu gehen, folgte ich ihr und ließ Surano allein im Anhörungssaal zurück.
~o~
Kurz darauf befanden Zrivarna und ich uns gemeinsam im Speiseraum. Es war der einzige Ort, an dem wir wenigstens noch für einen Moment allein sein konnten. Unsere Privaträume waren füreinander Tabu und im Anhörungssaal waren wir zumindest theoretisch stets auf dem Präsentierteller der ganzen Stadt, selbst wenn Surano einmal nicht bei uns war.
In dem Raum gab es einen Tisch mit vier Stühlen, direkt neben einem Vorratsmodul aus dem man bei Bedarf verschiedene Speisen wählen und zubereiten lassen konnte. Diesen benutzte ich jedoch meist nur allein oder zusammen mit Surano.
Für diesen kurzen, privaten Moment, der nicht mehr als vielleicht fünfzehn oder zwanzig Minuten andauern durfte, um keinen Verdacht zur erregen, wählten wir hingegen die Jonmella. Der Konsum der Jonmella war aus mehreren Gründen eine fast schon erotische Erfahrung. Das begann damit, dass wir die gelbliche Flüssigkeit, aus der wir alle zu einem guten Teil bestanden und in der viele von uns eingegangen waren oder irgendwann eingehen würden nicht durch den Mund aufnahmen, sondern durch unsere Nutrion – dicke, bewegliche Schläuche, die in unseren Bauchnabel angelegt waren, und die wir genau wie unsere Anmella-Nervenstränge aus unseren Körpern hervorschießen lassen konnten. Zum einen benutzten wir ebenjene empfindlichen Verbindung zusammen mit unseren Anmella-Strängen auch beim Liebesspiel und für die Fortpflanzung, weswegen die Assoziationen hierzu fast zwangsläufig entstanden. Zum anderen mussten wir nackt sein, um sie ohne größere Schwierigkeiten verwenden zu können, ganz abgesehen davon, dass dies auch die Tradition gebot. Deswegen sah ich nun Zrivanas aufregenden Körper ohne jede Hülle vor mir.
Ich betrachtete ihre muskulösen Schultern, ihre feinen, definierten Schlüsselbeine, die Wölbung ihrer Brüste, die spitzer und schmaler waren als etwa bei Andrin oder Bravianern, sowie die empfindliche Öffnung zwischen ihren Beinen, die nur der Eiablage und dem Empfinden von Lust, jedoch nicht der Ausscheidung von Abfallstoffen diente. Prozesse, die den Stoffwechsel betrafen, regelten sich bei uns Jyllen ausschließlich über den Nutrion, den Zrivarna in diesem Moment aus ihrem Bauchnabel hervorschnellen ließ, um ihn in die Jonmella zu tauchen.
Zuletzt blieb mein Blick an ihren kräftigen Oberschenkeln und den schlanken Unterschenkeln hängen, die in Füßen mit sechs wohlgeformten Zehen endeten, wenn man von dem einen Zehn an ihrem linken Fuß absah, der seit ihrer Geburt etwas verkümmert war, was sie jedoch im Alltag kaum einschränkte.
Wir wechselten einen Blick, der mit Leidenschaft begann, jedoch bereits eine Sekunde später nichts weiter ausdrückte als Schmerz.
Der Gedanke an unsere Vereinigung, die für mich früher zu den schönsten Erfahrungen in unserem gemeinsamen Leben gehört hatte, die uns hatte lachen, weinen, verschmelzen und erbeben lassen, tat nun, wo er nicht mehr als bloße Vorstellung ohne Hoffnung auf Erfüllung war, einfach nur noch weh. Ihr schien es in dieser Hinsicht nicht anders zu gehen.
Also wandte ich meinen Blick von ihr ab und tauchte stattdessen auch meinen Nutrion in die Jonmella.
Das Gefühl, wenn die Jonmella einen durchströmt, kann man einem Nicht-Jyllen nur schwer beschreiben. Es ist ein wenig wie nach Hause zu kommen, wie sich noch einmal in die Wärme des Mutterleibs oder den Schutz der Eierschale zu hüllen, nur ist es gleichzeitig viel aufregender, euphorisierender. So, als ob ein frischer Wind aus Minze und ätherischen Ölen durch die Körpermitte fegen und sich in jeder Ader, in jedem noch so feinen Kapillargefäß verteilen würde. Ja, technisch gesehen verzehren wir dabei unsere Toten, aber dank der speziellen Salze, mit denen wir die Jonmella präparieren, gibt es daran nichts Fauliges oder Ekelhaftes und falls doch, wird es durch den puren Druck der Euphorie aus unserem Bewusstsein gespült.
Trotzdem war es kein Vergleich zur Vereinigung mit einer Anmella, die man wirklich liebt, denn wenn das Verzehren der Jonmella vorüber ist, bleibt von diesem Hochgefühl kaum etwas zurück.
„Glaubst du, dass es irgendwann eine Zukunft für uns beide geben wird?“, fragte Zrivarna während die Nährlösung in unseren Bauchnabel floss, wobei mich der fast schon nüchterne, abgeklärte, resignierte Tonfall, in dem sie sprach, zutiefst traurig stimmte.
„Glaubst du etwas, dass unsere Offensive misslingen wird?“, fragte ich sie, um der emotionalen Dimension ihrer Frage auszuweichen, da ich andernfalls Gefahr gelaufen wäre mich in ein weinendes Häufchen Elend zu verwandeln.
„Natürlich halte ich das für möglich. Ich bin nicht dumm, Scavinee. Jeder Plan kann scheitern. Selbst ein noch so guter. Trotzdem mach ich mir wegen unseres Angriffs am wenigsten Sorgen, auch wenn das eigenartig klingt. Vor allem frage ich mich, ob ein Sieg das Denken der Jyllen wirklich ändern würde“, antwortete Zrivarna.
„Natürlich“, versuchte ich sie zu ermutigen, „wie sollte er das nicht? Wir sind keine Betonköpfe wie die Rorak. Wir sind – wenn auch mit Einschränkungen – ein freies Volk und wir sind es gewohnt uns anzupassen. Wenn der Krieg die Gedanken unseres Volkes nicht mehr beherrscht, werden die Traditionalisten an Einfluss verlieren oder aber ihre Meinung ändern. Wie sollten sie das auch nicht tun, angesichts der Morgendämmerung einer neuen Zeit?“
„Das mag ja stimmen“, sagte Zrivarna, die durch meine Worte kein bisschen aufgeheitert schien, obwohl ihr Nutrion unablässig flüchtiges, flüssiges Glück in sie hineinpumpte, „aber wie lang wird das dauern? Zehn Jahre? Zwanzig Jahre? Fünfzig Jahre? Wie lange dürfen wir darauf warten, dass der Jyllat die richtige Zusammensetzung bekommt? Wie viel Zeit wollen wir ungenützt verstreichen lassen? Wir sind nicht mehr die Jüngsten, Scavinee. Ich bin dreiundzwanzig Jahre alt und du bereits fünfundzwanzig. Wie viel Zeit bleibt uns noch, bevor unsere Flamme erlischt? Selbst wenn wir beide neunundvierzig werden sollten, bevor wir anfangen auszubrennen, kann es gut sein, dass wir den Rest unseres Lebens unter dem Joch der Charvela verbringen müssen. Würdest du das wollen, Scavinee?“
„Selbstverständlich nicht“, erwiderte ich verzweifelt, „aber was willst du stattdessen tun? Willst du das Risiko eingehen in die Jonmella geworfen zu werden? Willst du mit mir fliehen und dich in der Wildnis verstecken? Gar in den unbegehrten Landen? Oder bei den Dämonen unter der Oberfläche?“
„Nein“, sagte Zrivarna und sprach dabei mit einem Mal sehr leise, „aber ein gewonnener Krieg bietet Gelegenheiten. Dinge müssen neu geordnet werden, Land neu besiedelt, zerstörtes muss wiedererrichtet werden. Es wird eine Zeit der Veränderung sein, damit hast du recht. Aber wer sagt, dass es eine langsame, behutsame Veränderung sein muss? Viele der jüngeren Jyllen, gerade in den frontfernen Städten wie Hujannen, oder Unnavi, aber selbst hier in Neu-Arganon, fühlen sich der Garvilla-Fraktion zugehörig. Anderen geht diese in ihren Forderungen sogar nicht weit genug, weswegen sie sich Geheimbünden wie dem „Freiströmenden Fluss“, den „Kindern des Wandels“ oder dem „Innivat-Orden“ angeschlossen haben.“
„Das sind Extremisten!“, sagte ich schockiert.
„Sie sind im Jyllat nicht anerkannt, ja“, sagte Zrivarna ruhig, „aber sie wollen dennoch das Richtige. Außerdem sind es viele. Und sie sind entschlossen. Vor allem aber finden sich unter ihnen einige der besten Wissenschaftler, Soldaten und Zrym-Piloten unseres gesamten Volkes. Wenn wir diese Kräfte bündeln und auch die moderateren Garvilla von unserer Sache überzeugen, können wir das alte System stürzen und durch ein neues ersetzen. Wir schmeißen all die ewig-gestrigen Zrynada, all die frömmelnden Pyreen, ja sogar die opportunistischen Onvilla aus dem Jyllat. Dann steht die Chavrila ein paar Wochen später nur noch in den Geschichtsbüchern.“
„Du sprichst hier über Revolution, Zrivarna!“, tadelte ich sie schockiert, „Über Hochverrat. Hast du vergessen, wer ich bin? Ich bin unsere verdammte Arnivel. Die Hüterin unserer Gesetze und damit die letzte die man zur Mitverschwörerin bei einem Umsturz machen sollte. Eigentlich müsste ich dich für diese Pläne sofort festnehmen lassen.“
„Aber das wirst du nicht tun“, sagte Zrivarna erstaunlich ruhig.
„Nein, werde ich nicht“, stimmte ich zu, „weil du deine hirnrissigen Pläne schnellstens wieder vergessen wirst. Wie kannst du auch nur daran denken, Fortschritt zu erlangen, indem du deinen Schwestern und Brüdern Gewalt antust. Veränderung lässt sich nicht mit dem Säurestrahler erzwingen. Jedenfalls nicht die gute Art der Veränderung.“
„Das ist es nicht, was ich will“, antwortete Zrivarna, „wir werden ihnen kein Leid antun. Wir wollen sie lediglich von der Macht fernhalten, bis sie zur Vernunft gekommen sind!“
„Und was, wenn sie sich nicht fernhalten lassen? Willst du sie lieb darum bitten?“, hakte ich nach.
„Es gibt mehr Möglichkeiten mit Widerspruch umzugehen, als nur Quatschen und Morden“, sagte Zrivarna.
„Ach ja, und welche?“, fragte ich, „Gefängnisse? Gehirnwäsche? Folter? Ich verstehe dich doch, Zrivarna. Die Chavrila ist eine Ungeheuerlichkeit. Sie tut uns seit Generationen seelische Gewalt an, aber wir können sie nicht durch Gewalt beenden. Wir Garvilla haben schon so viel verändert. Wir haben unser Volk vom Joch der Gier befreit, wir haben eine Wirtschaftsordnung erschaffen, die dem Gemeinwohl und nicht der Gewinnung von persönlichem Reichtum dient, wir haben einen Jyllat an dem jeder Bürger teilhaben kann, wir haben viele gute und sinnvolle Gesetze. Trotz des Jahrhunderte währenden Krieges. All das haben wir durch langsame Veränderung erreicht. Durch behutsame, aber beharrliche Evolution. Nicht durch Gewalt.“
„Sieh mir in die Augen, Scavinee!“, verlangte Zrivarna, während der Strom aus Jonmella langsam versiegte, weil unsere Körper genug davon hatten.
Verwirrt, aber beinah reflexartig gehorchte ich ihr. Ihre Augen waren hypnotisch. Dunkelgelbe, schimmernde Kugeln mit einem ockerfarbenen Ring um die Pupille, in die Mutter Flamme – oder wohl eher die unbewusste Hand der Natur – rubinrote Einsprengsel hinein gestreut hatte.
„Nun sag es mir, Scavinee: Liebst du Surano? Verzehrst du dich nach ihm?“, fragte sie.
Ich suchte nach Worten. Nach einer Ausflucht, nach einer wortgewandten Erklärung, aber diese Augen ließen sich nicht betrügen. „Nein“, flüsterte ich.
„Immerhin bist du ehrlich“, stellte Zrivarna fest, während sie ihren Nutrion zurückzog und begann ihre Kleidung wieder anzuziehen, „Und würdest du es ‚Leben‘ nennen deine Zeit an seiner Seite zu verbringen? Und nach ihm an der Seite eines weiteren Anmella, der diesen Namen nicht verdient, weil du verdammt nochmal mich liebst? Wärst du nicht bereit alles dafür zu tun, um das zu verhindern?!“ Bei den ihren letzten Worten tropften ein paar von Wut genährte hoch korrosive Tropfen Speichel auf den Boden und warfen selbst auf dem besonders widerstandsfähigen Boden dieses Raumes Blasen.
„Nicht alles!“, sagte ich entschlossen, während auch ich mich anzog.
„Dann gibt es nichts mehr zu sagen“, antwortete Zrivarna verbittert.
~o~
Als ich das Gebäude verließ, fühlte ich mich so verloren wie lange nicht in meinem Leben, was wohl genau die Art von Gemütszustand ist, in den die Anführerin eines ganzen Volkes besser nicht verfallen sollte. Ich hasste mich dafür, machte mir Selbstvorwürfe, was aber nur dazu führte, dass es mir noch schlechter ging. Letzten Endes war es auch nicht verwunderlich. Es war ein schöner Tag. Weit und breit waren keine Truppen der Rorak zu sehen, die Zrym glitten frei und anmutig durch den Himmel und tranken aus den für sie bereitstehenden Jonmella-Tränken oder jagten in den Straßen nach Kleintieren. Die Soldaten und Zivilisten, die nicht gerade ihrer Arbeit nachgingen, spielten miteinander Karten, Würfelspiele, Ballsportarten, stöberten im Bionet oder vergnügten sich in nur halb ernst gemeinten elektronischen Kampfsimulationen mit individuell gestalteten Fantasiegegnern und Projektilen aus Süßigkeiten und lachten dabei viel.
Dies war wohl auch einer der Gründe, aus denen wir diesen schier endlosen Krieg so lange überstanden hatten: Wir gönnten uns bei unserer Arbeit und unserem Kampftraining genügend Zeit für Pausen, Schlaf und Fröhlichkeit und fürs Nachdenken und waren deshalb äußerst gesund, streßresistent, psychisch relativ stabil und dadurch auch effektiv geblieben. Wären die Rorak uns körperlich nicht so stark überlegen, hätten wir sie wahrscheinlich längst ohne große Schwierigkeiten und mit einem Lächeln auf den Lippen in Grund und Boden gebombt.
Ich liebte unsere Stadt und auch das meiste an unserer Lebensweise und so tauchte ich trotz meiner Trauer darin ein, gut es mir möglich war. Immer wieder hörte ich Kinderlachen, Scherze oder die sphärische Musik eines Nijram-Musikers, der seine Finger flink über sein kugelförmiges, gläsernes, grün schimmerndes Tasteninstrument wandern ließ, in dessen Inneren automatisch holografische Symbole und Bilder erschienen, die die Stimmung des gespielten Liedes einfingen. Leute warfen mir ein Wort des Grußes zu oder machten eine respektvolle Geste, die jedoch wenig mit dem Kriechertum gemein hatte, dass gegenüber Sahkscha und anderen tyrannischen Herrschern praktiziert wurde. Es waren unglaublich friedliche Augenblicke, aber in mir herrschte Krieg.
Ich stand womöglich vor den wichtigsten Tagen unserer gesamten Geschichte und gerade jetzt waren mir meine beiden Berater, die noch dazu mein bester Freund und die Liebe meines Lebens waren, in den Rücken gefallen. Ich zweifelte doch stark daran, dass Surano auch nur einen Handschlag tun würde, um meine Position vor dem Jyllat zu stärken. Wahrscheinlich konnte ich schon froh sein, wenn er nicht gegen mich arbeitete. Er war mein Freund. Er hatte mich durch Krisen geleitet, mir oft Mut zugesprochen, sich jeden Mist angehört, der mir auf der Seele gelegen hatte, aber er hatte auch seine Prinzipien und die deckten sich leider nur in wenigen Punkten mit den meinen. Hinzu kam, dass ich diesen Adrian und seine Söldner zwar als eine große Chance begriff, ihnen jedoch längst nicht so sehr vertraute wie Surano vielleicht dachte.
Dennoch war Zrivarna das größere Problem. Sie hatte mir ganz offen erzählt, dass sie einen Staatsstreich anstrebte und dafür mit Gruppen zusammenarbeiten wollte, von denen die eine, der „Freiströmende Fluss“ zwar aus ein paar etwas schrägen, jedoch eher harmlosen radikalen Pazifisten bestand, die anderen beiden aber schon durch Anschläge auf öffentliche Gebäude, den Jyllat und sogar durch einige erfolgreiche und gescheiterte Attentate aufgefallen waren.
Wenn ich diese Pläne nicht sofort dem Jyllat melden würde, würde auch ich mich des Hochverrats schuldig machen. Und das wäre noch das geringere Problem. Allein die Vorstellung, dass all diese fröhlichen Leute, die nach dem gewonnenen Krieg über den endlich beginnenden Frieden jubelten, im Moment des Triumphes zusammengetrieben und eingesperrt oder gar von den eigenen Leuten angegriffen werden könnten, brachte die gerade erst von mir konsumierte Jonmella beinahe zum Kochen.
Warum nur, musste der so schöne, so reine Gedanke des Fortschritts und der Freiheit für solche wirren Vorhaben missbraucht werden? Ganz egal, ob ihr Putsch Erfolg haben oder niedergeschlagen werden würde: Er würde entweder in ein Terrorregime oder in einen Bürgerkrieg enden, bei dem die Pyreen und die Zrynada womöglich gewinnen und viele der Fortschritte aus den letzten Jahrzehnten wieder zurücknehmen würden. Auch in ihren Kreisen gab es durchaus Individuen, denen die Veränderungen zu schnell gegangen waren und die sich ihrerseits über einen reaktionären Umsturz freuen würden. Nein, ich musste sie aushalten. Aber würde ich meine Anmella, meine WAHRE Anmella einfach so zum Tode verurteilen können? Ich konnte diese Entscheidung nicht treffen. Noch nicht. Nicht inmitten von all diesen glücklichen Leuten. Erstmal hatte ich ohnehin etwas anderes zu tun, bevor in Kürze die Sitzung des Jyllats beginnen würde: Ich musste, wenn Surano mich schon nicht ernsthaft unterstützen wollte, so viele Jyllati wie möglich auf meine Seite ziehen.
~o~
Wahrscheinlich hätte ich mir die ganze Mühe sparen und stattdessen weiter der schönen Musik der Nijram-Spieler lauschen können. In den Stunden vor Beginn der allabendlichen Jyllat-Sitzung führte ich kurze, aber eindringliche Gespräche mit mehr als vierzig Abgeordneten, denen ich in Grundzügen von meinem Plan erzählte. Einige von ihnen weigerten sich, mir überhaupt zuzuhören, andere hielten den Plan für zu riskant oder sogar für vollkommen schwachsinnig, wieder andere hatten grundsätzlich ein Problem damit, mit Söldnern zusammenzuarbeiten. Zwar waren ein paar Jyllati durchaus begeistert, jedoch hatte ich das unangenehme Gefühl, dass die meisten, die zu dieser Gruppe gehörten, schon von vorneherein meiner Meinung gewesen waren. Lediglich bei einigen wenigen hatte ich tatsächlich das Gefühl gehabt, dass ich sie hatte umstimmen können. Ob das ausreichen würde, würde sich bald zeigen.
Als ich den Sitz des Jyllats betrat, waren die Abgeordneten bereits auf dem Weg zu ihren Plätzen. Sie trugen ihre traditionellen gelben Overalls, auf deren Brustteil sich das Symbol befand, welches unsere Volksherrschaft symbolisierte: Ein großer weißer Kreis, in dessen Mitte sich viele kleinere Kreise befanden, von denen einige wenige rot hervorgehoben worden waren. Ich erkannte unter ihnen viele bekannte Gesichter. Unwallo, den blassen, inoffiziellen Anführer der Pyreen-Fraktion, der ein Flammendiadem als Zeichen seines Glaubens trug.
Aniranee von den Zrynada, die mit ihrem ungekämmten roten Haar und den silbernen Schuhen, die sie zu ihrem Overall trug, zwar nonkonformistisch wirkte, jedoch unter dem Verdacht stand den Jyllat im Grunde ihres Herzens zu verachten und der eine gewisse Sympathie zur Gesellschaftsordnung der Rorak nachgesagt wurde. Vor ihrer Zeit als Abgeordnete war sie sogar mehrmals mit Scharfwasser erwischt worden, hatte jedoch einen – nach eigener Aussage – erfolgreichen Entzug hinter sich.
Weniger schrill und radikal war Arnuwee, der großen Einfluss bei den Zrynada besaß, auch wenn er mit seinem dunkelbraunen Kurzhaarschnitt, seinem etwas gemächlichem Gang und seinem stets neutralen Gesichtsausdruck keine besonders einprägsame Gestalt war.
Weitaus auffälliger war dann schon Huanaa von meiner eigenen Garvilla-Fraktion. Sie war so etwas wie das Maskottchen oder – nach der Meinung der Konservativen – die Schande des Jyllat. Sie trug ihre künstlich verlängerten Haare ständig in neuen, extravaganten Frisuren und hatte sie diesmal so nach hinten gegelt und verflochten, dass sie das Wort „Inaddar“ formten, was so viel hieß wie „Zrymkot“. Zudem glänzte sie während der Sitzungen gerne durch unhöfliche, ironische oder auch zynische Zwischenrufe und hatte – auch wenn sie sie aus Prinzip ablehnte – persönlich wenig Probleme mit der Chavrila, da sie ihre Partner ohnehin in äußerst kurzen Abständen wechselte. Trotz all dem war sie eine brillante Denkerin mit einem messerscharfen Verstand, die, wenn es um ihre Arbeit als Jyllati ging, geradezu pedantisch sorgfältig war und ihre Gegner in jeder politischen Diskussion in Grund und Boden argumentieren konnte. Als sie mich sah, hob sie schwungvoll die Hand zum Gruß, den ich lächelnd erwiderte.
Dann gab es da noch Ornivee. Er gehörte zu den Onvilla und war ein Soldat und Patriot durch und durch. Zwar bestand bei ihm kein Zweifel an seiner Achtung vor dem Jyllat, jedoch war er ebenfalls niemand, der Veränderungen gegenüber besonders aufgeschlossen war, auch wenn er sich im Zweifel von seinem fast schon legendären Pragmatismus leiten ließ. Auch er nickte mir grüßend zu.
Surano und Zrivarna, die zwar keine Jyllat-Mitglieder waren, aber als meine Berater genau wie zweihundert ausgeloste Bürger das Recht besaßen, an der Sitzung teilzunehmen, entdecke ich fürs Erste jedoch nicht, obwohl zumindest einer von beiden der Sitzung hätte beiwohnen können, ohne damit seine Pflichten zu verletzen.
Dafür sah ich ein anderes bekanntes Gesicht, als wir den Sitzungsraum endlich erreichten. Während ich mich auf den kleinen, balkonartigen Vorsprung stellte, der der Arnivel vorbehalten war und der sich etwa auf halber Höhe des Gebäudes befand und die Abgeordneten ihre Plätze auf den weichen Sesseln, der halbkreisförmig angeordneten Sitzreihen einnahmen, erblickte ich zum zweiten Mal den Söldnerführer Adrian. Stolz wie ein Feldherr stand er vor seinem bunt zusammengewürfelten Haufen aus Söldnern verschiedenster Völker auf der niedriger gelegenen Anhörungstribüne und musterte die herein strömenden Jyllati aufmerksam. Unter seinem rechten Arm klemmte sein pechschwarzer Rorak-Rucksack, den er wie einen kostbaren Schatz an seinen Körper gepresst hielt, während sein linker Arm neben seinem Körper hing, wahrscheinlich, um keine falschen Signale zu setzen, indem er mit seiner Armwaffe auf einen der Jylatti zielte. Neben ihm befand sich die Andrin „Razza“, deren Namen ich zu diesem Zeitpunkt noch nicht erfahren hatte, die aber offenbar so etwas wie seine Sekundantin war und stellte eine unsympathische Mischung aus Verachtung und Desinteresse zur Schau.
Ich verabscheute diese Frau ganz instinktiv. Eigentlich glaube ich nicht daran, dass ein Wesen von Geburt an schlecht sein konnte, schon weil diese Vorstellung meiner Philosophie als Garvilla widerspräche, aber ich hatte ehrlich gesagt noch nie einen Andrin getroffen, dem es nicht darum gegangen war das Leben für alle, die mit ihm zu tun hatten, ein großes Stück schlechter zu machen. Die Andrin ernährten sich von den Qualen anderer, wie wir von der Jonmella.
Adrian schien – trotz der nicht eben geringen Entfernung zu uns – den Augenkontakt zu mir zu suchen. Als er mich schließlich fand, lächelte er höflich, was ich erwiderte. Im Vergleich zu der Andrin wirkte Adrian, trotz seiner arroganten und selbstbewussten Haltung respektvoll und beinah schon sympathisch. Jedoch … ich konnte es damals nicht beschreiben und kann es immer noch nicht ganz, aber etwas an seiner Aura sorgte dafür, dass meine Haut juckte, meine Nackenspitzen sich hart aufrichteten und dass sich mein Speichel so sehr ansäuerte, dass er im Hals brannte und ich ihn nur deswegen nicht ausspuckte, weil man mir das als Affront gegen den Jyllat hätte auslegen können. Bei unserem ersten Treffen hatte ich zwar ähnliches empfunden, war jedoch von dem eben erst gemeinsam durchlittenen Kampf, von Adrians Wortgewandtheit, von seiner eindrucksvollen Erscheinung und von seinem charmanten Lächeln abgelenkt gewesen. Doch nun, wo ich die kaum greifbare, dunkle Energie, die von diesem Söldner ausging, erneut spürte, war ich zu der Überzeugung gelangt, dass es viel einfacher war Adrian zu vertrauen, wenn er gerade nicht anwesend war.
Als alle Jyllat-Mitglieder und auch die Besucher ihre Plätze eingenommen hatten, endete des allgegenwärtige Gemurmel und machte einer gespannten Stille platz. Ich gönnte mir noch einige Sekunden dieser Stille, während ich noch einmal das beeindruckende Herz unseres Reiches betrachtete. Der Sitzungssaal des Jyllat war ein gewaltiger, kuppelförmiger Raum und bis auf wenige Ausnahmen, wie etwa dem stählernen Rednerbalkon oder den stoffbespannten Sitzen, aus gehärteter Jonmella gefertigt. An der Decke hingen – an dicken Stahlketten und als Zugeständnis an die Pyreen und unsere Traditionen – das ebenfalls aus Jonmella geformte, heilige Symbol des Glaubens: Eine entflammte Jyllen, die eine Säurefontäne in Form eines gezackten Speers in den Himmel spuckte. In die Decke und die Wände hingegen, waren all unsere Gesetze in kleinster Schrift hinein graviert worden. Lesen konnte diese mikroskopischen Texte natürlich niemand ohne entsprechende Hilfsmittel, aber es ging auch mehr um ihre symbolische Bedeutung.
Hierdurch wurden die Leiber unserer Toten zu Trägern der Gesetze, die sich die Lebenden gegeben hatten. Eine Verbindung, die uns niemand so einfach nehmen konnte. Wann immer der Jyllat ein Gesetz verabschiedete, abschaffte oder änderte, kamen KI-gesteuerte Arbeitsdrohnen zum Einsatz, die das Material verflüssigten und mit ihren Lasern die Texte anpassten. Diese Drohnen hätten wir theoretisch auch für unsere Kriegseinsätze benutzen können und es gab so manchen – wie auch ich – der das für sinnvoll erachtete, jedoch galt das dem Glauben leider als Sakrileg. Nach den Gesetzen von Mutter Flamme und Vater Coross sollte nur den Zrym der Kampf in der Luft erlaubt sein. Dennoch schwirrten auch in diesem Moment eine ganze Menge dieser hilfreichen Drohnen leise und diskret umher, um kleinere Schäden am Gebäude auszubessern, die Sitzungen zu protokollieren und die Abgeordneten im Notfall vor Angriffen durch die Rorak zu warnen. Ich spürte, wie die Blicke der Anwesenden immer schwerer auf mir lasteten und wusste, dass ich nun beginnen musste. Es oblag allein mir, die Sitzung zu eröffnen. Und so tat ich es.
„Sehr geehrter Jyllat. Als eure untertänigste Dienerin und im Namen des Volkes, sowie im Namen von Mutter Flamme und Vater Coross eröffne ich hiermit die heutige Sitzung, die unter einem ganz besonderen Stern steht. Wie ihr wohl alle wisst, haben die hier anwesenden Söldner einen Angriff der Rorak auf unsere Stadt vereitelt und bitten nun um einen Vertrag, der ihnen die Aufnahme in unsere Streitkräfte ermöglicht“, sagte ich und blickte dann direkt zu Adrian, „möchtest du, Adrian als Kommandant für deine Leute sprechen und uns ihren Willen mitteilen?“
„Das möchte ich!“, sagte er mit lauter und fester Stimme. Wir hatten schon vor geraumer Zeit eine Möglichkeit entdeckt die Schallübertragung in geschlossenen Räumen durch ein ungiftiges Gasgemisch zu verbessern, weswegen technische Hilfsmittel nicht notwendig waren.
„Wir haben deine Bereitschaft vernommen. Wie lautet nun dein Wille und der Wille der deinen? Wünscht ihr alle nach wie vor einen Vertrag abzuschließen?“, wollte ich wissen.
Adrian nickte. Eine Geste der Zustimmung, die zwar bei den Jyllen nicht üblich war, die ich jedoch von anderen Völkern bereits kannte, „Das wünschen wir. Jeder einzelne von uns. Ohne Ausnahme.“
„Ihr habt es vernommen, werte Mitglieder des Jyllats. Nun ist es an euch sein Ansinnen mit den Gaben Mutter Flammes zu erhellen und jede Unaufrichtigkeit mit der Macht von Vater Coross freizulegen!“, forderte ich die Abgeordneten nun auf. Wie ich dieses formelle Gequatsche hasste. Doch leider war im Moment nicht der richtige Zeitpunkt, um vom Protokoll abzuweichen. Nicht, wenn ich auch auf die Stimmen der konservativeren Mitglieder hoffen wollte.
„Wohl gesprochen, Scavinee“, sagte Aniranee mit unverhohlenem Sarkasmus. Die Frau hasste mich. Es beruhte auf Gegenseitigkeit, „Ich frage mich aber, welchen Nutzen uns dieser Haufen abgerissener Söldner bringen soll? Ihre ausgesuchte Hässlichkeit mag ganz amüsant sein, aber sie sind nur ein kleiner Tropfen in unserem gewaltigen Meer aus Soldaten und werden wohl kaum dazu beitragen das Kriegsglück zu wenden. Stattdessen werden sie uns unsere wertvollen Vorräte wegfressen, da sie die heilige Jonmella nicht wert sind und ohnehin daran vergehen würden. Ich denke also, wir kürzen das hier ab, sparen uns die wertvolle Lebenszeit und einige unserer schmackhaften Pilzgerichte und schenken ihnen dafür eine Reise in die unbegehrten Lande!“
„Aniranee!“, wies ich sie zurecht.
„So heiße ich, ja“, antwortete Aniranee schnippisch.
„Immerhin weißt du das noch“, antwortete ich streng, „wie man sich im Jyllat verhält, scheinst du hingegen vergessen zu haben. Wir beleidigen unsere Gäste nicht und schon gar nicht ohne Anlass und mit solch rassistischen Worten. Außerdem solltest du dich nicht an mich, sondern an Adrian wenden.“
„Ich tue, was mir gefällt“, erwiderte Aniranee herablassend, „aber wenn es dir so wichtig ist, kann ich den Überläufer auch gerne direkt fragen. Ich hätte da so einige Fragen an ihn. Zum Beispiel, warum er seinen Vertrag gebrochen hat, wo Vertragstreue doch die einzige Tugend ist, die bei einem Söldner zählt und wie wir darauf vertrauen können, dass seine Unterschrift oder die dieser Witzfiguren an seiner Seite mehr wert ist als die Darmgase eines Zryms.“
Nicht wenige innerhalb der Fraktionen der Zrynada und Pyreen murmelten zustimmend. Selbst wenn sie Aniranees Ton missbilligten, so gab es zwischen ihr und ihnen doch kaum inhaltliche Differenzen.
„Das kann ich gerne beantworten“, sagte Adrian, „Wenn man dir die Wahl zwischen dem Tod und einem Vertrag geben würde, welche andere Wahl hättest du, als diesen Vertrag anzunehmen? Und sag mir, Aniranee, wenn du es tätest, wie viel von deiner Leidenschaft, wie viel von deiner Ehre läge dann in deiner Entscheidung?“
„Gar nichts“, sagte Aniranee, „Denn ich würde denjenigen töten, der mich zu so etwas zwingen möchte oder bei dem Versuch sterben.“
„So wie es Mutter Flamme wollen würde!“, rief Unwallo zustimmend.
„Ach komm schon, Aniranee“, meldete sich Huanaa zu Wort, „wann hast du je vor einer solchen Entscheidung gestanden, noch dazu, kurz nachdem du unverhofft aus deiner Heimatwelt gerissen wurdest?“
„Noch nie“, gab Aniranee zu, „Aber das spielt keine Rolle. Es ändert nichts an meinen Überzeugungen.“
„Überzeugungen, auf die man sich leicht berufen kann, wenn sie nie geprüft werden“, antworte Huanaa, „Kein anständiger Jyllen würde sich anmaßen so einfach über andere zu urteilen. Außer natürlich so bigotte Existenzen wie du!“
„Was fällt dir ein, du verunstaltete Missgeburt!“, donnerte Aniranee wütend.
Sofort begannen die Mitglieder meiner Fraktion damit lautstark zu protestieren, was wiederum Widerspruch bei den anderen Fraktionen hervorrief. Innerhalb weniger Sekunden war der Jyllat kurz davor sich in ein Tollhaus zu verwandeln.
„Ruhe!“, rief ich so laut ich konnte, „wer noch einmal ein Mitglied des Jyllats beleidigt, wird des Gebäudes verwiesen. Das gilt für euch Alle!“
Obwohl ich einige feindselige Blicke erntete, schien mein Ordnungsruf Wirkung zu zeigen. Endlich kehrte wieder Ruhe ein.
„Diese Diskussion ist ohnehin müßig“, meldete sich Ornivee zu Wort, der in seinem typischen, nüchternen Tonfall sprach und zwischen jedem Satz eine kurze, wohldosierte Pause machte, was seiner Rede ein wenig den Charakter eines Diktats verlieh, „letzten Endes kommt es darauf an, ob die Söldner eine Bereicherung für unsere Truppen sein können. Sind sie das nicht, spielt ihre Vertrauenswürdigkeit keine Rolle.“
„Wie kannst du nur so herzlos sein?“, empörte sich Huanaa, „Sie stehen für unsere Sache ein. Sie haben für uns gekämpft! Das ist alles, was uns interessieren sollte.“
„Dennoch will ich wissen, was sie vorzuweisen haben“, antwortete Ornivee, „Militärische Kenntnisse. Kampftechniken. Strategische Erfolge. Werdegang …“
„Bist du verrückt geworden?“, fragte Innae, eine schmächtige, kleine, aber durchaus streitbare Garvilla-Abgeordnete, „Das hier ist der Jyllat, keine Amtsstube. Wenn du das alles bei jedem von ihnen abfragst, sind wir noch übermorgen hier.“
„Um die richtigen Entscheidungen zu treffen, brauchen wir alle Informationen, die wir bekommen können“, behaarte Ornivee, „egal wie lange es dauert, wir können nicht einfach…“
Plötzlich huschte eine Reihe von gestaltlosen, sich unglaublich schnell bewegenden Schatten über die Einbauleuchten der Jyllat-Kuppel, gefolgt von vielfachen, knisternden, kleinen Explosionen. Die anwesenden Jyllen duckten sich, sprangen von ihren Sitzen, gaben panische Schreie von sich oder griffen hektisch nach ihren Waffen, während eine Arbeiterdrohne nach der anderen in einem schwarzen Blitz verdampfte oder explodierte und feiner, harmloser Staub auf die Sitzreihen niederging. Am Ende waren etwa drei Viertel der einhundert Arbeitsdrohnen zerstört. Innerhalb von zwei Sekunden.
„Ich hoffe, das reicht euch als Fähigkeitsnachweis“, sagte Adrian verschmitzt, während er die Waffe an seinem Arm wieder senkte. Die Andrin ließ derweil ein kurzes, trockenes, arrogantes Lachen hören, „Nicht jeder von uns ist so gut wie ich. Aber eines steht dennoch fest: Zusammen sind wir noch besser. Was sagt ihr nun?“
„Ein Sakrileg!“, empörte sich Umwallo, „er hat den heiligen Jyllat geschändet. Das verlangt nach Strafe!“
„Ich nenne das Effizienz“, sagte Ornivee beeindruckt. Den verblüfften Gesichtern nach zu urteilen schienen die meisten Abgeordneten seine Meinung zu teilen, „die Drohnen lassen sich leicht ersetzen. Aber ein solcher Kämpfer ist unersetzlich.“
„Fragt sich nur für welche Seite“, ätzte Aniranee.
Ich verabscheute Aniranee von ganzem Herzen. Aber mit einem Mal konnte ich ihre Bedenken – auch wenn sie bei ihr wohl eher ihrem generellen Rassismus und Querulantentum, als der Vernunft entsprangen – etwas besser verstehen. Ich hatte Adrian kämpfen sehen und war durchaus beeindruckt gewesen, aber in Kampfsituationen wuchsen manche Frauen und Männer nun mal über sich hinaus. Das hier jedoch … diese Schnelligkeit, diese Risikobereitschaft und Skrupellosigkeit inmitten einer friedlichen Jyllat-Sitzung. Das beeindruckte mich nicht nur, sondern schockierte mich. Es machte mir sogar ziemliche Angst. Wer oder was war dieser Mann? Und, was noch wichtiger war, was für ein Mann würde er sein? Ich ertappte mich plötzlich dabei, wie ich gegen seine Aufnahme stimmen, ja sogar argumentieren wollte. Aber das wäre mein politischer Tod gewesen. Immerhin war ich diejenige gewesen, die an vorderster Front für seine Aufnahme gekämpft hatte. Wenn ich nun umschwenken würde, würde jeder an meinem Verstand und meinen Führungstalenten zweifeln.
„Ich denke, wir haben nun genug gesehen und gehört“, hörte ich mich selbst sagen, „Lasst uns nun abstimmen. Möchtest du, Adrian vor der Abstimmung noch ein paar Worte sagen?“, fragte ich den Söldnerführer.
„Ja“, sagte er und nickte dabei erneut.
„Dann sprich und lass deine Worte in Wahrheit auflodern“, forderte ich ihn gemäß dem Protokoll auf.
„Geehrter Jyllat“, begann er und mit einem mal verloren seine Worte jegliche Arroganz. Seine Stimme wurde gefühlvoll, weich und anschmiegsam wie die Umarmung eines jungen Anmella, „wir alle kamen aus fremden Welten nach Konor. Ohne, dass wir uns dafür entschieden hatten, ohne, dass wir Gelegenheit gehabt hatten, uns von unseren Freunden, Familien und Geliebten zu verabschieden.
Die meisten von uns waren in unserer Heimat Krieger, Gesetzeshüter, Jäger oder Überlebenskünstler gewesen. Wir haben gewusst, wie man kämpft und wir wussten, wofür wir kämpften. Auch haben wir gelernt uns anzupassen. Andernfalls hätten wir keine fünf Minuten in Konor überstanden, hätten uns nicht an eine Welt gewöhnen können, die sich so sehr von unserer Heimat unterscheidet. Die Rorak haben uns benutzt, gequält und versklavt. Aber wir haben den Schmerz ertragen, haben unseren Verlust ertragen, haben die Demütigung und sogar die Angst ertragen, die uns bei jedem Schritt in diesem düsteren, gnadenlosen, ungerechten Imperium begleitet hat. Was wir jedoch nicht mehr ertragen wollten, nicht mehr ertragen konnten, war, für eine falsche Sache zu kämpfen.
Deswegen haben wir uns gegen unsere Unterdrücker erhoben und nun – dank euch – wissen wir, dass es auch in dieser Welt eine Alternative gibt. Eine Gesellschaft, die nicht auf Hass und Knechtschaft, sondern auf Gerechtigkeit und Freiheit aufgebaut ist. Eine Gesellschaft wie die der Jyllen. Für diese Gesellschaft, für dieses Ideal, wollen wir kämpfen. Nicht nur ich allein, sondern wir alle. Nicht weil es gerade opportun ist, sondern weil wir davon überzeugt sind. Wir sind Fremde, ja. Und wir wissen nicht viel von Mutter Flamme oder Vater Coross, aber wenn sie ein Volk wie die Jyllen erschaffen haben, müssen sie wahrhaft weise Götter sein. Egal, welche Entscheidung ihr nun trefft: wir werden sie als gerechte Entscheidung akzeptieren und uns ihr fügen. Und selbst wenn es euer Wunsch sein sollte, uns zu verbannen und uns zurück zu den Rorak zu schicken, so werden wir dort alles tun, was in unserer Macht steht, um ihre Kriegsanstrengungen zu sabotieren, so wenig das in diesem Fall auch sein wird. Wenn ihr uns aber aufnehmt, werden wir gemeinsam – mit der Weisheit des Jyllats und eurer geschätzten Arnivel – diesen Krieg gewinnen uns ganz Konor Frieden und Freiheit bringen. Das ist alles, was ich sagen will, denn nun will ich demütig der Weisheit eures Willens lauschen.“ Mit diesen Worten ging er in die Knie und beugte sogar seinen Kopf so weit herunter, dass er mit der Stirn den Boden berührte. Die anderen Söldner und sogar die Andrin taten es ihm gleich.
Verdammt, dachte ich, das war gut. Fast schien es mir, als habe dieser Adrian eine unserer Rednerschulen besucht. Diese Demut, diese Leidenschaft, diese geschickte Schmeichelei, die zwar nicht bei mir, aber wahrscheinlich bei vielen anderen Jyllat-Mitgliedern verfangen würde. Er hatte sogar daran gedacht Mutter Flamme und Vater Coross zu erwähnen, um den Pyreen zu gefallen. Mein Respekt vor diesem Mann vergrößerte sich im gleichen Maße wie meine Angst vor ihm.
„Erhebt euch!“, sagte ich, „hier im Jyllat muss niemand knien.“
Die Söldner gehorchten.
„Also, wer dafür ist diese Frauen und Männer in unser Heer aufzunehmen, der hebe die Hand“, sagte ich und während ich selbst meine rechte Hand in die Höhe reckte, um nicht mein Gesicht zu verlieren, drohte mich diese Aura der Bedrohung, dieses gestaltlose Unbehagen, das Adrian verströmte, fast zu ersticken. Dieser Mann war zu perfekt, zu wandelbar, um vertrauenswürdig zu sein. Aber nun war es zu spät. Lass mich bitte scheitern, betete ich zu einer Mutter Flamme, an die ich nicht einmal glaubte.
Nachdem ich meine Stimme abgegeben hatte, gingen die Arme von nur etwas mehr als der Hälfte der Garvilla-Fraktion in die Höhe.
Das sind wahrscheinlich nicht mal zweihundert Abgeordnete, dachte ich erleichtert. Meine Fraktion war oft genug gespalten, weil sie aus lauter Nonkonformisten bestand, die sich selten einer Fraktionsdisziplin unterordneten. Nun konnte uns diese sonst so ärgerliche Eigenschaft vielleicht vor dem Schlimmsten bewahren.
Es folgten die Stimmen der Onvilla-Abgeordneten. Ornivee hob die Hand und mit ihm fast zwei Drittel der Onvilla. Verdammt, dachte ich, Surano hatte nicht nur sein Versprechen gehalten, sondern seinen Job auch noch zu gut gemacht. Oder aber die Fähigkeiten des Söldners hatten die Onvilla schlicht überzeugt. Dennoch – das waren noch immer keine vierhundert Stimmen. Und nun folgten nur noch die Zrynada und Pyreen, die Fremden gegenüber eher skeptisch waren. Dieses Ding war für Adrian und seine Leute gelaufen. Erleichtert atmete ich auf. Wir würden nun gezwungen sein Suranos Plan zu verfolgen und den Bürgerkrieg der Rorak für unseren Angriff zu nutzen, ohne die fremden Söldner da reinzuziehen.
Trotzdem würde ich gegenüber Adrian und seinen Leuten nicht undankbar sein. Ich würde mich dafür einsetzen, dass man sie zu den Rorak zurückschicken würde und nicht etwas in die unbegehrten Lande. Noch dazu mit Proviant und frischer Ausrüstung. So viel waren wir ihnen schuldig. Und vor meiner nächsten Entscheidung würde ich meinen Beratern besser zuhören.
Die Zrynada waren nun an der Reihe und … versetzten mir einen Schlag in die Magengrube als knapp hundert von ihnen ihre Hände hoben. Das kann nicht wahr sein, dachte ich entsetzt, die Zrynada stimmten normalerweise fast geschlossen gegen Söldnerverträge. Mit ein paar Abweichlern war zu rechnen gewesen, aber so viele? Ich überschlug die Stimmen. Nun waren es beinah Fünfhundert. Jetzt wurde es knapp. Verdammt knapp. Meine Hoffnungen ruhten nun auf den Pyreen. Auf diese frömmelnden Fanatiker musste einfach Verlass sein. Sie hatten sich gegen so viele sinnvolle Neuerungen gestellt, nun könnten sie doch wenigstens einmal mit ihrer Engstirnigkeit unserem Volk einen Dienst erweisen und …
Wie erwartet blieben die meisten Pyreen-Hände wo sie waren, jedoch gab es sechs Ausnahmen. Der verdammte Mistkerl hatte es tatsächlich geschafft sechs der religiösen auf seine Seite zu ziehen. Das könnte …
„Der Antrag wurde mit der Weisheit von Mutter Flamme und Vater Coross und mit 503 zu 497 Stimmen angenommen“, verkündete eine der noch funktionstüchtigen Arbeiterdrohnen.
Adrian lächelte und seine Andrin-Sekundantin ließ ein fast schon schadenfrohes Grinsen sehen.
Ich jedoch fluchte innerlich. Alle anfängliche Begeisterung, die ich für meinen Plan gehegt hatte, war nun verflogen. Doch nun war es zu spät. Natürlich bedeutete die bloße Aufnahme der Söldner rein theoretisch noch nicht, dass ich sie auch für eine verdeckte Mission bei den Rorak einsetzen musste, aber praktisch bedeutete es genau das. Ich – und wahrscheinlich auch Surano und Zrivarna – hatten dem halben Jyllat von meinem Plan berichtet und der Rest wird von den anderen davon erfahren haben. Diese Abstimmung war nicht nur ein Votum über die Aufnahme der Söldner gewesen, sondern auch über meine Strategie. Nun konnte ich ihn nicht mehr hinter meine eigenen Worte zurück. Was immer jetzt auch geschehen würde: Die Münze war gefallen, und sie trug Adrians Gesicht.
„Ich gratuliere euch“, sagte ich in Richtung von Adrian und seinen Soldaten, „Es steht euch nun frei euch für unser Heer zu verpflichten. Geht dazu zum Sitz von Coross‘ Faust, es ist das große rechteckige Gebäude im Stadtzentrum. Ihr könnt es kaum verfehlen.“
„Vielen Dank“, sagte Adrian feierlich, „Es ist uns eine große Ehre. Wir werden euch nicht enttäuschen!“
~o~
„Herzlichen Glückwunsch“, bemerkte Honwivee spitz als ich aus dem Gebäude heraustrat, „Bist du nun zufrieden?“
Ich hatte gar nicht gemerkt, dass sich der Drymar im Publikum befunden hatte. Honwivee war zwar ein Anhänger der Zrynada, jedoch kein Mitglied des Jyllats.
„Natürlich“, sagte ich selbstbewusst ohne auch nur den Hauch meiner eigenen Zweifel nach außen dringen zu lassen. Vor dem Kommandanten unserer Panzerstreitkräfte wollte ich mir keine Blöße geben, „immerhin hat der Jyllat in meinem Sinne entscheiden.“
„Falls er nicht eher wie VON SINNEN entschieden hat“, antwortete Honwivee, „das zuckersüße, schmeichelnde Geseier dieses düsteren Marodeurs schien ihnen die Gehirnwindungen verklebt zu haben.“
„Ich an deiner Stelle würde mir nicht anmaßen so über die Vertreter unseres Volkes zu sprechen, als wären sie einfältige Narren, die auf jede plumpe Täuschung reinfallen“, erwiderte ich scharf.
„So über unsere Vertreter sprechen zu können ist doch gerade einer der Vorteile unserer Gesellschaftsordnung, oder etwa nicht? Normalerweise seid ihr Garvilla es doch, die ständig auf diesen Umstand hinweisen“, gab Honwivee lachend zurück.
„Aber deswegen wollte ich auch gar nicht mit dir sprechen“, fügte er hinzu, „ich wollte lediglich darauf hinweisen, dass ich dich und diese zwielichtigen Gesellen im Auge behalten werde. Sollte es auch nur das geringste Anzeichen dafür geben, dass sie uns schaden können, werde ich dich dafür zur Rechenschaft ziehen“, warnte Honwivee.
„Tu was du willst“, sagte ich, „aber ich lasse mir nicht drohen!“
In diesem Moment erklangen vom Himmel schrille Schreie. Wir blickten beide nach oben und erkannten eine kleine Gruppe aus vier Zrym, die sich gegenseitig mit Klauen und Säurestrahlen attackierten. Erst auf den zweiten Blick jedoch erkannte ich, dass die Aggression vor allen von einem großen Männchen ausging, das sich unkontrolliert und halb wahnsinnig auf die drei kleineren Weibchen stürzte, Löcher in ihre Membranen stanzte und ihre empfindlichen Augen zu verätzen versuchte.
„Wir müssen sie auseinandertreiben!“, schrie ich, holte meinen Säurestrahler hervor, stellte ihn auf den „Anti-Zrym-Modus“ und auf maximale Reichweite ein und legte auf das Männchen an.
Auch wenn ich mehr Politikerin und Ingenieurin als Soldatin und damit keine besonders gute Schützin war, gelang es mir, dem wild gewordenen Zrym einen Treffer beizubringen, der jedoch nicht mehr als ein Streifschuss war und dem Tier keinen ernsthaften Schaden zufügte. Dennoch war das mehr als Honwivee gelang, der lediglich eines der ohnehin schon geschundenen Zrym-Weibchen traf, woraufhin gelbes Jonmella-Blut als feiner Regen zu Boden regnete.
Doch auch mein Schuss blieb nicht gänzlich ohne Wirkung. Das wahnsinnige Männchen ließ plötzlich von seinen bisherigen Zielen ab und stürzte sich stattdessen mit einem wütenden Kreischen und geschwollener Säuredrüse auf mich. Durch eine schnelle Ausweichbewegung gelang es mir, dem gefährlichen Säurestrahl zu entgehen, doch statt aufzugeben, änderte das Zrym-Männchen seinen Kurs und stülpte sich wie ein lebendiges Gefängnis über mich. Gefangen in einer Hülle aus gallertartigem Gewebe suchte ich vergeblich nach einem Ausweg, bemerkte jedoch stattdessen, wie sich seine Säuredrüse gleich einem mordlüsternen Wurm unter seinen Flughäuten hindurchschob und direkt auf mich zielte. Diesmal würde ich nicht ausweichen können. Grundsätzlich hätte es nahe gelegen die Drüse anzugreifen, aber auch wenn meine Waffe die Zusammensetzung ihrer Geschosse so anpassen konnte, dass sie einen Zrym verletzen konnten, so galt das nicht für dessen dick gepanzerte und widerstandsfähige Drüse. Stattdessen schoss ich aus lauter Verzweiflung auf eine etwas dünner wirkende Stelle an den Flughäuten, die sich tatsächlich zischend auflöste. Der Zrym schrie vor Schmerzen auf, doch entstand leider nur ein kleines Loch. Es würde viel zu lange dauern, bis ich mir auf diese Weise einen Weg durch mein Gefängnis gebahnt hätte.
Hinter mir konnte ich förmlich spüren wie sich die Säuredrüse für einen erneuten Angriff aufpumpte. Egal, dachte ich, ich musste es versuchen. Ich wäre nicht die erste Jyllen gewesen, die schier unmögliches geleistet hat. Also gab einen weiteren Schuss ab und danach noch einen, doch alles, was ich damit erreichte, waren krampfende Bewegungen des Zrym, der sich daraufhin noch weiter herunterbeugte und mein Gefängnis dadurch weiter verkleinerte, sowie ein Loch, welches kaum größer war als meine Faust.
Wäre ich doch nur eine Jynantira gewesen, eine von jenen sagenhaften, kaum handgroßen und für Erwachsenenaugen unsichtbaren Gestalten, die den Legenden zufolge auf unsere Kinder aufpassten, wenn gerade kein erwachsener Jyllen in ihrer Nähe war. Dann hätte ich wohl dort hindurchgepasst. Doch ich war keine Jynantira. Ich war nur eine verzweifelte, hilflose Arnivel, die bald schon ein Haufen verunreinigte Jonmella auf den Straßen von Neu-Arganon sein würde. Noch vielleicht dreißig Sekunden, maximal eine Minute. Länger würde es auf keinen Fall dauern, bis die Säuredrüse aufgefüllt sein würde, die ohnehin nur so lange zum Aufladen brauchte, weil das Tier so viele Schüsse auf die anderen Zrym abgegeben hatte und ihre vorerst letzte Munition für ihren gescheiterten Angriff auf mich verschwendet hatte.
Um mich herum musste sich eine ganze Reihe von Passanten befinden. Und natürlich auch Honwivee. Doch sie würden mir nicht helfen können.
Zu groß war die Gefahr mich mit einem Schuss ebenfalls zu treffen und wenn sie den Zrym töten würden, würde er noch im Tode all seine Säfte auf mich entleeren. Anders als bei den meisten Zrym-Piloten war meine Haut nicht durch das Aufbringen schützender Salben auf solch einen Fall vorbereitet worden. Während die stickiger werdende Luft mir das Denken zunehmen erschwerte, dachte ich auch darüber nach, den Zrym um mein Leben zu bitten, denn diese Tiere waren einigermaßen intelligent und zudem auf gewisse Weise mit uns verwandt, aber dann fiel mir ein, dass ich bereits mehrmals auf das Tier geschossen hatte, es vollkommen wahnsinnig war und ich nicht einmal seinen Namen kannte. Auch Hyuana, meine eigene Zrym, zu rufen, kam nicht in Frage, da sie mich hier drin niemals hören würde. Also ergab ich mich meinem Schicksal, drehte mich zu der anschwellenden, blau-grün geäderten Säuredrüse um, die wie in Vorfreude zuckte und bereits versuchte so nah wie möglich an mich heranzukommen und ließ mich entmutigt auf den Boden sinken. Kurz erwog ich, mich mit meinem Nutrion oder mit meinen Anmella-Strängen selbst zu erwürgen, statt den schmerzhaften Säuretod zu sterben. Aber das würde schlicht zu lange dauern. Dann jedoch geschah etwas Unerwartetes:
Die Membram dämpfte – trotz des kleinen Loches darin – fast alle Geräusche der Außenwelt. Dennoch hörte ich plötzlich ein leises, aber schnell lauter werdendes Rumpeln und sah dann zu meiner Überraschung wie das widerstandsfähige Gewebe riss. Frische Luft strömte herein und ein kleiner Panzer erschien im Inneren des brüllenden Zrym. Als das Fahrzeug seine Türen öffnete, erblickte ich Honwivee auf dem Fahrersitz. „Steig ein, verdammt!“, brüllte er und ich zögerte keinen Moment, ließ mich auf dem Beifahrersitz nieder und hörte eine Sekunde später das warnende Zischen, mit dem sich die bevorstehende Entladung der Säuredrüse ankündigte. „Schließ die Tür!“, schrie ich und Honwivee hämmerte auf den Schalter für den Türmechanismus.
Quälend langsam schoben sich die robusten Stahltüren wieder herunter, während der gequälte Zrym seine tödliche Ladung auf uns ausspie. Die Tür schloss beinah rechtzeitig und hielt dem konzentrierten Bombardement stand, während das Tier, nun wo wir in Sicherheit waren von den außen stehenden Soldaten unter Feuer genommen wurde. Einige Spritzer Säure schafften es jedoch ins Innere, wo sie nicht nur die Instrumente und Kontrolltafeln des Panzers, sondern auch mein linkes Bein beschädigten. Erstere schlugen Funken, zweiteres wurde an einigen Stellen fast bis zum Knochen weggefressen. „Scheiße!“, fluchte ich, während Honwivee zurücksetzte, was ihm zum Glück trotz der Beschädigungen irgendwie gelang.
„Ein ‚Danke‘ wäre wohl eher angebracht“, sagte er nüchtern, während er von den Dämpfen hustete, die die sich zersetzenden Kabel produzierten. „Das hast du natürlich recht. Vielen Dank, Honwivee“, sagte ich, „aber erlaube mir, dass ich mich ein wenig darüber aufrege, dass mein halbes Bein weggeätzt wurde.“
Honwivee warf einen kurzen Blick auf meine Verletzung „Das wird wieder heilen, wenn du einen Arzt aufsuchst“, sagte er, „mehr Sorgen würde ich mir über den politischen Schaden machen.“
„Wie meinst du das?“, fragte ich, noch immer etwas mitgenommen von den Ereignissen.
Honwivee sah mich an, als wäre ich ein begriffsstutziges Kind, „Weißt du, wann das letzte Mal ein Zrym derart durchgedreht ist?“
„Nein“, sagte ich, „zu meinen Lebzeiten jedenfalls nicht.“
„So ist es“, sagte Honwivee, „und nicht nur das: Es ist knapp dreihundert Jahre her. Damals erlebten wir die größte Serie von Niederlagen in der Geschichte des Krieges und waren sogar kurz davor gewesen ihn endgültig zu verlieren. Zugegeben: Damals haben sich hunderte von ihnen so verhalten und diesmal ist es bislang nur einer, aber die Pyreen werden es als unheilvolles Omen sehen und nicht nur sie. Auch ich halte das durchaus für möglich.“
„Du bist ja auch ein Zrynada und damit nur einen Schritt von der Frömmigkeit der Pyreen entfernt“, sagte ich.
„Ich bin nicht sonderlich gläubig, Scavinee. Das müsstest du eigentlich wissen. Ich interessiere mich mehr für Siege und rollenden Stahl, als für Gebete. Aber ich weiß, dass es Dinge gibt, die man nicht so einfach erklären kann. Und so wie mir geht es vielen Jyllen, egal welcher Fraktion sie angehören. Ihre Köpf mögen frei von Göttern sein, aber ihre Herzen sind offen für Wunder … und für Flüche. Das wird dir womöglich zum Verhängnis werden, kleine Arnivel. Ich freue mich schon auf deinen Niedergang. Ich setze zwar mit Freuden mein Leben aufs Spiel, um deines zu retten, wie es jeder Jyllen tun sollte, aber je eher deine Karriere endet, desto besser. Wir brauchen endlich wieder starke, gute Führung“, sagte er überraschend emotionslos.
„Danke für deine Offenheit“, zwang ich mich zu sagen.
„Ja, ich bin ein sehr offener Mann“, bestätigte Honwivee während er das Fahrzeug zum Stehen brachte und den Türöffner betätigte, „und dir steht es nun offen zu gehen“, fügte er grinsend hinzu.
Auch wenn mir das Aussteigen, aufgrund meiner Beinverletzung schwerfiel, tat es dennoch gut noch immer am Leben zu sein und wieder die einigermaßen frische Luft meiner Heimatstadt schmecken zu können. Honwivee wendete den leichten Aufklärungspanzer und steuerte damit auf die Werkstatt zu, was wahrscheinlich nicht die schlechteste Idee war. Die verletzten Zrym-Weibchen hatten sich in ihre Nester zurückgezogen, um ihre Wunden zu lecken und der Kadaver des Amok laufenden Männchens, welches, nach unserem Entkommen mit einigen präzisen Schüssen ausgeschaltet worden war, lag wie ein zerstörter, sich langsam zersetzender Sack auf der Erde und verbreitete einen scharfen Gestank, den ich bis hierhin wahrnehmen konnte, auch wenn bereits Reinigungsdrohnen ausrückten, um sich um das Problem zu kümmern.
Kaum da ich ausgestiegen war, kamen Bürger zu mir, um sich nach meinem Befinden zu erkundigen und unter ihnen war auch ein Sanitäter, der mein Bein noch vor Ort mit einer regenerierenden Salbe behandelte. Sofort spürte ich, wie die Schmerzen nachließen und einem fast angenehmen Kribbeln wichen. Dennoch – so sagte der Mann mir – würde ich noch eine Zeitlang darauf verzichten müssen das Bein zu stark zu belasten oder gar zu rennen. Ich bedankte mich bei ihm und versprach ihm, seine Hinweise zu beachten.
Doch nicht jeder war so hilfreich und freundlich. Es gab auch Gemurmel und Geraune über den „Fluch der Zrym“ und darüber, dass meine Herrschaft als Arnivel fortan unter keinem guten Stern stehen würde. Was ich zu dem Zeitpunkt noch nicht ahnte, war, dass sogar schon eifrig Texte voller Mutmaßungen und Gedankenspiele verfasst und in das Bionet unser landesweites, auf Bakterien und organischen Verbindungen aufgebautes Datennetz eingespeist wurden, wo sie sich wie ein Lauffeuer verbreiten würden. Offensichtlicher war da schon die Reaktion von einigen anwesenden Pyreen-Anhängern, die mich völlig ungeniert als „Bringerin der Schatten“, „Herrscherin des Wahnsinns“ oder gar als „Schlampe des Unheils“ verurteilten.
Offenbar hatte Honwivee in dieser Beziehung nicht ganz Unrecht gehabt. So schnell es meine Verletzung erlaubte, begab ich mich zurück in mein Büro wo Surano und Zrivarna mich bereits erwarteten.
„Schön euch zu sehen“, sagte ich, „Ihr glaubt gar nicht, was mir alles passiert ist. Ich habe …“
„Die Abstimmung gewonnen, den Angriff eines wahnsinnigen Zrym überlebt, dich von Honwivee retten lassen und im halben Volk den Titel ‚Ravinee‘ erworben“, unterbrach mich Zrivarna, die nach unserer unerfreulichen Episode im Speiseraum noch immer etwas reserviert wirkte.
„Woher weißt du das alles?“, fragte ich verwirrt.
„Das Bionet ist ja nicht gerade eine neue Erfindung“, kommentierte Surano, „Du solltest wissen wie schnell sich dort Neuigkeiten verbreiten. Insbesondere schlechte.“
Er hat natürlich recht, dachte ich, das Bionet ermöglichte uns schon seit viele Jahrzehnten anders als in der geschlossenen und streng hierarchischen Rorak-Gesellschaft stets in Sekunden Nachrichten, Bilder, Videoaufnahmen, holografische Simulationen oder auch wilde Gerüchte untereinander auszutauschen. Und auch was die „Schlechten Neuigkeiten“ betraf, konnte ich ihm kaum widersprechen. Während mein Geburtsname ‚Scavinee‘ so viel bedeutete wie „Quelle der Ideen“, ließ sich Ravinee als “Quelle des Unglücks“ übersetzen. Kaum die Art von Name, den man sich als Arnivel wünscht.
„Wir sind aber vor allem froh, dass du noch lebst“, sagte Zrivarna, die angesichts meines beinah-Todes beschlossen zu haben schien unseren Streit vorerst zu begraben, herzlich, kam auf mich zu und schloss mich in die Arme. Erst wollte ich zurückzucken aus Angst, dass wir gesehen werden könnten, dann jedoch legten sich meine Bedenken. Immerhin verbanden wir nicht unsere Anmella-Stränge – so sehr ich das gerade jetzt auch hätte gebrauchen können – und niemand konnte mir in meiner Lage vorwerfen, dass ich Trost von meiner Freundin und Beraterin empfing.
Nach einigen Sekunden in denen ich ihre – leider unvollständige – Nähe genossen hatte, spürte ich, wie auch Surano mich umarmte. Zuerst dachte ich, er würde dies nur tun, um der Etikette genüge zu tun, als ich jedoch bemerkte, mit welcher Intensität und Hingabe er mich in die Arme schloss, bereute ich es, so schlecht von ihm gedacht zu haben. Surano mochte manchmal ein bürokratischer, reizloser Langweiler sein, aber er war kein Monster. Diese Zuwendung tat gut. Fast wünschte ich mir, dass dieser Moment ewig andauern würde, aber nach etwa dreißig Sekunden ließen erst Surano und schließlich auch Zrivarna von mir ab.
„Wie soll es nun weitergehen?“, fragte Surano.
„Nun, wir führen das Manöver wie geplant durch“, sagte ich, wobei ich mich bemühte, trotz der in mir wirbelnden Emotionen, in meine Rolle als Staatsfrau zurückzukehren.
„Falls das überhaupt möglich sein wird“, wandte Surano ein.
„Wie meinst du das?“, hakte ich nach.
„Du weißt, dass der Jyllat dich absetzen kann, wenn sich eine Dreiviertelmehrheit dafür findet. Wenn man sich so anschaut, was da an Nettigkeiten durchs Bionet geistert, halte ich das durchaus für möglich. Immer mehr Jyllen fordern deinen Rücktritt, und zwar längst nicht nur die Fanatiker. Lange werden die Jyllati sich dem öffentlichen Druck nicht widersetzen können.“
„Das ist übel“, sagte ich demonstrativ seufzend, „aber ich werde ihnen zuvorkommen. Die Söldner unterschreiben wahrscheinlich bereits in diesem Moment die Verträge. Ich plane schon morgen den Befehl zum Abmarsch zu erteilen. Vorher wird sich der Jyllat nicht treffen und wenn der Befehl einmal erteilt ist, gibt es kein Zurück. Ich werde gleich nach Adrian schicken, um meinen Plan mit ihm zu besprechen.“
In Wahrheit war dies alles nichts als Improvisationstheater. Denn eigentlich wäre ich inzwischen sogar auf eine gewisse Weise froh gewesen, wenn mir der Jyllat die Last dieser Verantwortung abnehmen würde. Ich hatte damals, als ich kandidiert hatte, gehofft durch meine Wahl als Arnivel viel Gutes bewirken zu können, und sicher habe ich auch das eine oder andere erreicht. Vor allem aber hatte mir das Amt Entbehrungen und Ärger eingebracht. Sicher, theoretisch hätte ich einfach zurücktreten oder auf eine Amtsenthebung durch den Jyllat warten können und wäre damit alle Sorgen bezüglich Adrian und meines riskanten Plans losgeworden. Allerdings war das in der Realität alles nicht ganz so einfach, wie es auf den ersten Blick scheinen mag.
Freiheit war uns Jyllen zwar ein hohes Gut, aber eine einmal getroffene Entscheidung – vor allem, wenn man sie mit solchem Nachdruck verfolgt hatte, wie ich es getan hatte – machte einen auch ein Stück weit zum Gefangenen seiner selbst. Geradlinigkeit war uns Jyllen heilig. Weit heiliger noch als Mutter Flamme und Vater Coross. Wenn auch nur der geringste Verdacht aufkäme, dass ich den Jyllat, meine Berater und im Grunde das ganze Land für etwas eingespannt hatte, von dem ich nicht hundertprozentig überzeugt war und das ich nicht von Anfang an gut durchdacht hatte, wäre das ein fataler Gesichtsverlust. Ich würde nicht nur meine politische Karriere gefährden, sondern auch meine Freundschaft zu Surano und Zrivarna und sogar meine gesamte, noch verbliebene gesellschaftliche Achtung. Gäbe es neue, konkrete Fakten, die mich zum Umdenken zwingen würden, wäre das natürlich etwas anderes, aber die gab es nun mal nicht. Alles, was es gab, war mein ungutes Gefühl und das reichte bei weitem nicht aus. Für einen Außenstehenden mag das alles schwer zu begreifen sein, aber dies ist nun einmal die Denkweise von uns Jyllen.
„Das wird nicht nötig sein“, erklang plötzlich die Stimme des Söldnerführers, so als hätten meine Gedanken ihn heraufbeschworen. Wie ich feststellte, als ich mich zu ihm umdrehte, war er nicht allein, sondern wurde begleitet von dieser grauenhaften Andrin. Man hatte den beiden Uniformen gegeben, die sich nur durch dünne, weißen Streifen an den Oberseiten der Ärmel von den Kampfuniformen unseres regulären Heeres unterschieden. Dennoch wirkten Adrian mit seinem grotesken Waffenarm, den stählernen Unterschenkeln und der schlangenhaften, stets zynisch lächelnde Andrin an seiner Seite sogar noch fremdartiger auf mich als je zuvor. Womöglich hatten die beiden den innigen Moment zwischen Zrivarna, Surano und mir beobachtet, was mir ihren Anblick noch unangenehmer machte.
„Adrian“, sagte ich, ohne mir etwas von meinen Gedanken und Gefühlen anmerken zu lassen, „du bist schon wieder zurück?“
„Ja“, sagte er, „eure Beamten arbeiten schneller als ich es für möglich gehalten hatte. Der Rest unserer Truppe ist entweder noch dabei die Verträge zu unterzeichnen oder sieht sich bereits die Stadt an. Da wir als erste fertig waren, dachten wir, dass es sinnvoll wäre mit unserer neuen Kommandantin darüber zu sprechen, wie wir ihr helfen können. Ich hoffe, wir stören nicht.“
„Ganz und gar nicht“, antwortete ich, „wie du ja selbst mitbekommen hast, brauche ich gerade dringend deine, beziehungsweise eure Unterstützung. Setzt euch!“ fügte ich hinzu und zeigte auf zwei der Sitzgelegenheiten, die für Besucher in die Wände der Anhörungshalle eingelassen worden waren.
„Diese Stühle bestehen aus euren Toten, habe ich das richtig verstanden?“, fragte die Andrin und verzog angewidert die Mundwinkel, während sie sich widerwillig auf dem aus Jonmella gefertigten Schalensessel niederließ.
„Das hast du“, sagte Zrivarna, „unsere Toten haben immerhin die Höflichkeit dich willkommen zu heißen. Ich denke, da solltest du ihnen auch den nötigen Respekt erweisen!“
„Zrivarna!“, ermahnte ich sie.
„Schon in Ordnung“, sagte Adrian, „Zrivarna hat ja recht. Razza mangelt es leider ziemlich an Umgangsformen, dafür ist sie gut im Töten.“
Der Söldner wechselte einen tadelnden Blick mit Razza, der wirkungslos an ihr abprallte, „Unsere Namen kennt ihr ja inzwischen“, fügte Adrian hinzu, „und wie deine hübsche Beraterin heißt, weiß ich jetzt ebenfalls. Doch wie darf ich den Herren nennen?“
„Surano“, kam die Antwort.
„Ein klangvoller Name“, sagte Adrian.
„Es ist eben mein Name“, antwortete Surano verwirrt, „Er ermöglicht es mich anzusprechen. Mehr muss er nicht leisten.“
Kurz entstand eine gespannte Stille zwischen uns, die so lange währte, bis Adrian wieder das Wort ergriff, „Was genau können wir für dich tun, Scavinee?“
„Ich möchte, dass ihr euch zurück ins Hauptquartier der Rorak begebt“, erklärte ich.
„Was?“, fragte Razza empört, „wenn ihr uns ohnehin dort zurückschicken wollt, hätten wir uns dieses ganze Abstimmungstheater sparen können.“
„Was du ‚Theater‘ nennst, ist die Basis unserer Gemeinschaft!“, sagte Surano empört.
„Wenn sie zu solchen Entscheidungen führt, ist es keine gute Basis“, antwortete Razza, „der rote Rat der Andrin und das Ministerium treffen auch oft miese Entscheidungen, aber wenigstens treffen sie sie ohne ein solches Brimborium.“
„Halt dich zurück, Razza!“, mahnte Adrian einmal mehr, „wir sind nicht in der Position zu urteilen, außerdem bezweifle ich, dass Scavinee uns einfach nur in den Schoß des Feindes zurückschicken will. Sie hat sicher weitergehende Pläne.“
„So ist es“, stimmte ich zu, „ich will lediglich, dass ihr für mich überprüft, ob die anderen Söldner dazu bereit wären, sich auf unsere Seite zu stellen und sich gegen die Rorak zu erheben, wenn wir einen Großangriff gegen sie starten. Und ich will, dass ihr so gut es geht versucht, sie davon zu überzeugen, dass das auch in ihrem Interesse liegt. Ich denke, wenn ihr im Hauptquartier berichtet, dass ihr die einzigen Überlebenden des gescheiterten Angriffs auf uns seid, wird man euch trotz eures vermeintlichen Versagens nicht zurückweisen. Die Rorak befinden sich – wie wir hörten – im Bürgerkrieg und brauchen gerade sicher jede Hand, die eine Waffe halten kann. Insbesondere einen so leistungsfähigen Kämpfer wie dich, Adrian. Oder seid ihr beide da anderer Meinung?“
Razza hielt diesmal dankenswerterweise den Mund, während Adrian offenbar angestrengt nachdachte, „Nein, ich denke das könnte funktionieren, auch wenn es nicht ohne Risiko ist und ich den Erfolg nicht garantieren kann. Schon allein, weil Sahkschas Schatten ein Auge auf uns haben werden. Aber wir werden natürlich unser Bestes geben. Ein Problem sehe ich jedoch: Selbst wenn es uns gelingt mit den Söldnern zu sprechen und sie zu überzeugen – wie sollen wir euch dann Bericht erstatten? Die Rorak werden uns sicher auf Abhör- oder Funkgeräte überprüfen.“
„Das ist kein Problem“, sagte ich, „wir haben biologische Sender entwickelt, die wir unter die Haut injizieren können, und die selbst bei gründlichen Scans nicht auffallen.“
„In diesem Fall sehe ich kein Hindernis mehr“, sagte Adrian, „Wann soll die Mission beginnen?“
„Morgen früh“, antwortete ich, „Treffpunkt ist um zehn Uhr hier in diesem Gebäude. Kommt am besten eine Stunde früher, damit wir euch die Sender injizieren können.“
„In Ordnung“, bestätigte Adrian.
„Bis dahin könnt ihr in der Söldnerkaserne unterkommen und gleich die anderen Söldner kennenlernen, die in unseren Diensten stehen. Ich hoffe, man hat euch bei der Vertragsunterzeichnung gesagt, wo ihr sie findet“, fügte ich hinzu.
„Das hat man“, sagte Adrian.
„Gut“, erwiderte ich, „dann haben wir nun alles notwendige besprochen. Ich hoffe, ihr beide habt Verständnis dafür, dass ich nun ein wenig Ruhe benötige. Ich bin erst kürzlich knapp dem Tode entronnen.“
„Davon hörte ich“, sagte Adrian, „und es tut mir leid, was dir widerfahren ist. Allerdings würde ich gerne noch etwas mit dir unter vier Augen besprechen. Natürlich nur, wenn das in Ordnung ist. Es würde auch nur ein paar Minuten dauern.“
„Wir sind Scavinees Berater“, widersprach Zrivarna vehement, „Es gibt nichts, was du vor uns verheimlichen müsstest!“
„Da hast du recht, Zrivarna“, stimmte ich ihr zu, „ich werde euch auch nichts Relevantes von dem vorenthalten, was er mir erzählt, aber wenn Adrian allein mit mir sprechen möchte, kann er das dennoch gerne tun. Vielleicht könntet ihr beide so lange einen Spaziergang machen.“, ich warf Surano und Zrivarna einen verschwörerischen Blick zu, der ihnen signalisieren sollte, sich nicht zu weit vom Gebäude zu entfernen. Hoffentlich verstanden sie mich. Zumindest bei Surano hatte ich den Eindruck, dass dem so war.
„Das trifft sich wunderbar“, sagte Razza, „ich muss ohnehin kacken.“
„Was musst du?“, fragte ich verwirrt.
„Verdauungsprodukte abscheiden“, sagte Razza, wobei sie jede Silbe betonte als spräche sie zu einem Kleinkind, „kann man das hier irgendwo tun?“
Dem entsetzten Gesichtsausdruck von Adrian entnahm ich, dass die Andrin nicht gerade die Höflichkeitsform benutzt hatte, um ihren Bedürfnissen Ausdruck zu verleihen. Diese Frau war wirklich unmöglich.
„Natürlich“, sagte ich so beherrscht wie möglich, „einfach durch die Tür dort vorne gehen und dann den linken Gang nehmen. Dort findest du einen Raum, in dem du dein Geschäft erledigen und dich bei Bedarf frisch machen kannst. Achte darauf, dass du wirklich den linken Gang wählst, keiner von uns möchte, dass du dich in unsere Jonmella erleichterst.“
„Zu Befehl, Chefin!“, sagte Razza grinsend, erhob sich, ging auf die unscheinbare Türe zu, öffnete sie und verschwand dahinter. Surano schüttelte verständnislos den Kopf, verließ dann aber ebenfalls zusammen mit Zrivarna wie besprochen die Versammlungshalle.
„Wie bist du nur an diese Frau geraten?“, fragte ich Adrian, als wir allein waren.
„Man kann sich die Leute, mit denen man arbeitet, nicht immer aussuchen“, sagte der Söldner schulterzuckend, „Sie war eine der Unterkarzone, die mir von Sahkscha zugewiesen wurden. Sie ist keine einfache Zeitgenossin, aber für eine Andrin ist sie eigentlich fast schon wieder in Ordnung.“
„Wenn man die Messlatte nur niedrig genug ansetzt, kann wohl fast jeder drüberkriechen“, bemerkte ich trocken, „aber du sagtest, sie wäre EINE deiner Unterkarzone. Was ist denn mit den anderen passiert?“
„Sie sind gefallen“, sagte Adrian und während er das sagte, bröckelte seine überlegene Fassade, ja ich glaubte fast Tränen in seinen Augen zu erkennen. Womöglich war der Mann doch kein so furchteinflößendes, eiskaltes Wesen.
„Gegen unsere Leute?“, fragte ich.
„Ja“, stimmte er zu, „aber natürlich mache ich euch deswegen keinen Vorwurf. So ist es eben im Krieg. Inzwischen wünschte ich mir, ich hätte vermeiden können gegen euch zu kämpfen, aber damals hatten wir es noch nicht gewagt uns gegen die Rorak aufzulehnen. Sie waren einfach zu stark gewesen. Zudem hatte uns der Trupp Jyllen, der uns angegriffen hat, aus dem Hinterhalt heraus überfallen. Wir hätten wohl kaum mit ihnen verhandeln können.“
„Nein, das hättet ihr sicher nicht gekonnt. Ein Feind, der sich ergibt oder die Seiten wechselt, hat von unseren regulären Truppen stets Gnade zu erwarten. Unsere Spezialeinheiten können sich diesen Luxus aber nicht leisten. Sie müssen blitzschnell zuschlagen. Es tut mir leid um deine Verluste, genau wie um den Tod meiner Schwestern und Brüder. Dieser Krieg muss endlich enden. Hattest du diese Unterkarzone denn gut gekannt?“
„Ja“, antwortete Adrian mit belegter Stimme, „wir haben viel miteinander durchgestanden. Und einer von ihnen war sogar so etwas wie ein Freund für mich gewesen. Um ihn tut es mir besonders leid.“
„Wer war er?“, fragte ich nach, durchaus berührt von dem plötzlichen Gefühlsausbruch des Söldners.
„Sein Name lautete K…arl. Er war ein … Mensch, gewesen. Wie ich, und ein Krieger durch und durch. Sein Benehmen war zwar nicht viel besser gewesen als das von Razza, aber er hatte ein gutes Herz gehabt, auch wenn er das wohl selbst lautstark abgestritten hätte. Auch hat er gerne gelacht, selbst wenn sein Humor schwarz wie die Nacht gewesen war.“
„Die größten Schätze findet man im Dunkeln, so heißt es bei uns“, sagte ich tröstend, „jedenfalls klingt das nach einem bemerkenswerten Mann. Schade, dass ich ihn nie kennenlernen durfte. Kanntet ihr euch aus eurer Heimat?“
Adrian schüttelte den Kopf, „Nein, wir stammten aus verschiedenen Ländern. Aber ich hoffe, dass wir uns vielleicht irgendwann wiedersehen werden. Nach diesem Leben womöglich.“
„Man sagt, dass Mutter Flamme am Ende alle Funken vereint“, sagte ich, „Ich selbst glaube zwar nicht daran, aber in deinem Sinne hoffe ich trotzdem, dass es stimmt.“
„Danke“, sagte er.
„Warum wolltest du denn nun mit mir allein sprechen?“, fragte ich.
„Genau wegen dem hier“, sagte Adrian, „Ich will, dass du verstehst, dass ich keine seelenlose Kampfmaschine bin.“
„So habe ich dich nicht gesehen“, widersprach ich vor allem aus Höflichkeit. In Wahrheit lag er – zumindest bis gerade eben – mit seiner Vermutung nicht allzu weit daneben.
„Doch, das hast du“, beharrte er unverblümt, „und ich kann es durchaus verstehen. Diese verfluchten mechanischen Implantate, dieses arrogante Auftreten, diese düstere Aura. Verdammt, wenn ich mich, wie ich jetzt bin, vor zwei Jahren gesehen hätte, hätte ich mir vor Angst in die Hose gemacht.“
„Dann warst du nicht immer ein Krieger?“, fragte ich überrascht.
„Nein“, sagte ich, „vor gar nicht allzu langer Zeit war ich drauf und dran ein Student zu werden.“
„Ein Student?“, fragte ich.
„Ein … eine Art Schüler, der in einer Wissenschaft ausgebildet wird“, erklärte Adrian.
Nun verstand ich. „Genau wie ich einst“, sagte ich mit plötzlich erwachendem Interesse, „in welcher Wissenschaft solltest du denn ausgebildet werden?“
„Geografie und Geschichte wahrscheinlich“, antwortete Adrian, „ich wollte mehr über die Beschaffenheit meiner Welt und über ihre Vergangenheit erfahren, auch wenn ich meine Ausbildung damals noch nicht begonnen hatte. Ehrlich gesagt war ich mir auch noch unschlüssig, ob ich diesen Weg wählen oder lieber direkt einen Beruf ergreifen sollte. Und dann hatten gewisse … Ereignisse diese Wahl ohnehin überflüssig werden lassen. Und was war dein Interessengebiet?“
„Ich habe mich mehr mit der Technologie unseres Volkes auseinandergesetzt. Dennoch achte ich jede Form von Wissenschaft hoch. Allerdings frage ich mich, wie ihr von einem angehenden Geografie- und Geschichtsgelehrten zu … zu dem hier werden konntet.“
„Ich habe viel erlebt“, sagte Adrian, „und ich habe mehr Welten sehen dürfen – und müssen – als nur Konor. Es gibt andere Wege als die Monolithen, um die Welten zu wechseln, musst du wissen, ob du es mir nun glaubst oder nicht und damit meine ich nicht allein die Raumfahrt. Ich habe viele Dinge gesehen, Scavinee. Bizarre Dinge, grauenhafte Dinge. Dinge, über die ich jetzt nicht im einzelnen sprechen möchte, um dir nicht noch mehr als unbedingt nötig von deiner wertvollen Zeit zu stehlen. Doch diese Erlebnisse haben mich hart gemacht. Arrogant. Einschüchternd. Zumindest nach außen. Im Inneren bin ich jedoch noch immer der junge angehende Gelehrte, der lieber Wissen sammeln wollte, als Leben zu nehmen. Und ich bin mir sicher, dass viele meiner Leute eine ähnliche Geschichte zu erzählen haben. Es war mir wichtig, dass du das weißt. Dass du weißt, dass wenn du morgen das Schicksal deines Volkes in meine, in unsere Hände legst, es keine kalten Hände sein werden.“
Ich spürte wie ein kleiner Schauder über meinen Körper jagte, doch diesmal entsprang er nicht der Angst. War das hier tatsächlich der Mann, das Monster, um dessen Vertrauenswürdigkeit ich mich die ganze Zeit gesorgt hatte? Ehrlich gesagt hatte es ja auch schon bei unseren ersten Gesprächen diverse Anzeichen dafür gegeben, dass er mehr war als nur ein geistloser Schlächter. Die Dunkelheit, die in ihm wohnte, war dennoch nicht zu leugnen. Wahrscheinlich gehörten beide Eigenschaften zu seinem Wesen und vielleicht war das auch gar nicht so schlimm: Für diese Mission benötigte ich jemanden, der in der Lage war seine Zähne zu zeigen. Umso besser war es zu wissen, dass hinter diesen Zähnen das besonnene Hirn eines Wissenschaftlers oder zumindest eines angehenden Wissenschaftlers lag.
„Nun weiß ich es“, antwortete ich ihm, „und egal ob du nun tatsächlich viele Welten besucht hast oder nicht, ich mich freuen, dich in einer friedlicheren Phase dieser Welt willkommen zu heißen, sobald der Krieg vorbei ist. Vielleicht kannst du dann doch noch deinen Plan verfolgen, ein Gelehrter zu werden.“
„Das wäre schön“, sagte Adrian sanft lächelnd.
Plötzlich hallten stampfende Schritte durch den Raum. Sie stammten offenbar von Razza, die endlich aus dem Badezimmer zurückkehrte.
„Bin wieder da“, sagte sie barsch, „Habt echt ein schmuckes Klo“, ihre ordinärer Ton zerstörte sofort die fast schon vertraute Atmosphäre, die sich zwischen mir und Adrian aufgebaut hatte, während sie am Reißverschluss ihres Kampfanzuges herumnestelte. Sofort war auch Adrians bedrohliche Aura zurück, aber meine Zweifel an seiner Loyalität hatten sich dennoch zum größten Teil gelegt.
„Dann sollten wir dir wohl ein wenig Ruhe gönnen“, sagte Adrian und erhob sich, „Pass auf dich auf, Scavinee. Du bist eine weit bessere Herrscherin als Sahkscha, und ich hoffe von ganzem Herzen, dass du siegen wirst. Wir sehen uns morgen.“
Daraufhin verließen Adrian und Razza die Versammlungshalle wieder.
Kurz darauf traten Surano und Zrivarna wieder ein. Ich erzählte ihnen in knappen Worten von meinem Gespräch mit Adrian und davon, wie es mein Vertrauen in ihn gestärkt hat. Während Zrivarna meine gewachsene Sympathie nachvollziehen konnte, wies Surano darauf hin, dass es sich auch lediglich um ein rein taktisches Verhalten gehandelt haben konnte, was ich meinerseits jedoch vehement zurückwies.
Wir redeten noch einige Zeit über dies und das und bekamen noch zwei Bürgerbesuche. Zum einen war da ein älterer Mann Anfang vierzig, der – obwohl wahrscheinlich nicht mehr weit entfernt vom Ausbrennen – sehr tatkräftig wirkte und um Unterstützung bei der Reparatur seines beschädigten Hauses bat, die wir ihm in Form von drei Arbeitsdrohnen zur Verfügung stellten. Zum anderen eine junge, wütende Frau, die eigentlich nur in die Versammlungshalle kam, um mich als „Ravinee“ und als Grund für unseren baldigen Niedergang zu schmähen. Trotz unserer Versuche sie zu beruhigen schrie sie zuletzt, dass es eine Schande sei, dass der Zrym mich nicht getötet habe und begann mit ihren Fäusten auf mich einzuschlagen. Als es uns dreien nicht gelang die Frau auf Dauer von mir fernzuhalten, ohne sie dabei ernsthaft zu verletzten, holten wir unseren Sicherheitsdienst zur Hilfe, der sie in eine Zelle brachte, wo sie auf ihren Prozess vor dem Jyllat warten würde.
Spätestens nach diesem Zwischenfall war mir die Lust auf diesen elenden Tag gründlich vergangen und ein kurzer Blick in unser Bionet machte es nicht besser. Der Hass und die Empörung, die sich dort zusammenbrauten, machten mir klar, dass ich lieber nicht darauf hoffen sollte, dass der Jyllat mich absetzen würde, bevor ich den Befehl zum Abmarsch geben konnte. Wenn ich verhindern wollte, dass ich für den Rest meines Lebens zur geschmähten Schreckgestalt wurde, die zukünftigen Generationen als abschreckendes Beispiel für ihre Kinder diente, musste ich Erfolg haben und allen Beweisen, dass das Durchdrehen des Zrym kein übles Omen, sondern nur ein dummer Zufall gewesen war. Immerhin hatte ich nach meinem Gespräch mit Adrian wieder mehr Vertrauen in meinen eigenen Plan. Doch egal wie es am nächsten Morgen und in den Tagen danach laufen würde: Ich brauchte in jedem Fall Schlaf. Da ich es nicht riskieren konnte Zrivarna mit zu mir ins Zimmer zu nehmen – so gerne ich das auch getan hätte – bat ich stattdessen Surano, mir heute Nacht Gesellschaft zu leisten, wobei er dieser Bitte pflichtschuldig, aber auch aus freundschaftlichen Beweggründen nachkam.
Also verabschiedeten wir uns von Zrivarna, die sich noch eine letzte Jonmella-Mahlzeit einverleiben wollte, was ich jedoch ablehnte, da mir schlicht der Appetit vergangen war. Auch Surano schien keinen Hunger zu haben. Der Raum, in den wir uns zurückzogen, war einfach gehalten. Er bestand nur aus einem schlichten Doppelbett mit Stahlrahmen und Schaumstoffmatratzen, einem Tisch und zwei Stühlen aus gehärteter Jonmella, einigen persönlichen Wandinschriften, die mich an politische Erfolge, alte Freunde und wertvolle Erlebnisse erinnerten und einen kleinen, in die Wand eingelassenen Spiegel.
Die Wohnung, die ich vor Antritt meines Amtes als Arnivel bewohnt hatte, und die im östlichen Stadtteil noch immer auf mich wartete, war da weitaus luxuriöser gewesen und hatte sogar eine kleine Sporthalle und einen Pilzgarten besessen. Eine Arnivel jedoch sollte stets daran erinnert werden, dass sie die bescheidene Dienerin des Volkes war und nicht mehr. Das war nun mal das Konzept.
Ich checkte noch kurz die Meldungen unserer Späher auf meinem Augendisplay. Aufgrund des Bürgerkrieges der Rorak waren fast sämtliche Konflikte an unseren Grenzen zum Erliegen gekommen. Immerhin würde ich mich vorerst also nicht auch noch mit der Verteidigung unseres Landes auseinandersetzen müssen.
Nachdem das erledigt war, zog ich mich aus, ließ mich aufs Bett fallen und genoss die Entspannung, die mich kurz darauf überkam. Mit halb geöffneten Augen sah ich, wie Surano sich ebenfalls auszog und mir fiel erneut auf, dass er eigentlich ein recht attraktiver Mann war, selbst wenn ich eher brüderliche als erotische Gefühle für ihn hegte. Dennoch: Als er seinen Arm um mich legte, seine Anmella-Stränge nach den meinen griffen und er zuletzt auch in mich eindrang, wehrte ich mich nicht dagegen. Ich empfand nicht wirklich viel Lust oder Begehren, aber ich empfand das dringende Bedürfnis für einen Moment zu vergessen. Das immerhin schenkte Surano mir und als er fertig war, übernahm ein traumloser Schlaf seine Aufgabe.
~o~
Ich erwachte von einem lauten Klopfen. Um zu verhindern, dass ein neugieriger oder wütender Bürger sich Zugang verschaffte, während wir uns liebten oder während wir schliefen, hatten wir die Tür zugesperrt, andernfalls hätte derjenige, der hier gerade solch ein Radau veranstaltete, sie wohl einfach aus den Angeln gerissen.
„Was ist los?“, fragte ich verschlafen, „Zrivarna, bist du das?“
„Ja. Ich bin es“, kam es durch die Tür zurück. Es war eindeutig Zrivarnas Stimme, auch wenn sie durch die Tür seltsam klang. Verzerrt und irgendwie … verwirrt.
„In Ordnung. Ich mache auf“, murmelte ich gähnend.
Surano war nun ebenfalls aufgestanden und reichte mir den Schlüssel, den wir auf unseren Nachttisch gelegt hatten. Dieser einfache, veraltete Mechanismus von Schlüssel und Schloss war vor allem deswegen in das Zimmer eingebaut worden, weil er auch in Notsituationen und bei Energieengpässen noch funktionierte. Ich drehte den Schlüssel langsam um und drückte die Klinke herunter. Irgendetwas – vielleicht eine unbewusste Ahnung, vielleicht der seltsame Unterton in Zrivarnas Stimme – brachte mich dazu direkt danach einen Schritt zurückzutreten.
Zrivarna trat ein. Sie sah nicht wirklich bedrohlich aus, aber auch alles andere als normal. Sie war nackt. Ihre Lippen waren angeschwollen und feuchter Speichel glänzte auf ihnen, ihr Blick war verklärt und entrückt, auch ihre Brüste wirkten etwas größer und voller als ich sie in Erinnerung hatte. Ihre Anmella-Stränge peitschten frei, ungezügelt und voller Sehnsucht umher. Kurzum: Sie war mein wahr gewordener erotischer Traum und doch gab es auch Zeichen, die mich warnten. Das feine Zittern ihrer Gliedmaßen, ein irres, subtiles Funkeln in ihren Augen, etwas Ruckartiges, Schlafwandlerisches an ihren Bewegungen und auch ein schwacher, kaum wahrnehmbarer, aber doch etwas unangenehmer Geruch, der von ihr ausging. Irgendetwas stimmte ganz und gar nicht mit ihr.
„Vorsicht!“, schrie ich an Surano gewandt und duckte mich vor Zrivarnas Anmella-Strängen und ihrem Nutrion weg, die allesamt versuchten nach mir zu greifen. Leider reagierte Surano nicht so schnell wie ich. Als die Stränge mich nicht zu fassen bekamen, versuchten sie gar nicht erst, mich zu verfolgen, sondern hüllten Surano schlangengleich ein. Er schaffte es noch, seine eigenen Stränge in seinen Körper zurückzuziehen und zu verschließen, aber Zrivarnas wild gewordene Nervenstränge ließen sich nicht beirren, durchdrangen die gepanzerten Hautklappen mit roher Gewalt und verbanden sich gegen Suranos Willen mit ihnen. Surano brüllte vor Schmerz.
„Zrivarna! Nein! Was tust du da verdammt?! Hör sofort damit auf!“, schrie ich, aber als Zrivarna nicht reagierte, griff ich mir den Säurestrahler, der neben meinem Bett lag, zielte damit auf eine Stelle an ihrem Rücken, von der ich noch aus unserer gemeinsamen Zeit wusste, dass sie dort besonders empfindlich war und drückte ab. Ich hatte erwartet, dass sie durch meinen Schuss handlungsunfähig werden und von Surano ablassen würde. Zumindest letzteres tat sie auch, selbst wenn ihr der Angriff kaum etwas auszumachen schien. Leider versuchte sie nun stattdessen wieder nach mir zu schnappen und ich entging den Anmella-Strängen diesmal nur durch einen Hechtsprung hinter das Bett. „Ich liebe dich, meine Anmella!“, rief Zrivarna dabei, doch es klang mechanisch, beinahe leblos.
„Das merke ich“, sagte ich keuchend, „aber wenn du mich wirklich liebst, dann hör auf mit dieser Scheiße!“
Doch Zrivarna dachte nicht daran. Stattdessen schossen ihre Stränge erneut hervor, stanzten Löcher in die Matratze und beschädigten sogar den Stahlrahmen des Betts, während mir ihr Nutrion so nahe kam, dass ich ihn mir nur mit einem gezielten Schuss meiner Waffe vom Leib halten konnte. Dampf stieg von ihrem verätzten Ernährungsstrang auf und die unermesslichen Qualen, die sie dabei fühlen musste, taten auch mir in der Seele weh. Dennoch konnte ich darauf gerade keine Rücksicht nehmen. Ich warf einen Blick auf Surano, der regungslos aber noch atmend an der Wand lehnte und aus allen Strangöffnungen blutete. Er muss auf eine Krankenstation, dachte ich, sobald ich Zrivarna zur Vernunft gebracht habe.
Ich stieg so schnell ich konnte auf das Bett, nutzte die Matratze als Sprungbrett, wobei ich durch den Einsatz meiner eigenen Anmella-Stränge zusätzlichen Schwung gewann und stürzte mich todesmutig auf sie, während ihre eigenen Stränge auf die Stelle zielten, an der ich gerade noch gestanden hatte. Da mein Säureangriff kaum eine Wirkung gezeigt hatte, nutzte ich stattdessen meine Waffe, um sie ihr noch im Sprung gegen die Stirn zu schlagen, in der Hoffnung sie so außer Gefecht setzen zu können. Leider gelang mir das nicht ganz. Zwar ließ sie ihre Stränge endlich sinken, aber ihre Augen blieben offen, auch wenn plötzlich wieder Klarheit in sie einkehrte.
„Lauf weg“, sagte Zrivarna flehend, „Irgendwas ist in mir … womöglich war es in der Jonmella. Es … kontrolliert mich, will sich verbreiten … ich … ich kann mich kaum dagegen wehren. Lass Surano hier. Lass mich hier. Wir sind beide verloren. Rette dich. Warne die anderen. Bitte, Scavinee! Bitte, meine wahre Anmella!“
Ihre Worte versiegten und ihre Augen begannen sich wieder einzutrüben, auch wenn ihre Stränge vorerst noch ruhig blieben. Ich warf einen Blick auf Surano. Er wirkte fiebrig, sein Körper erbebte und blähte sich an manchen Stellen auf, so als würde er sich langsam zu etwas anderem, fremden umbauen. Ich liebte Zrivarna und ich mochte Surano sehr, aber ich war nicht so dumm Zrivarnas Warnung zu ignorieren und nicht so egoistisch meine restlichen Mitbürger im Stich zu lassen. „Auf Wiedersehen“, sagte ich während meine Stimme sich vor Trauer überschlug, verließ so schnell wie möglich den Raum, versperrte die Tür, zog den Schlüssel ab und ließ die beiden wichtigsten Jyllen in meinem Leben in meinem Zimmer zurück.
Wieder zurück in der Versammlungshalle hörte ich Schreie, Gelächter, laszives Gemurmel und Rufe wie von Betrunkenen. Was auch immer es war, dass Surano und Zrivarna befallen hatte, es war bereits dort draußen.
Vorsichtig ging ich auf den Eingang zu und sah am Boden kauernde Jyllen, die in spasmischen Zuckungen ihre Körpersäfte an den Boden abgaben, andere die sich vor Schmerzen versuchten die Augen aus dem Kopf zu reißen, wieder andere die reglos und tot auf dem Boden lagen, rasende, schreiende Kinder, die von gnädigen Mitbürgern getötet wurden, aber vor allem wild gewordene, scheinbar liebestolle und manchmal auch rasende Frauen und Männer, die umherstreiften und versuchten diese unbekannte Krankheit zu jenen wenigen Flüchtenden zu tragen, die noch nicht infiziert zu sein schienen. Am Himmel kreisten und brüllten die Zrym in wilden Zickzackbahnen, fielen einander an oder versuchten sich an erzwungen Paarungsakten während andere auf die fliehenden Jyllen am Boden hinabstießen.
Wie konnte das nur passieren?, dachte ich verzweifelt und fragte mich zugleich wie ich in diesem infernalischen Chaos auch nur irgendeine Form von Evakuierung organisieren sollte. Trotzdem versuchte ich es. „Jeder Gesunde zu mir!“, rief ich, „ich bin nicht infiziert. Kommt zu mir in die Halle. Dort haben wir Lebensmittelvorräte. Wir können das hier gemeinsam überstehen!“ Die gleiche Nachricht verbreitete ich mit einem hektisch gedachten Text über meinen Bionet-Account, selbst wenn ich mir davon in diesem Chaos nicht viel erhoffte.
Einige der Fliehenden schienen mich zu hören und versuchten tatsächlich zu mir zu gelangen, jedoch wurden fast alle von ihnen auf dem Weg zu mir entweder von Zrym getötet oder von einem der Infizierten überwältigt. Lediglich eine junge, weinende Frau, der die blonden Haare schweißnass am Kopf klebte und die einen kleinen, dunkelhaarigen Jungen an ihrer Hand hielt, schaffte es, zu mir zu gelangen.
„Mutter Flamme sei Dank, dass du lebst, Arnivel!“, sagte sie, „Mein Name ist Hovia, mein Anmella Orvo wurde vor meinen Augen von einem Zrym zersetzt. Das hier ist Urnoree, ein Junge auf den ich seit Jahren aufpasse. Immerhin ihn konnte ich retten. Lass uns bitte schnell hineingehen. Wir sind hier nicht sicher!“
Ich warf einen Blick auf den Jungen. Seine Augen waren glasig. Unter seiner Kleidung bewegte sich etwas.
„Hovia, der Junge ist …“, begann ich.
„ER IST GESUND!“, schrie sie wie von Sinnen, „Er ist kerngesund. Er wurde von niemandem berührt.“
„Hat er heute oder gestern Abend Jonmella gegessen?“, fragte ich.
„Natürlich, er ist im Wachstum“, sagte Hovia, „ich habe ihm etwas gegeben, kurz bevor dieser Wahnsinn losbrach. Meinst du etwa das …“, im Gesicht der Frau wuchs Verzweiflung wie ein sprießender Pilz, „Nein, das kann nicht sein!“, behaarte sie, „Die Jonmella hat mit all dem nichts zu tun!“
„Leider doch!“, erklärte ich ruhig, „Wir müssen ihn zurücklassen. Schau ihn dir doch an. Er ist alles andere als gesund.“
„Er ist nur traumatisiert“, widersprach Hovia und drückte den infizierten Jungen fest an sich, „Schau dir diesen Wahnsinn doch an. Das ist nichts für ein Kind. Das ist schlimmer als der Krieg. Das ist …“
Ich sah hinaus zur Stadt wo sich eine ganze Reihe von Infizierten auf uns zubewegte. Gleichzeitig begriff ich, dass ich diese Frau mit Argumenten nicht zur Vernunft bringen würde und hörte zudem plötzlich ein lautes Poltern, das aus der Versammlungshalle zu kommen schien. Surano und Zrivarna, dachte ich, sie versuchen das Zimmer zu verlassen.
Plötzlich sah ich wie der Kopf des Jungen in einer Wolke aus Knochensplittern und Blut explodierte. Die Frau öffnete und schloss verständnislos den Mund. Dann begann sie schrill zu schreien.
Ich blickte zu meiner rechten und sah Honwivee mit einem großkalibrigen ballistischen Gewehr und einem kalten, entschlossenen Blick. Hinter ihm befanden sich drei weibliche und ein männlicher Soldat. „Du hast ein Kind getötet!“, sagte ich fassungslos.
„Er war infiziert“, stellte er nüchtern fest, auch wenn seine Augen zugleich Selbsthass ausdrückten. Er war ein harter Mann, aber kein seelenloser und auch wenn ich ihn für seine Tat hasste und sie selber nie übers Herz gebracht hätte, verstand ich sein Handeln irgendwie.
Hovia verstand ihn nicht, „Du Monster!“, kreischte sie und stürmte, besudelt mit dem Blut des toten und nun ohne Kopf auf dem Boden liegenden Jungen auf Honwivee zu. Dieser fackelte nicht lang und drückte ein weiteres Mal ab. Das Spezialgeschoss ließ nun auch Hovias Schädel bersten. Nur durch einen raschen Sprung brachte ich mich außer Reichweite des umherspritzenden Gewebes.
„Das war unnötig und barbarisch!“, sagte ich fassungslos zu Honwivee.
„Es war barbarisch“, stimmte eine seiner Soldatinnen zu, „aber es war nicht unnötig. Sie war dem Jungen zu nah gekommen und nun auch noch mit seinen Körpersäften kontaminiert. Das Risiko war zu hoch.“
„Wie könnt ihr nur so herzlos sein?“, fragte ich nun doch erschüttert von den geringen Skrupel, die Honwivee und seine Leute an den Tag legten, „es geht immerhin um unsere Mitjyllen.“
„Mitjyllen wie die da?“, fragte Honwivee und zeigte über meine Schulter. Ich fuhr herum und erkannte Surano und Zrivarna, die gerade dabei waren aus dem Gebäude zu entkommen, oder besser gesagt erkannte ich sie nicht mehr. Sie waren inzwischen fiebernde, zuckende, grinsende, sabbernde Puppen die restlos von ihren Strängen und von der unbekannten Krankheit gesteuert wurden. Ganz schien ihre Verwandlung jedoch noch nicht vollendet zu sein, da sie sich noch zögerlich und vergleichsweise langsam bewegten. Es war, als hätte die unbekannte Krankheit noch Schwierigkeiten ihre gesamten Körperfunktionen zu übernehmen, nun wo sie ihren Willen gänzlich ausgelöscht hatte.
„Du krümmst ihnen kein Haar!“, sagte ich dennoch entschieden zu Honwivee, weil ich den Anblick ihres Todes schlicht nicht würde ertragen können.
„In Ordnung“, sagte er, „du kannst sie gerne qualvoll an ihrer Krankheit verrecken lassen, wenn dir das lieber ist. Aber dann komm schnell mit uns, bevor deine Schätzchen uns mit Erregern vollpumpen.“
Seine Worte taten weh, aber sie änderten nicht daran, dass ich Surano und Zrivarna nicht würde töten können. Nicht einmal jetzt. Also schloss ich mich Honwivees kleiner Truppe an, während sie versuchten sich einen Weg durch die Infizierten zu bahnen und versuchte nicht zurück zu sehen.
„Wo gehen wir überhaupt hin?“, fragte ich Honwivee keuchend.
„Zur Panzerkaserne“, antwortete er, „dort haben sich einige Überlebende gesammelt.“
„Warum seid ihr dann nicht dort geblieben?“, fragte ich.
„Weil wir nach anderen Nicht-Infizierten Ausschau halten wollten und ja, auch um dich und deine Berater zu retten. Zwar besteht für mich jetzt kein Zweifel mehr daran, dass du Ravinee bist, die Quelle des Unglücks, aber dennoch bist du meine Arnivel und das Gesetz gebietet es mir dich zu beschützen“, antwortete Honwivee.
Bevor ich über seine Worte nachdenken konnte, stieß ein kleines Zrym-Weibchen mit ausgefahrener Säuredrüse auf uns herab, wurde jedoch durch das konzentrierte Feuer von Honwivee und seinen Leuten zurückgedrängt und verendete auf dem bereits von diversen Kadavern bedeckten Boden.
„Danke“, sagte ich während ich meine Gedanken mit aller Macht davon abhielt zum Schicksal von Zrivarna und Surano abzuschweifen, „wie sieht es mit den anderen Städten aus? Wurden sie bereits informiert? Wurden die Jonmella-Schleusen geschlossen?“
„Sie wurden informiert“, sagte Honwivee, „und die Schleusen wurden versiegelt. Aber es war bereits zu spät. In allen anderen Städten sieht es kaum anders aus als hier in Neu-Arganon. Hujannen existiert wahrscheinlich nicht mehr. Dort haben wir im Jyllat niemanden und im Verwaltungsgebäude nur einen Infizierten erreicht, der wirres Zeug von sich gegeben hat. Die anderen Städte haben ähnliche Probleme wie wir. In Antiona arbeiten einige Wissenschaftler an einem Heilmittel, aber ich glaube kaum, dass es ihnen rechtzeitig gelingen wird eines zu entwickeln. Nicht während Millionen von Infizierten versuchen ihr Labor einzurennen. Gut möglich, dass das hier unser Ende sein wird, Scavinee. Auf Hilfe dürfen wir jedenfalls nicht hoffen.“
„Sag so etwas nicht“, widersprach ich reflexartig, während ich versuchte mit all diesen grauenhaften Nachrichten irgendwie klarzukommen. Unsere Hauptstadt gefallen, unser gesamtes Volk vor der Vernichtung, nach all diesen Jahren des Kampfes und so kurz vor einem möglichen Triumph. Das war mehr als ich ertragen konnte.
„Über ein Problem zu schweigen, sorgt nicht dafür, dass es verschwindet“, sagte Honwivee, während er gleich zwei Männern ein Loch in die Brust schoss, die ihre Anmella-Stränge gierig nach uns ausstreckten.
„Da hast du leider recht“, sagte ich gepresst, „Hast du eine Ahnung, wer für all das verantwortlich ist? Die Rorak?“
„Wer sonst?“, gab Honwivee zurück, „Sie haben ähnliches schon oft genug erfolglos versucht. Es war nur eine Frage der Zeit, bis es ihnen gelingen würde. Außerdem gibt es wohl keinen Jyllen, der sich das hier wünschen würde. Selbst einem Pyreen-Fanatiker, der sich die Endzeit in Mutter Flammes Feuern herbeisehnt, wäre das eine Stufe zu krass.“
Plötzlich erklang ein Schrei aus der Kehle des männlichen Soldaten, der die Nachhut in unser kleinen Gruppe gebildet hatte, „Es hat mich erwischt!“, schrie er und tatsächlich war es einer infizierten Frau, die sich offenbar in einer der Seitengassen versteckt gehalten hatte, die wir hatten passieren müssen, gelungen, ihn mit einem ihrer Anmella-Stränge zu greifen und sich mit ihm zu verbinden. Während der Mann spastisch zuckte und verzweifelt versuchte sich aus dem Griff der Infizierten zu befreien, erlösten die drei verbliebenen Soldatinnen, sowohl ihn, als auch die bedauernswerte Frau von ihrem Leid. Das war knapp gewesen, dachte ich, hätte er uns nicht gewarnt, hätten sie – oder er – uns womöglich alle infizieren können.
Einige Minuten später, in denen wir schweigend um unser leben kämpften, über Tote stiegen und Infizierte auf Distanz hielten, erreichten wir endlich unser Ziel. „Dort hinten, Kommandant“, sagte eine Soldatin und zeigte auf das eckige Gebäude mit dem breiten Eingang, in dem man eine Barrikade aus Panzern errichtet hatte, „wir haben es gleich geschafft.
Ich fühlte, trotz all der Trauer und dem Schmerz, die in mir brodelten, unendliche Erleichterung. Natürlich war mir bewusst, dass das hier keine Rettung war. Dass wir. selbst wenn ein paar von uns diese Seuche überstehen sollten, fortan Freiwild für die Rorak wären und entweder versklavt oder getötet werden würden. Dennoch, dieses Gebäude bedeutete zumindest etwas Sicherheit, wenigstens für den Moment. Während wir uns der Barrikade näherten suchte ich nach weiteren Soldaten, konnte jedoch keine entdecken.
„Wo sind denn die Überlebenden?“, fragte ich Honwivee.
„Die werden sich in und hinter den Panzern verstecken“, vermutete er, „dort ist es am sichersten.“
Das leuchtete mir zwar ein, aber dennoch fand ich es äußerst beängstigend wie still es in dem Gebäude war. Kein Rascheln, kein Atmen, kein Husten oder sonst ein Geräusch war dort zu vernehmen, während hinter uns noch immer die Apokalypse tobte.
Als wir die Barrikade erreichten und vorsichtig darüber kletterten, ohne das uns jemand davon abhielt, entdeckten wir noch immer niemanden. Stattdessen lagen auf dem Boden hinter und zwischen den Panzern einige Leichen.
„So viel zu den Überlebenden“, sagte ich bitter, „Waren das alles Infizierte? Hat die Krankheit sie so schnell getötet?“
„Kaum vorstellbar“, sagte Honwivee erschüttert, „wir sind noch nicht lange fort, und als wir aufbrachen waren sie noch allesamt gesund. Auch wenn ich das natürlich nicht genau sagen kann. Ich bin ja kein verdammter Biologe. Allerdings sehen mir diese Leute auch nicht aus als wären sie an der Krankheit gestorben. Einigen wurden die Kehlen aufgeschlitzt, andere haben Löcher im Schädel. Sie wurden wahrscheinlich ermordet. Vielleicht ist einfach jemand von unseren Jungs und Mädels übergeschnappt.“
„Wir sollten hier schleunigst verschwinden“, sagte ich, während mich ein immer stärker werdendes, ungutes Gefühl überkam, „Raus aus der Stadt. In die Wildnis. Notfalls auch ins Rorak-Gebiet oder die verfluchten unbegehrten Lande. Überall ist es besser als hier.“
„Womöglich hast du recht“, sagte Honwivee nachdenklich, „aber zuvor will ich sehen, ob es noch Überlebende in den Panzern gibt. Unvee, Onnina, Krya – ihr passt auf unsere Arnivel auf und darauf, dass uns niemand von hinten überrascht, wie den armen Ourno. Ich sehe nach, ob von unseren Leuten noch jemand atmet.“
Zuerst wollte ich ihm Honwivee heftig davon abraten, aber ich war mir sicher, dass er ohnehin nicht auf mich gehört hätte, also schwieg ich, zog mich jedoch wieder vor die Barrikade zurück. Sie gab mir das unangenehme Gefühl eingesperrt zu sein. Eingesperrt zusammen mit etwas ganz und gar nicht Erfreulichem.
Die drei Soldatinnen nickten und stellten sich so auf, dass sie einen möglichst guten Blick auf die Stadt hatten, während sich Honwivee zu einem der Panzer begab. Es war ein Panzer der Jyllos-Klasse, unserer größten Panzerklasse, auch wenn selbst er es nicht mit einem von diesen unseligen Driggdonn-Panzern des Rorak-Imperiums aufnehmen konnte. „Hallo“, rief Honwivee, „Jemand da drin?“
Keine Antwort.
„Hier ist euer Kommandant Honwivee. Ich bin nicht infiziert. Ihr könnt aufmachen.“
Noch immer keine Antwort. Auch die Einstiegsluke öffnete sich nicht. „Gut, dann komme ich rein“, sagte Honwivee, gab den Mastercode für die Luke ein und zog sie mit einem Ruck auf.
Ich kannte keinen Soldaten in unserem gesamten Heer, der so schnelle Reflexe besaß wie Honwivee. Der Infizierte im Inneren war trotzdem schneller. Bevor Honwivee auch nur einen einzelnen Schuss abgeben konnte, wurde er von einem Nutrion und vier Anmella-Strängen durchbohrt, die sich so mühelos durch sein Fleisch gruben, als bestünden sie aus härtestem Stahl.
Das ist unmöglich, dachte ich, so stark waren Anmella-Stränge nicht, „Wir brauchen Hilfe!“, rief ich zu den Soldatinnen, die sich ruckartig umdrehen und dabei zusahen wie die übernatürlich kräftigen Stränge Honwivees Körper wie einen Luftballon aufpumpten, bevor sie sich zurückzogen und den aufgedunsenen Kommandanten wie einen nassen Sack auf die Erde fallen ließen.
Einen Augenblick später platze er. So als hätte jemand eine ganze Ladung Sprengkörper in seinen Bauch gestopft und angezündet. Gewebeteile, Knochen, Speichel und Jonmella flogen in alle Richtungen und benetzten die Soldatinnen von Kopf bis Fuß. Auch mich hätte es diesmal fast getroffen, aber ich wurde genau in diesem von einer starken Hand gepackt und so heftig und so weit zurückgezogen, dass ein dumpfer Schmerz durch mein Rückgrat ging.
„Was…?“, fragte ich benommen.
„Wollte ich auch gerade fragen“, erklang Adrians Stimme, „so etwas wie das da habe selbst ich noch nie gesehen.“
„Das Virus muss mutiert sein“, vermutete ich noch immer benommen, aber ich war mir unsicher, ob Adrian mich überhaupt hörte, da sein Schattenstrahler bereits damit beschäftigt war systematisch die Soldatinnen, zu vernichten, deren von Honwivees Überresten übersäte Haut bereits damit begann, sich auf krankhafte Weise zu verändern. Noch bevor die drei es überhaupt realisieren konnten, lösten sie sich in feine, schwarze Asche auf. Ganz anders der Infizierte im Panzer. Das Wesen, welches mit seiner nicht länger roten, sondern inzwischen lilafarbenen Haut, den wulstigen Auswüchsen am ganzen Körper und den dicken, plumpen Armen über nur noch geringe Ähnlichkeit zu einem Jyllen verfügte, war unglaublich schnell und schaffte es drei von Adrians Schüssen auszuweichen und mit seinen Strängen fast in Schlagreichweite zu kommen, bevor ein wahrer Kugelhagel hinter uns losbrach, den Infizierten durchsiebte und Adrian dem auf diese Weise verlangsamten Geschöpf ihm mit einem vierten Schuss den Rest gab. Stille kehrte ein.
Zitternd und mit den Nerven am Ende stand ich auf und blickte nicht nur in das Gesicht von Adrian und Razza, sondern auch in sicher mehr als Tausend andere, von denen ich viele vom Sehen oder von kurzen Gesprächen her kannte. Die Söldner, dachte ich, Adrian hat sämtliche Söldner mobilisiert, die sich in der Stadt befanden.
„Vielen Dank für meine Rettung“, sagte ich.
„Natürlich“, erwiderte Adrian, „wir alle haben unsere Verträge aus vollster Überzeugung unterschrieben und wir werden uns daran halten.“
„Habt ihr noch andere retten können?“, fragte ich, während ich mir durch das zerzauste Haar fuhr und es möglichst vermied auf die Leichen von Honwivee und den anderen Soldaten zu blicken. Noch mehr Tote, dachte ich, so viele Tote. „Andere Jyllen außer mir, meine ich.“
Adrian schüttelte den Kopf, „Leider nein. Und wir sollten schleunigst verschwinden, damit wenigstens du überlebst. Wenn noch mehr derart Mutierte auftauchen, können wir nicht für deine Sicherheit garantieren.“
„Aber es muss noch andere Überlebende geben!“, beharrte ich, „Ihr seid immun gegen diese Krankheit, oder? Dieser Virus ist doch sicher speziell für uns Jyllen geschaffen worden. Ihr könntet nach Überlebenden suchen. Ihr könntet noch weitere finden. WIR könnten sie finden!“
„Wir könnten nur den Tod finden, Scavinee“, sagte Adrian bedauernd, „ich war an vielen schrecklichen Orten, aber ich habe nie eine Krankheit, nie ein Virus, einen Pilz oder ein Bakterium gesehen, welches sich so schnell entwickelt und seine Wirte derart geschickt gesteuert hat. Wir können woanders nach Überlebenden suchen. In anderen Städten womöglich. Aber nicht hier und nicht jetzt.“
Er hatte recht, begriff ich. Trotzdem hätte ich ihm wohl weiterhin widersprochen, wenn ich noch die Kraft dazu gehabt hätte. Aber die hatte ich schlicht nicht mehr. Ich war leer, hohl, ausgebrannt, lange vor meiner Zeit. Also nickte ich.
„In Ordnung“, sagte Adrian und legte mir tröstend eine Hand auf meine Schulter. Auch wenn seine Berührung nicht vergleichbar war mit der eines Anmella, taten die Wärme und die Nähe dennoch gut. Dann wandte er sich an seine Leute, „Ich brauche zwanzig Freiwillige, die gemeinsam mit mir die Panzer auf böse Überraschungen checken. Wenn hier heil rauskommen wollen, werden wir sie brauchen. Der Rest von euch sichert die Umgebung. Razza, kannst du ein Auge auf die Jungs und Mädels haben?“
Die Andrin nickte, während zwanzig Söldnerinnen und Söldner vortraten und sich Adrian anschlossen. „Wie kann man diese Dinger öffnen?“, fragte Adrian, als er sich vergeblich an der ersten Luke zu schaffen machte.
Das Rattern von Gewehren und das Geräusch von abgefeuerten Strahlen und unirdischen Schreien erklang und Razza brüllte irgendwelche Befehle, die jedoch in dem allgegenwärtigen Lärm unterging. Ich glaubte jedoch Dinge gehört zu haben wie „Ich breche jedem Einzelnen von euch die Knochen, wenn ihr nicht besser zielt“ oder „ich habe schon lebendig Ausgeweidete gesehen, die weniger Angst hatten als ihr Memmen!“. Offenbar mussten die Söldner einen erneuten Angriff der Infizierten zurückschlagen und weitere meiner Schwestern und Brüder töten und obwohl Razza nicht sehr zufrieden klang, schienen sie damit erfolgreich zu sein.
„Du brauchst einen Code“, sagte ich „ansonsten kann man die Luken nur von Innen öffnen.“
„Kennst du den Code?“, fragte Adrian.
Seine Frage glitt an meinem Verstand ab wie Regen an einer Fensterscheibe. Mit einem mal fiel es mir unendlich schwer all das, was um mich herum passierte als Realität zu akzeptieren. Und hatte ich nicht jedes Recht dazu? Immerhin hatte ich Albträume gehabt, die weniger bizarr und schrecklich gewesen waren.
„Scavinee, antworte mir, verdammt! Kennst du den Code?“, fragte Adrian nun mit deutlich mehr Nachdruck in der Stimme.
Endlich gelang es mir das Gefühl der Derealisation abzuschütteln. Kurz überlegte ich, ob ich diesem fremden Söldner tatsächlich unseren Sicherheitscode nennen konnte. Allerdings hatte Geheimhaltung hier am Ende der Welt wohl wenig Sinn. Also nannte ich ihm die Kombination.
„Danke“, sagte Adrian erleichtert und machte sich gemeinsam mit den anderen daran die Panzer in der Barrikade wie auch weiter hinten in der Lagerhalle zu durchsuchen. Sie fanden noch sieben weitere Infizierte. Einer davon war fast so schlimm mutiert wie das Ding, welches Adrians Schüssen ausgewichen war, der Rest war entweder im selben Zustand wie Zrivarna und Surano oder bereits tot. Die anderen Panzer waren leer. Überlebende fanden sie nicht.
„Alles klar“, sagte Adrian, „steigt alle ein. Die Panzer bieten je nach Größe Platz für zwei bis vier Personen. Scavinee, Razza und ich übernehmen in einem davon die Führung. Der Rest verteilt sich, wie er möchte. Denkt aber daran, dass wir immer mindestens einen Fahrer und einen Schützen brauchen.“
Es dauerte eine Weile, bis all die Söldner ihre Plätze eingenommen hatten, zumal sie sich bis zuletzt gegen heranstürmende Infizierte zur Wehr setzen mussten. Bei einer Stadt mit mehr als einer Milliarden Einwohnern war das nicht verwunderlich. Die Leichen stapelten sich schon bald zu einem kleinen Hügel. Es roch überall nach verseuchter Jonmella, verbranntem Gewebe und Exkrementen. Obwohl mein Herz sich vor all dem durch gnädige Taubheit schützte, trieb es mir die Tränen in die Augen.
Die Panzerkaserne beherbergte insgesamt fast zweitausend Panzer, weswegen es kein Problem war für alle ein Gefährt zu finden. Einige der Söldner, wie etwa die riesigen Stockwesen oder breite, rochenartige Kreaturen, die durch irgendeine unbekannte Macht über dem Boden schwebten, waren jedoch aufgrund ihrer physischen Beschaffenheit nicht in der Lage, in den Panzern Platz zu nehmen und musste sich entweder von außen an ihnen festhalten oder versuchen auf andere Weise mit ihnen Schritt zu halten.
Razza, Adrian und ich stiegen als letzte ein, wobei wir den „Arganon“ wählten, einen erst kürzlich fertiggestellten und ironischerweise nach unserer nun untergehenden Stadt benannten Prototypen, der äußerlich fast baugleich zu einem Jyllos-Panzer war, nur dass die Geschütze automatisch-funktionierten, weswegen er nicht auf vier, sondern auf drei Passagiere ausgelegt war. Adrian und Razza nahmen auf den beiden vorderen Sitzen Platz, ich ließ mich dahinter nieder.
Im Inneren war es eng, jedoch dank der gut funktionierenden Klimaanlage und Belüftung nicht stickig. Zudem waren die hochkomplexen Filter dafür ausgelegt, Krankheitserreger, chemische Kampfstoffe und sogar Strahlung aus der Kabine fernzuhalten, weswegen ich mir wahrscheinlich keine Sorgen um eine Infektion machen musste. Auf einem kleinen Bildschirm konnte ich verfolgen wie die große ballistische Kanone, die kleineren Säurestrahler und die beiden Luftabwehrgeschütze sich automatisch auf alle infizierten Jyllen und Zrym fokussierten, die unserem Gefährt zu nahe kamen. Ein nicht zu leugnendes Gefühl der Sicherheit überkam mich, selbst wenn es wahrscheinlich trügerisch war.
„Los geht‘s!“, sagte Adrian und starte den Motor.
„Woher weißt du, wie man einen unserer Panzer fährt?“, fragte ich verblüfft.
„Intuition“, sagte Adrian grinsend.
„So kompliziert ist eure Technik nun auch wieder nicht“, kommentierte Razza herablassend, „Kein Grund sich etwas darauf einzubilden.“
Ich blickte wütend zu der Andrin entschied dann aber sie zu ignorieren, „Wohin fährst du?“, fragte ich Adrian stattdessen während die Kolonne aus Panzern sich in Bewegung setzte, was ich auf den anderen vier Bildschirmen, die die Vorderseite, die Rückseite und die Seitenbereiche des Panzers zeigten, beobachten konnte.
„Überlass das ruhig mir und dem Panzer. Er wird auf der Basis der letzten Funksignale aus euren Städten die aussichtsreichste Route berechnen“, sagte Adrian.
„In Ordnung“, erwiderte ich. Zum einen wusste ich, dass dieser Panzertyp tatsächlich zu so etwas in der Lage war, zum anderen war ich nach all dem froh darüber, die Verantwortung an jemand anderen abgeben zu können, „ich hoffe, wir finden dort noch Überlebende.“
„Davon bin ich überzeugt“, sagte Adrian sanft.
Auch ich klammerte mich an dieser Hoffnung fest. Was anderes hatte ich ohnehin nicht mehr. Ich überlegte kurz, noch einmal ins Bionet zu gehen und dort nach Anzeichen von Leben zu suchen, aber entschied mich schließlich dagegen. Ich hatte schlicht zu viel Angst davor, dort nichts als Totenstille vorzufinden. Lieber eine trügerische Hoffnung, als gar keine, dachte ich. Stattdessen ließ ich mich von dem sanften Rütteln des Panzers und dem Gefühl von schützendem Stahl und von einigermaßen vertrauter Gesellschaft bereitwillig in einen gnädigen Schlummer wiegen. Im Grunde ließ mir meine Erschöpfung auch keine andere Wahl.
Als ich wieder erwachte, war es schon fast wieder dunkel. Dennoch erkannte ich die Umrisse einer Stadt. Einer Stadt mit Gebäuden, die so gar nichts mit der Bauweise der Jyllen gemein hatten. Ein eiskalter Klumpen Unsicherheit, ja sogar Angst formte sich in meinem Bauch. Irgendwas stimmte hier ganz und gar nicht.
„Wo sind wir?“, fragte ich schlaftrunken.
„Beim Rorak-Hauptquartier“, antwortete Adrian. Seine Stimme klang nun wieder mitleidlos und arrogant.
„Was?!“, fragte ich fassungslos, „aber warum? Du wolltest zu einer unserer Städte fahren. Du wolltest mit mir nach Überlebenden suchen.“
„Er hat gelogen“, sagte Razza genüsslich, „darin ist er verdammt gut.“
„Aber welchen Sinn hat das?“, wollte ich wissen, „Meint ihr etwa, ihr könntet das Rorak-Imperium ganz alleine besiegen? Sie werden uns im Handumdrehen in Stücke schießen!“
„Wir wollen sie nicht besiegen. Jedenfalls nicht alle von ihnen“, erklärte Adrian ruhig, „lediglich Derok und seine Leute. Zusammen mit Sahkschas Truppen sollte uns das gelingen.“
„Du hältst Sahkscha die Treue?“, fragte ich fassungslos. Meine Welt brach einmal mehr zusammen. Nach all den Verlusten der letzten Stunden kam nun auch noch Verrat hinzu. Ich hätte von Anfang an auf mein Gefühl vertrauen sollen.
„Ich bin an sie gebunden“, sagte Adrian offen, „durch einen dunklen Schwur. Eine Art Schattenpakt. Aber auch sonst würde ich sie Derok vorziehen. Sie ist die vernünftigere Wahl.“
„Das glaube ich nicht“, stotterte ich, „das kann nur ein Scherz sein!“
„Im Gegenteil“, sagte Razza mit falscher Freundlichkeit, „Der Scherz war, zu behaupten, dass wir eure Verbündeten sind. Und dieser Scherz ist jetzt zu Ende erzählt. Wir haben alle herzlich gelacht. Adrian ist kein netter Onkel, Scavinee. Kein edler Ritter, der dir und deinem hässlichen, schwachen Volk aus der Patsche hilft. Er ist ein Schlächter wie ich“, fügte sie mit einem sadistischen Grinsen hinzu „er hat auch das Virus in eure Stadt gebracht. Mit meiner Hilfe versteht sich. Ihr habt wirklich sehr schöne sanitäre Einrichtungen. Leider kann man sie sehr leicht mir euren Jonmella-Becken verwechseln.“
„Sag, dass sie lügt, Adrian!“, verlangte ich, „Sag, dass diese gehässige Schlampe lügt!“
„Razza lügt gerne“, sagte Adrian beinahe teilnahmslos, „aber gerade lügt sie nicht.“
Unkontrollierte Wut explodierte in mir. Ich hätte auf mein Gefühl hören sollen. Ich hätte im Jyllat meine Meinung ändern und Adrians Aufnahme verhindern sollen. Ich hätte den Mistkerl und alle seine Söldner aus der Stadt jagen oder gleich mit Säure übergießen sollen. Zumindest letzteres ließ sich jetzt noch nachholen. Ich und alle Jyllen mochten dem Tode geweiht sein, aber den verlogenen Adrian und diese Drecksandrin würde ich zuvor mitnehmen. Getrieben von reinster Mordlust wollte ich nach meinem Säurestrahler greifen, merkte aber erst jetzt, dass ich meine Arme nicht bewegen konnte.
„Lähmungsgift“, erklärte Razza, „führe ich immer mit mir. Zum Glück funktioniert es auch bei euch Jyllen. Die Wirkung sollte noch ein, zwei Tage anhalten.“
Ungeachtet ihrer Worte versuchte ich erneut meine Arme zu bewegen, kam jedoch zu keinem anderen Ergebnis als zuvor. Der Säurestrahler befand sich noch immer an meinem Gürtel, war jedoch dennoch unerreichbar für mich. Auch meine Beine konnte ich nicht bewegen. Meine Anmella-Stränge, dachte ich, vielleicht könnte ich mit ihnen den Auslöser betätigen. Doch leider blieben auch sie bewegungslos in meinem Körperinneren zurück.
„Rachedurst ist so ein belebendes Gefühl, nicht wahr?“, sagte Razza, die sich an meiner Hilflosigkeit ergötzte, „und doch so quälend, wenn man ihn nicht stillen kann. Du hast keine Truppen, mit denen du uns drohen könntest, Scavinee, kein Volk, dass dich beschützen oder rächen wird und nicht mal die Möglichkeit uns auch nur eine Backpfeife zu verpassen. Alles, was du noch hast, sind Worte. Also los, gebrauche sie. Schwing deine beleidigenden Reden!“
Du irrst dich, dachte ich, drehte den Kopf das winzige bisschen, dass noch in meiner Macht stand und spuckte meinen extrem sauren Speichel gegen Razzas Hinterkopf wo es laut zischte, als die Säure Haar, Haut und Fleisch verdampfen ließ.
„Verdammte Echsenhure!“, fluchte Razza, holte ein Fläschchen aus ihrer Tasche und träufelte den Inhalt auf ihren verletzten Hinterkopf. Kurz darauf endete das Zischen. Doch immerhin blieb eine hässliche Wunde zurück, wie ich mit großer Zufriedenheit registrierte, „Das wirst du zurückbekommen.“
Sie drehte ich um und sagte grinsend zu mir:, „Was meinst du, warum wir dich mitgenommen haben, Prinzesschen? Wir hätten dich ja einfach sterben lassen können, aber wir sind übereingekommen, dass es interessanter wäre noch ein bisschen mit dir zu spielen. Immerhin bist du praktisch die letzte deines Volkes. Das hat doch etwas Poetisches, nicht?“
Ich sammelte erneut Spucke, um ihr diesmal die grinsende Visage zu verätzen, aber Adrian ließ mit der beiläufigen Berührung der Kontrolltafel eine Panzerglasscheibe zwischen uns hinunterfahren, die mir auch diese letzte Möglichkeit des Widerstandes nahm.
„Tut mir leid“, sagte er und obwohl seine Stimme nun dumpfer klang, konnte ich ihn nach wie vor verstehen, „ich kann nicht riskieren, dass das Fahrzeug durch deine Spucke Schaden nimmt. Nicht so kurz vor dem Kampf.“
„Du bist so ein widerliches Stück Scheiße, Adrian“, fluchte ich, „du hast keine Seele mehr, falls du sie je gehabt hattest. Du bist eine gefühllose, sinnentleerte, entstellte Tötungsmaschine, ein Ding, ein atmender Roboter und egal, ob in diesem Leben oder danach: Leere wird alles sein, was dich erwartet.“
„Jetzt kommt ja doch noch die Wortkeule“, sagte Razza lachend, „Gut zugeschlagen, mein Täubchen.“
„Du hast keine Ahnung, wie es in mir aussieht“, erwiderte Adrian und auch wenn ich es nicht erwartet hatte, merkte ich ihm an, dass ihn meine Worte getroffen hatten. Gut so.
„Ich habe mehr Seele in mir als du ermessen kannst“, fuhr er fort, „und ich habe eine Mission, einen Traum, der mich über jede Leere hinweg trägt. Leider muss ich manchmal notwendige Opfer bringen. Um zu Überleben, um Weiterträumen zu können.“
„Notwendige Opfer?“, fragte ich ungläubig, „Wie zum Beispiel mich aus Spaß zu Foltern?“
„Das ist vor allem Razzas Wunsch. Mir geht es eher darum dein Leben zu erhalten. Noch etwas mehr darüber zu lernen, wie dein Volk so tickte, was es ausmachte. Solche Dinge eben. Vielleicht kannst du mir auch das ein oder andere hierzu niederschreiben. Es für die Nachwelt festhalten und dein Volk dadurch ein Stück weit unsterblich machen. Im Gegenzug musste Razza mir versprechen, dass sie sich zurückhalten wird“, sagte Adrian.
„Eher würde ich sterben, als die Geheimnisse unseres Volkes an jemanden wie dich zu verraten“, schleuderte ich Adrian entgegen.
„Dann bete eben, dass wir sterben“, sagte er schulterzuckend während auf dem vorderen Bildschirm Panzer und Soldaten sichtbar wurden, die sich Gefechte mit den Verteidigern und den mächtigen Abwehrgeschützen des Hauptquartiers lieferten, „Bete zu Mutter Flamme und Vater Coross. Vielleicht erhören sie dich ja.“
~o~
Ich betete tatsächlich zu ihnen. Wenn auch eher aus Respekt vor den Traditionen unseres sterbenden Volkes und nicht weil ich plötzlich an ihre Existenz glaubte. Doch selbst, wenn es sie gab, so erhörten sie mich nicht, auch wenn ich mir das von Herzen gewünscht hätte. Das sollte mich wohl nicht verwundern, denn in letzter Zeit neigte das Leben eher dazu mir die Fresse zu polieren, als meine Herzenswünsche zu erfüllen.
Irgendwie gelang es Adrian, Sahkschas Truppen, die bereits mitten in der Auseinandersetzung mit Deroks Soldaten gewesen waren, davon abzuhalten auf unsere Panzer zu feuern. Mehr noch: Durch unsere Ankunft schien sich das Blatt in dem bislang eher ausgeglichenen Kampf zu wenden und auch wenn wir einige harte Treffer von Driggdonn-Panzern und Panzerabwehrgeschossen kassierten und mehr als einmal ordentlich durchgerüttelt wurden, überlebten wir alle Angriffe mehr oder weniger unbeschadet. Die Aufständischen wurden derweil entweder vernichtet oder in die Flucht geschlagen und nach einiger Zeit erklang der raue, widerliche Jubel von Rorak-Soldaten, der so laut war, dass er selbst durch die dicke Panzerung des Arganon drang. Danach überschlugen sich die Ereignisse. Adrian fuhr zusammen mit den restlichen Söldnern triumphal in die Stadt ein, hielt direkt vor dem Hauptquartier, zerrte aus dem Panzer und zog mich gemeinsam mit Razza wie eine bewegungslose Puppe zum Eingang, während ich von Rorak die übelsten Schmähungen erdulden musste und sogar mit stinkendem Rorak-Kot beworfen wurde.
Nachdem mein Entführer ein paar kurze Worte mit den Wachen am Eingang gewechselt hatte, ließ man uns ein und brachte uns sogar direkt in Sahkschas Thronsaal, dessen schwarze Wände jedes bisschen Licht fraßen, das sich vielleicht noch in geheimen Ecken meines Wesens versteckt gehalten hatte. Es war das erste Mal, dass ich diese Frau sah, über die in Neu-Arganon die seltsamsten Gerüchte kursiert hatten. Einigen zufolge sollte sie ein unsterblicher Dämon oder ein in die Rüstung eingesperrter Geist sein. Die vernünftigeren Berichte hatten aber darauf beharrt, dass sie lediglich eine gewöhnliche Rorak war, die so lange die Macht ihrer tatsächlich mit besonderen Fähigkeiten ausgestatteten Rüstung nutzte, bevor sie irgendwann von ihrer Nachfolgerin ermordet wurde. Dennoch gefiel mir die Ausstrahlung dieser Frau ganz und gar nicht. Sie war düster, falsch und bösartig und die Rüstung gab ihr – allen vernünftigen Erklärungen zum Trotz – durchaus etwas dämonisches.
„Was macht Scavinee hier?“, fragte die neue, unangefochtene Herrscherin von ganz Konor in einem finsteren, kreischenden Tonfall, nachdem sich die schweren Flügeltüren des Thronsaals hinter uns geschlossen hatten. Sahkscha war allein, wenn man von einer auf dem Boden kauernden Cestral-Sklavin absah, die sie an einer Kette in ihrer Hand festhielt, „hatte ich nicht befohlen sie zu töten, Adrian? Willst du dich etwa gegen meinen Befehl auflehnen?“
Die seltsame Betonung, die in ihren Worten lag und die Art wie Adrian darauf reagierte, machte mir bewusst, dass sich etwas zwischen ihnen abspielte, das ich nicht ganz verstand.
„Auf keinen Fall, Sahkscha“, widersprach Adrian, „Allerdings hattet ihr mir befohlen, sie leben zu lassen. Wenn ihr es jedoch wünscht, werde ich sie direkt vor euren Augen töten. Doch wäre es wahrscheinlich besser, sie zu behalten. Zum Einen haben sie und ihre Brut den Rorak viel Schaden zugefügt, wodurch es eine gewisse … Schuld zu begleichen gibt. Zum anderen ist sie eine der letzten ihrer Art. Der Virus, den wir zu den Jyllen getragen haben, war auf ganzer Linie erfolgreich gewesen. Es dürfte bald kaum noch überlebende, gesunde Jyllen geben. Nach Derok ist nun also auch noch euer zweiter Feind besiegt, aber wenn ihr schnell handelt und das Antidot etwa mit Raketen über dem Jyllen-Gebiet verteilt, könnt ihr noch ein paar von ihnen retten und sie von euren Soldaten für eure Experimente zusammentreiben lassen, falls das noch immer euer Wunsch ist. Zuvor aber müssen wir verstehen, wie wir ihre Genetik so verändern können, dass sie unbedingten Gehorsam lernen, ohne zu einfältig für einfache Arbeiten zu werden. Dafür wäre Scavinee das ideale Testsubjekt.“
„Der Gedanke gefällt mir“, sagte Sahkscha und natürlich schien auch Razza an diesem sadistischen Plan gefallen zu finden, wenn man nach ihrem vorfreudigen fast kindlichen Gesichtsausdruck ging, „und du hast natürlich recht, was meinen Befehl betraf. Der Anblick dieser widerlichen Kreatur hat mein Gedächtnis nur ein wenig durcheinander gebracht. Wir lassen Scavinee leben und ich werde sofort Befehl geben das Antidot auszubringen. Auch beglückwünsche ich dich zu deinem außerordentlichen Erfolg. Euch beide. Ihr habt unserem Volk einen großen Dienst erwiesen.“
Während die beiden Söldner sich dankbar verneigten, erreichte ich ein neues Level des Schreckens und der Angst angesichts dieses grauenhaften Schicksals, dass diese Monster mir angedeihen lassen wollten, auch wenn zugleich ein wenig Hoffnung in mir keimte. Wenn Adrian und Sahkscha planten, wenigstens einige Jyllen am Leben zu lassen, gab es vielleicht eine Zukunft für uns. Nicht als Sklavenrasse natürlich – dann würde ich eher unsere Ausrottung vorziehen – aber wenn es mir irgendwie gelang zu entkommen, könnte ich Sahkschas Truppen vielleicht zuvorkommen und die Überlebenden könnten sich hinter mir vereinen und irgendwo abtauchen. Es war sicher keine realistische Hoffnung, aber das spielte für mich in diesem Moment keine Rolle. Ich brauchte einfach Hoffnung, irgendeine Hoffnung, um nicht vollständig den Verstand zu verlieren.
„Natürlich werdet ihr dafür belohnt werden. Ich werde euch beiden, ungeachtet eurer Abstammung, Deroks ehemalige Stellung geben und euch zu meinen Unterdianten machen.
„Unterdiantin?“, fragte Razza verblüfft und anscheinend durchaus stolz auf ihre Beförderung, „Das klingt hervorragend, aber würden eure Leute das denn akzeptieren?“
„Sie müssen“, sagte Sahkscha, „Es gibt nun niemanden mehr, der mich herausfordern könnte und jetzt, da dieser Krieg endlich gewonnen ist, wird es höchste Zeit für Veränderungen. Die Rorak und die Söldner verschiedenster Rassen müssen lernen, miteinander zu leben.“
„Was uns betraf, hattet ihr diesen Großmut nicht besessen“, schleuderte ich Sahkscha entgegen. Doch niemand achtete auf mich. Ich war für sie Luft. Ein Gegenstand. Eine lebende Leiche. Und vielleicht hatten sie recht.
„Ich danke euch, Oberdiantin“, sagte Adrian.
„Ihr habt es euch verdient“, antwortete Sahkscha, kramte ihren Kommunikator hervor und gab damit ein paar Befehle durch, die sich wahrscheinlich um das Antidot drehten.
„Nun würde ich gerne mit Adrian allein reden, wenn du nichts dagegen hast, Razza“, sagte sie dann.
„Natürlich“, zeigte sich die Andrin ungewohnt unterwürfig, „Soll ich Scavinee mitnehmen?“
„Nein, Unterdiantin“, antwortete Sahkscha, „sie führt mir unseren Sieg vor Augen. Diesen Anblick will ich noch eine Zeitlang genießen. Kette sie einfach nur fest. Sie ist zwar gelähmt, aber man sollte auch bei besiegten Feinden lieber sicherstellen, dass sie einem nicht in den Rücken fallen können.“
Razza nickte, ergriff meinen tauben Arm, zerrte mich vor Sahkschas Thron und trat mir so heftig in die Kniekehlen, dass ich in die Knie ging, wovon ich jedoch nichts spürte und legte eine Kette um meinen Hals, so das ich nun neben der Cestral kauerte. Ob sie mir vielleicht zur Flucht verhelfen könnte? Immerhin war sie ebenfalls eine Gefangene, „Wie heißt du?“, flüsterte ich, als Razza sich wieder entfernte und schließlich den Thronsaal verließ, aber die Cestral antwortete mir nicht.
Bereits ein paar Sekunden nachdem Razza den Thronsaal verlassen hatte, geschah etwas, mit dem ich ganz und gar nicht gerechnet hatte. Sahkscha legte erst ihren Helm und dann die ganze Rüstung ab und brachte dabei eine Frau zum Vorschein, die dem gleichen Volk angehörte wie Adrian. Diesem verfluchten, unglückseligen Volk, welches offenbar böser und verschlagener war als alle Rorak und Andrin dieser Welt zusammen. Sie war ein verdammter Mensch!
Das würde sich nutzen lassen, dachte ich, nachdem ich die meine Überraschung einigermaßen überwunden hatte. Anders als Sahkscha schätzte ich die Toleranz der Rorak für andere Völker als nicht sonderlich hoch ein. Erst recht, wenn es um ihre Herrscherin ging. „Sie ist ein Mensch!“, brüllte ich, so laut ich nur konnte „kommt herein und seht es selbst. Sahkscha ist ein Mensch!“
Schneller, als ich erwartet hätte, war die Herrscherin des Rorak-Reiches, die im Moment nicht mehr als Unterwäsche trug, bei mir und trat mir mit ihrem nackten Fuß ins Gesicht, was auch ohne Eisenstiefel ordentlich weh tat. Meine Zähne lockerten sich, ich spuckte Jonmella und ätzenden Speichel aus, vor dem Sahkscha jedoch geistesgegenwärtig zurückzuckte.
„SIE IST EIN MENSCH!“, rief ich dennoch erneut und so laut, dass meine Stimme sich überschlug, nachdem der Schmerz ein wenig abgeklungen war, „SIE IST KEINE RORAK!
„Du kannst dir dein Gebrüll sparen“, sagte Sahkscha, wobei sie nun eher hysterisch als bedrohlich wirkte, „die Wände des Saals sind viel zu dick, als dass dich jemand hören könnte.“
„Irgendwann komme ich hier raus!“, schwor ich trotzig, „spätestens dann wird mich jemand hören.“
„Mag sein“, sagte Sahkscha schulterzuckend, „aber bis dahin hältst du die Fresse. Elyvenne!“, rief sie offenbar zu der gefesselten Cestral, „Sorg dafür, dass sie schweigt.“
Plötzlich kam Bewegung in die Cestral und auch wenn ich ihrem Blick – der selbstbewusst und stolz und nicht wie der Blick einer Sklavin wirkte – anmerkte, dass sie nicht gerade begeistert von Sahkschas Order war, hielt sie mir ihre beiden durchscheinenden aber kräftigen Hände vor den Mund. Ich versuchte sie mit den wenigen nicht gelähmten Muskeln in meinem Gesicht abzuschütteln, oder wenigstens weiter zu schreien, aber es gelang mir nicht. Auch meine Spucke ging fast wirkungslos durch sie hindurch.
„Endlich Ruhe“, sagte Sahkscha und wandte sich dann mit einem ekelhaft verliebten Blick an diesen verräterischen Adrian, „ich habe dich vermisst.“
„Ich dich auch“, erwiderte Adrian säuselnd, „es tut mir so leid, dass ich dir nicht schon früher beigestanden habe, aber unsere Lage als chaotisch zu bezeichnen, wäre eine Untertreibung. Ungo hat mit Deroks Hilfe das Kommando über die Mission an sich gerissen und Korf mit seiner Tochter erpresst. Dann hat er versucht uns alle in ein verseuchtes Gebiet zu führen und uns so zu töten. Mit Korfs Unterstützung gelang es uns, ihn zu überwältigen und auszuschalten, wir hatten uns jedoch dafür entschieden, die Mission lieber fortzuführen, anstatt sofort zum Hauptquartier zurückzukehren. Ich hoffe, du kannst mir das verzeihen.“
„Das kann ich“, sagte Sahkscha, kam näher auf Adrian zu und streichelte ihm über den Nacken. Ich hätte kotzen können. Erneut sammelte sich extrem saurer Speichel in meinem Mund, „am Ende bist du ja noch rechtzeitig gekommen und immerhin hast du mir mit dieser Entscheidung den endgültigen Sieg gebracht.“
Sie küsste ihn. Und er ließ es nicht nur geschehen, sondern zog sie noch fester an sich.
„Was ist eigentlich mit Korf?“, fragte sie, nachdem sich die beiden hinreichend abgeschlabbert hatten.
„Er ist beim Angriff auf die Jyllen leider gefallen. Genau wie die anderen Rorak und einige unserer Söldner. Die Jyllen sind effektivere Kämpfer, als wir dachten und sie haben sofort entschieden uns in unserer Not beizustehen. Das hat unseren ursprünglichen Plan praktisch unnötig gemacht“, berichtete Adrian.
„Das ist sehr bedauerlich“, sagte Sahkscha traurig, „Korf war ein guter Mann. Aber Hauptsache, du hast es heil zurückgeschafft. Ich denke, es wird Zeit, sich bei meinem Helden zu bedanken“, fügte sie anzüglich grinsend hinzu, „so von Fortgeschrittener zu Fortgeschrittenem.“
Was zum Teufel reden die da, dachte ich verwirrt. Meine Verwirrung verwandelte sich jedoch schnell in Ekel, als auch Adrian seine Kleider auszog und ich dazu gezwungen wurde stumm dabei zuzusehen, wie die beiden Kreaturen, die ich mehr hasste als alles andere auf der Welt, miteinander kopulierten. Von „Liebe“ will ich hierbei nicht sprechen, allem Gesäusel und Süßholzgeraspel, welches sie unablässig von sich gaben zum Trotz.
Es war ein rohes, mechanisches, viehisches Geschehen, wie es bei Wesen ohne Seele, ohne Mitleid, ohne tiefere Empfindungen und vor allem ohne den Segen einer geteilten Anmella nicht anders zu erwarten war. Ein übler Geruch nach Schweiß und Geschlechtssekreten lag in der Luft, der mich würgen ließ. Am Zittern der Hand der Cestral bemerkte ich, dass auch ihr dieser Anblick widerstrebte, allerdings war es bei ihr kein Ekel, sondern … Eifersucht? Hatte etwa auch sie mit einem von den Beiden verkehrt? Bevor ich mir darüber genauere Gedanken machen konnte, kam mein Entführer – noch immer nackt und mit erschlafftem Glied – zu mir und schlug mir seinen Kanonenarm gegen die Stirn. Dann wurde alles dunkel.
~o~
Als ich wieder erwachte, befand ich mich in einer kleinen, schwarzen, stählernen, etwa vier Quadratmeter großen Zelle. Sofort versuchte ich meine Drohung wahrzumachen und einmal mehr „SAHKSCHA IST EIN MENSCH!“ zu schreien, aber aus meinem Mund kam kein einziger Ton heraus. Stattdessen lief ein ätzender Sabberfaden an meinem Gesicht herunter, der so sauer war, dass er sogar meine eigene Haut angriff. Ich versuchte ihn weg zu lecken, besaß jedoch keine Zunge mehr, mit der ich das hätte bewerkstelligen können. Diese Ungeheuer hatten mir die Zunge entfernt und anscheinend auch die Stimmbänder, da nicht einmal unartikulierte Laute über meine Lippen kamen. Weinen immerhin konnte ich noch und das war auch das einzige, was ich tat, bis man mich irgendwann holte.
Es waren weder Sahkscha, noch Adrian, die mich gelegentlich aus der Zelle holten, sondern ein offenbar hochrangiger Arzt oder Wissenschaftler der sich selbst als „Tarfos“ vorstellte. Wahrscheinlich war er es auch gewesen, der mich verstümmelt und stumm gemacht hatte. Die ersten Male, als er mich mit sich genommen hatte, hatte ich, da wenigstens die Wirkung des Lähmungsgifts abgeklungen war, noch versucht ihm zu entfliehen, aber da Tarfos immer von verschiedenen Soldaten begleitet wurde, die offensichtlich zur gefürchteten Spezialeinheit „Sahkschas Schatten“ gehörten, kam ich nie weit, selbst wenn ich mich einmal seinem Griff entwunden hatte.
Anfangs führte Tarfos lediglich vergleichsweise harmlose Untersuchungen an mir durch. Etwa beim fünften Mal jedoch, kam, noch während ich auf der Liege lag, Razza ins Labor und verlangte von Tarfos, mir zwei meiner Anmella-Stränge zu entfernen. Ich flehte den Wissenschaftler stumm mit Blicken an, es nicht zu tun. Ja, mich lieber zu töten und ich sah sogar, dass diese Blicke nicht ganz ohne Wirkung blieben. Tarfos hatte in seinem Leben sicher schon eine Menge Gräueltaten begangen, aber er war offenbar dennoch mehr ein Wissenschaftler, als ein Sadist, der zumindest vor Verstümmelungen zurückschreckte, die keinen Sinn ergaben. Er wollte sich weigern, argumentierte aus fachlicher Sicht dagegen, aber Razza beharrte darauf, dass sie als Unterdiantin in der Befehlskette direkt unter Sahkscha stand, und so bekam sie am Ende ihren Willen.
Die Schmerzen und das Grauen der Entfernung waren nicht einmal das Schlimmste. Viel schlimmer war das Gefühl der Leere danach. Ich hatte einen weiteren, großen Teil meiner Empfindungsfähigkeit, meiner Identität verloren und auch wenn sich mein Gehirn nach wie vor an die wertvollen Liebesnächte mit Zrivarna erinnern konnte, waren diese Erinnerungen nun schaler, stumpfer und fast ohne Glanz.
In der Nacht darauf versuchte ich dreimal mir das Leben zu nehmen, indem ich mich mit meinen beiden verbliebenen Anmella-Strängen erwürgte, aber da ich lückenlos überwacht wurde, scheiterte jeder dieser Versuch kläglich. Stattdessen starrte ich fortan stumpf an die Wand, da es nichts anderes gab, was ich tun konnte.
Diese grausame Verstümmelung war nur der Anfang einer Reihe von Folterungen, die Razza an mir durchführte. Wie Adrian versprochen hatte, hielt sie sich ein wenig zurück, denn ich bin mir sicher, dass eine Andrin noch zu ganz anderen Dingen fähig gewesen wäre, aber dennoch verbrannte sie meine Haut, schlug mich, brach mir ein paar mal ein Bein, das sie gleich darauf durch ein von Tarfos bereitgestelltes Mittel wieder heilen ließ, entfernte mir einige Zähne, zwei Zehen am linken Fuß und verkrüppelte mein Nutrion so sehr, dass es fast abgestorben wäre, wenn nicht auch hier Tarfos eingegriffen hätte. So blieb es mir erhalten, auch wenn ich es technisch gesehen nicht brauchte. Es gab wahrscheinlich – außer der in meinen Adern – keine Jonmella mehr, die nicht infiziert war und von den anderen Jyllen, die man als Sklavenrasse erhalten wollte, hatte ich weder etwas gesehen noch gehört. Meine Nahrung, die vor allem aus diesem widerlichen Tonnur bestand, würgte ich ohne Begeisterung herunter, um wenigstens der Zwangsernährung zu entgehen.
Irgendwann begannen die eigentlichen Experimente. Das Gute daran war, dass Razza nicht anwesend war, aber Tarfos, der sonst gelegentlich gelächelt oder sogar ein aufmunterndes Wort für mich bereitgehalten hatte, war diesmal ungewöhnlich ernst und schweigsam. Schnell verstand ich auch, warum. Er führte … Dinge … in meinen Kopf ein, gab mir seltsame Spritzen oder Elixiere und bereits nach der ersten Behandlung fühlte ich mich benommen und unkonzentriert, hatte Schwierigkeiten mich zu orientieren und fühlte eine eigenartige Schläfrigkeit. Dennoch begriff ich, was das hier war. Sie begannen damit mich gefügig und schwachsinnig zu machen. Sie wollten aus mir tatsächlich den Prototypen für ein Volk folgsamer, Arbeiter machen, welches den Rorak fortan in gedankenloser Einfalt dienen sollte. Und sie verstanden offenbar ihr Handwerk. Bereits nach der zweiten Behandlung hatte ich große Erinnerungslücken, die vor allem meine Kindheit und Jugend betrafen. Auch verwechselte ich gelegentlich Worte oder hatte Schwierigkeiten Gesichter zuzuordnen.
Bevor jedoch die dritte Behandlung beginnen konnte, der ich mich auch durch einen weiteren erfolglosen Selbstmordversuch, bei dem ich meinen Kopf an der Stahlwand meiner Zelle einschlagen wollte, nicht entziehen konnte, bekam ich Besuch von Adrian.
Ich freute mich nicht über seinen Besuch, jedoch war mein Hass auf ihn nicht so groß wie ich es eigentlich erwartet hatte. Ob auch das eine Folge der Behandlung war, es eher daran lag, dass ich mal wieder ein anderes Gesicht sah, oder ob ich bereits zu erschöpft war, um noch richtig zu hassen, war mir unklar. Womöglich lag es auch an dem, was er in der Hand hielt. Einen Stift und einen elektronischen Notizblock. Nachdem ich seit Tagen oder Wochen (so genau wusste ich das nicht) nichts anderes erlebt hatte als Folter, Operationen und Langeweile übte diese Gegenstände eine unheimliche Anziehungskraft auf mich aus.
„Hallo Scavinee“, sagte er sanft.
Scavinee? War das tatsächlich mein Name? Ich wusste ihn noch, aber er fühlte sich fremd und falsch an, so als würde er zu einer völlig anderen Person gehören.
„Es tut mir leid, was dir angetan wurde, wirklich“, sagte Adrian, „auch wenn du mir das vielleicht nicht glaubst.“
Das tat ich nicht, auch wenn ich mir selbst dabei nicht mehr so sicher war.
„Ginge es nach mir, würde man darauf verzichten, dich zu quälen. Ich gebe zu, zuerst habe ich mich nicht entsprechend verhalten oder geäußert. Ich habe mich vom Rausch des Sieges mitreißen lassen. Aber ich habe nachgedacht, Scavinee und nun halte ich das mit der Züchtung der Sklavenrasse für einen sehr schlechten Plan. Für einen unnötigen Plan, der reiner Bosheit entspringt. Die Rorak brauchen euch gar nicht als Arbeitskräfte. Dafür haben sie eigentlich Maschinen. Sie wollten euch nur demütigen“, erklärte Adrian und wirkte dabei tatsächlich zerknirscht.
Als er „euch“ sagte, hatte ich überrascht den Kopf gehoben. Das schien ihm nicht entgangen zu sein.
„Ja, Scavinee. Es gibt ein paar Überlebende. Etwa zweitausend. Man hat sie in ein Reservat verfrachtet und lässt sie dort bewachen. Dein Volk ist noch nicht ausgestorben.“
Zum ersten Mal seit gefühlt hundert Jahren spürte ich etwas anderes als Leere, Trauer, Schmerz und Zorn.
„Ich würde ihnen, würde dir gerne irgendwie helfen, aber Sahkscha und Razza beharren auf ihrem Plan und ich weiß nicht, ob ich sie umstimmen kann, auch wenn ich es weiter versuchen werde. Vielleicht könnte ich ihnen vorschlagen, euch ein winziges Gebiet zu überlassen. Ohne höher entwickelte Technologie, ohne Macht, aber im Vollbesitz eurer geistigen Kräfte und in der Lage euer Zusammenleben selbst zu gestalten. Wäre das nicht gut?“, fragte er.
Vor ein paar Wochen hätte ich ihm für einen solchen Vorschlag noch ins Gesicht gespuckt, aber nun kam er für mich tatsächlich einer regelrechten Utopie gleich, also nickte ich.
„Ich werde versuchen die beiden umzustimmen und dadurch wenigstens ein wenig von der Schuld wieder gutzumachen, die ich auf mich geladen habe“, versprach Adrian.
Während er das sagte, strich er mir zärtlich über den hageren, ausgezehrten Kopf, der verkrustet und fast kahl war, da mir Razza mehrere Haarbüschel samt Wurzeln herausgerissen hatte. Ich hätte mich ekeln sollen. Aber diese kurze, freundliche Berührung war einfach zu viel für mich, ganz egal, von wem sie kam. Ich begann hemmungslos zu weinen und zu zittern.
„Leider kann ich dir nichts versprechen“, sagte Adrian traurig, „aber ich kann etwas anderes für dich tun.“
Er überreichte mir den Stift und den elektronischen Notizblock.
„Ich habe schon damals im Panzer darüber gesprochen, dass ich gerne mehr von eurem Volk erfahren würde und nun möchte ich diese Bitte wiederholen. Hiermit kannst du deine Geschichte aufschreiben. Die Geschichte von den letzten Tages deines Volkes. Es mag gemein klingen, das von dir zu verlangen und nur deshalb haben mir Razza und Sahkscha diese Bitte überhaupt gewährt. Aber man kann es auch anders betrachten. Es hilft dir, deine Gedanken zu ordnen und die Zeit hier drin kurzweiliger zu gestalten. Außerdem wird es entweder eine ehrliche Erinnerung an die Größe der Jyllen sein – aus den Augen ihrer Arnivel, nicht aus denen ihrer Mörder – oder aber du wirst es eines Tages deinem neu entstandenen Volk zeigen können, als Symbol für das, was sie gewesen waren und wieder sein könnten. Zudem wird es, so lange du schreibst, keine weiteren Experimente geben. Das immerhin konnte ich erreichen. Wärst du bereit dazu, diesen Bericht für mich zu verfassen?“, fragte Adrian.
Im ersten Moment wollte ich es ablehnen. Mein winziger Rest von Stolz verlangte es. Immerhin hatte ich ihm schon damals im „Arganon“ geschworen eher zu sterben, als ihm unsere Geheimnisse anzuvertrauen. Allerdings würde es mir zumindest Zeit verschaffen. Wenn auch nur der Hauch einer Chance bestand, dass Sahkscha auf die Versklavung meines Volkes verzichten könnte, musste ich sie nutzen und so lange wie möglich bei halbwegs klarem Verstand bleiben. Also stimmte ich mit einem Nicken zu.
„Das freut mich“, sagte Adrian, „dann hoffe ich, dass beim Schreiben die Freude der Erinnerung den Schmerz des Augenblicks übertrifft. Ich werde dich nun allein lassen und dich einmal am Tag besuchen, um zu sehen, wie weit du gekommen bist. Bis dahin werde ich versuchen auf Sahkscha einzuwirken. Ich wünsche dir, dass du stets die richtigen Worte findet, Scavinee, letzte Arnivel.“
Mit diesen Worten verließ er mich und ich begann kurz darauf dies hier niederzuschreiben. Wie erwartet war das Verfassen dieser Zeilen mit vielen Schmerzen verbunden, aber es gab mir auch die Gelegenheit wenigstens einen schwachen Abglanz vergangener Schönheit festzuhalten. Zudem half das Schreiben meine Gedanken wieder etwas zu ordnen und so verging die Zeit wie im Flug. Eigentlich hätte ich – aus naheliegenden Gründen – die Vollendung meiner Aufzeichnungen möglichst lange hinauszögern sollen, mir Zeit lassen und trödeln sollen, aber das gelang mir nicht. Das Schreiben war wie ein Sog, wie ein Fieber. Und so verfasse ich nun, am achten Tag in meiner Rolle als womöglich letzte Historikerin meines Volkes, diese letzten Worte.
Ich höre bereits Adrians Schritte. Die Schritte des Mannes, der mein Leben zerstört hat und der mich doch dazu gebracht hat meine Erinnerungen zu bewahren. Ich hoffe, dass er diesmal endlich gute Nachrichten mitbringt. Doch selbst wenn nicht, werde ich ihm gleich dieses Dokument übergeben. Ich kann ohnehin nicht länger warten. Ich habe schlicht keine Kraft mehr dazu. Ich weiß nicht, was noch kommen wird, ob Rettung oder endgültiger Niedergang in eine dumpfe, gedankenlose Zukunft. Aber was es auch ist: es muss an dieser Stelle unerzählt bleiben.
~o~
Ich weiß noch, wie sehr wir Scavinee für ihre Aufzeichnungen gelobt hatten. Das Herzblut, die Leidenschaft, die Trauer, die Unerschrockenheit und Ehrlichkeit, die sie darin eingewoben hatte, hatten sogar unser damals so unfassbar finsteres Herz gerührt. Tatsächlich hatten wir uns gewünscht, dass sie verschont werden würde. Das zumindest war nicht gelogen gewesen. Jedoch hatte zu keinem Zeitpunkt die Chance bestanden, Sandra von ihren Plänen abzubringen. Der Sieg hatte auch ihr Herz dunkler werden lassen. Kälter und Gnadenloser.
Sie, die eigentlich immer nur eine Heimat, ein wenig Frieden gewollt hatte, hatte sich nun wahrhaft zur Tyrannin entwickelt, die ihre Macht voll ausleben und auskosten wollte. Ehrlich gesagt hatten wir aber auch nie ernsthaft versucht, sie um Gnade für Scavinee zu bitten. Im Grunde hätte sie sich in diesen Tagen keinen besseren, keinen passenderen Gefährten als uns wünschen können. Wenn wir im Thronsaal allein waren, waren wir wie gewöhnliche Geliebte gewesen: Zärtlich, rücksichtsvoll und untereinander durchaus zur Empathie fähig. In dieser Zeit gab Sandra viel von ihrer herrschaftlichen Distanz uns gegenüber auf und verhielt sich immer mehr wie eine verliebte Frau und nicht wie eine Halbgöttin, die ihren Diener vögelte, auch wenn natürlich ein kleiner Rest dieses zwischen uns bestehenden Autoritätsgefälles zurückblieb. Auch bei uns verwandelte sich unsere unverbindliche Verliebtheit mehr und mehr in echte Liebe, die sogar der Kwang Grong in mir teilte. Außerhalb des Thronsaals jedoch, kannten wir beide keine Gnade.
Die Söldner und Rorak wurden zwar rechtlich gleichgestellt und der Harex-Status offiziell aufgehoben, jedoch bauten wir im Gegenzug einen brutalen Überwachungsstaat auf und trieben alle – ob Rorak oder Söldner – zu immer strengerem Drill und immer härterer Arbeit an und für jede Form von Ungehorsam verhängten wir drastische Strafen.
Denn wir hatten große Ziele. Wir beide waren immerhin Fortgeschrittene und unsere Sehnsucht nach neuen Welten wuchs mit jedem Tag. Nun, da es keine Herausforderungen mehr auf Konor gab und da wir unsere Kataloge nicht nutzen und erneut zu machtlosen Getriebenen werden wollten, suchten wir nach anderen Wegen, unser Fernweh und unseren Machthunger zu stillen. Die Monolithen und Erdspalten zu nutzen, lag natürlich nahe, aber trotz intensivster Versuche gelang es uns nicht ihre Geheimnisse zu ergründen.
Doch dafür kam uns ein anderer Gedanke: Immerhin war der Himmel über uns auch in Konor voller Sterne und zumindest um einige von ihnen sollten Planeten kreisen. Dort musste es andere Gebiete geben, die wir entdecken, Länder, die wir erobern, Völker, die wir unterjochen konnten. Und als wir unsere Wissenschaftler darauf ansetzten, entdecken wir zu unserer Freude, dass in der Technologie der Rorak und der erbeuteten Technologie der Jyllen viel nutzbares Potenzial steckte, mit dem wir unserer Ziele womöglich erreichten konnten.
Schnell schafften wir es die ersten Erkundungsraumschiffe zu konstruieren und sogar auf den – enttäuschend leblosen – Monden rund um Konor zu landen. Reisen zu weiter entfernten Zielen, blieben uns aber vorerst unmöglich, und aus heutiger Perspektive ist mir auch klar, dass es ein vollkommen bescheuerter Gedanke war, eine auf Bodenkrieg ausgerichtete Nation innerhalb weniger Monate für interstellare Reisen fit machen zu wollen. Jedoch hielt uns das damals nicht davon ab unseren Wahn zu verfolgen, da wir unsere Hybris selbst nicht erkannten und wir jeden, der auch nur leiseste Zweifel an unseren Plänen äußerte, dafür mit dem Tod oder Schlimmeren bestraften. Das ist wohl eine Krankheit, die viele absolute Herrscher befällt.
Zudem stellte sich uns noch eine andere Herausforderung, die viel von unseren Ressourcen band und die wir selbst in unserer wahnhaften Traumwelt nicht ignorieren konnten. Das Virus, welches wir im Jyllen-Territorium ausgebracht hatten, war vielerorts außer Kontrolle geraten. Statt zu sterben, lebten einige der befallenen Jyllen weiter und verwandelten sich in Wesen, die dem Geschöpf ähnelten, welches in Neu-Arganon unseren Schüssen so spielend leicht ausgewichen war. Andere Infizierte veränderten sich sogar noch schlimmer und wurden derart furchterregend, dass es mehr als zwanzig gut ausgerüstete Krieger erforderte, um sie zu töten. Und als diese auch noch damit begannen sich zu teilen, so als wären es Amöben und sie letztlich anfingen Interesse an unserem Territorium zu entwickeln, blieb uns keine andere Wahl, als eine riesige Verteidigungsmauer entlang unserer gesamten Grenze zu errichten, die wir zudem mit schweren Geschützen ausstatten ließen. Dank Technik und Muskelkraft und der fleißigen, eifrigen Unterstützung der Beta-Jyllen, wie wir die neu erschaffene Sklavenrasse auch gerne nannten, gelang dieses Vorhaben auch, bevor ganz Konor von der Infizierten überrannt werden konnte. Dennoch mussten wir stets wachsam bleiben, Soldaten zur Verteidigung abstellen und die Virengebiete in regelmäßigen Abständen mit Atomwaffen und chemischen Bomben beschießen, um die Population der Mutanten wenigstens einigermaßen einzudämmen.
Was Scavinee betraf … nun, die Experimente hatten Erfolg gehabt. Ich sah sie nur noch ein paar Mal, aber ich war dennoch erschüttert von ihrer Veränderung. Ihre Augen waren jeglicher Intelligenz beraubt worden. Sie tat wie ein Roboter, was man ihr auftrug und wenn man sie schlug oder schubste, leistete sie keinen Widerstand. Ich fühlte mich an On-Grarin erinnert und ja, das Wort „wesensentkernt“ war eine gute Beschreibung für ihren Zustand, auch wenn sie nicht gänzlich gefühllos war. Sie fühlte durchaus Angst und Ehrfurcht und sah jeden, der nicht zu ihrer eigenen, schwachsinnigen Arbeiterrasse gehörte, als die die Jyllen sich nun wieder langsam vermehrten, als überlegenes, gottgleiches Wesen an. Als ein Wesen, dem man nicht widersprechen durfte, da es um ein vielfaches schlauer und mächtiger war. Offenbar war es Tarfos und seinen Kollegen gelungen nicht nur die erwachsenen Jyllen zu verändern, sondern auch das Genom der Jyllen nachhaltig zu verderben, denn die Kinder der neuen Generation zeigten ebenfalls eine stark verminderte Intelligenz und große Angst vor allem, was sie umgab.
Wir nahmen das alles mit Abscheu zur Kenntnis und in manchen Nächten, wenn Sandra längst eingeschlafen war und die Schuld es schaffte, sich durch unseren Panzer aus Ignoranz zu kämpfen, weinten wir sogar und suchten einen verdrehten Trost in der Lektüre von Scavinees Aufzeichnungen, die wir stets mit uns führten.
Dennoch reichte dieser Funken Reue nicht aus, um uns aus dem dicken Kokon aus Selbstgerechtigkeit zu reißen, in den wir uns gemeinsam mit Sandra eingesponnen hatten. Der Dank dafür gebührt einem gänzlich anderen Ereignis.
Eines Tages, als wir gerade in den Thronsaal gingen, um uns einmal mehr zu lieben, wurden wir von gleich drei bemerkenswerten Frauen empfangen, die – auf welchem Weg auch immer – in den Raum gelangt waren.
Eine von ihnen war Elyvenne, die wir schon lange nicht mehr gesehen hatten, nachdem ihre Scharade als Sklavin durch Sandras Gleichstellungserlass überflüssig geworden war und diese sie mit großer Geste befreit hatte. Wir hatten schon beinah vergessen, dass sie überhaupt da gewesen war, denn seit ihrer Rückkehr hatte auch Sandra sich immer weniger für ihre einstige Gefährtin interessiert. Die Cestral wirkte ernst, kalt und entschlossen und trug ein schlankes, weißes Gewehr in ihren durchscheinenden Händen.
Die zweite im Bunde war, auch wenn ich zunächst meinen Augen nicht traute, tatsächlich Rara höchstpersönlich. Meine einstige Peinigerin, die ich eigentlich als hilflosen, verstümmelten Torso im Vorraum ihres Schlafzimmers zurückgelassen hatte, war anscheinend von irgendwem gerettet und mit zwar schäbig und minderwertig aussehenden, aber offenbar funktionsfähigen mechanischen Armen und Beinen ausgestattet worden. Ihr Gesicht war hingegen so hässlich wie immer, auch wenn es von einem triumphalen, rachsüchtigen Leuchten erhellt wurde. In ihrer Hand befand sich eine Gräberwaffe, die sie zielsicher auf den Kwang Grong und mich gerichtet hielt.
Die dritte Frau kannte ich nicht. Sie war ebenfalls keine wirkliche Schönheit, wenn auch bei weitem nicht so hässlich wie Rara und um einiges jünger. Ihr Gesicht hatte einen ernsten, strengen Ausdruck, auch wenn winzige Lachfalten darauf hindeuteten, dass dem nicht immer so war. Ihr dichtes, schwarzes Haar war zu einem breiten Zopf zusammengebunden und ihr Körperbau war für eine Rorak ungewöhnlich schlank und sehnig. In ihrer Hand hielt sie ein schweres, schwarzes Maschinengewehr. Ich wurde das Gefühl nicht los, sie von irgendwo her zu kennen.
„Da seid ihr ja endlich“, sagte Rara, „wir haben schon ‘ne ganze Weile gewartet.“ Offenbar hatte man ihre Zunge auch irgendwie wiederhergestellt.
„Was macht ihr hier drin?“, fragte Sandra gleichermaßen überrascht und empört, „wie zur Hölle seid ihr hier reingekommen?“
„Ich habe sie hier reingebracht“, sagte Elyvenne.
„Du hast was?!“, fragte Sandra ungläubig. Ihr Gesicht wurde mit einem Mal kalkweiß.
„Ich habe ihnen den Geheimgang in den Thronsaal gezeigt, den du angelegt hast, damit wir im Notfall verschwinden können“, antworte Elyvenne.
„Warum? Warum zum Teufel hast du das getan?“, fragte Sandra.
„Das fragst du mich allen Ernstes? Du hast mich seit Adrians Rückkehr wie Dreck behandelt“, sagte Elyvenne, „hast mich einfach weggeworfen, als hättest du mich nie gekannt, um dich mit deinem feinen Kriegshelden zu vergnügen. DU HAST MICH SOGAR WIE VIEH ANGEKETTET GELASSEN UND ZU SCAVINEES WACHHUND DEGRADIERT, WÄHREND DU IHN VOR MEINEN AUGEN GEVÖGELT HAST! Zum Glück bin ich auf diese beiden Frauen hier getroffen. Eine davon, die gute Kora, hat mir auch interessante Sachen über Adrian erzählt.“
Kora, dachte ich verblüfft, konnte das wirklich sein? Konnte das hier Korfs Tochter sein?
Kora entging mein verblüffter Gesichtsausdruck nicht.
„Ich sehe, dass dir mein Name nicht fremd ist, Schlächter“, sagte Kora ruhig, jedoch voll kaltem Zorn, „Mein Vater hat sicher von mir erzählt. Ganz bestimmt, ihr wart immerhin gute Freunde, bevor du ihn abgeschlachtet hast.“
„Ich habe nicht…“, begann ich.
„Oh nein, du hast ihn nicht direkt getötet. Das weiß ich. Die sehr gesprächige Razza, die selber nicht sehr gut im Ertragen von Folter ist und deine illoyalen Söldnerfreunde haben mir alles bis ins kleinste Detail berichtet. Aber dennoch hast du ihn verraten, hast deinen Freund und Vorgesetzten im Stich gelassen, für das Leben von ein paar dreckigen Söldnern, hast den ehrbarsten und zugleich härtesten Krieger ans Messer geliefert, den unser Volk je hervorgebracht hat. DU HAST MEINEN VERDAMMTEN VATER AUF DEM GEWISSEN!“
Sie schoss eine kurze Salve mit ihrem Gewehr ab, die klatschend in mein Bein einschlug. Ich schrie auf.
„Jetzt stell dich nicht so an, du Memme“, sagte Kora, „ich weiß, dass es wieder heilen wird. Anders, als bei meinem Vater.“
Sandra hätte die drei wahrscheinlich mit einer einfachen Handbewegung ausschalten können, aber sie tat es nicht. Genau wie ich, war sie wohl schlicht zu überrumpelt von der Wucht der Ereignisse.
Ich wollte es leugnen. Wollte irgendeine Geschichte erzählen, aber in diesem Moment stürzte mein Gebäude aus Selbstüberschätzung, Arroganz und unterdrückten Schuldgefühlen wie ein Kartenhaus in sich zusammen.
„Ja, ich habe ihn verraten“, gab ich zu, „ich habe damit auch viele Leben gerettet, doch verraten habe ich ihn.“
Mit einem Mal sah auch Sandra mich verblüfft und enttäuscht an. Auch sie hatte Korf gemocht. Immerhin war er einst, neben Elyvenne ihr engster Vertrauter gewesen. „Adrian, wie konntest du …“
„Gut, dass du es wenigstens zugibst“, unterbrach Kora sie, „anscheinend steckt ja doch etwas von einem Mann in dir. Nicht viel zwar, aber etwas.“
„Leider“, sagte Rara böse grinsend, „wenn mein Plan aufgegangen wäre, wäre der Bastard jetzt ein Eunuch. Ich will, dass er leidet, Kora. Ich will, dass er riesige Qualen spürt. Und zwar für den Rest seines wertlosen Lebens.“
„Das will ich auch“, sagte Kora, „und das wird er. Genau wie der verräterische Mensch, der in Sahkschas Rüstung steckt.“
Sandra hatte sich erstaunlich gut im Griff, aber dennoch konnte sie ein schwaches Zusammenzucken nicht unterdrücken.
„Ja, Sandra“, sagte Elyvenne, „ich habe es ihnen verraten. Ich habe ihnen alles über dich verraten. Das hast du dir selbst zuzuschreiben.“
Die Rüstung verbarg es, aber irgendwie war ich mir dennoch sicher, dass Sandra in diesem Moment anfing zu weinen.
„Ihr seid nicht in der Lage, irgendetwas zu beweisen“, sagte ich, „genauso wenig wie ihr uns drohen könnt. Im Gegenteil, Sahkscha kann euch mit einer Handbewegung von den Geschützen an der Decke durchlöchern lassen und auch ich kann euch jederzeit in schwarze Asche verwandeln. Aber wenn ihr das Hauptquartier verlasst und niemals zurückkehrt, wird das nicht geschehen. Das ist mein Angebot an euch. Verschwindet und rettet euer Leben.“
Rara brach in raues, gehässiges Gelächter aus und die anderen Frauen schlossen sich ihr an. „Du meinst wirklich, dass wir nichts beweisen könnten?“, fragte Rara, „Was ist dann das hier?“, sie holte einen kleinen, runden Gegenstand hervor, drückte auf einen Knopf und projizierte eine überlebensgroße Aufnahme von Sandra an die Wand, die aus ihrer Rüstung stieg und kurz darauf begann sich mit mir zu vergnügen.
„Woher stammt das?“, fragte Sandra erschüttert.
„Aus dem Kopf der kleinen Scavinee“, sagte Rara, „Ihr Oberstübchen mag auf die Leistungsfähigkeit einer Ameise reduziert worden sein, aber ihre Erinnerungen sind nicht verschwunden. Es gibt Techniken sie aus ihrem Blödhirn herauszuziehen und in solch hübsche Bilder zu verwandeln. Dieses Video hat inzwischen jeder im ganzen Hauptquartier gesehen. Genau wie jeder diverse Zeugenaussagen gehört hat, nach denen Adrian den guten Korf abgemurkst hat. Sie alle sind bestimmt schon total scharf darauf, euch beide zu töten.“
„Warum tun sie es dann nicht?“, fragten wir, während unser Magen vor Angst im Boden versank. Selbst der Kwang Grong konnte mir in dieser Situation nicht viel Halt bieten.
„Weil wir dieses Recht für uns beansprucht haben“, sagte Elyvenne, „und weil Kora die neue Sahkscha werden soll. Sie ist beliebt, weißt du? Wegen ihres Vaters, aber auch wegen ihres Rufs als Kriegerin.“
„Ich werde mich nicht so einfach töten lassen“, sagte Sandra entschlossen, auch wenn ihre Stimme dabei ein wenig zitterte, „nun, wo ich nichts mehr zu verlieren habe, werde ich euch wenigstens mit ins Dunkel nehmen.“
„Das wird nicht nötig sein“, widersprach Kora unbeeindruckt, „wir wollen euch beide nicht töten. Wir wissen, dass ihr genauso mächtig wie verachtenswert seid und deshalb unterbreiten wir euch ein Angebot: Du, Sandra steigst aus dieser Rüstung und lässt sie mich anlegen, wodurch ich zur neuen Sahkscha werde. Dann benutzen du und Adrian diese seltsamen Kataloge, von denen uns Elyvenne erzählt hat, verlasst unsere Welt für immer und verbreitet woanders Unheil.“
„Wir könnten euch auch einfach töten und dann trotzdem verschwinden“, gaben wir zu bedenken.
„Sobald einer von uns stirbt, werden die Soldaten, die vor dem Thronsaal stehen, sofort hineinstürmen und euch unter Feuer nehmen, bevor ihr Gelegenheit habt euch aus dem Staub zu machen“, sagte Kora, „sie haben Befehl, ihr Feuer auf die Kataloge zu konzentrieren und sie zu zerstören. Dann wärt ihr hier gestrandet und wer auch immer dann den Befehl führt, ob ich oder eine andere Rorak, könnte mit euch dann machen, was immer sie will. Auch du kannst uns nicht alle töten, Adrian. Ich weiß, dass du nicht unbesiegbar bist. Und wenn ihr erst besiegt seid und ich noch leben sollte – so viel verspreche ich euch – werde ich euch nicht etwa töten, sondern versuchen euch auf das Intelligenzniveau von Scavinee zu bringen und euch für den Rest eures Lebens bei Arbeiten an der Mauer einsetzen, was ja nur gerecht wäre, da ihr beide den Schlamassel dort erst angerichtet habt. Außerdem …“
„… habe ich das hier“, sagte Elyvenne und zog Sandras Reisekatalog aus einer geisterhaften Tasche, die sie um ihre Hüfte geschnallt hatte. Er sah fast genauso aus wie meiner, auch wenn er weniger Knicke und Eselsohren aufwies.
„Nein!“, schrie Sandra wie eine Drogensüchtige, der man damit drohte, ihr ihren letzten Stoff zu nehmen.
„Doch, Sandra“, sagte Elyvenne, „und du weißt, wenn ich will, kann ich den Katalog in meiner Hand einfach verbrennen lassen. Es würde mich für Wochen außer Gefecht setzen, mich vielleicht sogar töten, aber wenn es dir nur schadet, wäre es mir das wert!“
„Also, was ist nun?“, fragte Rara, „seid ihr brave Mörder und tut was man euch sagt?“
Sandra sah zu Elyvenne, warf ihrer einstigen Gefährtin flehende Blicke zu, bemerkte aber, dass sie genauso gut hätte versuchen können einen Stein mit Blicken zum Schmelzen zu überreden. „In Ordnung“, gab Sandra sich schließlich geschlagen, „ich tue, was ihr verlangt. Aber erst will ich den Katalog zurück.“
„Nichts da, Schätzchen“, widersprach Rara, „erst steigst du aus der Rüstung!“
„Ich kann den Katalog von Elyvenne entgegennehmen, sobald Sandra die Rüstung verlassen hat. Wäre das in Ordnung?“, schlug ich vor.
„Von mir aus“, sagte Kora.
Also ging ich zu der Cestral und legte eine Hand auf den Katalog, während Sandra erst den Helm ablegte und dann gehorsam aus ihrer Rüstung stieg. Nur in Unterwäsche stand sie nun vor den drei Frauen. Ihr Gesicht war tränenüberströmt. Sie zitterte heftig, und das nicht vor Kälte.
„Wähh“, sagte Rara, „wie konntest du das hier nur ficken, Elyvenne. Ich meine, du bist zwar ‘ne Harex, aber das da …“
„Ich weiß es auch nicht“, sagte Elyvenne verächtlich, „aber ich bereue es zutiefst.“
Als sie diese Worte hörte, ging erneut ein Beben durch Sandras Körper, bevor neue Tränen aus ihr hervorbrachen.
Wir zogen derweil an dem Katalog und stellten erleichtert fest, dass Elyvenne ihn uns wie versprochen überließ.
„OK. Lesestunde“, sagte Rara, während ich Sandra ihren Katalog übergab und auch meinen aus dem Rucksack holte. Das Gefühl der dünnen, beschichteten Seiten zwischen unseren Fingern, gab uns etwas Trost, während wir uns zur letzten schwarzen Seite vorarbeiten und Kora in ihre Rüstung stieg.
Ich griff nach Sandras Hand, die sich kalt und schwitzig anfühlte, in der Hoffnung, dass es uns helfen würde bei unserer kommenden Reise zusammenzubleiben. Ich wartete auf Sandras Zeichen, dann schlug ich gemeinsam mit ihr die nächste schwarze Seite auf.
„Uranor“ stand darauf geschrieben. Noch während ich mir dieses Wort im Geiste vorlas und Konor für immer verließ, klang die Stimme der neuen Sahkscha in meinen Ohren, in der ich trotz der dämonischen Verzerrung, die die Rüstung mit sich brachte, einen fernen Nachhall von Korfs Stimme zu vernehmen glaubte. „Dein Schwur galt der Rüstung, Adrian“, sagte Kora, „und ihre neue Besitzerin sieht dich als Verräter. Ich denke, das solltest du wissen.“
~o~
Nun, wo ich die letzten dieser Worte aufgeschrieben habe, bin ich fast dankbar dafür, wieder im Hier und Jetzt sein zu dürfen, so trostlos es sich auch gestaltet. Ich habe mich verändert, sage ich mir, wie um den Schmutz abzuwaschen, der nach dieser Gedankenreise wieder an meiner Seele klebt und der wohl die ganze Zeit über dort gewesen war, selbst wenn ich ihn nicht hatte sehen können. Ich bin nicht mehr das gleiche Arschloch, das all diese Gräuel an Unschuldigen verursacht hat. Ich bin jetzt geläutert. Durch das, was ich in Uranor erlebte, aber noch mehr durch all die Reisen, die danach folgten. Ich kann wieder Mitleid empfinden, Liebe, Sanftmut und Verständnis. Ich kann wieder Verantwortung übernehmen für meine Taten. Aber stimmt das wirklich? Habe ich nicht SIE und unsere Kinder einfach so zurückgelassen, mich heimlich davongeschlichen und sie ihrem Schmerz überlassen?
Klar, sie hatte im Sterben gelegen und sie war nicht gerade die Partnerin meiner Wahl gewesen, hatte mich in gewisser Weise sogar vergewaltigt, aber es wäre zu einfach sich auf einen solchen Standpunkt zurückzuziehen. So etwas hätte der Adrian aus Konor gemacht. Nicht der, der ich jetzt bin oder gerne sein will. Wäre sie eine menschliche Frau gewesen, von derselben Intelligenz und Denkweise wie ich, dann hätte ich alles Recht gehabt, sie im Stich zu lassen, so wie ja auch keine Frau ihrem prügelnden Ehemann irgendetwas schuldig war außer Verachtung, aber meine Kinder hatten mir nie etwas angetan, außer eben fremdartig zu sein. Und auch sie hatte mir gegenüber nie aus Bosheit gehandelt und irgendwie … verdammt … irgendwie, auf eine verdrehte Weise hatte ich es sogar genossen bei ihr zu sein, selbst unsere gemeinsamen Nächte haben mir auf eine seltsame Art gefallen. Es ist kompliziert zwischen uns. Zu kompliziert für eine einfache Antwort.
Ich höre den Ruf dieser seltsamen Höhle. Ich höre die fernen Geräusche, die meine Neugier anfachen, die Geheimnisse, die darin atmen. Und ich werde sie erkunden. Aber zunächst muss ich einem anderen Ruf folgen. Dem Ruf meines Gewissens, dem jeder folgen sollte, der das Privileg hat, ein solches zu besitzen. Als wolle mir diese fremde Welt ein Zeichen geben, hört auch der giftige Regen nach einer gefühlten Ewigkeit endlich auf. Also packe ich meine Habseligkeiten zusammen, werfe meinen Rucksack über und mache mich auf den Weg zurück in IHREN Bau. Ich weiß nicht, ob sie noch lebt, aber das ist immerhin auch ein Geheimnis, das es zu ergründen gilt. Das Geheimnis dieser Höhle hingegen, würde auf mich warten und selbst wenn nicht, wäre das auch nicht schlimm. Denn wenn ich eines gelernt habe auf all meinen Reisen, dann, dass meine Wege nie arm an Geheimnissen sind. Selbst, wenn sich viele davon am Ende als Albträume entpuppen.