„Die Verhandlung ist eröffnet.“ Die Stimme der obersten Richterin hallte wie ein Donnerschlag durch den beinahe leeren Gerichtssaal. Bei den Verhandlungen, die Karsten Mahler im Internet gesehen hatte, waren die Zuschauerränge stets gefüllt gewesen. Allerdings waren das natürlich auch Verfahren von öffentlicher Bedeutung gewesen. Schauspieler, Influencer, Politiker, Firmenchefs. Das wollten die Leute sehen. Da ging es um etwas. Hier ging es allein um sein Leben. Und da gab es für die meisten Menschen auf dieser gerade erst vom Rande der Vernichtung zurückgetretenen Welt, sicher interessanteres.
Hatte der Gerichtssaal in den Online-Übertragungen schon groß gewirkt, so war er nun ein geradezu gewaltiger, einschüchternder Moloch, mit einer gut zehn Meter hohen Decke, hunderten von leeren Sitzplätzen und dunkelbraunen holzvertäfelten Wänden, die die Ängste und zerschlagenen Hoffnungen unzähliger Angeklagter förmlich auszuatmen schienen.
Zu jeweils zu seiner Linken und seiner Rechten waren große, breite Türen in die Wand eingelassen, deren Funktion Karsten Mahler durchaus bewusst war. Hinter der linken Tür, die aus pechschwarzem Holz bestand, befand sich die „Kammer des Abschieds“. Sie zeigte eine kleine, geisterhafte, menschliche Gestalt inmitten eines schier unendlichen Meeres aus konturloser Schwärze und stand für ein schnelles und schmerzloses Ende.
Die Tür auf der anderen Seite zeigte einen dichten Dschungel. Eine wuchernde, grüne Hölle, in deren feuchten Eingeweiden ein Mensch lag, der ein unfreiwilliger Teil dieses Dschungels geworden war. Dornen steckten in seinen Gliedmaßen, Lianen wucherten durch sein Fleisch und kleine dunkle Käfer tummelten sich in seinen entstandenen Wunden und tranken aus ihnen. Die Ressourcen, das Leben, die Kraft, die bislang in diesem Menschen gebunden war, floss zurück in den Dschungel, in die Gemeinschaft, in das natürliche Kollektiv. Niemand wusste mit Sicherheit, was in diesem Raum, der als „Kammer der Desintegration“ bekannt war, passierte. Aber man hörte oft Schreie. Flehend und schmerzgesättigt und es gab diese Gerüchte. Geflüsterte Gerüchte von unaussprechlicher, unvorstellbarer Folter und darüber, dass sie von Menschen durchgeführt wurden, deren Wert für die Gesellschaft außer Frage stand und die sich auf diese Weise ein wenig Zerstreuung von ihrem entbehrungsreichen Alltag verschaffen durften.
Der Weg in diesen Raum war jedenfalls das Schlimmste, was einem Angeklagten passieren konnte und es war auch das Schicksal, dass Karsten Mahler am meisten fürchtete. Seinen Tod konnte er womöglich akzeptieren, aber das … Nein, das hatte eigentlich niemand verdient. Und früher, vor dem fast vollständigen Kollaps von Umwelt und Gesellschaft wäre das in den meisten Ländern auch nicht denkbar gewesen. Aber das neue Regime, dass aus der Asche der alten Ordnung aufgestiegen war, hatte sich weitgehend vom Ideal der individuellen Freiheiten und Menschenrechte verabschiedet. Alles, was nun zählte, war das Überleben der menschlichen Spezies und die Wiederherstellung und Bewahrung der Lebensgrundlagen. Was diesem Ziel diente, galt als gut. Auch dann, wenn es der Tod eines Mitbürgers war.
Dennoch hoffte Karsten Mahler nach wie vor auf sein Überleben. Darauf, dass er keine der beiden Kammer betreten musste und stattdessen zurück durch die Eingangstür des Gerichtssaals würde schreiten können. Dass er weitere sechs Jahre geschenkt bekam, in denen er seinen Wert beweisen und die er an der Seite seiner Frau Annika würde verbringen können. Wie sehr er sich jetzt gewünscht hätte ihre Hand zu halten. Sie durfte nicht bei der Verhandlung dabei sein und als sie sich heute Morgen verabschiedet hatte, war sie noch verzweifelter gewesen als er. Allerdings war das bei ihrer Verhandlung im letzten Jahr bei ihm kaum anders gewesen.
Er blickte zur Wand am Kopfende des Raumes, die als einzige aus dunklem Marmor bestand. Dort, über dem stählernen, massiven Richterpult, prangte in großen, kupferfarbenen Buchstaben das Motto der neuen, technokratischen Republik. „Sinn ist Sein“.
Die beiden Gerichtsdiener – ein Mann und eine Frau -, die beide blass streng und mit beinah militärischem Kurzhaarschnitt in weißen Anzügen links und rechts von der hohen Richterin saßen, fixierten ihn mit abschätzigen Blicken und sorgten dafür, dass ihm kalte Schauer über sein Rückgrat jagten. Ganz anders die Richterin, deren gelocktes hellbraunes Haar offen über ihre schwarze Richterrobe wallte. Sie machte einen durchaus freundlichen Eindruck. Ihr Lächeln schien zu sagen, dass sie für alles Verständnis hatte und jedem eine zweite Chance gab. Karsten Mahler wusste jedoch aus diversen Livestreams, dass das nicht stimmte.
„Sie, Karsten Mahler, wohnhaft im Landabschnitt 36-F des eurasischen Kontinents werden der illegitimen Platzbelegung und Ressourcenverschwendung angeklagt. Was haben sie zu ihrer Verteidigung zu sagen?“
Karsten schluckte schwer. Anders als der rituelle Satz vermuten ließ, war er keines gewöhnlichen Verbrechens angeklagt. Jeder Einwohner – selbst die Richterin – musste sich regelmäßig diesen Prozessen unterziehen. Das machte es für ihn aber leider keinen Deut weniger unangenehm. Wie sehr hätte er sich in diesem Moment gewünscht einen Verteidiger zu haben, wie er vor dem Kataklysmus ganz normal gewesen war und wie er beispielsweise normalen Straftätern nach wie vor zustand. Der technokratische Regierungsrat war jedoch der Meinung, dass jeder Mensch in der Lage sein sollte selbst zu erklären, welchen Wert er für die Gemeinschaft besaß.
„Ich habe weder Platz noch Ressourcen verschwendet.“, begann Karsten seine Verteidigung, „Ich habe keine Kinder, Euer Ehren. Nur eine Frau, die wie ich in der Forstverwaltung arbeitet. Das ist … das ist eine sehr nützliche Aufgabe, die … es geht um die Grundlagen unseres Überlebens. Wir wohnen beide an unserem Arbeitsort, verbrauchen also auch keine Energie, die …“
„Herr Mahler.“, unterbrach ihn eine Stimme, die nicht der Richterin gehörte. Bislang hatte Karsten Mahler ganz bewusst keinen Blick auf den Staatsanwalt geworfen, um nicht vollkommen den Mut zu verlieren. Es handelte sich um Dennis Reid. Der junge Mann mit dem kleinen blonden Zopf und den giftgrünen Augen war eine regelrechte Legende. Sein abgetragener, bescheidener Anzug stand in einem krassen Gegensatz zu seinem überwältigenden Charisma und doch war er sein Markenzeichen. Dennis Reid verbrauchte nie mehr als notwendig. Er engagierte sich in dutzenden von gemeinnützigen Initiativen und musste sich wahrscheinlich noch nie Gedanken über seinen gesellschaftlichen Wert machen. „Herr Mahler, stimmt es nicht, dass in eben jener Verwaltung insgesamt fünfzig Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter beschäftigt sind?“, fragte er Karsten Mahler.
„Das … das könnte ungefähr hinkommen, ja“, antwortete Karsten und spürte zugleich, dass diese Frage nicht Gutes bedeuten konnte.
„Fünfzig Mitarbeiter!“ wiederholte Reid. „Fünfzig Mitarbeiter allein in der Verwaltung. Für ein Gebiet welcher Größe?“
„Wir kümmern uns im Wesentlichen um das ehemalige deutsche Bundesgebiet.“, erklärte der Angeklagte.
„Tatsächlich? Nun, angesichts der Größe der Belegschaft hätte ich eher erwartet, dass sie sich um die Wiederaufforstung des gesamten eurasischen Kontinents bemühen.“, erwiderte Reid scharf.
Auf Karsten Mahlers Stirn bildeten sich erste Schweißperlen, obwohl es Winter war und der Gerichtssaal kaum beheizt wurde. „Es ist … im Grunde sind … also die Aufgaben sind komplizierter als sie denken. Sie wissen ja, wie knapp unsere Ressourcen sind und wie schwer es ist die trockenen, ausgelaugten und oft auch mit Chemikalien belasteten Böden wieder fruchtbar zu machen. Das ist harte Arbeit. Viel härter als sie vielleicht meinen.“, verteidigte sich Mahler.
„Oh, ich weiß, wie schwer diese Arbeit ist.“, antwortete Reid. „Ich habe selbst ein paar Mal bei der Aufforstung geholfen. Ehrenamtlich und ohne jegliche Gegenleistung versteht sich. Ich zweifle keine Sekunde daran, dass Menschen gebraucht werden, die sich um diese Dinge kümmern. Allerdings sind das Menschen, die aktiv etwas tun, nicht solche, die in der Verwaltung beschäftigt sind. In einer Verwaltung, deren Tätigkeit doch inzwischen zu weiten Teilen von künstlicher Intelligenz übernommen werden kann. Oder täusche ich mich da?“
Nun war Karsten wirklich in Schwierigkeiten. Im Grunde hatte Reid recht. Sein Job war eigentlich überflüssig und er hatte es allein seiner Frau und einiger ihrer Kontakte zu verdanken, dass er ihn überhaupt erhalten hatte. Aber das durfte Reid um keinen Preis der Welt erfahren.
Einige schreckliche Sekunden lang, hatte Karsten keine Ahnung, was er antworten sollte, dann aber fiel ihm doch etwas ein. „Natürlich hilft die KI uns enorm weiter. Aber es gibt immer noch Bereiche, in denen Menschen einfach besser sind. Kreativität und unkonventionelles Denken zum Beispiel“, gab er zurück, erleichtert, dass ihm überhaupt eine Erwiderung gelungen war.
Reid lächelte ein regelrechtes Raubtierlächeln. „Ich kann mir geradezu bildlich vorstellen, wie Sie und Ihre neunundvierzig Kolleginnen und Kollegen sich zum morgendlichen kreativen Brainstorming zum Thema Wiederaufforstung treffen. Eigentlich kann ich mir sogar kaum eine kreativere Aufgabe ausmalen als die eines Sacharbeiters in der Forstverwaltung.“ ätzte Reid. „Aber wenn Sie so außerordentlich kreativ sind und Ihr Job solch eine große Bedeutung hat, können Sie mir doch sicher sagen, um wie viel Prozent die Effizienz der Forstverwaltung gestiegen ist, seit Sie dort arbeiten.“
Karsten konnte nicht verhindern einen Blick zu einem der hochgerüsteten Polizeisoldaten zu werfen, von denen insgesamt acht im Saal Wache hielten und deren Sturmgewehre stets begierig waren widerspenstige Angeklagte von einer Flucht abzuhalten. Natürlich ohne sie dabei zu töten. Das würde ja dem Urteil vorgreifen. Angestrengt überlegte Karsten, wie er antworten sollte und schaffte es einmal mehr seinem Gehirn wenigstens ein paar Worte abzutrotzen. „Das ist schwer zu sagen. Sie wissen ja, dass das Klima sehr instabil geworden ist und dann gab es da die Afrikanisch-Europäischen Kriege, die unsere Bemühungen behindert haben und …“
„Um wie viel?“, hakte Reid nach.
„Ich … ich weiß es nicht. Ich weiß es nicht genau.“, antwortete Karsten resigniert.
Reid seufzte tief, so als wäre er persönlich von ihm enttäuscht, was er wahrscheinlich auch war. „Nun gut. Wir werden eine entsprechende Anfrage an Ihren Arbeitgeber schicken. Kommen wir zu Ihren anderen Lebensbereichen. Wie sieht es mit ehrenamtlichen Engagement aus?“
„Also einmal da habe ich bei der Ernte geholfen. Bei der Maisernte.“
„Wann war das?“
„Im Januar 2057.“
„Also vor sechs Jahren. Und seitdem?“
„Nun. Ich … seit meinem Rückenleiden kann ich keine schweren Arbeiten mehr ausführen.“
„Sie geben also zu, nicht mehr arbeitsfähig zu sein?“
Karsten wusste, dass er bei dieser Antwort besonders vorsichtig sein musste. Arbeitsunfähige Menschen hatten in dieser neuen Welt wenig Gnade zu erwarten. „Ich bin arbeitsfähig.“, antwortete er so entschlossen, wie er konnte, „Nur eben nicht für jede Arbeit.“
Mahler sah, wie die Richterin etwas notierte. „Eingeschränkte Arbeitsfähigkeit.“, flüsterte sie dabei.
„Und ihr soziales Umfeld? Wie viele Freunde haben sie, Herr Mahler?“, wollte Reid wissen.
„Also ein paar kommen da schon zusammen. Mit Maria und Arnold von der Arbeit verstehe ich mich Recht gut. Und da wäre dann noch Lisa. Sie ist zwar eine Freundin meiner Frau, aber wir beide kommen auch wunderbar miteinander aus und …“
„Herr Mahler!“, unterbrach ihn Reid, „Was ich eigentlich wissen wollte ist: Wie viele Menschen haben einen Freundschaftsvertrag mit Ihnen unterschrieben?“
„Ich … Also eigentlich …. Maria … Maria wollte nächste Woche unterschreiben. Das hat sie mir versprochen.“
„Also niemand“, bemerkte Reid nüchtern.
Die Richterin notiert erneut etwas und Karsten Mahlers Zuversicht erreichte einen neuen Tiefpunkt.
„Kommen wir zu Ihren Eltern. Wie ist Ihr Verhältnis zu ihnen?“
„Mein Vater ist vor zwei Jahren gestorben.“, antwortete Karsten knapp. Insgeheim dachte er aber noch einmal sehnsüchtig an diesen wunderbaren Mann, der sich in dieser harten Welt seine Menschlichkeit bewahrt hatte und der ihn – wie auch alle anderen Menschen – stets mit Respekt und Liebe behandelt hatte. Es war Selbstmord gewesen. Er war nach einem Arbeitsunfall auf seinen Rollstuhl angewiesen gewesen und als sein Bewertungsprozess näherrückte, hatte er sich lieber die Pulsadern aufgeschnitten, als sich dieser Form von „Gerechtigkeit“ zu stellen. Karsten konnte ihn inzwischen gut verstehen. Wahrscheinlich wäre er andernfalls in der Kammer der Desintegration gelandet. Dennoch schmerzte sein Tod ihn heute noch.
„Und Ihre Mutter?“
„Sie hat Demenz. Sie lebt in einem Pflegeheim.“
„Wann haben Sie sie zuletzt besucht?“
„Das … lassen sie mich nachdenken. Das müsste im September letzten Jahres gewesen sein.“
„Vor vier Monaten?“, fragte Reid empört.
Karsten empfand diese Fragen als heuchlerisch. In etwas mehr als einem Jahr würde man seine Mutter vor genau dieses Gericht zerren und da sie sich aufgrund ihres Zustandes nicht einmal verteidigen konnte, würde man sie in jedem Fall zum Tode verurteilen. Wenn nicht zu Schlimmerem. Zwar hatte jeder Bürger einen Anspruch auf medizinische Basisversorgung, aber nur so lange, wie ihm nicht offiziell die Nützlichkeit aberkannt worden war. „Ja. Aber Anfang nächsten Monats wollte ich wieder nach ihr sehen. Ich würde sie ja öfters besuchen, aber sie erkennt mich nicht einmal mehr und die Besuche sind … es deprimiert mich einfach, was aus ihr geworden ist. Ich … ich verkrafte das einfach nicht.“
Wieder schrieb die Richterin eine Notiz und Reid formulierte seine nächste Frage.
„Wie sieht es mit Ihrer Frau aus? Ist sie glücklich mit Ihnen?“
„Klar! Ich meine, ich kann nicht in ihren Kopf hineingucken, aber ich denke schon, dass sie glücklich ist.“
„Denken Sie es oder wissen Sie es?“
„Wie schon gesagt, ich kann ja nicht …“
„Meinen sie, dass sie ohne Sie glücklicher wäre? Allein oder auch mit einem anderen Partner?“
„Aber … WOHER ZUM TEUFEL SOLL ICH DAS DENN WISSEN?“, schrie Karsten, der angesichts dieser absurden Frage seine Fassung verlor.
„Nun. Sie könnte beispielsweise etwas in der Art zu Ihnen gesagt haben.“, schlug Reid vor.
Er wandte sich an die Richterin. „Ich beantrage das folgende Beweisstück zur Verhandlung zuzulassen. Es handelt sich um einen Mitschnitt eines Gespräches zwischen Herrn Mahler und seiner Frau, aufgenommen am 23. März 2056 um 22:36 Uhr.“
„Dem Antrag wird stattgegeben.“, sagte die Richterin ohne auch nur eine Mine zu verziehen.
Kurz darauf erklang die Karsten Mahler so bekannte Stimme seiner Frau.
„Weißt du was, ich wünschte, ich hätte dich niemals kennengelernt!“, schrie Annika Mahler in mehr als wütendem Tonfall.
„Was … aber woher haben Sie … das ist privat!“, empörte sich Karsten.
„Sie hätten besser die Nachrichten verfolgen oder wenigstens die AGB ihres Basis-Mobilfunk-Vertrages lesen sollen. Privatsphäre ist schon seit dem 1. Januar 2055 kein geschütztes Grundrecht mehr. Sie müssen Sie sich verdienen. Zum Beispiel durch gemeinnützige Arbeit. Ansonsten sind die Mobilfunkanbieter verpflichtet alle Gespräche aufzuzeichnen und uns zur Verfügung zu stellen“, erklärte Reid.
Verdammt, wie hatte ihm das nur entgehen können? Karstens Wut auf sich selbst wurde nur noch von seiner Angst übertroffen. Es lief ganz und gar nicht gut für ihn.
„Das mag ja sein.“ gestand er ein , „Aber um Gottes Willen, Sie müssen doch erkennen, dass das nur ein ganz normaler Streit war.“, verteidigte sich Mahler.
Es gab Menschen, die Reid auch „Das Krokodil“ nannten. Nun biss er zu.
„Sie geben also zu, dass es in Ihrer Ehe zum Streit kam? Streit, welcher sich nachweislich negativ auf das seelische und körperliche Wohlbefinden auswirkt. Und Sie geben ferner zu, dass dieses Phänomen in Ihrer Ehe sogar ein Normalzustand ist?“
„So habe ich das nicht gemeint“, widersprach Mahler vehement.
„Und doch entspricht es der Wahrheit“, entgegnete Reid.
Erneut aktivierte er die unsichtbaren Lautsprecher und weitere Mitschnitte aus sieben Jahren Beziehung und Ehe schallten durch den Raum.
„Nie kann man sich auf dich verlassen!“
„Hörst du mir eigentlich zu?“
„Ich halt es hier nicht mehr aus!“
„Wie unsensibel kann man sein?“
„Liebst du mich überhaupt?“
„AUFHÖREN!“, schrie Mahler.
„Ertragen Sie etwa Ihre eigene Schande nicht länger? Ertragen Sie es nicht mehr, wie sehr Sie sogar dem Menschen schaden, dem Sie am nächsten stehen und den Sie zu lieben geschworen haben?“
„Das ist doch Irrsinn!“, widersprach Karsten, „Es gab auch gute Momente. Liebevolle Momente. Sehr viele davon sogar. Sie … Sie haben sich doch nur die Handvoll Situationen zusammengesucht, in denen es einmal nicht so gut gelaufen ist.“ Er spürte, wie Tränen in seine Augen tragen und sich mit dem kalten Schweiß mischten, der von seiner Stirn troff. Er machte ganz bestimmt keinen souveränen Eindruck, aber in diesem Moment war ihm das egal. Sie hat kein Recht so einseitig über Annika und ihn zu urteilen.
Reid ließ sich nicht von Karstens Gefühlsausbruch beeindrucken. Im Gegenteil. Als er seine nächste Frage stellte, sprach er besonders leise und nüchtern. „Herr Mahler. Sind Sie etwa der Meinung, dass wir einen mehrfachen Mörder davonkommen lassen sollten, nur weil er an den meisten Tagen seines Lebens nicht gemordet hat?“
Karsten war fassungslos. „Das können Sie doch nicht vergleichen. Ich bin doch kein Mörder. Ich habe sie nie geschlagen oder ihr sonst etwas angetan und auch nach diesen Streitigkeiten haben wir uns immer wieder vertragen. Wenn Sie mich überwacht haben, müssen Sie das doch wissen. Das Leben in dieser Welt ist stressig und hart. Da verliert jeder einmal die Fassung.“
„Sie sind also nicht glücklich auf dieser Welt? Nicht einmal Sie selbst sind dankbar und froh darüber am Leben zu sein? Sie sind noch nicht einmal in der Lage sich selbst glücklich zu machen?“
„Das stimmt nicht!“, widersprach Mahler. „So habe ich das nicht gemeint. Ich war sogar schon oft genug glücklich.“
„Ja, vielleicht.“, stimmte Reid zu. „Sie WAREN es. Und nun sind Sie es nicht mehr. Genau das ist der Punkt. Andernfalls würden Sie unsere schöne neue Welt ganz sicher nicht als ’stressig‘ und ‚hart‘ beschreiben. Andernfalls wüssten Sie zu schätzen, was für ein Privileg es ist, ein Teil dieses heraufdämmernden, glanzvollen Zeitalters sein zu dürfen.“
„Nein … ich … aber …“, Karsten wollte widersprechen, aber sein Kopf war wie leergefegt, so als hätten Reids fragen ihm alle Kraft und alle Argumente gestohlen. Also brach er ab und blieb still. „Kammer des Abschieds.“, betete er zu einem Gott, an den er nicht mal glaubte. An einen Freispruch mochte er nicht mehr glauben. Das würde Wunder erfordern und Wunder hatten in dieser Welt keinen Platz.
Reid wandte sich erneut an die Richterin. „Ich könnte jetzt noch den unzulässig Ressourcenverbrauch des Angeklagten oder seine wiederholte Nutzung geächteter und umweltschädlicher Technologien näher ausführen, aber ich denke, das wird nicht nötig sein. Frau Richterin, ich habe keine weiteren Fragen an Herrn Mahler. Sie können nun Ihr Urteil fällen.“
Die Richterin nickte, ohne das der freundliche Ausdruck aus ihrem Gesicht verschwand. „Im Namen der Erde ergeht folgendes Urteil: Der Angeklagte, Karsten Mahler wird der illegitimen Platzbelegung und Ressourcenverschwendung für schuldig befunden. Seine Existenz stellt weder für sich, noch für den Planeten oder irgendeinen anderen Menschen eine nennenswerte Bereicherung da. Er ist psychisch und physisch defekt und aufgrund seines zutiefst egozentrischen und sozialtoxischen Verhaltens ist das Gericht nicht der Ansicht, dass eine Investition in seine Rehabilitierung lohnt. Folglich ist …“
„NEIN!“, schrie Mahler und griff nach dem letzten Strohhalm, den er finden konnte. „Nein! Sie müssen auf den Produktivitätsnachweis meiner Arbeitsstelle warten, Sie müssen …“
„Seien Sie still!“, wies ihn die Gerichtsdienerin mit strenger Stimme zurecht. „Lassen Sie die Richterin gefälligst ausreden!“
Karsten sagte nichts mehr. Welchen Sinn hätte das auch gehabt. Stattdessen suchte seine Augen nach einem Fluchtweg. Seit seinem Rückenleiden war er nicht mehr so agil, aber vielleicht …
„… folglich hat der Angeklagte in den letzten sechs Jahren unberechtigterweise unsere wertvolle Atemluft, unsere Nahrung und unser Wasser verbraucht und die Welt mit seinen Ausscheidungen verschmutzt. Das Gericht entscheidet deshalb, dem Angeklagten sein Existenzrecht zu entziehen und ihn darüber hinaus zur Wiedergutmachung in die Kammer der Desintegration zu führen.“
Noch bevor die Richterin die letzten Worte des Urteils ganz ausgesprochen hatte, spurtete er los. Vielleicht würde es ihm ja doch gelingen die Tür zu erreichen. Es dauerte jedoch keinen drei Sekunden, bis ihn gleich mehrere Hartgummi-Geschosse in seinen ohnehin beschädigten Rücken trafen. Von gewaltigen Schmerz gelähmt, brach er in die Knie, unfähig auch nur einen weiteren Schritt zu tun, während sich zwei der Polizistensoldaten sofort auf ihn zubewegten. Als der Schmerz einigermaßen nachgelassen hatte, hatten die beiden Uniformierten ihn bereits gepackt.
„NEIIN!“, schrie Mahler aus Leibeskräften und versuchte sich vergeblich aus ihrem Griff zu lösen, „Bitte! Alles, nur das nicht! Ich werde glücklich sein, ich werde mich noch besser um meine Mitmenschen kümmern, ich werde ein nützlicheres Mitglied der Gesellschaft werden. Ich werde mich ehrenamtlich engagieren. Ich … ich will doch nur leben!“
„Herr Mahler.“, sagte die Richterin, „Ich dachte eigentlich, dass Sie es inzwischen begriffen hätten: Es geht nicht nur um das, was Sie wollen.“ Einen gedehnten Moment lang trafen sich ihre Blicke und Karsten erkannte nun, dass ihr ständiges Lächeln nie ihre Augen erreichte. Dieser kurze Augenkontakt reichte aus, um alle Illusionen, alle Hoffnungen und jeden Glauben an ein Wunder aus seiner Seele zu brennen.
Dann brachten die Polizeisoldaten den zitternden, flehenden Karsten Mahler in die Kammer der Desintegration und gaben ihm eine letzte, ganz besondere Gelegenheit zum allgemeinen Wohl beizutragen.